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Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft von Christoph Auffarth Max Deeg Manfred Hutter Hubert Knoblauch Jörg Rüpke Begründet 1993 von Burkhard Gladigow Monika Horstmann Günter Kehrer Kurt Rudolph Hubert Seiwert Einzelheft: 26,00 . Jahresabonnement: 47,00 . Jahresabonnement für Studierende: 28,00 . Jeweils zzgl. Porto. Die ZfR erscheint zweimal im Jahr. diagonal-Verlag Alte Kasseler Str. 43 D-35039 Marburg ISSN 0943-8610 Schriftleitung: Bezugspreise und Verlag: Prof. Dr. Christoph Auffarth Universität Bremen Fachbereich 9 Religionswissenschaft / Religionspädagogik Badgasteiner Str. 1 D-28359 Bremen 07/1 ZfR Inhalt Zeitschrift für Religionswissenschaft 15. Jahrgang 2007 Beiträge Christoph Auffarth: Einführung: Theologie als Religionskritik 1 Christoph Auffarth: Günter Kehrer: Marvin Döbler: Apologia Vasilios N. Makrides: Theologie als Religionskritik in der Europäischen Religionsgeschichte 5 Ludwig Feuerbach als Religionswissenschaftler und Religionskritiker 29 Bernhard von Clairvaux und seine an Abt Wilhelm zwischen innerchristlichem Pluralismus und Religionskritik 35 Religion, Kirche und Orthodoxie. Aspekte orthodox-christlicher Religionskritik 53 Buchbesprechungen 83 Summaries 109

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Herausgegeben im Auftrag der

Deutschen Vereinigung für

Religionswissenschaft von

Christoph Auffarth

Max Deeg

Manfred Hutter

Hubert Knoblauch

Jörg Rüpke

Begründet 1993 von

Burkhard Gladigow

Monika Horstmann

Günter Kehrer

Kurt Rudolph

Hubert Seiwert

Einzelheft: 26,00 .

Jahresabonnement: 47,00 .

Jahresabonnement für

Studierende: 28,00 .

Jeweils zzgl. Porto.

Die ZfR erscheint zweimal im Jahr.

diagonal-Verlag

Alte Kasseler Str. 43

D-35039 Marburg

ISSN 0943-8610

Schriftleitung:

Bezugspreise und Verlag:

Prof. Dr. Christoph Auffarth

Universität Bremen

Fachbereich 9

Religionswissenschaft /

Religionspädagogik

Badgasteiner Str. 1

D-28359 Bremen

07/1

ZfR

Inhalt

Zeitschrift für

Religionswissenschaft

15. Jahrgang 2007

Beiträge

Christoph Auffarth:

Einführung:

Theologie als Religionskritik 1

Christoph Auffarth:

Günter Kehrer:

Marvin Döbler:

Apologia

Vasilios N. Makrides:

Theologie als Religionskritik in der

Europäischen Religionsgeschichte 5

Ludwig Feuerbach als Religionswissenschaftler

und Religionskritiker 29

Bernhard von Clairvaux und seine

an Abt Wilhelm zwischen innerchristlichem

Pluralismus und Religionskritik 35

Religion, Kirche und Orthodoxie.

Aspekte orthodox-christlicher Religionskritik 53

Buchbesprechungen 83

Summaries 109

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ZfR 15, 2007, 53-82

Vasilios N. Makrides

Religion, Kirche und Orthodoxie

Aspekte orthodox-christlicher Religionskritik

Inhalt

Dass es – historisch gesehen – zahlreiche Verständnisprobleme zwischen christ-licher Theologie und nichtchristlichen Religionen und zusätzlich dazu eine beson-dere christliche Religionskritik gab und noch heute gibt, ist in der relevanten For-schung weitestgehend bekannt. Jedoch beziehen sich die meisten Arbeiten in diesem Bereich auf entsprechende römisch-katholische und protestantische Diskurse, wo-bei die verschiedenen, in den orthodoxen Kirchen und Kulturen entstandenen Dis-kurse über Religion bei weitem außer Acht gelassen werden. Einige orthodoxe Theologen und Denker haben bisher versucht, eine eigene orthodoxe Theologie der Religionen zu entwickeln, die sich zum Teil von derjenigen des westlichen Christentums unterscheidet. Abgesehen davon gibt es eine bisher wenig beachtete und bekannte orthodoxe Religionskritik, die in letzter Zeit mehr an Popularität und Verbreitung gewinnt. Es handelt sich meistens um Diskurse orthodoxer Theologen und Denker, die unter anderem eine Differenzierung zwischen Religion und Kirche vornehmen und die dem Orthodoxen Christentum in seinen authentischen Formen den Religionsstatus absprechen wollen. In vielen Fällen geht die orthodoxe Religi-onskritik gleichzeitig mit einer Kritik am westlichen Christentum einher. Der Blick nach Westen bildete für die Orthodoxen historisch sowie bis heute ein bewährtes Mittel zur Abgrenzung und zur eigenen Identitätsbildung. In diesem Aufsatz wer-den ausgewählte orthodoxe Religionskritiken (insbesondere die von Christos Yan-naras) exemplarisch dargestellt sowie ihre Argumentationslinien und -struktur analysiert. Darüber hinaus werden sie aus religionswissenschaftlicher Perspektive kritisch evaluiert. Schließlich wird auf den soziohistorischen Hintergrund und die Motive eingegangen, die hinter diesen orthodoxen Diskursen möglicherweise stehen.

1. Einleitung

Enantia sti Thriskeia (= Gegen die Religion) – so lautet der Titel eines Ende 2006 erschienenen Buches des griechischen Theologen und Philosophen Christos Yan-naras (deutsche Umschrift auch Chrestos Giannaras) (geb. 1935), eines der be-kanntesten, aber zugleich umstrittenen Intellektuellen im heutigen Griechenland.

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54 Vasilios N. Makrides

Er weist ein umfangreiches Gesamtœuvre (mehr als 50 Bücher, abgesehen von den Zeitschriftaufsätzen und Zeitungsartikeln) vor, das zum Teil in mehrere Fremd-sprachen übersetzt worden ist.1 Aus verschiedenen Bestsellerlisten wird deutlich, dass dieses Buch bisher gut verkauft wird, vermutlich wegen seines provokativen Titels, denn der Autor gilt allgemein als religionsfreundlich. Yannaras artikuliert in diesem Buch in systematischer Weise eine besondere Religionskritik aus ortho-dox-christlicher Sicht, deren Ansätze er bereits früher formuliert hatte und die als Grundvoraussetzungen seines Ideengebäudes betrachtet werden können. Jedoch ist Yannaras nicht der einzige, der solche religionskritische Positionen vertritt. In Griechenland und in anderen orthodoxen Kulturen insgesamt finden sich Theolo-gen und Intellektuelle, die aus einer orthodox-christlichen Warte heraus religions-kritische Meinungen vertreten, sei es in systematischer Form oder auch punktuell. Die Kriterien, mit denen solche Denker operieren, sind in den meisten Fällen indi-viduell gestaltet und deshalb unterschiedlich. Trotzdem ist es bei näherer Betrach-tung durchaus möglich, gewisse gemeinsame Punkte und Kongruenzen in den unterschiedlichen orthodoxen Religionskritiken zu entdecken, die von der Kultur-spezifik des Orthodoxen Christentums insgesamt zeugen.

Trotz des lange bestehenden Interesses an den Beziehungen zwischen Christen-tum und nichtchristlichen Religionen wurde das vorliegende Thema bisher nicht richtig wahrgenommen, von wenigen Ausnahmen abgesehen.2 Das internationale Interesse galt und gilt noch insbesondere den vielfältigen – historischen wie zeit-genössischen – Haltungen der Römisch-Katholischen und der diversen protestan-tischen Kirchen zu den Religionen, ein Thema mit einer bisher riesigen Biblio-graphie. Darüber hinaus gibt es seit langem den besonderen Lehr- und Forschungs-bereich »Theologie der Religionen«. In diesem Zusammenhang wurden auch reli-gionskritische Stimmen aus dem westlichen Christentum thematisiert. Bekannt sind beispielsweise die Religionskritik im Rahmen der »Dialektischen Theologie« von Karl Barth,3 die Ansichten von Dietrich Bonhoeffer über ein »religionsloses Christentum«,4 sowie die besondere Differenzierung zwischen Christentum und Religion im Denken des amerikanischen Theologen Stanley Hauerwas.5 Ungeachtet der historischen Belastungen in den Beziehungen zwischen Christentum und an-deren Religionen überwiegt in den letzten Jahrzehnten eine recht positive Evaluie-rung nichtchristlicher Religionen aus der Perspektive des westlichen Christentums.

1 C. Yannaras war von 1982 bis 2002 Professor für Philosophie an der Panteion Universität zu

Athen. Von seinen Werken liegt jedoch bisher nur eins in deutscher Übersetzung vor: Person und Eros. Eine Gegenüberstellung der Ontologie der griechischen Kirchenväter und der Existenzphilosophie des Westens, Göttingen 1982.

2 Dazu siehe meinen früheren Aufsatz »Christian Orthodoxy Versus Religion. Negative Criti-ques of Religion in Contemporary Greece«, in: U. Bianchi (Hg.), The Notion of »Religion« in Comparative Research. Selected Proceedings of the XVI Congress of the IAHR (Rome, 3-8 September 1990), Roma 1994, 471-479.

3 K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I, 2, Zollikon-Zürich 51960, 304-397. 4 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, hg. von E. Bethge, München 1970, 305-308. Zum

gesamten Themenkomplex siehe auch den Beitrag von C. Auffarth, »Theologie als Religions-kritik« in diesem Heft.

5 Siehe sein Interview von 1991: »Christianity: It’s Not a Religion: It’s an Adventure«, in: J. Berkman; M. Cartwright (Hg.), The Hauerwas Reader, Durham; London 1991, 522-535.

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Nicht unabhängig davon ist die heute verbreitete kulturwissenschaftliche Reflexion auf das Phänomen und den Begriff »Religion« selbst und dessen christlich-euro-päische Prägung sowie auf die Probleme seiner weltweiten Verwendung.

Was andererseits das Orthodoxe Christentum betrifft – abgesehen von den hier zu behandelnden religionskritischen Stimmen –, lässt sich ebenfalls teilweise eine analoge Aufwertung der nichtchristlichen Religionen beobachten. Nicht zuletzt unter dem Einfluss der Entwicklungen im westlichen Christentum6 gerieten Reli-gionen während der letzten Jahrzehnte mehr und mehr in den Blickwinkel ortho-doxer Theologen und Denker, was zu sehr produktiven Ansätzen führte. Unter anderem wurde der Versuch unternommen, eine eigene orthodoxe Theologie der Religionen zu entfalten und zwar in Abgrenzung von den entsprechenden römisch-katholischen und protestantischen Theorien. Erwähnenswert ist hier der Beitrag von Anastasios Yannoulatos (geb. 1929),7 zurzeit Erzbischof von Tirana und ganz Albanien, der unter anderem Professor für Religionsgeschichte an der Theologi-schen Fakultät der Universität Athen gewesen war (1972-1997).8 Trotz der Inklu-sion nichtchristlicher Religionen in verschiedenen orthodoxen Theorieansätzen fehlt es jedoch noch an Entwicklungen im Rahmen einer pluralistischen Theologie der Religionen.9 Dafür gäbe es mehrere Gründe, wie der Umgang der Orthodoxen mit einem normativen Wahrheitsbegriff und die damit verbundenen eigenen Exklu-sivitätsansprüche.

Abgesehen von der Religionskritik innerhalb des westlichen Christentums exis-tiert zudem eine weniger bekannte orthodoxe Religionskritik, die nicht nur das Phänomen »Religion« an sich kritisiert, sondern auch sich gegen eine so genannte »Religionisierung« des Christentums wendet. Dabei beruft sie sich auf die Tradition des Orthodoxen Christentums und weist dezidiert antiwestliche Tendenzen auf. Die orthodoxe Religionskritik ist besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von orthodoxen Theologen unterschiedlicher Nationalität und Provenienz entwickelt worden – wenngleich nicht stets in systematischer Form. In diesem Aufsatz soll diese spezifische Religionskritik anhand ausgewählter orthodoxer Vertreter punk-tuell beleuchtet werden. Außerdem gilt es, nach den Ursprüngen, Motiven und Zie-len ihrer Diskurse und den damit verbundenen Abgrenzungsstrategien zu fragen.

6 Vgl. z. B. E. Voulgarakis, »Zur Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchrist-

lichen Religionen«, in: D. Papandreou (Hg.), Stimmen der Orthodoxie zu Grundfragen des II. Vatikanums, Wien 1969, 187-228.

7 Dazu A. Yannoulatos, »Emerging Perspectives on the Relationships of Christians to People of Other Faiths – An Eastern Orthodox Contribution«, in: International Review of Mission 77, 1988, 332-346; ders., »Facing People of Other Faiths from an Orthodox Point of View«, in: The Greek Orthodox Theological Review 38, 1993, 131-152; ders., »Orthodox Relations with Other Religions«, in: Sourozh 86, 2001, 6-21.

8 Zu Yannoulatos siehe A. I. Delikostopoulos, Anastasios Archiepiskopos Tiranon kai Pasis Alvanias. O poimenas tou stochasmou, tis dimiourgias, kai tis eirinis, Athen 2005; C. G. Romas, Archiepiskopos Alvanias Anastasios. O Ptotergatis tis Ierapostolis, Athen 2006.

9 Zu diesem Thema siehe J. Oeldemann, »Orthodoxe Theologen im interreligiösen Dialog mit dem Judentum und dem Islam«, in: Catholica 3, 2003, 193-206.

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2. Gegen die Religionisierung des Christentums: Die Religionskritik von Christos Yannaras

Es erscheint sinnvoll, zuerst mit einer Darstellung der Ideen von Yannaras zu be-ginnen, die in systematischer Form aktuell vorliegen. Ist man mit dem früheren Werk von Yannaras vertraut, erkennt man sofort, dass seine Religionskritik an-satzweise schon früher formuliert worden war und die Grundvoraussetzungen und -prinzipien seines Denkens unverändert geblieben sind.10

Yannaras geht zunächst in seinem oben genannten Buch auf das Phänomen der Religiosität/Religion ein, das er als naturabhängig, instinktiv, triebhaft und insofern als irrational und unkontrollierbar betrachtet. Religion, die eine biologische Begrün-dung habe, sei für die Menschen ein unabdingbares Mittel im ständigen Kampf zum Überleben. Sie diene der Kontrolle übersinnlicher Mächte und Faktoren, die den Menschen als überlegen gälten und durch bestimmte Handlungen beeinflusst werden könnten. Religion biete also einen Ausweg aus dem Bereich des Unbe-kannten und des Unkontrollierbaren mit Hilfe von Lebens- und Weltdeutungen und vermittle den Menschen ein notwendiges Sicherheitsgefühl bezüglich der eigenen ewigen Glückseligkeit und Rettung.11 Religion habe zudem einen rein individualis-tischen und utilitaristischen Charakter, indem sie den egozentrischen Bedürfnissen des Individuums und dessen Selbsterhaltung diene. Dies geschehe durch objektive Argumente und sichere Garantien bezüglich der Richtigkeit und der Validität der metaphysischen Anschauungen des Individuums.12 Trotz der versuchten rationalen Untermauerung des religiösen Glaubens und des Verlangens nach metaphysischen Gewissheiten gäbe es immer wieder Lücken und Unvollständigkeiten, was das andere Gesicht der Religiosität offenbare, nämlich ihre grundsätzliche Irrationalität, die sich im Bereich des religiösen Sentimentalismus ausdrücke. Beide Aspekte der Religion hätten jedoch dieselben triebhaften, unbewussten Wurzeln und denselben Bezug auf die individuelle Gesinnung und psychologische Befriedigung.13 Ein weiteres Kennzeichen der Religion sei die Unterwerfung der Gläubigen unter die Macht von äußeren Instanzen der Autorität, entweder von Institutionen oder von Personen, um die vermittelnde Sicherheit der Erlösung objektiv zu garantieren. Es handele sich dabei wieder um ein instinktives Verhalten, genau wie beim Ver-

10 Hier sei insbesondere hingewiesen auf Kritikes paremvaseis, Athen 21987, 177-183; Prota-

seis kritikis ontologias, Athen 1985, 103-122; I kokkini plateia kai o theios Arthouros, Athen 1986, 90-93 und 105-108; Katafygio Ideon. Martyria, Athen 1987, 81-83, 177-179, 256-263 und 302-305; Alfavitari tis pistis, Athen 61988, 17-24; To pragmatiko kai to fantasiodes stin Politiki Oikonomia, Athen 1989, 166-221; To keno stin trechousa politiki, Athen 1989, 41-46, 79-95 und 108-114; Elladika proteleftia, Athen 1991, 89-100; Orthodoxia kai Dysi sti neoteri Ellada, Athen 1992, 21-72; To rito kai to arrito. Ta glossika oria realismou tis meta-fysikis, Athen 1999, 303-317; Politistiki Diplomatia. Protheoria ellinikou schediasmou, Athen 2001, 89-105; Ontologia tis schesis, Athen 2004, 149-161. Siehe auch ders., »L’Église, un mode d’existence qui peut vaincre la mort«, in: Service Orthodoxe de Presse 169, Juni 1992, 25-31.

11 C. Yannaras, Enantia sti thriskeia, Athen 2006, 11-18. 12 Ebd., 19-24. 13 Ebd., 25-33.

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hältnis des Kindes zu seinen Eltern, und wiederum um eine individuelle, selbst befriedigende Unterwerfung unter die Macht von Autoritäten. Dieses fundamentale menschliche Verlangen und der fehlende kritische Geist mögen Erklärungen liefern, warum Phänomene wie der Fanatismus und der Totalitarismus typisch für mensch-liche Gesellschaften sowohl historisch als auch gegenwärtig seien.14

Dem gegenüber stellt Yannaras das »kirchliche Ereignis«, nämlich die Kirche, die eine radikale Umkehrung der Bedingungen für die Entstehung der instinktiv geleiteten Religiosität darstelle. Das Wort »Kirche« (Ecclesia) sei insofern nicht ausgesucht worden, um eine beliebige, neue Religion zu beschreiben, sondern da-mit es auf ein neues soziales Ereignis und einen entsprechenden Modus zwischen-menschlicher und gemeinschaftlicher Beziehungen hinweisen könne. Hauptziel dieser Gemeinschaft sei die Realisierung einer wahrhaftigen Lebensweise jenseits der Einschränkungen des Verfalls und des Todes. Das Streben nach einem wahr-haftigen Existenzmodus bilde das gemeinsame verbindende Element zwischen der altgriechischen öffentlichen Versammlung der Bürger der Stadt (Ecclesia tou De-mou) und der christlichen kirchlichen Versammlung der Gläubigen im Rahmen der eucharistischen Gemeinschaft. Alles, was in den ersten christlichen Gemeinden praktiziert worden sei, habe nichts mit der Erfüllung bestimmter, herkömmlicher religiöser Pflichten zu tun, sondern mit der Teilhabe an einem neuen Lebensmodus von Liebes- und Freiheitsbeziehungen jenseits von individuellen Bedürfnissen und psychologischen Abhängigkeiten. Jesus Christus habe sowieso keine neue Religion gegründet, sondern den Menschen einen neuen Lebensmodus gemeinschaftlicher Liebe und existenzieller Freiheit gezeigt, dessen Prototyp seine eigene Beziehung zum Gott-Vater und zum Heiligen Geist sei. Die neue christliche Verkündigung beruhe jedoch nicht auf abstrakten, philosophischen oder ähnlichen Prinzipien, sondern auf der historischen Realität Jesu Christi und der kirchlichen Erfahrungen der ersten christlichen Gemeinden. Im Rahmen des kirchlichen Ereignisses würden Erfahrung, Vertrauen und Hingabe eine viel größere Rolle als Sprache, logische Formulierungen, Objektivität oder irgendwelche Heilsgewissheiten spielen. Glau-ben sei ein abenteuerlicher Prozess, dessen Endresultate nicht von vornherein be-stimmt werden könnten. Die Wahrheiten der Kirche seien nicht intellektuell bzw. noetisch zu begreifen, sondern vorwiegend im Rahmen des kirchlichen Ereignisses zu erleben. Abweichungen von der gemeinsamen kirchlichen Erfahrung – was Yannaras als Religionisierung des Christentums bezeichnet – habe die ganze Kir-che – und nicht ein beliebiges Kirchenoberhaupt – in den Konzilien kollektiv und gemeinschaftlich verurteilt. Darüber hinaus werde im Kontext des kirchlichen Er-eignisses die Macht der Kirchenhierarchie nicht als Autorität und Gewalt, sondern als Diakonie geübt. Kirche sei eine Gemeinschaft von Personen und nicht von In-dividuen. Aus diesem Grund sei das oberste kirchliche Prinzip die Aufrechterhal-tung dieses Netzes persönlicher Beziehungen und die Abwehr gegen die Indivi-dualisierung.15

Ferner nimmt Yannaras ausführlicher den Prozess der Religionisierung in den Blick, der eine Entfremdung vom ursprünglichen kirchlichen Ereignis bedeute. Die

14 Ebd., 34-39. 15 Ebd., 41-82.

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Kirche wurde zu einer institutionellen Anstalt von autoritärer Macht, von umfas-sender Kontrolle der Gläubigen und von Verbreitung metaphysischer Ängste und Schuldgefühle unter ihnen. Die Symptome dieses Religionisierungsprozesses fasst er wie folgt zusammen: Zuerst die Verwandlung des Glaubens von einem Vertrau-ensverhältnis und Erfahrungserlebnis zu einer Ideologie (Ideen, Prinzipien, Werte, Ideale, Ziele, Deutungsschemata, praktische Anweisungen usw.) zur Vermittlung von objektiver Erlösungssicherheit; zweitens, die Verwischung der Grenzen zwi-schen wahrhaftiger gemeinschaftlicher kirchlicher Erfahrung und bloßer Befriedi-gung psychologischer, instinktiver religiöser Bedürfnisse, die eine rein individua-listische Basis haben; drittens, das Verständnis der Erlösung nicht als Freiheit von den Einschränkungen der Kreatürlichkeit, sondern als sichere Garantie für das ewige Weiterbestehen des Individuums, wobei dem legalen Rahmen der Gott-Mensch-Beziehungen und dessen minutiöser Erfüllung ungeheure Bedeutung bei-gemessen wird; viertens, die Umwandlung der eucharistischen Gemeinschaft von einem Ort der Offenbarung und Verwirklichung des kirchlichen Ereignisses und dessen modus vivendi in eine rituelle Handlung magischer Natur mit starken über-natürlichen Kennzeichen (Wunder, Geheimnis und Autorität, wie es F. M. Dosto-evskij in seinem Roman Die Brüder Karamazov meisterhaft analysiert hat) zum Zwecke der individuellen Befriedigung und Erlösungssicherheit; fünftens, das Ver-ständnis und der Gebrauch der Kunst nicht als Ausdrucksmittel des kirchlichen Ereignisses und der Suche nach dem wahrhaften Sein, sondern im Dienste der Be-lehrung und der Beeindruckung der Gefühlswelt der Gläubigen; sechstens, das Verschwinden der kleinen kirchlichen Gemeinde und die Verwandlung des kirch-lichen Organismus in eine Institution der Autorität, des Machthedonismus und des Masseneinflusses, wobei die Erteilung der Sakramente selbst nun individualistisch geschieht; siebtens, die Idolisierung und die Verabsolutierung der Tradition als ganzes, die keinen Veränderungen mehr unterworfen werden kann und einen kriti-schen Umgang mit allem Überlieferten kategorisch verbietet; achtens, die Dämoni-sierung der Sexualität, der mit Sündenängsten, Schuldgefühlen und eigenartigen Reinheitsvorstellungen begegnet wird.16

Des Weiteren unternimmt Yannaras eine historische Genealogie der Religioni-sierung des kirchlichen Ereignisses, um die wichtigsten Momente zu lokalisieren, die dazu beigetragen haben. Erste Ansätze eines solchen Phänomens findet man bei den Judenchristen in 1. Jahrhundert nach Christus, die die Öffnung der Kirche zu den Heiden von der Beibehaltung gewisser jüdischer Traditionen (Beschnei-dung) abhängig machten. Entscheidend war weiterhin die Etablierung und progres-sive Institutionalisierung des Christentums als religio imperii im Römischen Impe-rium im 4. Jahrhundert. Die Umwandlung des Christentums zu einer Staatsreligion und zur Religion der Mehrheit der Bürger ebnete den Weg für die radikale Trans-formation des ursprünglichen kirchlichen Ereignisses in eine institutionalisierte Religion, die eine ähnliche Autorität wie die des Staates genoss. Auf theologischer Ebene war der Beitrag von Augustinus (354-430) für den Religionisierungsprozess einschneidend. Dieser hatte eine besondere, in Abgrenzung zum griechischen Osten entstandene Version des Christentums entwickelt (z. B. den religiösen Individua-

16 Ebd., 83-202.

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lismus, den Intellektualismus im Bereich des Glaubens, die Rechtsautorität und den Legalismus in der Kirche), die später im Westen zur Richtschnur theologischen Arbeitens wurde. Noch wichtiger war später das Große Schisma von 1054 zwischen Ost und West. Die Orthodoxe Kirche im griechischen Osten setzte zwar die Tradi-tion der kirchlichen Katholizität fort, wobei die Lateinische Kirche im Westen, die bereits früher den Weg zu ihrer Religionisierung geöffnet hatte (z. B. mit der Über-nahme politischer Macht), ihre eigenen Ziele im Rahmen einer zentralistischen Institution, autoritären Ideologie und kodifizierten Moral konsequent verfolgte. Hier sei noch erwähnt, dass nach Yannaras auch der griechische Osten vom Ein-fluss der Religionisierung nicht verschont blieb, wie die intra-orthodoxen Konflikte um Macht, Autorität und Rangordnung (z. B. zwischen Griechen und Slawen) und die Unterwerfung der Kirche als verlängerter Arm der politischen Herrschaft bis heute zeigen. Schließlich lassen sich nach Yannaras Aspekte des Religionisie-rungsprozesses im breit gefächerten Phänomen des Pietismus beobachten, dessen diverse Kennzeichen er von der Antike bis zur Gegenwart in unterschiedlichen Kontexten lokalisisiert. Es geht dabei hauptsächlich um die Sicherung der indivi-duellen Erlösung durch sentimentale Extrapolationen, mystische Erfahrungen oder praktisch umgesetzte Religiosität bei gleichzeitiger Vernachlässigung der intellek-tuellen Beschäftigung mit dem Glaubensinhalt.17

Im vorletzten Kapitel seines Buches geht Yannaras auf das Phänomen des »Or-thodoxismus« ein, nämlich auf die Religionisierung der kirchlichen Orthodoxie. Mit anderen Worten richtet er seine Kritik nicht nur allein gegen die – seiner Mei-nung nach – westlichen Exzesse, Fehlentwicklungen und Abweichungen, sondern auch gegen seine eigene Tradition, nämlich die Orthodoxe Kirche, die mittlerweile eine ganze Menge von den hier zu kritisierenden religiösen Aspekten aufweist. Zu allererst lenkt er seine Aufmerksamkeit auf das ungeheure Festhalten der Ortho-doxen an allen möglichen und als selbstverständlich geltenden Traditionen, die be-reits etabliert worden sind, deren Änderung als katastrophal für den Glauben emp-funden wird (z. B. das noch existierende Schisma der Altkalendarier in manchen Orthodoxen Kirchen). Dies hat die freie Forschung und den kritischen Geist gehin-dert, was sicherlich die Entwicklungsprozesse innerhalb der Orthodoxie verlang-samte oder sogar zum Stillstand brachte. Unter westlichen Einflüssen entstand fer-ner im orthodoxen Osten in der Neuzeit eine eigene Tradition von Glaubenskon-fessionen, die in der Tat eine Umwandlung der kirchlichen christlichen Botschaft in eine religiöse Ideologie zur Folge hatte. Darüber hinaus lässt sich in vielen Be-reichen der Orthodoxie eine radikale Umkehrung der authentischen kirchlichen Kriterien und Zielsetzungen beobachten, wie dies bei den orthodoxen Fundamenta-listen/Rigoristen der Fall ist. Yannaras entdeckt sogar offene und latente Aspekte einer individuellen Religiosität in einer auf dem Berg Athos entstandenen Text-sammlung, die als Quintessenz des orthodoxen Ethos des Ostens gilt, nämlich in der Philokalie, einem in der griechischen und slawischen orthodoxen Welt weit ver-breiteten Florilegium patristisch-asketischer Weisheit aus mehreren Jahrhunderten (1782 zum ersten Mal auf Griechisch in Venedig veröffentlicht). Yannaras stellt in diesem Zusammenhang die Frage nach dem großen westlichen Interesse an dieser

17 Ebd., 203-261.

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Textsammlung, das durch mehrere Übersetzungen in westliche Sprachen manifes-tiert wird. Der Erfolg der Philokalie im Westen habe jedoch nichts mit einer Entde-ckung der orthodoxen Spiritualität zu tun, sondern sei darauf zurückzuführen, dass die Grundhaltung der Philokalie im Grunde genommen mit dem westlichen religio-nisierten Christentum kompatibel sei. Westliche Einflüsse seien sowieso auf den Hauptkompilator der Philokalie, den Mönch Nikodimos Hagioreitis (1749-1809), zurückzuführen, der westliche spirituelle Literatur ins Griechische übersetzt habe. All dies zeige, wie weit die Religionisierung des orthodoxen kirchlichen Ereignis-ses in der Form des »Orthodoxismus« weiter gediehen sei.18

Kurzum: Für Yannaras sind Kirche und Religion zwei miteinander inkompa-tible und sich widersprechende Realitäten, genau wie Leben und Tod. Trotzdem habe die Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung eine ganze Menge von be-reits existierenden religiösen Elementen in sich aufgenommen. Wichtig sei jedoch, dass diese Elemente radikal gemäß dem kirchlichen Existenz- und Lebensmodus umgewandelt worden seien. Der utilitaristische und individualistische Sinn reli-giöser Praktiken und Elemente sei in der Kirche durch das gemeinschaftliche Ethos und die Notwendigkeit der persönlichen Beziehung ersetzt worden. Religion sei in-stinkthafter Eigennutz, dagegen sei die Kirche eine besondere Übung zum Zwecke der Befreiung von der Last des Eigennutzes. Die Versuchung der Religionisierung der Kirche bleibe jedoch immer vorhanden und werde die Geschichte der Kirche bis ans Ende der Welt begleiten. Aber sie sei gleichzeitig ein Prüfstand, um die un-überbrückbaren Differenzen zwischen Religion und Kirche nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.19

Die Differenzierung der orthodox-christlichen Kultur von dem Phänomen der Religion ist von Yannaras auch in anderen Instanzen postuliert worden und zwar im Spezifischen mit Blick auf die griechische Orthodoxie.20 Er sieht die Religion grundsätzlich nur als einen Teil, als ein Fragment eines viel breiteren und reiche-ren menschlichen Lebens. Wichtig ist für ihn die bestehende Dauer in den Orien-tierungen zwischen antikem Griechenland und dem Christentum, trotz der offen-sichtlichen Diskontinuitäten. Das altgriechische Verständnis von Religion war nicht die Befriedigung von einigen religiösen Bedürfnissen oder Gefühlen, sondern die Antwort auf das Problem des Seins und die Frage nach der Wahrheit. Diese Suche hatte deshalb keine utilitaristische Basis und stellte darum kein Fragment mensch-lichen Lebens dar, sondern dessen Totalität. Diese holistische Perspektive wurde später auf das Christentum übertragen, das dieselbe Erkenntnistheorie hatte, d. h. ein kommunitaristisches, gemeinschaftliches, intersubjektives und kein individua-listisches Wahrheitsverständnis, jedoch eine neue trinitarische Ontologie. Die apo-phatische Erkenntnistheorie war mutatis mutandis diesen beiden Welten gemein-sam und lässt sich von der Zeit Herakleitos’ bis zur Epoche Gregor Palamas’ im späten Byzanz beobachten. Das Gegenmodell wurde im Westen entwickelt, als der individualistischen und utilitaristischen Wahrheitssuche mit Hilfe der autonomen

18 Ebd., 263-308. 19 Ebd., 309-316. 20 C. Yannaras, »Thriskeia kai Ellinikotita«, in: D. Tsaousis (Hg.), Ellinismos kai Ellinikotita.

Ideologikoi kai viomatikoi axones tis neoellinikis koinonias, Athen 1983, 243-248.

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Religion, Kirche und Orthodoxie 61

Verwendung der menschlichen facultas rationis der Vorzug gegeben wurde, was letztendlich zu der Objektivierung und Dogmatisierung der christlichen Wahrheit führte.21 Yannaras setzt zudem die Genese des Totalitarismus bereits im hohen Mittelalter an, als die Römisch-Katholische Kirche ihre Autorität mit Repressions-maßnahmen unterschiedlichster Art gegen alle Dissidenten zu verteidigen suchte. Diese Entwicklungen führt er auf den westlichen Essentialismus in Sachen Gottes-erkenntnis zurück, der vom orthodoxen Personalismus und der Betonung der Frei-heit des trinitarischen Gottes radikal abweicht. Damit wurden Gott in eine statische und unbewegliche Existenz und die Kirche in eine Ideologie metaphysischer und autoritativer Überzeugungen umgewandelt, was auch die orthodoxe Welt ab dem 14. Jahrhundert allmählich zu beeinflussen begann. Im Endeffekt glaubt Yannaras, dass die Menschen keine Religion mehr brauchen. Religion kann man beliebig substituieren und Menschen sind in diesem Bereich generell sehr erfinderisch. Das Phänomen »Religion« verschwindet allmählich von der Welt und dies wird in der Zukunft noch deutlicher werden. Was Menschen allerdings brauchen, ist eine radi-kale Umorientierung in ihrem Leben. Sie brauchen die Kirche in ihrer Authentizi-tät, nämlich die eucharistische Gemeinschaft, denn sie erfüllt das gesamte mensch-liche Leben integrativ und ganzheitlich und nicht nur seine religiösen Fragmente.

Yannaras behauptet schließlich, dass die Religionskritik von Karl Marx – Reli-gion sei das Opium des Volkes – durchaus korrekt und berechtigt war und dass sie mit den orthodoxen Prämissen kompatibel ist. Marx hatte also Recht, als er das westliche Christentum kritisierte, doch betrifft seine Kritik nicht das Orthodoxe Christentum des Ostens, das in seiner authentischen Form keine Religion, sondern eine Kirche ist. Yannaras fand den Beitrag von Marx in Richtung einer Philosophie der Beziehung besonders ergiebig. Marx hat nämlich in seinen frühen Schriften (Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844) die menschliche Existenz nicht als statische Individualität definiert, sondern als etwas, das in konstanter Be-ziehung zu den Mitmenschen, zur materialen Welt sowie zum sozialen Produk-tionsprozess steht. Das Konzept Entfremdung zielte darauf ab, die Faktoren zu lo-kalisieren, die diese Beziehung erschweren und menschliche Freiheit aufheben. Nach Yannaras war dies der vielleicht wichtigste Beitrag von Marx zur westlichen Philosophie und könnte eine Basis für einen Dialog zwischen Orthodoxie und Marxismus bieten. Der große Nachteil der Marxschen Theorie war die Vernachläs-sigung oder sogar die Ignoranz der ontologischen Priorität der Person in den Welt-prozessen. Dies führte Marx zu einer besonderen mystischen Auffassung von der Materie selbst, die – ontologisch gesehen – ohne Erklärung blieb.22

21 C. Yannaras, »Apophatik und politisches Handeln«, in: H. Deuser et al. (Hg.), Gottes Zukunft

– Zukunft der Welt. Festschrift für Jürgen Moltmann zum 60. Geburtstag, München 1986, 374-379.

22 C. Yannaras, Orthos logos kai koinoniki praktiki, Athen 1984, 99-139.

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3. Weitere orthodox-christliche religionskritische Diskurse

Abgesehen von der systematischen Religionskritik von Yannaras lässt sich wei-terhin eine interessante Zahl von besonderen Religionsbetrachtungen seitens ver-schiedener orthodoxer Kleriker, Theologen und Intellektuellen beobachten, die in vielen Fällen einer Religionskritik gleichzusetzen sind. Diesen Diskursen, die ent-weder in systematischer oder auch in fragmentarischer Form geführt werden, liegen meistens unterschiedliche Voraussetzungen und Kriterien zugrunde. Dennoch las-sen sich einige gemeinsame Merkmale unter ihnen finden. Die Tatsache, dass sol-che Diskurse aus verschiedenen orthodoxen Kreisen und Kulturen stammen, zeugt davon, dass es sich hier um ein besonderes Kennzeichen orthodox-christlicher Re-ligionsbetrachtung sowie um ein kulturspezifisches Element der orthodoxen Welt insgesamt handelt. Im Folgenden werden einige solche Diskurse selektiv und reprä-sentativ dargestellt werden, um ihre Vielfalt zu zeigen, ohne natürlich Ansprüche auf Vollständigkeit zu erheben.

Zunächst sollen die Ideen eines russischen Erzpriesters und Theologen aus der Diaspora, Alexander Schmemann (1921-1983), erwähnt werden, der an dem St. Vladimir’s Theological Seminary (Crestwood, New York) als Liturgiewissen-schaftler wirkte und sich einen Namen in der orthodoxen Welt gemacht hat. Im Rahmen seiner Bemühungen um die geistige und liturgische Erneuerung der Or-thodoxie formulierte er auch einen Unterschied zwischen Religion und Christen-tum. Religion sei die Konsequenz der Erbsünde und der gefallenen Schöpfung, denn sie weise Gott einem sakralen, heiligen Bereich zu, der sich von einem pro-fanen Bereich unterscheide. Insofern bedeute Religion eine Einschränkung Gottes sowie eine Trennung und eine gewisse Fragmentierung der Welt. Im Gegensatz dazu sei das Christentum »in a profound sense the end of all religion«. Dies sei aus dem Neuen Testament ersichtlich, wo das Christentum nirgends als eine Religion oder als ein Kult dargestellt werde. Man brauche Religion nur wenn eine Tren-nungswand zwischen Gott und den Menschen existiere. Jesus Christus als Gott-mensch habe diese Trennungswand durchbrochen und eine neue Lebensform – aber keine neue Religion – vorgeschlagen und initiiert. Bei dieser neuen Lebens-form handele es sich um die radikale Aufhebung der früheren religiösen Dicho-tomien und Polarisierungen, wie zum Beispiel zwischen Natur – Übernatur, sakral – profan oder geistig – material, die eigentlich »the only justification and raison d’être of religion« darstellten. Jesus Christus selbst sei »the Answer to all religion, to all human hunger for God«. Darüber hinaus sei der christliche Gottesdienst »the end of cult, of the ›sacred‹ religious act isolated from, and opposed to, the ›profane‹ life of the community«. Religion sei nur ein Fragment menschlichen Lebens und beziehe sich – im Gegensatz zum Christentum – keineswegs auf seine Gesamtheit. Das Christentum stelle insofern ein Novum dar, einen Holismus, der mit den her-kömmlichen Vorstellungen über Religion unvereinbar sei. Aus diesem Grund seien die ersten Christen von den Heiden des Atheismus beschuldigt worden.23 Die 23 Zum Vorwurf des »christlichen Atheismus« in der Antike siehe J. J. Walsh, »On Christian

Atheism«, in: Vigiliae Christianae 45, 1991, 255-277.

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Christen zeigten nämlich kein Interesse für eine sakrale Geographie, für Tempel oder für Kulte im traditionellen Sinne und wichen von den verbreiteten Religions-stereotypen erheblich ab. Trotz seines anfänglichen religionskritischen Charakters sei das Christentum später stärker unter den Einfluss traditioneller Religionen geraten, was als Religionisierungsprozess zu verstehen sei. Das gehe mit einer zunehmenden Fragmentierung des Christentums einher, die unter anderem eine Psychologisierung und Spiritualisierung des Glaubens beinhaltete (»the concen-tration of attention on matters pertaining to the ›soul‹«).24

Schmemanns Ideen über die Ganzheit des Christentums und der Kirche jenseits konventioneller Religionen sind auch in seinen persönlichen Tagebüchern zu fin-den – so eine Eintragung am Karsamstag (14. April 1973):

»Ewigkeit ist nicht Verneinung der Zeit, sondern ihre absolute Ganzheit, Zusammenführung und Wiederherstellung. Ewiges Leben ist nicht, was nach dem zeitlichen Leben beginnt, es ist die ewige Gegenwart der Totalität des Lebens. Christentum ist eine gesegnete Erinnerung, ist wirklich Überwin-dung der zerstückelten Zeit, ist Erfahrung der Ewigkeit, hier und jetzt. Alle Religionen und Spiritualitäten, die versuchen, die Zeit aufzuheben, sind fal-sche Religionen und Pseudo-Spiritualitäten.«25

Erwähnungswert ist hier, dass Schmemanns Bücher eine Verbreitung innerhalb der orthodoxen Welt durch Übersetzungen genossen haben und der Einfluss seiner re-ligionskritischen Ideen sich in einigen Fällen beobachten lässt, wie zum Beispiel in Griechenland26 oder in Serbien27.

Eine ebenso in der gesamten orthodoxen Welt bekannte, gleichwohl umstrittene Figur, die auch religionskritische Ansichten vertrat, ist der griechisch-amerikani-sche Theologe und Erzpriester John S. Romanides (1927-2001), der Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Thessaloniki war. Roma-nides wurde besonders durch seine systematischen Versuche bekannt, einerseits die authentische patristische Tradition wiederzuentdecken und von den westlichen Einflüssen Abstand zu nehmen sowie andererseits der theologischen, politischen und kulturellen Differenzierung und Trennung zwischen dem östlichen Ortho-doxen und dem westlichen (Fränkisch-Lateinischen) Christentum auf den Grund zu gehen.28

24 Zu Schmemanns Ansichten siehe insbesondere seine Werke: For the Life of the World. Sacra-

ments and Orthodoxy, Crestwood, NY 21973, 13-20, 25-26, 93-99, 109 und 112; Church, World, Mission. Reflections on Orthodoxy in the West, Crestwood, NY 1979, 18-19, 22, 48, 62-63 und 223.

25 Vater Alexander Schmemann, Aufzeichnungen 1973-1983, Freiburg 2002, 33. 26 So zum Beispiel bei A. Karyotoglou, »I Theia Efcharistia«, in: Synaxi 6, 1983, 101-102;

ders., »Thriskeia kai ›logiki latreia‹«, in: Synaxi 18, 1986, 119-121. 27 Vgl. das Vorwort des Metropoliten von Montenegro und der Küste, Amfilohije Radović

(geb. 1938), in der serbischen Übersetzung des o. g. Werkes von Schmemann Za život sveta, Belgrad 1999, 12-13.

28 Für einen Gesamtüberblick seines Denkens siehe A. J. Sopko, Prophet of Roman Orthodoxy. The Theology of John Romanides, Dewdney, B. C. 1998.

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Wie sieht Romanides das Phänomen »Religion«? Er betrachtet es hauptsäch-lich im Rahmen der Ost-West-Differenzierung in Europa und stellt eine ziemlich provokative These auf: Religion sei eine neurobiologische Krankheit, wobei die Orthodoxie – in ihrer biblischen und patristischen Fundierung und Erfahrung – deren einzige wirksame Heilung darstelle:

»The sickness of religion is caused by a short-circuit between the heart and the brain. This is what causes fantasies which distort the imagination and in varying degrees cuts one off from reality. The cure of this short-circuit has three stages […] They are: 1) the purification of the heart, 2) the illu-mination of the heart, which repairs this short-circuit which produces fan-tasies, of which both religion and criminality are by products, and 3) glo-rification, which makes one uncreated by grace and by which one sees the uncreated ruling power of God […] The clearest New Testament outline of this cure of the sickness of religion is to be found in St. Paul 1 Cor. 11: 12-15 […] In this normal state the various fantasies, religious and otherwise, produced by said short-circuit between the brain and the heart, disappear and with them one’s fantasies also disappear, including that of religion. The Bible calls this neurological energy the spirit of man which the Fathers came to call the noetic energy […] The method of cure is like seeing for oneself what specialists are trained to see by means of instruments what cannot be seen by the naked eye, not only in the next life, but especially in this life. The Bible calls this glorification. »When one is glorified the rest rejoice« (1 Cor. 12: 26) because he has become a prophet who has seen and participated in the uncreated glory of God which has no similarity whatsoever with anything created […] The one cured actually sees above normal seeing from time to time seeing the glory and rule of the Creator. When not in the state of seeing, the short circuit in question is kept under repair by the unceasing prayer in the heart while the brain functions nor-mally […] Also those who have seen it and guide others to the cure of their short-circuit are the prophets both before Pentecost and after Pentecost.«29

Aus diesem langen Zitat wird deutlich, dass laut Romanides Religion in erster Linie eine neurobiologische Basis im menschlichen Organismus hat und dass sie mit allen anderen imaginären Produkten des menschlichen Intellekts verbunden ist. Mit anderen Worten ist Religion eine Form von Götzendienst, eine regelrechte Verwirrung der Grenzen zwischen Gott und der Schöpfung. Die Heilung ist im Rahmen eines Drei-Stadien-Prozesses zu erreichen. Dieser nimmt sowohl auf bib-lische als auch orthodoxe patristische Quellen Bezug. Die Erfahrungen orthodoxer Propheten und Heiligen, die vor und nach Christus gelebt haben, bestätigen nach Romanides diesen Heilungsprozess. Durch ein passendes Training kann der Gläu- 29 J. S. Romanides, »The Cure of the Neurobiological Sickness of Religion«, in: http://www.

romanity.org/htm/rom.02.en.the_cure_of_the_neurobiological_sickness_of_rel.01.htm (Down-load-Datum: März 2007). Siehe auch I. S. Romanides, »I thriskeia einai nevroviologiki as-theneia, i de Orthodoxia i therapeia tis«, in: Orthodoxia, Ellinismos. Poreia stin Triti Chilie-tia, hg. vom Koutloumousi Kloster, Berg Athos 1996, 67-87.

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bige der Gefahr der Religion entgehen, die zu falschen Göttern führt, und im Ge-genzug den wahren Gott der christlichen Offenbarung entdecken und erleben. Aus diesem Grund wird nach Romanides verständlich, warum Konzilien in der Kir-chengeschichte einberufen worden sind. Sie waren »associations of neurological clinics«, geführt von den Heiligen jener Zeit mit dem Ziel, die krankhafte mensch-liche Natur zu heilen. Dasselbe gilt für die paulinische Kirche (»The Pauline Church is like a neurobiological clinic«), denn in den Episteln von Paulus werden die drei Stadien zur Behebung des Religionsproblems ausführlich erläutert. Die Kirche insgesamt sei in diesem Sinne als neurologisch-psychiatrische Anstalt zu verstehen. Romanides geht davon aus, dass die meisten Abweichungen von dieser sich lange bewährt habenden christlichen Tradition auf die Theologie von Augus-tinus und die politischen Entwicklungen unter den Karolingischen Franken zu-rückzuführen sind, da jene zur radikalen Entfernung von Prinzipien der orthodoxen Tradition und des christlich-griechischen Römischen Imperiums des Ostens ge-führt haben.

Die Thesen von Romanides mögen auf der Basis der obigen Zusammenfassung befremdlich, eigenartig und in vielerlei Hinsicht problematisch erscheinen. Jedoch macht sein Versuch Sinn, bedenkt man, dass es sich hier um einen neuen Weg han-delt, die orthodox-christliche Superiorität und die damit verbundenen normativen Wahrheitsansprüche auf eine andere Weise zu bekräftigen, nämlich durch den Abstand vom Westen und dessen Theologie sowie durch die Abgrenzung von dem Phänomen »Religion«, das insgesamt als Lüge und Täuschung negiert wird. Der provokative Charakter der Ideen von Romanides erklärt zudem, warum er heutzu-tage selbst unter den Orthodoxen überzeugte Anhänger als auch eindeutige Gegner und Kritiker hat. Einer dieser Anhänger ist Dimitri Kitsikis (geb. 1935), Professor für Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität Ottawa (Kana-da),30 der ebenfalls die Ansichten von Romanides zum Thema »Religion als neuro-biologische Krankheit« akzeptiert.31 Dasselbe gilt für den Metropoliten von Naf-paktos und Agios Vlasios in Griechenland, Hierotheos (Vlachos), der in seinen Werken die Perspektiven und Ideen von Romanides weiterführt, unter anderem dessen Religionskritik und entsprechende Heilungsstrategie.32

Ein weiterer orthodoxer Theologe, der sich die Grundannahmen und Orientie-rungen von Romanides zu Eigen gemacht hat,33 ist der Erzpriester Georgios Metal-linos (geb. 1940), Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Athen, der ein umfangreiches theologisches Gesamtœuvre vorweist. Er vertritt ebenfalls eine orthodoxe Religionskritik. »Christian Orthodoxy does not confine itself within the narrow boundaries of religion«, die eine biologische Basis im Menschen habe. Religion sei das Ergebnis einer Fehlfunktion im menschlichen Organismus. Theologisch gesehen handele es sich um eine Vermischung der Gren- 30 Siehe die von ihm herausgegebene Zeitschrift Endiamesi Periochi 30, Winter 2003/04, 10-15. 31 Siehe auch Endiamesi Periochi 8, Sommer 1998, 7-11 und 32, Sommer 2004, 23. Siehe auch

D. Kitsikis, To Vyzantino protypo diakyverniseos kai to telos tou koinovoulevtismou, Athen 2001, 222.

32 Ausführlich dazu Metropolit Hierotheos (Vlachos), Orthodox Psychotherapy. The Science of the Fathers, Holy Monastery of Birth of Theotokos, Levadia 1994.

33 G. D. Metallinos, † Protopresvyteros Ioannis S. Romanides, Athen 22003.

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zen zwischen dem ungeschaffenen Gott und der geschaffenen Schöpfung, d. h. eine Form von Götzendienst. Der religiöse Mensch projiziere seine Gedanken und Fan-tasien in eine göttliche Sphäre, und auf diese Weise konstruiere er seine eigenen Götter aus utilitaristischen Gründen zur Befriedigung seiner eigenen individuellen Bedürfnisse. Die Kirche, die patristische Theologie und das spirituell-asketische Leben der Orthodoxie ermöglichten die Heilung vom Problem der Religion. Sie seien keine Denk- oder Moralsysteme, sondern hätten primär und konkret eine the-rapeutische Funktion und zwar in Analogie zu den herkömmlichen Methoden in der Medizin und der Psychiatrie. Deshalb habe Johannes Chrysostomos die Kirche als »spirituelles Krankenhaus« bezeichnet.34 Metallinos unterscheidet ebenfalls zwi-schen Kirche und Religion in anderen Instanzen, wie zum Beispiel zwischen kirch-licher (gottesdienstlich-liturgischer) und religiöser Kunst. Die erste sei Teil der Heilsgeschichte und offenbare in vielerlei Hinsicht das Mysterium der Offenba-rung Gottes und der Vergöttlichung des Menschen. In dieser Form betreibe die kirchliche Kunst Theologie und werde als untrennbarer Teil der Kirche angesehen. Religiöse Kunst sei im Gegenteil der Ausdruck individueller religiöser Gefühle und Kreativität. Es gehe nicht um eine gemeinschaftliche und liturgische Kunst. Die Heilsgeschichte werde hier individuell und nicht kirchlich-gemeinschaftlich angeeignet.35

Ein weiterer Vertreter orthodoxer Religionskritik ist Marios Begzos (geb. 1951), Professor für vergleichende Religionsphilosophie an der Theologischen Fa-kultät der Universität Athen. In seiner Unterscheidung von Religion und Chris-tentum geht er von den besonderen Betrachtungsweisen des Religionshistorikers Mircea Eliade (1907-1986) und des russischen orthodoxen Theologen der Diaspora Georgij V. Florovskij (Florovsky) (1893-1979) aus. In Anlehnung an Eliades klas-sische Studie Der Mythos der ewigen Wiederkehr (Originalausgabe auf Franzö-sisch 1949) und seine fundamentale Unterscheidung zwischen archaischen und jü-disch-christlichen Traditionen, zwischen Natur und Geschichte und zwischen Kosmologie und Eschatologie, glaubt Begzos, Religionen seien naturgebundene Phänomene, die auf die ewige Wiederholung der Weltprozesse angewiesen seien. Dagegen sei das Christentum geschichtszentrisch, linearzeitlich und eschatologisch ausgerichtet. Die Welt sei nach christlicher Auffassung keine selbständige Entität, sondern bleibe immer von Gott, dem Schöpfer, abhängig. Dies bedeute, dass Natur in diesem Kontext als Schöpfung verstanden werde, was mit dem Kosmos der Religion nicht deckungsgleich sei. Aus dieser Perspektive sei das Christentum keine Religion, sondern eine Kirche. Es weist zwar alle konventionellen religiösen Aspekte auf, wie zum Beispiel Dogmen, Rituale oder Theologie, aber es sei keine Religion im wirklichen Sinne des Wortes. Das sei deshalb so, weil das Christentum nicht für eine ewige Wiederholung archetypischer Muster stehe, sondern ein escha-tologisches Schöpfungs- und Geschichtsverständnis befürworte. Die Trennungs-linie zwischen Kirche und Religion liege in der Menschwerdung Gottes in der Person Jesu Christi, der vollkommen Gott und Mensch gewesen sei. Religionen

34 G. D. Metallinos, »Orthodoxy as Therapy«, in: http://www.oodegr.com/english/psyxotherap/

psyxotherap3.htm (Download-Datum: März 2007). 35 G. D. Metallinos, Ekklisia kai synchronos elladikos politismos, Athen 2006, 22-23.

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seien nur theistisch und theozentrisch. Sie basierten allein auf dem Heiligen, wobei der Kosmos rein anthropozentrisch sei und dem Irdischen verhaftet bleibe. Dazwi-schen liege die Kirche, die durch die Gottmenschlichkeit einen dritten Weg in den Beziehungen zwischen den Menschen und dem Heiligen eröffnet habe. Die Escha-tologie sei deshalb ein Kernelement der Unterscheidung zwischen Kirche und Religion oder zwischen dem Christentum und allen Religionen. Polytheistische Systeme seien weiterhin mit der Eschatologie des Messianismus, insbesondere des Christentums, unvereinbar, die sich ebenfalls von der Eschatologie der anderen beiden Monotheismen, des jüdischen und des islamischen, unterscheide. Insofern hätten Eliade als Religionshistoriker und Florovsky als orthodoxer Theologe, ob-schon auf unterschiedliche Weise, auf dieses, leider in mancher Hinsicht in Verges-senheit geratene Kernelement des Christentums hingewiesen, nämlich auf dessen prägende eschatologische Dimension. Jedoch solle diese Unterscheidung zwischen Kirche und Religion weder monistisch noch dualistisch, sondern dialektisch ver-standen werden. Im Allgemeinen macht Begzos deutlich, dass die Einordnung des Christentums unter die umfassende Rubrik von Religionen allein methodologischer Natur ist und dass sie zum Zwecke seines besseren Studiums gemacht wird. Im Grunde genommen sei aber diese Kategorisierung nicht haltbar, denn sie berück-sichtige nicht die Besonderheiten des Christentums im Unterschied zu den Reli-gionen. Das Christentum habe dementsprechend keine religiöse Natur. Im End-effekt sieht Begzos zwei miteinander verbundene Gefahren für die Kirche, nämlich die Religionisierung und die Säkularisierung. Erstere bedeute die Transformation der Kirche in einen religiösen Totalitarismus mit institutioneller Autorität, Mora-lismus, Sentimentalismus sowie Natur- und Weltverehrung.36

Verschiedene Abgrenzungen der Orthodoxie und der Kirche von der Kategorie der Religion wurden darüber hinaus, wenn auch nicht immer explizit, im Rahmen einer intellektuellen Bewegung unternommen, die in Griechenland seit den 1980er Jahren mit dem Namen »Neoorthodoxie« bekannt wurde. Es handelte sich um eine diffuse Strömung aus verschiedenen Künstlern, Gelehrten, Literaten, linken Intel-lektuellen und orthodoxen Theologen und Denkern ohne festen ideologischen Rahmen, Struktur oder Organisation, die unter anderem eine Wiederentdeckung der eigenen orthodoxen Tradition Griechenlands jenseits externer westlicher und zwar verderblicher Einflüsse initiierte und nach den Besonderheiten einer tragfähi-gen neugriechischen Identität im heutigen globalen Kontext suchte.37 Des diffusen Charakters der Strömung ungeachtet, gab es gewisse gemeinsame Konvergenz- 36 Dazu M. Begzos, Dokimia philosofias tis thriskeias. Metamodernismos kai eschatologia,

Athen 1988, 75-122; ders., Fainomenologia tis thriskeias, Athen 1995, 205-242; ders., »Ekk-lisia kai thriskeia«, in: ders. (Hg.), Thriskeiologiko Lexiko, Athen 2000, 198-199.

37 Zu dieser Strömung siehe C. Mésoniat, »Le mouvement ›néo-orthodoxe‹ en Grèce«, in: Con-tacts 36, 1984, 331-340; V. Xydias, »›New‹ or ›Old‹: Orthodoxy in the Limelight«, in: Jour-nal of the Hellenic Diaspora 11, 1984, 69-72; V. N. Makrides, »Neoorthodoxie – eine reli-giöse Intellektuellenströmung im heutigen Griechenland«, in: P. Antes; D. Pahnke (Hg.), Die Religion von Oberschichten. Religion – Profession – Intellektualismus, Marburg 1989, 279-289; ders., »Byzantium in Contemporary Greece. The Neo-orthodox Current of Ideas«, in: P. Magdalino; D. Ricks (Hg.), Byzantium and the Modern Greek Identity, Aldershot 1998, 141-153; A. Giannakopoulos, »Antiokzidentalismus und ostkirchliche Tradition«, in: ZfR 10, 2002, 119-129; ders., »Neoorthodoxia, Kommunitarismos kai Modernikotita«, in: Thriskeio-logia 5, 2004, 265-284.

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punkte, wie der ausgeprägte Antiokzidentalismus, die Bekräftigung einer neugrie-chischen Superiorität gegenüber dem Westen und nicht zuletzt die Unterscheidung zwischen Orthodoxie/Kirche und Religion.38 Der bereits erwähnte Christos Yanna-ras wurde auch in diese Strömung einbezogen und viele seiner Ideen wurden posi-tiv aufgenommen.

Einer der bekanntesten Vertreter der Neoorthodoxie ist Kostas Zouraris (geb. 1940), ein Politikwissenschaftler mit einem linksideologischen Hintergrund, der später ein großes Interesse für das kulturelle und orthodoxe Erbe Griechenlands entwickelte. Unter anderem suggerierte er eine Differenzierung zwischen Ortho-doxie und Religion. Er verwies auf die mögliche Etymologie des lateinischen Wortes »religio«, nämlich aus dem Verbum »religare«, d. h. zu bündeln bzw. zu fesseln. Daraus leitete er eine negative Komponente des Phänomens »Religion« ab, nämlich dass sie eine Form von Gefängnis und Einsperrung des Menschen zur Folge hat. Diese Situation setzte Zouraris der Freiheit der Person im Rahmen der Kirche und der gemeinschaftlichen zwischenmenschlichen Kommunikation und Erfahrung entgegen, die in der griechischen Orthodoxie existiere. Nichts sei weni-ger Religion oder Ketten als diese Kirche des griechischen Orients (»Car rien n’est moins religion, ›religio‹ ou cadenas que cette Église de l’Orient hellénique«).39 Die Orthodoxie als Kirche im wahren Sinne des Wortes wird weiterhin als ein holisti-sches und lebendiges Ereignis mit einer umfassenden Kulturbedeutung für die Men-schen verstanden, wobei die Religion eher als ein Fragment menschlichen und ge-sellschaftlichen Lebens mit verkrusteten institutionalisierten administrativen und a-personalen Strukturen angesehen wird, das für die Menschen wenig Bedeutung und Attraktivität hat.40 In einem anderen Fall betrachtete Zouraris – wie auch Yan-naras – die Religionskritik von Karl Marx als durchaus berechtigt und zwar aus einer orthodox-christlichen Perspektive.41

Eine ähnliche Differenzierung von Orthodoxie und Religion unternahm auch im Rahmen der Strömung der Neoorthodoxie der Historiker und Intellektuelle mit einem ebenfalls linksideologischen Hintergrund Kostis Moskof (1939-1998).42 Für ihn stellte die Orthodoxie eine holistische und tatsächliche Auseinandersetzung mit dem menschlichen Leben als Ganzes dar, was für die Religion, insbesondere in ihren westlichen Ausprägungen, die nur partiell operiert und von den herrschenden Klassen instrumentalisiert wird, nicht möglich ist. Die Kirche sei in der Orthodoxie kein festes und etabliertes System, wie im Westen, sondern revolutionär, radikal, befreiend, dynamisch, kämpferisch und entwicklungsfähig, wobei sie das Gesamt-volk repräsentiere. Durch das Postulat der Vergöttlichung, das in der westlichen

38 Vgl. O. Clément, »Orthodox reflections on ›Liberation theology‹«, in: St. Vladimir’s Theolo-

gical Quarterly 29, 1985, 63-71, hier: 70. 39 K. Zouraris, »De la farce ataraxique«, in: Les Temps modernes 41, Nr. 473, Dezember 1985,

1009-1021, hier: 1017. 40 Siehe sein Interview in: P. Makris, Marxistes kai Orthodoxia. Dialogos i diamachi?, Athen

1983, 60-63. Siehe auch K. Zouraris, Misgagkeia aperinoiti. Symvoli stin politiki avtognosia tis Elladas, Athen 21986, 56-60 und 274-279; ders., Gelas Ellas Apophras. Stoicheia kai stoicheia stin romeiki anchivasiin, Athen 1990, 26-30.

41 See K. Zouraris, »I marxistiki epanastatiki praxi«, in: Simadia 9, 1984, 23-25, hier: 25. 42 So in seinem Interview »To neoorthodoxo revma«, in: Scholiastis 5, 1983, 20-21, hier: 21.

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Theologie fehle, beabsichtige die Orthodoxie die totale Befreiung des Menschen und die Vervollkommnung des personalen, gemeinschaftlichen Lebens.43 Die Ganz-heit des Lebens, auf die die Orthodoxie gerichtet ist und die sich von dem frag-mentarischen Charakter der Religion unterscheidet, gilt interessanterweise als wich-tiges Kennzeichen der orthodoxen monastischen Tradition vom Berg Athos.44

An Theorieansätzen über eine nötige Unterscheidung der Orthodoxie/Kirche von der Religion mangelt es nicht in den verschiedensten orthodoxen Kreisen.45 Es geht meistens um individuell vertretene Thesen, die jedoch in Beziehung zueinander stehen, wenn auch nicht systematisch. Für den Theologen Dimitris G. Mavropoulos ist die Kirche eine eschatologische Gemeinschaft von Personen innerhalb der Grenzen der Geschichte, die als Offenbarung der Beziehungen zwischen Gott und der Schöpfung gilt. Die Kirche vermittle eine allumfassende Weltanschauung und -deutung. In dieser Gemeinschaft werde der Kampf gegen den individuellen Egois-mus und zur Realisierung einer gemeinschaftlichen Lebensweise nach dem Proto-typ der Menschwerdung Jesu Christi geführt. Die Religion sei dagegen ein natur-abhängiges Phänomen ohne eschatologischen Charakter, fixiert auf die Harmonie der kosmischen Wiederkehr. Sie sei zudem ein rein individuelles Phänomen, in dem das metaphysische Prinzip, entweder Gott oder etwas anderes, als äußere Autorität zur Anerkennung und Belohnung der Bemühungen des Menschen fungiere. Reli-gionisierung der Kirche bedeute einen Götzendienst christlicher Prägung: Mora-lismus, sentimentales Werteerlebnis, Nachahmung von tugendhaften Taten sowie elitäre und selektive zwischenmenschliche Beziehungen.46 Hier sind die Bezugs-punkte zu den bereits erwähnten Ideen von Yannaras und Begzos deutlich.

Eine Richtung, die unter anderem von Begzos beeinflusst worden ist, vertritt Alexandros Karyotoglou, ein Theologe mit religionshistorischen Interessen. Reli-gionen sind seiner Ansicht nach menschliche Konstrukte, wobei die christliche Orthodoxie eine Kirche darstellt. Religionen ähneln einem Floß, dagegen sei die Kirche wie ein sicheres Schiff zur Rettung der Menschen. Religionen versteht Karyotoglou als negative Folge des Sündenfalls und der Trennung zwischen Gott und den Menschen. Religionen seien auch naturabhängig, wobei die Kirche dage-gen auf die Geschichte fixiert und eschatologisch bedingt sei – hier wiederum die Gegenüberstellung von zyklisch-religiösen und linear-kirchlichen Vorstellungen Eliadescher Prägung. Kirche bedeute im Endeffekt eine wirkliche Erneuerung der Welt. Insofern sei sie keine bloß bessere oder höhere Form von Religion, sondern eine neue Lebensweise und -bestimmung.47

43 Siehe sein Interview in: P. Makris, Marxistes kai Orthodoxia…, 17-21. Siehe auch K. Moskof,

I praxi kai i siopi. Ta oria tou erota kai ta oria tis istorias. Dokimia II, Athen 1983, 89-153; ders., Laikismos i protoporia? Dokimia III, Athen 1985, 22-34 und 46-56.

44 Dazu Archimandrite Vasileios, What is Unique About Orthodox Culture, Montréal; Québec 2001 [Griechisches Original: To Agion Oros kai i Paideia tou Genous mas, Berg Athos 1984].

45 Vgl. C. Skouteris, »I diakrisis metaxy thriskevtikis kai christianikis theologias«, in: Theolo-gia 42, 1971, 396-406.

46 D. G. Mavropoulos, »Ekklisiastikos i thriskevtikos Papadiamantis?«, in: Analogion 2, 2002, 19-28, hier: 19.

47 A. Karyotoglou, »Thriskeies: ›Erga cheiron anthropon‹«, in: Peiraiki Ekklisia 9 [116], 1991, 40-41; ders., »Eisagogi«, in: Egkyklopaideia ton Thriskeion, Bd. 1, Athen 1994, o. S.

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Laut G. Mantzaridis, Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Thessaloniki, bedeutet schließlich Religionisierung des Christentums die aus-schließliche Schwerpunktsetzung auf äußere, formalistische Elemente, wobei der wahre Inhalt der christlichen Offenbarung verloren gehe. Durch seine Religionisie-rung werde das Christentum zu einem menschlichen Konstrukt und bestehe nun-mehr aus religiösen Idolen, was mit der ungeschaffenen Gnade und der Wahrneh-mung der Energien Gottes nichts zu tun habe.48 Das Christentum sei keine Religion, doch erscheine es unter dem Gewand der Religion, d. h. als die »Religion der Of-fenbarung«. Sein religiöser Charakter löse sich jedoch auf, sobald eine mystische, übersinnliche Union zwischen Gott und den Menschen hergestellt werde.49

Ähnliche Differenzierungen von Orthodoxie/Kirche und Religion entstammen der heutigen serbisch-orthodoxen Kultur, die eine eigene theologische Entwicklung vorweisen kann und ebenfalls ein – aus historischen wie auch gegenwärtigen Grün-den – zwiespältiges Verhältnis zum Westen hat.50 Die Tatsache, dass es normaler-weise zwischen den verschiedenen orthodoxen Kulturen Kontakte, Austauschbezie-hungen und Interaktionen gab und noch heute gibt, erklärt auch, warum die ortho-doxe Religionskritik kulturübergreifend wirkt. Dies lässt sich bei Atanasije Jevtić (geb. 1938), dem ehemaligen Bischof von Zahumlje und Herzegowina, beobachten, der unter anderem in Griechenland theologische Studien gemacht hat. Die Unter-scheidung zwischen Kirche und Religion kommt bei ihm in verschiedenen Formen vor, wie bei der Betrachtung der Bibel, denn sie wird sowohl als religiöser Text, aber auch als kirchliches Buch angesehen.51 In diesem Kontext entfaltet Jevtić, wie die Mehrzahl orthodoxer Denker, eine besondere Sensibilisierung zum Thema »Kirche« und »Gemeinschaft«. Die kirchliche Dimension im Sinne der Gemein-schaft und der personalen Freiheit sei von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Christentums, deren Vorbild die Heilige Trinität, d. h. die ewige Gemeinschaft und Kirche, sei. Gott habe die Welt geschaffen, damit sie eine Gemeinschaft wird.52 Diese Ausführungen verbindet Jevtić mit Kritik am römisch-katholischen Kirchen-verständnis. Die Römisch-Katholische Kirche sei zu einer Institution umgewandelt worden. Im Gegensatz dazu sei die Orthodoxe Kirche zuerst ein lebendiger Orga-nismus, dann ein Organismus, und erst danach eine Institution.53 Jevtić will also das Christentum vorwiegend vor dem Hintergrund seines kirchlichen Charakters verstehen. Das Christentum sei traditionell und bleibe im Grunde genommen eine Kirche, d. h. eine Gemeinschaft der lebendigen und gläubigen Jesusjünger.54 Es scheint so, dass für Jevtić die Institutionalisierung mit der bereits erwähnten Reli- 48 G. I. Mantzaridis, »I Orthodoxi theologia stin istoria kai sto paron. Sintomo odoiporiko«, in:

Synaxi 92, 2004, 10-16, hier: 12. 49 G. I. Mantzaridis, Orthodoxi theologia kai zoi, Thessaloniki 21996, 84. 50 Ausführlicher dazu siehe K. Buchenau, Kämpfende Kirchen. Jugoslawiens religiöse Hypothek

(Erfurter Studien zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums, 2), Frankfurt a. M. 2006, insbes. 13-51 und 161-252.

51 A. Jevtić, »Pos oi Pateres eidan tin Agia Graphi«, in: Synaxi 33, 1990, 37-43, hier: 37-40. 52 Vladika Atanasije (Jevtić), Živo predanje u Crkvi, Trebinje 1998, 88-90. Viele der nach-

folgenden Informationen aus der serbischen Orthodoxie verdanke ich Frau Jelena Jablanov-Maksimović, MA (Erfurt).

53 Ebd., 90. 54 Ebd., 138.

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Religion, Kirche und Orthodoxie 71

gionisierung des Christentums einhergeht, was eine Preisgabe seines kirchlichen Charakters bedeutet.

Der Unterschied zwischen Orthodoxie/Kirche und Religion kommt auch bei anderen serbisch-orthodoxen Theologen vor. So identifiziert der Priester und Theo-loge Radovan Bigović die Orthodoxie prinzipiell mit der Kirche. Sie weise zwar religiöse Elemente auf, aber sie sei keine Religion im klassischen Sinne des Wor-tes, weil sie in erster Linie mit der Kirche und ihrem besonderen Lebensmodus identifiziert bleibe.55 Schließlich glaubt der Theologe Ljubivoje Stojanović, das Christentum sei eine gottmenschliche Wirklichkeit, die auf Jesus Christus beruhe. Insofern könne es nicht einfach als eine neue Religion in die lange Reihe konven-tioneller Religionen eingeordnet werden, denn es bringe einen neuartigen Lebens-modus hervor.56

Um den Blick schließlich auf ein anderes orthodoxes Milieu zu richten: Im postkommunistischen Russland wurden auch ähnliche Diskurse bezüglich einer Unterscheidung zwischen Christentum und Religionen konstruiert. Dies lässt sich beim orthodoxen Priester Alexander Men’ (1935-1990) beobachten, der in der re-ligiösen Szene Russlands wegen seiner Offenheit und Dialogbereitschaft bis hin zu seiner Ermordung sehr bekannt war und eine bleibende Botschaft hinterließ. Aus einer theologischen Perspektive beurteilte er zunächst die religiöse Suche nach Gott und Erlösung in den verschiedenen Religionen grundsätzlich positiv, ohne je-doch die Einmaligkeit des Christentums aufgrund der Person Jesu Christi in Frage zu stellen.57 Sein Anliegen war, das besondere Merkmal des Christentums im Unterschied zu den übrigen Religionen zu lokalisieren und ein frisches Verständ-nis vom Christentum jenseits älterer Konzeptualisierungen und Deutungen zu pro-pagieren. Das Christentum sei im Grunde genommen wie jede andere Religion, aber in einem entscheidenden Punkt sei es anders:

»World religions are part of a culture. They grow along with the upsurge of the human spirit towards eternity, towards unchangeable values. In Chris-tianity the stream flows from on high, from heaven, and this is why one of the theologians of our century was right to say, ›Christianity is not one among other religions – it is the crisis of all religions.‹ It rises above all others because, as the Apostle Paul said to us, ›No one is saved by works of the Law, but only through faith in Jesus Christ‹.«58

Anzumerken ist, dass die Unterscheidung zwischen Christentum und Religionen bei Men’ nicht mit einer Religionskritik im Sinne einer Degradierung nichtchrist-licher Religionen einhergeht. Wenn auch das Christentum nach Men’ eine ernste Herausforderung für die meisten philosophischen und religiösen Systeme darstellt,

55 R. Bigović, Crkva i druìtvo, Belgrad 2000, 270. 56 L. Stojanović, Hriìcani u svetu, Belgrad 2006, 71. 57 A. Men’, Byt’ Christjianinom, Moskau 1992, 3-17. Zu seinen Ansichten bezüglich nicht-

christlicher Religionen siehe ferner A. Andreeva (Hg.), Otec Aleksandr Men’ otvecaet na voprosy sluìatelej, Moskau 1999, 249-273.

58 A. Men’, »Christianity«, in: Sourozh 56, 1994, 7-16, hier: 14 (Hervorhebung im Original).

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ist jedoch sein Hauptcharakteristikum nicht die Negierung der Anderen, sondern ihre Affirmation, Inklusion und Vervollkommnung.59

4. Hintergrund, Kontext und Zweck orthodox-christlicher Religionskritik

Die bereits überblicksartig erwähnten orthodoxen Religionskritiken unterstreichen zunächst auf ihre besondere Weise die noch schwierigen Beziehungen zwischen dem Christentum und den nichtchristlichen Religionen. Dies ist jedenfalls – histo-risch gesehen – aus zahlreichen Beispielen bekannt, denn die christliche Theologie tat sich immer wieder schwer, die eigenen Absolutheits- und Exklusivitätsan-sprüche eine religiöse Wahrheit betreffend mit den Ansprüchen anderer Religionen zu vereinbaren. Je nach Epoche gab es vereinzelte Abweichungen von diesem Mo-dell sowie Sonderbetrachtungen und Evaluierungen nichtchristlicher Religionen, die jedoch die dominierende christliche polemische Perspektive nach der Institu-tionalisierung des Christentums im 4. Jahrhundert und die damit verbundene Defi-nitionsmacht christlicher Theologen nicht in Frage stellen konnten. Die Etablierung des Christentums auf europäischem Boden und seine weltweite Expansion wurden nicht mit friedlichen Mitteln und interreligiösen Dialogen von gleichberechtigten Partnern erreicht. Kein Zufall ist allerdings, dass religiöse Toleranz kein altherge-brachtes, sondern ein modernes Phänomen im Christentum ist, das nur in unserer Zeit so eine große Bedeutung erlangt hat. Historisch gesehen ist aber die christliche Intoleranz gegen Andersgläubige der Normalfall. Ob dies ein inhärentes Struktur-element monotheistischer Systeme ist und ob dies religiöse Gewalt auslösen kann,60 mag zwar nicht kategorisch positiv beantwortet werden, jedoch ist eine Verbin-dung zwischen den beiden sicherlich vorhanden.

Sehr relevant für unsere Thematik sind die Wandlungen im Bereich des west-lichen Christentums in Bezug auf nichtchristliche Religionen, insbesondere im Laufe des 20. Jahrhunderts. Sowohl innerhalb der Protestantismus als auch des Römischen Katholizismus (nach dem II. Vatikanum) änderten sich allmählich die Einstellungen gegenüber den eigenen Wahrheitsansprüchen und dem Modus ihrer Vermittlung. Dies hatte unmittelbare Konsequenzen unter anderem auf die Rezep-tion nichtchristlicher Religionen. Intoleranz wurde durch weitgehende Offenheit und Dialogbereitschaft ersetzt, was zur Ausgestaltung einer christlichen oder auch pluralistischen »Theologie der Religionen« führte. Diesen Entwicklungen wurde ebenfalls ein fester institutioneller Rahmen zugewiesen, wie die spezifischen Gre-mien der jeweiligen Kirchen für den Dialog mit den Nichtchristen (z. B. Secreta-riatus pro non Christianis im Vatikan oder ähnliche Kommissionen im Rahmen des Ökumenischen Rates der Kirchen) zeigen. Einige christliche Theologen im Westen

59 Ebd., 7. 60 Vgl. J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, Mün-

chen; Wien 2003; ders., Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2006.

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wagten sich weit vor, die nichtchristlichen Religionen völlig anzuerkennen, ob-wohl die jeweiligen Kirchenhierarchien diesen Ansätzen nicht immer zustimmten. Diese Entwicklungen im Rahmen des westlichen Christentums fanden zudem in enger Beziehung und Interaktion mit den allgemeinen sozialen, politischen und kulturellen Veränderungen der westlichen Welt im Laufe der voranschreitenden Globalisierung statt.61 Die feindliche oder friedliche Trennung von Staat und Kir-che, die Krise des westlichen Wertesystems, der gesellschaftliche Pluralismus und Multikulturalismus, die weltweite Akzeptanz der individuellen Menschenrechte, die verbesserte Minderheitenpolitik, der Globalisierungsprozess und die Heraus-kristallisierung eines globalen pluralistischen religiös-kulturellen Systems, und neuerdings die multiplen Herausforderungen des Islam – um ganz wenige von den einschlägigen Prozessen zu nennen – führten notwendigerweise zur Überwindung althergebrachter Vorurteile und zur Öffnung der Perspektiven jenseits des Chris-tentums. Weiterhin sind all diese Entwicklungen von dem Geist der Postmoderne entscheidend mitgeprägt, der ehemalige Sicherheiten und Gewissheiten in Frage stellte, was mit einer Relativierung von absoluten und normativen Wahrheits-ansprüchen gekoppelt war. Es wäre jedoch falsch, die Reaktionen auf diese Ent-wicklungen hier auszulassen. Fundamentalistische und rigoristische Strömungen sind unter anderem als Reaktionen auf diesen Relativierungsprozess herkömm-licher religiöser Wahrheit zu verstehen und von der Suche nach neuer Wahrheits-absolutheit gekennzeichnet.

Es stellt sich nun zwangsläufig die Frage nach der entsprechenden Situation im Orthodoxen Christentum, das historisch gesehen vorwiegend im Osten und Süd-osten Europas sowie im Vorderen Orient Fuß fasste, heute jedoch in der ganzen Welt verbreitet ist. Wie steht diese Version des Christentums zu den nichtchrist-lichen Religionen? Es lassen sich je nach Kontext, Epoche und anderen Gegeben-heiten viele relevante Positionen historisch wie gegenwärtig beobachten. Wichtig ist jedoch hier auf einen sehr wichtigen Punkt von umfangreicher Bedeutung hin-zuweisen, nämlich das Auseinanderdriften von Orthodoxem und Lateinischem Christentum, das auch für unsere Thematik relevant ist. Trotz gegenseitiger Kon-takte und Beeinflussung hat das Orthodoxe Christentum eine grundsätzlich andere Gesamtentwicklung als das Lateinische Christentum im Westen gehabt. Das ist insbesondere in der Neuzeit und der Moderne der Fall, deren Entwicklungen das heutige Bild des Lateinischen Christentums entscheidend mitgeprägt haben. Je-doch war die Begegnung des Orthodoxen Christentums mit der Neuzeit und der Moderne eine grundsätzlich andere, deshalb waren die daraus entstandenen Folgen nicht dieselben wie im Westen. Dies kann auf mehreren Ebenen festgestellt werden, ohne daraus wertende Urteile über die jeweiligen Kirchen ableiten zu wollen. Bei-spielsweise erlebte das Orthodoxe Christentum die Aufklärung nicht auf dieselbe Art und Weise wie das Christentum des Westens. In mancher Hinsicht erscheint es also, als ob das Orthodoxe Christentum noch in einer vormodernen Situation lebt. Seine theologischen Positionen, wie im Umgang mit der Interpretation der Bibel

61 Dazu R. W. Lee, »Christianity and the Other Religions. Interreligious Relations in a Shrink-

ing World«, in: Sociological Analysis 53, 1992, 125-139.

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und der kirchlichen Tradition,62 weisen auf eine andere Grundeinstellung hin, die von den inzwischen im Lateinischen Christentum lange etablierten Positionen er-heblich abweicht.

Diese Divergenz führt nicht unbedingt zu einer Annäherung oder Selbstre-flexion. Orthodoxe Kirchen und Christen vertreten in vielerlei Hinsicht eine noch sehr normative Position bezüglich ihrer eigenen Wahrheitsansprüche. Sie kritisie-ren dabei die christlichen Entwicklungen im Westen und haben in der Geschichte immer wieder versucht, sich von diesen durch verschiedene Strategien abzugren-zen. Insofern befinden sie sich nicht in einem Aufholprozess, um westliche theolo-gische Standards zu erreichen, sondern sind von der eigenen Überlegenheit völlig überzeugt und üben zugleich scharfe Kritik an den westlichen theologischen und anderen Neuerungen, was bis heute der Fall ist.63 Insofern perpetuieren sie eine Kluft zwischen den beiden christlichen Welten, die sich durch die Bemühungen der religiösen Diplomatie auf beiden Seiten nicht überbrücken lässt. Die bereits angeführten orthodoxen religionskritischen Diskurse sind vor diesem Hintergrund zu verstehen und weisen ein fundamentales Kennzeichen der orthodoxen Welt auf, nämlich die Notwendigkeit der orthodoxen Unterschiedlichkeit und der damit ver-bundenen Abgrenzungen von allen anderen, ob Nichtchristen oder auch westliche Christen. Die Orthodoxie in ihrer authentischen Form, wörtlich verstanden als Rechtgläubigkeit, gilt als allen Religionen und Glaubenssystemen überlegen, des-halb sollte sie mit ihnen keineswegs vermischt werden. Im Laufe orthodoxer Reli-gions- und Kulturgeschichte lassen sich zahlreiche solcher Abgrenzungsstrategien und Unterscheidungskriterien finden, zu denen auch die oben erwähnte orthodoxe Religionskritik gehört. Dieses Verhalten der Orthodoxen, bedingt durch die eige-nen Exklusivitäts- und Absolutheitsansprüche, lässt sich auch in den letzten Jahren innerhalb des Ökumenischen Rates der Kirchen vermehrt beobachten. Viele Or-thodoxe Kirchen haben offensichtlich große Schwierigkeiten als Mitglieder dieser Organisation und haben diese bereits verlassen oder beabsichtigen dies.

Was die orthodoxe Religionskritik im Spezifischen anbelangt, ist deutlich, dass sie grundsätzlich auf konfessionell bedingten und wertenden theologischen Argu-menten beruht. Es handelt sich meistens um intra-orthodoxe Diskurse, die keinen direkten Bezug zu der heutigen Religionswissenschaft sowie zu der breit angeleg-ten Religionsforschung aufweisen, insbesondere was die kulturwissenschaftliche Reflexion auf das Phänomen »Religion« und seine christlich-europäischen Wurzeln angeht,64 die zu einem interessanten Ideenaustausch in Bezug auf den Religions- 62 Vgl. V. N. Makrides, »Die Autorität und Normativität der Tradition. Zum Umgang mit Heili-

gen Schriften im Orthodoxen Christentum«, in: C. Bultmann; C.-P. März; V. N. Makrides (Hg.), Heilige Schriften. Ursprung, Geltung und Gebrauch, Münster 2005, 72-85.

63 Verschiedene Äußerungen aus diversen orthodoxen Kulturen in Bezug auf die eigene Supe-riorität und den Verfall des Westens findet man in dem Buch von Victoria Clark, Why Angels Fall. A Journey Through Orthodox Europe from Byzantium to Kosovo, London 2000, die unterschiedliche orthodoxe Länder besuchte und zahlreiche Gespräche mit Geistlichen und Laien führte. Trotz der besonderen Ausgangsperspektive der Autorin und der daraus folgen-den Materialdarstellung offenbart dieses Buch viel über die besonderen orthodoxen Kulturen unserer Zeit und ihre Hauptorientierungen.

64 Dazu J. Z. Smith, »Religion, Religions, Religious«, in: M. C. Taylor (Hg.), Critical Terms for Religious Studies, Chicago; London 1998, 269-284; H. G. Kippenberg; K. von Stuckrad, Einführung in die Religionswissenschaft, München 2003, 24-93.

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begriff geführt hat.65 Dasselbe betrifft auch den Begriff »Kirche«, der in diesen orthodoxen Diskursen stark theologisch geprägt ist, wobei er in der religionssozio-logischen Forschung anders konzeptualisiert wird.66 Ebenfalls sieht die historisch-theologische Forschung das Christentum aus einer anderen Perspektive und spricht ihm die Religionszugehörigkeit nicht ab, wie die orthodoxen Diskurse es tun.67 Das religiöse Phänomen im Allgemeinen wird jedoch in diesen Diskursen aus der Perspektive einer normativen theologischen Ausgangsposition betrachtet, deren Zweck die Feststellung der eigenen orthodoxen Überlegenheit ist. Insofern betreibt die orthodoxe Religionskritik einen heutzutage eher überholten Reduktionismus, der zumindest in den christlichen Kirchen des Westens schon lange überwunden ist. Religiöse Wahrheit wird hier nicht perspektivisch vermittelt, sondern normativ. Religion wird hier nicht empirisch oder historisch untersucht, sondern mit der Ab-sicht, einen Trennungsstrich zwischen Religion und Orthodoxie/Kirche zu ziehen und die Superioritätsansprüche der Letzteren auf eine andere Weise zu bekräftigen. Die kontinuierliche Suche also nach ständig neuen Unterscheidungsmerkmalen der Orthodoxie von allen anderen Glaubenssystemen führte mit an Sicherheit gren-zender Wahrscheinlichkeit zu dieser neuen Form von Religionskritik.

Wenn auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit all diesen orthodoxen Diskursen aus religionswissenschaftlicher Sicht vielleicht überflüssig wäre und für die allgemeine Religionsforschung weniger ergiebig scheint, so sollen doch einige kritische Bemerkungen gemacht werden. Beispielsweise ist die Religionskritik von Yannaras in mehrfacher Hinsicht problematisch. Seine Ausführungen sind histo-risch ungenau. So spricht er von der Existenz institutionalisierter Religionsformen seit den Anfängen menschlicher Gesellschaften.68 Religionshistorisch wäre es je-doch unzutreffend, einen solchen Institutionalisierungsprozess der Religion in den Uranfängen menschlicher Gesellschaften zu verorten, zumal starke Differenzie-rungen zwischen Religion, Kultur und anderen gesellschaftlichen Bereichen eine besondere christlich-europäische Prägung haben und in anderen, besonders archai-schen Gesellschaften nicht vorkommen.69 Aber das Problem mit Yannaras’ Theo-rie ist nicht unbedingt zeitlich, sondern betrifft seine Voraussetzungen und Zielset-zung. Bei ihm geht es nicht um die Lokalisierung von Formen organisierter/institu-tionalisierter Religion, ein beliebtes Thema der Religionssoziologie,70 sondern um die besondere Wertung einer Entwicklung. Er ist nämlich sehr kritisch gegenüber der Institutionalisierung des Christentums insgesamt, die er mit dessen Religioni-sierung verbindet. Aufgrund seiner Abneigung gegen diese beiden Prozesse im Christentum, die es zu bekämpfen gälte, überträgt er das »Problem« unterschieds-los auf alle Religionen. 65 Dazu siehe den nützlichen Überblick von P. Beyer, »Conceptions of Religion. On Distinguish-

ing Scientific, Theological, and ›Official‹ Meanings«, in: Social Compass 50, 2003, 141-160. 66 Dazu H. Knoblauch, Religionssoziologie, Berlin; New York 1999, 145-153. 67 Vgl. z. B. H. D. Betz, »Christianity as Religion. Paul’s Attempt at Definition in Romans«,

in: The Journal of Religion 71, 1991, 315-344. 68 C. Yannaras, Enantia…, 35. 69 Dazu D. Sabbatucci, »Kultur und Religion«, in: H. Cancik; B. Gladigow; M. Laubscher

(Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1988, 43-58. 70 G. Kehrer, Organisierte Religion, Stuttgart 1982.

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Einige andere Beispiele: Yannaras betrachtet »Fundamentalismus« als im 19. Jahrhundert geläufigen Begriff,71 wogegen jener erst 1920 von Curtis Lee Laws (1858-1946) eingeführt wurde, nachdem eine Reihe von Texten mit dem Titel The Fundamentals – A Testimony to the Truth zwischen den Jahren 1910 und 1915 in Tausenden von Auflagen erschienen war. Unter Verwendung veralteter Literatur spricht Yannaras weiterhin von Millionen christlicher Märtyrer im Römischen Imperium,72 eine Zahl, die jedoch aus der Sicht der heutigen Forschung als über-trieben erscheint.73 Yannaras’ Hauptannahme schließlich, Religion sei ein rein in-dividualistisches Phänomen und nur die Kirche stelle eine Gemeinschaft dar, klingt arbiträr, verallgemeinernd und sogar irreführend. Die Dialektik zwischen In-dividualität und Kollektivität, in unterschiedlichem Maße selbstverständlich, kenn-zeichnet alle Religionen sowie alle menschlichen Gesellschaften und ist als solche mehrmals thematisiert worden. Man denke etwa an die Theorie von E. Durkheim und die Rolle der Religion bei dem Zusammenhalten einer Gesellschaft/Gemeinde, denn die Gesellschaft stellt dar, was in der Religion verehrt wird.74 Es wird daher deutlich, dass Yannaras’ Ausgangspositionen und Begrifflichkeiten wertende und normative Ansprüche sowie theologische Zweckmäßigkeiten zugrunde liegen, was die Diskussion mit der Religionswissenschaft sehr schwer gestaltet. Er operiert mit einem eigenen Religionsbegriff, dessen Teilelemente (Gemeinschaft von Personen, Beziehung, Freiheit) normative Dimensionen haben, anhand derer alle Religionen einschließlich des Christentums zu messen sind.

Viel problematischer erweist sich aber Yannaras’ Methode zum Umgang mit religiösen Phänomenen überhaupt. Aus der Lektüre seines Buches wird deutlich, dass er auf das Christentum fokussiert und das westliche Christentum zur Ziel-scheibe seiner Kritik wird. Die Unterschiede zwischen dem Orthodoxen und dem Lateinischen Christentum gehören ohnehin zu seinen beliebtesten Forschungsthe-men seit einigen Jahrzehnten.75 Folgender Einwand: Wie kann es überhaupt mög-lich sein, Prozesse und Entwicklungen im Christentum allgemein auf alle Religio-nen zu übertragen? Deren wichtige Kennzeichen werden pauschal auf arbiträre Weise und mit negativen Urteilen zu Beginn seines Buches zusammengefasst. Yan-naras hätte sich mit seinen Ideen und Kritiken auf das Christentum beschränken können unter Verwendung entsprechender Begrifflichkeiten, ohne letztere auf die Religionen allgemein übertragen zu müssen. Seine Kritik an bestimmten Institu-tionsgebilden, Ideen und Praktiken in der Geschichte des Christentums – darunter auch des Orthodoxen (z. B. über die Verabsolutierung und Idolisierung der Tradi-

71 C. Yannaras, Enantia…, 174. 72 Ebd., 215. 73 Hierzu die Meinung von W. H. C. Frend, Martyrdom and Persecution in the Early Church,

Oxford 1965, 413. Vgl. auch ders., »Persecution in the Early Church«, in: Church History 9, 1990, 5-11; ders., »Martyrdom and Political Oppression«, in: Ph. F. Esler (Hg.), The Early Christian World, Bd. 2, London; New York 2000, 815-839.

74 Dazu H. Knoblauch, Religionssoziologie…, 58-65. 75 Vgl. z. B. C. Yannaras, »Orthodoxy and the West«, in: The Greek Orthodox Theological

Review 17, 1972, 115-131; ders., »Orthodoxy and the West«, in: Philotheos. International Journal of Philosophy and Theology 2, 2002, 72-87.

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tion76) – sind zweifelsohne anregend, provokativ und spannungsvoll. Jedoch ist der gesamte Bezugsrahmen, in dem er seinen Theorieansatz situiert, nämlich der allge-meine religiöse, unangemessen. Ein weiteres Problem ergibt sich aus seinem Um-gang mit dem Christentum insbesondere, der einen a-historischen Charakter trägt. Er ist nämlich auf der Suche nach einem Christentum, das jenseits historisch-sozialer Ausformungen und kultureller Prägungen liegt und das entsprechend nur idealiter existieren könnte. Ob Yannaras’ Version der Kirche in den ersten christ-lichen Gemeinden realisiert worden ist, bleibt fragwürdig, zumal die eindeutige Tendenz im Christentum besteht, die Zeit der Urgemeinde zu idealisieren und eine romantische oder wie auch immer geartete Regression zu ihr in die Wege zu leiten. Dies kann jedoch nicht die Perspektive eines Religionshistorikers (und speziell hier eines Christentumshistorikers) sein, der religiöse Phänomene insgesamt in ihrer geschichtlichen Entwicklung und kulturellen Einbettung sowie Bedeutung betrach-ten will. In diesem Kontext werden die Veränderungen und Wandlungen religiöser Phänomene nicht als Abfall von einem authentischen Ur-Zustand betrachtet, son-dern als Etappen einer unvermeidlichen Entfaltung und Entwicklung, die das ge-samte soziale System betrifft. Religionen sind also nicht als statische und unverän-derliche, sondern als dynamische Einheiten zu betrachten, die sich kontinuierlich weiterentwickeln und sich verändern. Diesen Prozess wahrzunehmen und zu analy-sieren, ist die Aufgabe eines Religionshistorikers; diesen Prozess jedoch abwer-tend zu kritisieren, offenbart eine normative – entweder theologische oder auch andere – Geschichtsbetrachtung.

Eine ähnliche Vermischung der Grenzen zwischen Religionsforschung und theo-logischen Zweckmäßigkeiten erkennt man auch in den anderen bereits erwähnten orthodoxen Diskursen. Dies wird deutlich in der Vereinahmung Eliades bei der Differenzierung zwischen Religion und Kirche durch Begzos. Abgesehen von der Tatsache, dass Eliades Theorie und Methodologie heute auf Kritik stoßen und ihm eine Nähe zur Religionsphilosophie und Theologie vorgeworfen wird,77 ist es deut-lich, dass Eliades Absichten bezüglich der »Geschichtsfeindschaft« archaischer Menschen keine orthodox-theologischen waren und keine apologetischen Funk-tionen zugunsten des Christentums übernahmen. Im Gegenteil – er sah gewisse Vorteile in den archaischen Gesellschaften und ihren Vorstellungen über die ewige Wiederholung archetypischer Muster und zwar in ihrem Versuch, sich mit den existenziellen Dilemmata der Ausweglosigkeit abzufinden. Im Gegensatz dazu werden Begzos’ Interpretation und Erweiterung des Eliadeschen Theorieansatzes im Dienst einer Unterstützung der eschatologischen Besonderheit des Christen-tums verwendet, das für die einzige echte Offenbarung Gottes gehalten wird. Dass man Eliade nicht auf diese Weise verwenden darf, zeigen einige andere griechische Religionswissenschaftler mit theologischer Ausbildung, die den Religionsbegriff

76 C. Yannaras, Enantia…, 167-185. 77 Dazu U. Berner, »Mircea Eliade (1907-1986)«, in: A. Michaels (Hg.), Klassiker der Reli-

gionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 1997, 342-353; R. T. McCutcheon, Manufacturing Religion. The Discourse on Sui Generis Religion and the Politics of Nostalgia, New York 1997, insbes. 74-100; ders., The Discipline of Reli-gion. Structure, Meaning, Rhetoric, London; New York 2003, insbes. 54-82 und 191-212.

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Eliades anders deuten und seine Methode unabhängig von orthodox-theologischen Zweckmäßigkeiten beurteilen.78

Romanides unternimmt, wie bereits gesehen, eine extrem negative Religions-betrachtung – Religion als neurobiologische Krankheit –, um dann zu der einzig möglichen Lösung dieses »Problems« zu gelangen, nämlich zur Überwindung der Religion durch die Orthodoxie, die die alleinige wahre und wirkliche Offenbarung Gottes darstelle. Blickt man auf manche gegenwärtige evolutionsbiologische An-sätze zum Phänomen »Religion«, erkennt man in manchen Fällen eine parallele ne-gative und sogar polemische Einstellung zur Religion, wie bei Richard Dawkins.79 Jedoch betrifft die heutige evolutionsbiologische Kritik das Phänomen der Reli-gionen insgesamt, das aufgrund seiner angeblich negativen Konsequenzen für die Menschheit als Evolutionsfehler gebrandmarkt wird, ohne jedoch einen Unterschied zwischen »guten« und »schlechten« Religionen zu machen. Die Religionskritik von Romanides, die zwar keinen Bezug zu solchen Theorieansätzen hat, jedoch eine eigene »biologische Fundierung« aufweist, wird dagegen eindeutig zugunsten der Orthodoxie konzipiert. Daraus werden nochmals die Gefahren ersichtlich, die in solchen theologisch bedingten und normativ geleiteten Religionsbetrachtungen lauern.

Hinzu kommt noch das Problem der Ideologisierung orthodoxer Geschichte und Tradition in den Argumentationsweisen der oben genannten orthodoxen Theo-logen und Denker. Es geht um je nach Epoche und Kontext unterschiedliche Inter-pretationen und Diskurse über eine vermeintlich verloren gegangene genuine ortho-doxe Identität (z. B. seit den 1930er Jahren mit dem Ansatz von G. V. Florovskij über die »Pseudomorphose« orthodoxer Theologie80), die in klarer Abgrenzung vom Westen steht. Diese Versuche divergieren nicht selten erheblich voneinander, deshalb kann diese orthodoxe Identität nicht mit allgemeiner Gültigkeit akzeptiert oder durchgesetzt werden. Die ständige Suche nach den besonderen Unterschei-dungsmerkmalen der Orthodoxie vom westlichen Christentum wurde auch in den letzten Jahrzehnten durch die oben erwähnten religionskritischen Diskurse erwei-tert. An diesem Punkt genau wird das Problem der Ideologisierung offenkundig. Blickt man auf die Geschichte des Orthodoxen Christentums und auf die damit verbundenen unterschiedlichen Evaluierungen nichtchristlicher Religionen zurück, dann fällt es schwer, den Unterschied zwischen Religion und Kirche oder eine Theorie von der Religionisierung des Christentums zu entdecken. Kirchenväter und andere Kirchenleute haben meistens nach dem Prinzip »wahre« und »falsche Religion« argumentiert und haben sogar die Bezeichnung »Religion« für das Christentum benutzt. Klemens von Alexandrien machte zum Beispiel deutlich, dass die antike Philosophie nicht in der Lage war, die einzige göttliche und wahre

78 So z. B. S. Papalexandropoulos, Dokimia Istorias ton Thriskeion, Athen 1994, 17-56. Siehe

auch D. Stathopoulos (Hg.), Ston Ypato ton Thriskeiologon Mircea Eliade. Prosfora Timis kai Sevasmou sti mnimi tou (23-4-1986), Athen 1988.

79 R. Dawkins, The God Delusion, London 2006. 80 Zu diesem sowie zu anderen Versuchen, die authentische orthodoxe Tradition wiederzuent-

decken siehe K. C. Felmy, »Die orthodoxe Theologie in kritischer Selbstdarstellung«, in: Kirche im Osten 28, 1985, 53-79.

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Religion, nämlich die christliche, zu erkennen.81 Origenes behauptete ferner in sei-ner Erwiderung auf Kelsos, alle Religionen würden irgendwann verschwinden, wobei nur die christliche Religion überleben und siegen würde.82 Athanasios von Alexandrien war zudem sicher, dass durch die Widerlegung aller falschen Religio-nen und Götter sich die einzige wahre und fromme Religion (= das Christentum) und der einzige wahre Gott (= der christliche) etablieren würden.83 Eusebios von Cäsarea, der über die Etablierung des Christentums durch Kaiser Konstantin den Großen ausführlich schrieb, betrachtete und bezeichnete das Christentum als die einzige wahre, fromme, vernunftgemäße und gottgefällige Religion im Gegensatz zu den trügerischen und dämonischen polytheistischen Religionssystemen.84 Ähn-lich sprach der Kirchenhistoriker Sozomenos über die Entwicklungen unter Kaiser Konstantin zugunsten des Christentums und verband sogar die Begriffe »Religion« und »Kirche« in diesem Kontext.85 Es gibt jedoch auch eine Art von Religions-kritik bei kirchlichen Autoren im Sinne einer Kluft zwischen religiöser Praxis und wahrer Gotteserkenntnis, so wie sie Didymos der Blinde mit Bezug auf Jesaja 1, 14-16 übt;86 aber das spricht nicht gegen die Einordnung des Christentums unter die Kategorie der Religionen. Das Christentum stellte für das christliche Denken im Allgemeinen die einzige wahre Offenbarung Gottes im Unterschied bzw. im Gegensatz zu den anderen Religionen dar, obwohl teilweise auch in den nicht-christlichen Religionen wahre Elemente zu entdecken waren. Es geht hier um eine Evaluationsstrategie nichtchristlicher Religionen, die noch heute als überzeugend gilt, offiziell vertreten wird87 und in vielen orthodoxen Kreisen Anwendung findet.88

Das Problem der Ideologisierung bei den orthodoxen religionskritischen Dis-kursen wird zudem deutlich, wenn man auf neuere orthodoxe Evaluierungen von nichtchristlichen Religionen blickt, nach denen dem Christentum die Religions-zugehörigkeit überhaupt nicht abgesprochen wird. Es lassen sich viele solcher Theorieansätze in unterschiedlichen Ausprägungen und Kontexten finden,89 wobei

81 Klemens von Alexandrien, Stromatum, VI, 15 PG 9, 348A. 82 Origenes, Contra Celsum, VIII, 68 PG 11, 1620CD. 83 Athanasios von Alexandrien, Oratio contra Gentes, 40 PG 25, 80BC. 84 Eusebios von Cäsarea, Historia Ecclesiastica, II, 3 PG 20, 144A. Vgl. ders, De vita Impera-

toris Constantini, II, 67, PG 20, 1040A. 85 Sozomenos, Historia Ecclesiastica, I, 8 PG 67, 876CD. 86 Didymos der Blinde, De Trinitate, I, PG 39, 389BC. 87 Vgl. das offizielle Dokument »Grundprinzipien der Beziehung der Russischen Orthodoxen

Kirche zu Andersgläubigen« (Osnovnye printsipy otnoìenija Russkoj Pravoslavnoj Tserkvi k inoslaviju) der Bischofssynode der Russischen Orthodoxen Kirche (Moskau, 13.-16. August 2000): »1.1. Die Orthodoxe Kirche ist die wahre Kirche Christi, die von unserem Herrn und Retter Selbst geschaffen ist […] 1.18. Die Orthodoxe Kirche ist die wahre Kirche, in der die Heilige Überlieferung und die Fülle der rettenden Gnade Gottes unverletzt bewahrt sind. Sie hat das heilige Erbe der Apostel und heiligen Väter in seiner Ganzheit und Reinheit bewahrt.« (http://www.mospat.ru/index.php\mid=91) [Download-Datum: Juli 2007].

88 Vgl. A. S. Frangopoulos, Our Orthodox Christian Faith. A Handbook of Popular Dogmatics, Athen 1984, 20: »Christianity is the only true religion, since only she possesses full and complete supernatural Divine Revelation […] Christianity contains the fullness, the totality of Divine Revelation, after which there is nothing more to be revealed by God.«

89 So z. B. E. Theodorou, »Christianismos«, in: Ekpaidevtiki Elliniki Engyklopaideia, Bd. 21: Oi Thriskeies, Athen 1992, 395-409, insbes. 395; D. J. Constantelos, Understanding the

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der Blick zudem auf den möglichen Beitrag des Christentums zum interreligiösen Dialog gerichtet wird.90 Dasselbe gilt auch für orthodoxe Kleriker und Theologen, die mit der Religionswissenschaft/Religionsgeschichte vertraut sind. Für den ers-ten Religionshistoriker Griechenlands, Leonidas Philippidis (1898-1973), der das Fach in der Universität Athen einführte und über mehrere Jahrzehnte hinweg lehrte,91 bestand kein Zweifel darüber, dass das Christentum eine Religion sei.92 Philippidis hatte zudem eine sehr positive Meinung von den Religionen insgesamt, deren vielfältigen Beitrag zu den menschlichen Gesellschaften er zu evaluieren versuchte. Ziel der Religionsgeschichte/Religionswissenschaft war seiner Meinung nach nicht nur die Erforschung nichtchristlicher Religionen, sondern die Demonst-ration der Überlegenheit des Christentums gegenüber allen anderen Religionen als einer »Hyperreligion«, nämlich der vollkommensten, absolutesten und einmaligen Offenbarungsreligion.93

Eine interessante Perspektive zum Thema entwickelte ferner der bereits er-wähnte orthodoxe Kleriker, Theologe und Religionshistoriker Anastasios Yannou-latos, der im Rahmen seiner Studien und Missionstätigkeit ausführlich das Thema der Beziehungen des Christentums zu den nichtchristlichen Religionen behan-delte.94 In diesem Kontext entwickelte er eine eigene orthodoxe »Theologie der Religionen«, die in mancher Hinsicht von den entsprechenden theologischen Theo-rieansätzen des westlichen Christentums abwich. Seine Perspektive zu den Reli-gionen war eine durchaus positive, gemäßigte, ökumenisch geleitete und produk-tive. Darüber hinaus bezog er sich speziell auf die Diskurse, die für eine Trennung des Christentums von der Kategorie der Religionen sprachen. Er verstehe zwar den theologischen Hintergrund der Äußerung, dass Christentum keine Religion, son-dern eine Kirche sei. Aber genau dasselbe behaupteten auch Vertreter anderer Re-ligionen, die eine Kategorisierung ihrer Glaubens- und Praxissysteme unter die Rubrik »Religion« ablehnten. All dies hänge natürlich von der jeweils verwende-ten Religionsdefinition ab. Es sei jedoch deutlich, dass in der Sprache des Neuen Testaments das Wort »Religion« positiv in einem bestimmten Sinne verwendet werde (Jak. 1, 26-27). Theologisch könne man zwar Christentum und Kirche von den Religionen unterscheiden und die Behauptung wagen, die Kirche sei keine Religion, sondern die Überwindung des Phänomens der Religion. Diese Unter-

Greek Orthodox Church. Its Faith, History and Life, Brookline, MA 42005, 1-50. Vgl. auch die Ideen von Nikolaj F. Fjodorov (1828-1903), nach dem »the pinnacle of religion is Chris-tianity«: N. F. Fyodorov, »The Restoration of Kinship Among Mankind«, in: A. Schmemann (Hg.), Ultimate Questions. An Anthology of Modern Russian Religious Thought, Crestwood, NY 1977, 175-223, hier: 223.

90 Andeutungsweise für viele siehe D. Papandreou, Logos Dialogou. I Orthodoxia enopion tis tritis chilietias, Athen 1997, 303-346.

91 Dazu V. N. Makrides, »Leonidas Philippidis and the Beginnings of the History of Religions as an Academic Discipline in Greece«, in: H. Junginger (Hg.), The Study of Religion under the Impact of National Socialist and Fascist Ideologies in Europe (im Druck).

92 L. I. Philippidis, I istoria ton thriskevmaton os epistimi (Antrittsvorlesung), Athen 1935, 31-32. 93 L. I. Philippidis, I istoria ton thriskevmaton kath’ eavtin kai en ti christianiki theologia, Athen

1938, 124-180. 94 A. Yannoulatos, Various Christian Approaches to the Other Religions (A Historical Outline),

Athens 1971.

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Religion, Kirche und Orthodoxie 81

scheidungen und Begrifflichkeiten seien jedoch primär theologischer und nicht re-ligionswissenschaftlicher/religionshistorischer Natur, denn es sei schwer, die »reli-giösen« Aspekte des Christentums im Laufe seiner langen Geschichte außer Acht zu lassen.95 Die repräsentative Position von Yannoulatos zeigt, dass es weitere orthodoxe religionsfreundlichere Theorieansätze gibt, deren Einfluss in orthodoxen Kreisen nicht minder ist. Es gibt nämlich auch andere orthodoxe Theologen, die die Differenzierung von Orthodoxie/Kirche und Religion aus verschiedenen Gründen ablehnen.96

Was führte aber zur Entstehung und Verbreitung der oben erwähnten Diskurse, die zwischen Religion und Orthodoxie/Kirche unterscheiden? Wie bereits ange-deutet, handelt es sich hierbei um relativ neue Diskurse, die sowohl in verschiede-nen orthodoxen Kulturen wie auch in der Diaspora entwickelt worden sind. Am wahrscheinlichsten haben ihre Entstehungsgründe mit dem allgemeinen Klima un-serer (post-)modernen Epoche, der globalisierten Welt und den Idealen des (reli-giösen) Pluralismus und Multikulturalismus zu tun, das auf die orthodoxe Welt verschiedene Auswirkungen gehabt hat. Die vermehrten Kontakte der Orthodoxen Kirchen und Kulturen zu ihren westlichen Pendants, die breit angelegte Ökumeni-sche Bewegung, die unter anderem den interreligiösen Dialog vorantreibt sowie die Initiativen orthodoxer Akteure (z. B. des Patriarchen von Konstantinopel Bar-tholomäus I.) im Bereich des interreligiösen Dialogs trugen zusätzlich dazu bei, dass die konventionellen Grenzen zwischen Christentum und nichtchristlichen Re-ligionen in einem anderen Licht erscheinen. Die positiveren Meinungen mancher orthodoxer Theologen über nichtchristliche Religionen und die Entwicklung einer orthodoxen »Theologie der Religionen«97 waren weitere Schritte zur Abschaffung oder zumindest zur Minimierung der Bedeutung dieser Grenzen. Letztere sind zwar nicht völlig aufgehoben, aber sie werden nun mehr oder weniger als relative Trennungslinien angesehen, die in vielerlei Hinsicht überwunden werden können. Die Gemeinsamkeiten und nicht die Unterschiede zwischen allen Religionen ein-schließlich des Christentums werden hervorgehoben, um eine Annäherungsbasis zwischen ihnen zu ermöglichen. Da auf diese Weise die traditionell eingesetzten Abgrenzungen der Orthodoxie von anderen Glaubenssystemen ihre Bedeutung ein-büßen könnten, wurde es in manchen orthodoxen Kreisen als nötig empfunden, er-satzweise neue Abgrenzungsstrategien und Unterscheidungskriterien zu entwickeln. Für den allgemeinen orthodoxen Kulturraum, der sich ständig auf der Suche nach solchen Unterscheidungsmerkmalen von den anderen und nach einer tragfähigen

95 A. Yannoulatos, Ichni apo tin Anazitisi tou Ypervatikou. Syllogi thriskeiologikon meletima-

ton, Athen 32006, 43-45. 96 So z. B. N. Matsoukas, »Thriskeies kai Christianismos«, in: Provlimatismoi, hg. von der

Christianiki Foititiki Enosi, Thessaloniki 1981, 57-75, hier: 59-60, der in der Unterscheidung zwischen Christentum und Religionen die Gefahr einer a-historischen und elitären Betrach-tung des Christentums sieht.

97 Abgesehen von den bereits erwähnten Ideen von Yannoulatos siehe auch das Interview vom orthodoxen Bischof und Theologen Kallistos Ware »Image and Likeness«, in: Parabola 10, 1985, 62-71, insbes. 69-70; M. Farantos, I thriskeia. Dogmatiki theorisi, Athen 1978, 96-101. I. Karmiris, »I pagkosmiotis tis en Christo sotirias«, in: Praktika tis Akadimias Athinon 55, Jg. 1980, Athen 1981, 261-289; ders., »I sotiria ton ektos tis Ekklisias anthropon tou Theou«, in: Praktika tis Akadimias Athinon 56, Jg. 1981, Athen 1982, 391-434.

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orthodoxen Identität befindet, war die Lösung dieses Problems überhaupt nicht schwierig. Die neue Unterscheidung zwischen Religion und Orthodoxie/Kirche bot sich auf geradezu ideale Weise an, um die neu entstandene Lücke zu füllen und die Verschiedenartigkeit der Orthodoxie in neuem Gewand unter Beweis zu stellen. Die neue Lösung berücksichtigte auch den traditionellen orthodoxen Antiokziden-talismus und dessen Bedeutung für das orthodoxe Selbstverständnis.98 Indem die Rede von der Religionisierung des Christentums war und die Entwicklungen inner-halb des Lateinischen Christentums im Westen kritisiert wurden, erfüllte sich so-mit ein Desideratum traditioneller orthodoxer Argumentation.

5. Ausblick

Die in diesem Artikel angeführte Religionskritik entstammt dem orthodox-christ-lichen Milieu, das sich in vielerlei Hinsicht von dem der westlichen Kirchen/Kon-fessionen erheblich unterscheidet. Die Ausgangspositionen, die Argumentations-struktur und die Vorschläge der Vertreter dieser Religionskritik offenbaren die vielen Besonderheiten des Orthodoxen Christentums, das eine andere Entwicklung als das Lateinische Christentum erfahren hat. Trotz interchristlicher Dialoge, An-näherung, Kontakte und auch gegenseitiger Beeinflussungen sollten die noch exis-tierenden Differenzen zwischen den christlichen Kirchen/Konfessionen in Ost und West nicht verschwiegen werden, die auf ihre divergierenden Entwicklungspfade hinweisen. Dies kann nicht nur anhand des vorliegenden Themas beobachtet wer-den. Diese Feststellung dient nicht etwa wertenden und apologetischen Zweckmä-ßigkeiten, um die religiöse Überlegenheit des einen oder des anderen Flügels des Christentums unter Beweis zu stellen. Ihre Absicht ist einfach, religiöse und kultu-relle Besonderheiten aus den unterschiedlichen christlichen Traditionen ans Licht zu bringen und auf ihre Kulturbedeutung aufmerksam zu machen. Schließlich zeigt die Analyse dieser orthodox-christlichen Religionskritik die Probleme, die mit einer theologischen normativen und wertenden Betrachtungsweise religiöser Phä-nomene einhergehen.

98 Ausführlich zum Thema V. N. Makrides; D. Uffelmann, »Studying Eastern Orthodox Anti-

Westernism. The Need for a Comparative Research Agenda«, in: J. Sutton; W. van den Bercken (Hg.), Eastern Christianity and Contemporary Europe, Leuven 2003, 87-120.