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Reinhard Pfriem, Ralf Antes, Klaus Fichter, Martin Mijller, Niko Paech, Stefan Seuring, Bernd Siebenhiiner (Hrsg.) Innovationen fiir eine nachhaltige Entwicklung

Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

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Reinhard Pfriem, Ralf Antes, Klaus Fichter, Martin Mijller, Niko Paech, Stefan Seuring, Bernd Siebenhiiner (Hrsg.)

Innovationen fiir eine nachhaltige Entwicklung

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WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT

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Reinhard Pfriem, Ralf Antes, Klaus Fichter, Martin Miiller, Niko Paech, Stefan Seuring, Bernd Siebenhuner (Hrsg.)

Innovationen fiir eine nachhaltige Entwicklung

Deutscher Universitats-Verlag

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detalllierte bibliografische Daten sind im Internet uber <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

I.Auflage Juli2006

Alle Rechte vorbehalten © Deutscher Universitats-Verlag I GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

Lektorat: Ute Wrasmann / Sabine Scholler

Der Deutsche Universitats-Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media, www.duv.de

Das Werk einschlieSlich aller seiner Telle ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbe-sondere fiir Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, MIkroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Umschlaggestaltung: Regine ZImmer, Dipl.-Deslgnerin, Frankfurt/Main Druck und Buchbinder: Rosch-Buch, ScheBlitz Gedruckt auf Papier RePrint FSC, SW-COC-625 min. 17,5% Printed In Germany

ISBN-10 3-8350-0492-1 ISBN-13 978-3-8350-0492-4

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Einleitung der Herausgeber

1 Der Tagungskontext des Buches

Am 22. und 23. September 2005 fand an der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg die jahrliche Herbsttagung der Kommission Umweltwirtschaft des Verbandes der Hochschullehrer fflr Betriebswirtschaftslehre statt. Mit diesem Buch legen die Organisatoren der Tagung als Herausgeber die schriftliche U-berarbeitung der dort gehaltenen Vortrage vor.

Thematisch wie methodisch haben wir versucht, mit dieser Tagung etwas Neuland zu betreten. Das Tagungsthema "Innovationen fflr nachhaltige Ent-wicklung" geht absichtsvoll deutlich tiber jenen produktionsfaktororientierten Umweltbegriff hinaus, unter dem fflnfzehn Jahre zuvor die seinerzeit nicht un-umstrittene Grtindung einer Verbandskommission zur okologischen Herausfor-derung der Untemehmenspolitik stattfmden konnte. Und es zielte - in der fakti-schen Zusammensetzung der Tagung dann erfreulich erfolgreich - darauf, gerade auch solche Forscherinnen und Forscher zu Nachhaltigkeitsinnovationen fflr den Diskurs mit der Kommission zu gewinnen, die mit ihr in der Vergan-genheit wenig bis gar nichts zu tun batten.

Methodisch wurde bei der Vorbereitung der Tagung insofem Neuland be-schritten, als erstmals ein Call for abstracts organisiert wurde, dem sich eine exteme Begutachtung anschloss, um entsprechend international iiblichen Stan­dards fflr eine gute Qualitat der angenommenen Vortrage zur sorgen. Wir dan-ken den beteiligten Gutachtem dafflr, dass sie diese Aufgabe iibemommen ha­ben.

Mit der nach der Bremer Tagung zwei Jahre zuvor emeuten Transformation der klassischen Umweltthematik auf die regulative Idee von Nachhaltigkeit wird der praktischen und theoretischen Entwicklung Rechnung getragen, die seit der Grundung der Kommission stattgefonden hat. (Okologische) Umwelt ist eben keineswegs ein bloBer Produktionsfaktor, den man additiv einer faktororientier-ten Betriebswirtschaftslehre einfach und problemlos hinzufflgen kann, nachdem man seine Bedeutung einmal begriffen hat. Und Umwelt ist eben auch nicht etwas nur defensiv zu Schiitzendes gegen die Expansion untemehmerischer und wirtschaftlicher Aktivitaten, gegen die man auf Basis einer solchen Gegentiber-stellung dann in jeder praktisch-konkreten Situation doch nur hilflos bleibt und unterliegen wird. Die Richtung Nachhakigkeit in Veranderungsprozessen, im untemehmerischen und gesellschaftlichen Innovationsmanagement ist von da-her die groBe Aufgabe.

Die regulative Idee nachhaltiger Entwicklung von Wirtschaft und Gesell-schaft verlangt im globalen Mafistab, die iiberkommenen Muster unseres Wirt-

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VI Einleitung der Herausgeber

schaftens, Arbeitens und Konsumierens auf den Priifstand zu stellen, nicht nur zur Abwendung okologischer Katastrophen, sondem gerade auch deshalb, um zu neuen, befriedigenderen Formen des Wohlstands, des Lebensgenusses und der Suche nach dem Sinn menschlichen Lebens zu kommen. Konsequent be-trachtet ware angesichts der Verschiebung von Umwelt auf Nachhaltigkeit wichtiger als die Arbeit der Kommission Umweltwirtschaft, dass sich die Arbeit des Gesamtverbandes in hinreichender Weise der Herausforderung Nachhaltig­keit annahme, insbesondere auch in der Innovationsperspektive. Wir wtinschen uns, dass dies in Zukunft expliziter und in deutUch starkerem MaBe geschieht, und meinen, dass der vorliegende Band vielfaltige Ankniipfungspunkte dafiir bietet.

Die genauere Beschreibung des Themas hatten wir in unserem Call for Abs­tracts wie folgt formuliert:

Nachhaltige Entwicklung bedarf der Realisierung umfassender Innovationen in Organisationen und Netzwerken. Hierzu zahlen technische Innovationen zur okologischen Optimierung von Prozessen und Produkten ebenso wie Dienstleis-tungsinnovationen und organisationale Innovationen zur Veranderung von Strukturen und Ablaufen. Auch institutionelle Innovationen zur Neugestaltung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse, ebenso zur Generierung zukunftsfa-higer Markte sind gefragt.

Insgesamt gilt es, innovationsfordemde Strukturen im Sinne einer nachhalti-gen Entwicklung zu schaffen. Damit ist nicht zuletzt eine umfassende kulturelle Herausforderung verbunden. Es stellen sich hierbei viele empirische und kon-zeptionelle Forschungsfragen, darunter solche, die inter- und transdisziplinaren Charakter haben: Was zeichnet nachhaltige Innovationen aus? Welche Anreize und institutionellen Arrangements fordem oder hemmen derartige Innovatio­nen? In welcher Beziehung stehen technische und nicht-technische Innovatio­nen? Wie konnen Organisationen lemen und innovativer werden?

Uns selbst scheint es, dass es mit dem Programm der Tagung gelungen ist, zu diesen Fragen einen sehr interessanten Facher von Uberlegungen und Ant-worten zusammen zu bringen. Wir hoffen, dass Sie, die geschatzten Leserinnen und Leser dieses Buches, einen ahnlichen Eindruck gewinnen konnen.

2 Ein kurzer Uberblick iiber die Beitrage

Der Teil I des Buches offnet Perspektiven auf Innovation und Nachhaltigkeit, Reinhard Pfriem setzt sich kritisch mit der in der Betriebswirtschaftslehre nach wie vor stark verbreiteten Praxis auseinander, unter dem Begriff Nachhaltigkeit die vorgangige Behandlung von (okologischer) Umwelt einfach fortzuflihren. Gefordert sei bei allem Wert von Beratungstatigkeit eine Neubesinnung der Betriebswirtschaftslehre als auf kritische Distanz zum Gegenstand bedachter Wissenschaft. Dafiar sei die ausdriickliche Abarbeitung an wichtigen Theorien

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Einleitung der Herausgeber VII

der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften geboten und liefere die in Oldenburg entwickelte kulturwissenschaftliche Perspektive einen guten Bezugsrahmen.

Der Beitrag von Marco Lehmann-Waffenschmidt beleuchtet das Thema In-novationen und nachhaltige Entwicklung von einer volkswirtschaftlichen Per­spektive aus. Er nimmt einen evolutionsokonomischen Zugang zu den Metho-den der wissenschaftlichen Analyse von Innovationsprozessen, zur Frage der Bewertung von Innovationen unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten und zur Grenzenlosigkeit als Motiv der modemen Okonomie. Die Versprechungen der Grenzenlosigkeit in der Werbung sieht er als Ursache fiir die Schwierigkeiten bei der Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung.

Karl-Werner Brand diskutiert in seinem Beitrag die Zugange der Soziologie zu Innovation und nachhaltiger Entwicklung. Ausgehend von den Ansatzen der Umweltsoziologie skizziert er zentrale Aspekte, die aus soziologischer Perspek­tive eine entscheidende Rolle fur den Erfolg oder Misserfolg gesellschaftlicher Transformationsprozesse in Richtung Nachhaltigkeit spielen: die Art der offent-lichen Diskurse, Fairness- und Gerechtigkeitskriterien sowie die Berucksichti-gung der alltagskulturellen Einbettung umweltrelevanter Praktiken und ihrer systemischen Kopplung mit sozialstrukturellen, technischen und okonomischen Entwicklungen. Ein entscheidendes Hemmnis der „sustainability transition" sieht er in der mangelnden Zentralitat des Nachhaltigkeitsdebatte fur gesell-schaftliche Reformprozesse, die nachhaltige Entwicklung zu einem halbherzi-gen, widerspriichlichen, in gegenlaufigen Trends und Politiken sich verhaken-den Prozess machen.

Reinhard Hohn, Siegfried Pongratz und Mario Tobias loten aus der Sieht praktischer Erfahrungen die Moglichkeiten von Sustainability in der informati­ons- und kommunikationstechnischen Industrie aus. Sie unterscheiden dazu die Module Nachhaltigkeit in der ITK-Wirtschaft, Nachhaltigkeit durch ITK-Produkte und Anwendungen sowie Verantwortung, Transparenz und offene Kommunikation gegentiber den gesellschaftlichen Stakeholdem. Konkretisiert wird dies an den Beispielen Mobiles Arbeiten bei IBM und innovative Mobilte-lefonkonzepte bei Motorola.

Teil II handelt von Ermoglichungsbedingungen und institutionellen Arrange­ments. Ralf Nordbeck und Bernd Hansjiirgens gehen der Frage "Menge oder Risiko?" am Beispiel des institutionellen Designs der Chemikalienregulierung nach. Die beiden altemativen Steuerungsorientiemngen werden hinsichtlich ihrer Effekte kritisch analysiert, um die potentiell erreichbaren Innovationswir-kungen abschatzen zu konnen.

In dem Beitrag von Reinhard Paulesich wird der Frage nachgegangen, in-wiefem das Konzept der Neuen Arbeit Impulse fur nachhaltige Entwicklung zu liefem vermag. Vor dem Hintergrund anhaltend groBer Arbeitslosenzahlen stellt sich namlich die Frage, wie statt standiger Beschworungen iiber wechselnde

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VIII Einleitung der Herausgeber

Regierungen arbeitspolitische Innovationen von unten zu einem hoheren MaB sozialer Nachhaltigkeit flihren konnen.

Wolfgang Gerstlberger betrachtet nachhaltige regionale Innovationssysteme als eine wissenschaftliche und politische Erfolgsgeschichte mit vielen Leerstel-len. Aus einem Forschungsprojekt werden empirische Fallstudien im deutschen wie intemationalen Vergleich vorgefiihrt. Fiir weitere erfolgreiche Gestaltung werden besondere Anforderungen an die Institutionen- und Wissensgenese formuliert.

Andre Martinuzzi untersucht verschiedene Beratungsprogramme zum nach-haltigen Wirtschaften in Deutschland und Osterreich unter dem Blickwinkel ihres Beitrags zur langfristigen Verankerung des Umweltmanagements und zur Generierung von nachhaltigen Innovationen in den teilnehmenden Betrieben. Die Fallstudie des OkoBusinessPlans Wien zeigt die guten Moglichkeiten eines langfristigen Engagements tiber die Bildung von Netzwerken, die Ubertragung von Erfahrungen auf andere Standorte und die Bereitstellung professioneller Beratungsprodukte.

Anne Gerlach untersucht Entscheidungsdefekte als Barrieren bei der Umset-zung von Nachhaltigkeitsinnovationen. Die drei Defekte, die anhand der Krite-rien untersucht werden, sind Konflikteskalation, Kontrollillusion und Hidden Profile. Hidden Profile meint unterschiedliche Informationsverteilung in Grup-pen, die es keinem der beteiligten Akteure erlauben, die situativ vermutlich optimale Strategic zu fmden.

Von Ulf Schrader wird Corporate Citizenship unter dem Gesichtspunkt ei-ner Nachhaltigkeitsinnovation betrachtet. Diese Herangehensweise fiihrt ihn dazu, einen weiten, das Kemgeschaft unbedingt einschlicBenden Begriff von Corporate Citizenship zu wahlen. Eine solche Perspektive konne iiber die Wei-terentwicklung der politischen Theorie des Burgers theoretisch sehr gut fundiert werden.

Der alte okonomische Institutionalismus stellt ftir Ralf Antes eine reizvolle Bezugsbasis fiir die Bearbeitung von Nachhaltigkeitsinnovationen dar. Zu fra-gen ist ja, inwiefem Institutionen als Bremse oder im Gegenteil Ermoglichungs-bedingung nachhaltiger Innovationen zu dienen vermogen. Der Wertbezug des okonomischen Institutionalismus erlaubt dartiber hinaus, von daher Ideen zu schopfen fiir eine Ethik de4s Innovationsmanagements.

Teil III des Buches steht unter dem Titel Mdrkte, Netzwerke und Communities. Hier geht zunachst Jens Clausen den Nachhaltigkeitsimpulsen nach, die von

griinen Grunderlnnen hervorgerufen werden. Es wird eine Typologie entwi-ckelt, iiber die sich Markterfolge und Innovationsbeitrage genauer analysieren lassen. Die vorgestellte empirische Untersuchung belegt den wesentlichen Bei-trag, den griine Griindungen fiir Nachhaltigkeitsinnovationen liefem, und unter-streicht die vom Verfasser befiirwortete Netzwerkperspektive.

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Einleitung der Herausgeber IX

Ufa Kirschten stellt ausgewahlte Forschungsergebnisse iiber nachhaltige In-novationsnetzwerke in Theorie und Praxis vor. Uber ihre Betrachtung als insti-tutionelle Innovationen werden die Moglichkeiten ihrer Institutionalisierung ergriindet. Dazu wird uber die Ergebnisse eines empirischen Forschungsprojekts informiert, woraus sich u. a. iiber Struktur und Formen der Zusammenarbeit wichtige Erfolgsfaktoren defmieren lassen.

Klaus Fichter analysiert die Rolle von Promotorennetzwerken bei Nachhal-tigkeitsinnovationen (Innovation Communities). Es werden unterschiedliche Typen und Funktionen solcher Innovation Communities herausgearbeitet. Dass damit eine hohere Qualitat der Kooperation fur Nachhaltigkeitsinnovationen tatsachlich erreicht werden kann, wird am Beispiel der „Add-Value-to-Paper"-Community erlautert.

Aufbauend auf den empirischen Ergebnissen eines Forschungsprojektes ge-hen Martin Milller und Achim Spiller den Moglichkeiten innovativer Produkt-politik durch virtuelle Communities nach. Bezogen auf die Konzepte der inter-aktiven Innovationsforschung werden die besonderen Moglichkeiten und Schwierigkeiten virtueller Communities in diesem Zusammenhang untersucht.

Der Beitrag von Bernd Siebenhuner und Marlen Arnold untersucht organisa-tionale Lemprozesse zur Realisierung von Nachhaltigkeitsinnovationen. Auf Basis der Auswertung von sechs Untemehmensfallstudien zeigt er die Bedeu-tung von Lemmechanismen, Fiihrungsstilen, intemen Netzwerken, Change Agents und Stakeholder-Forderungen fur organisational Lemprozesse und ihre Umsetzung in konkrete nachhaltigkeitsbezogene Veranderungen in Untemeh-men auf.

Teil IV des Buches widmet sich dem konkreten Handlungsfeld Produktion und Beschaffung.

Organisationale Innovationen im Beschaffiingsmanagement stehen im Bei­trag von Julia Koplin im Vordergrund. Sie analysiert die Moglichkeiten zur Einbindung von Nachhaltigkeitsaspekten in mehrstufige Lieferantenketten am Beispiel eines Automobilkonzems. Das resultierende Konzept umfasst Ma6-nahmen auf der normativen Ebene, der Friiherkennung wie auch der Gestaltung und des Monitorings des Beschaffungsprozesses selbst.

Bei dem Beitrag von Lutz Preuss geht es um Beschaffiingsmanagement und okologische Innovation in Zulieferketten. Ausgehend von Determinanten des Innovationsprozesses wird eine qualitative Studie iiber Umweltinnovationen von Zulieferketten britischer Industrieuntemehmen vorgestellt. Neben den tech-nologischen werden hier auch die organisatorischen Innovationen akzentuiert.

Am Beispiel umwelttechnischer Innovationen in China entwickelt Jutta Geldermann ein Phasenmodell zur Realisierung von Prozessinnovationen. Sie erlautert das Modell, indem sie es auf eine Fallstudie der Prozessgestaltung bei der Fahrradlackierung in einem chinesischen Betrieb anwendet.

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Einleitung der Herausgeber

Im Teil V des Buches geht es um Managementinstrumente im engeren Sinne. Unter dem Begriff „Integrated Roadmapping" beleuchtet Siegfried Behrendt

die Untersttitzung nachhaltiger Innovationsprozesse in der Informationstechnik und der Telekommunikation. Es wird erlautert, was Roadmapping ist und wie es in Innovationsprozessen fiinktioniert. Daraus lassen sich untemehmens-, bran-chen- und problemspezifische Roadmappings entwickeln. Die Moglichkeiten und Grenzen eines Integrated Raodmapping werden ausgelotet.

Der Einsicht in die besondere Bedeutung der friihen Phasen des Innovati-onsprozesses widmen sich Claus Lang-Koetz, Daniel Heubach und Severin Beucker. Sie entwickeln ein Modell zur Abschatzung von Umweltwirkungen in den Phasen der ersten Orientierung und der Ideengenerierung, da hier die zent-ralen Weichenstellungen fur die spateren Umweltauswirkungen von Produkten und Prozessen erfolgen.

Marcus Wagner geht der Frage nach der Vorteilhaftigkeit der Existenz von Umweltmanagementsystemen fur das Zustandekommen von Nachhaltigkeitsin-novationen nach. Detailliert wird eine Studie vorgestellt, die mittels eines bina-ren Discrete Choice-Modells fiir Produkt- und Prozessinnovationen separat Einflussfaktoren fiir die Durchfuhrung von Umweltinnovationen untersucht (z.B. Qualitatsmanagementsysteme, FirmengroBe, Alter des Untemehmens, Markteinfltisse) und hier insbesondere die Rolle von Umweltmanagementsys­temen.

Carl Ulrich Gminder bringt das Konzept der Organisationsaufstellungen als methodische Innovation zur Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien ins Spiel. Im Nachhaltigkeitskontext ist es nach wie vor weitgehend unbekannt, vor allem kaum zur Anwendung gebracht. tJber sieben Einzelfallstudien wird deutlich gemacht, dass sich mit Organisationsaufstellungen eine ganze Reihe bemer-kenswerter nachhaltigkeitsrelevanter Erkenntnisse gewinnen lassen.

Katharina Sammer und Rolf WUstenhagen beschaftigen sich in ihrem Bei-trag mit dem Einfluss von Oko-Labels auf das Konsumentenverhalten. Am Beispiel des EU-Energielabels fiir Gliihbimen konnen sie zeigen, dass der durch das Label dokumentierten Energieeffizienz eine hohe Bedeutung bei der Kauf-entscheidung von Konsumenten zukommt. Die institutionelle Innovation des Energielabels kann in dieser Hinsicht als iiberaus wirksam angesehen werden.

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Einleitung der Herausgeber XI

3 Dank

Prof. Dr. Jurgen Freimann (Universitat Kassel) danken wir als Vorsitzendem der Kommission fiir die intellektuelle und logistische Unterstiitzung bei Vorbe-reitung der Tagung. Heide Eisner und Angela Schonwolf danken wir fiir ihre tatkraftige Hilfe bei Durchfiihrung der Tagung. Mark Meinders danken wir fiir seine Unterstiitzung bei der Formatierung des Textes.

Oldenburg, im Juni 2006 PD Dr. Ralf Antes PD Dr. Klaus Fichter

PD Dr. Martin Muller PD Dr. Niko Paech

Prof. Dr. Reinhard Pfriem PD Dr. Stefan Seuring

Juniorprofessor Dr. Bemd Siebenhiiner

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung der Herausgeber V

Inhaltsverzeichnis XIII Abbildungsverzeichnis XVII Tabellenverzeichnis ..XXI

Teil I: Perspektiven auf Innovation und Nachhaltigkeit

Reinhard Pfriem Innovationen fiir nachhaltige Entwicklung - eine betriebswirtschaftliche Perspektive 3

Marco Lehmann-Waffenschmidt Innovationen und nachhaltige Entwicklung aus volkswirtschaftlich evolutorischer Perspektive 21

Karl- Werner Brand Innovation fur Nachhaltige Entwicklung - die soziologische Perspektive 55

Reinhard Hohn/ Siegfried Pongratz/ Mario Tobias Innovative Informations- und Kommunikationstechnik ermoglicht Sustainability - eine untemehmenspraktische Perspektive 79

Teil II: Ermoglichungsbedingungen und institutionelle Arrangements

Ralf Nordbeck/ Bernd Hansjiirgens Menge oder Risiko? - Institutionelles Design der Chemikalienregulierung und Innovationen zum nachhaltigen Wirtschaften - 99

Reinhard Paulesich Neue Arbeit. Impuls fur eine nachhaltige Entwicklung? 117

Page 13: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

XIV Inhaltsverzeichnis

Wolfgang Gerstlberger Nachhaltige Regionale Innovationssysteme: - Anforderungen an die Institutionen- und Wissensgenese 147

Andre Martinuzzi Beratungsprogramme fiir Nachhaltiges Wirtschaften - Institutionelle Innovationen im Grenzbereich von Umweltokonomie und Umweltmanagement 171

Anne Gerlach Entscheidungsdefekte als Barrieren bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitsinnovationen 201

UlfSchrader Corporate Citizenship - Eine Innovation? 215

RalfAntes Beitrage des okonomischen (Alt-)Institutionalismus fiir ein Management und eine Theorie des Managements nachhaltiger Innovationen 233

Teil III: Markte, Netzwerke und Communities

Jens Clausen Nachhaltigkeitsimpulse durch Griine Griinderlnnen 255

Uta Kirschten Nachhaltige Innovationsnetzwerke in Theorie und Praxis: Ausgewahlte Forschungsergebnisse 269

Klaus Fichter Innovation Communities: Die Rolle von Promotorennetzwerken bei Nachhaltigkeitsinnovationen 287

Martin Miiller/ Achim Spiller Innovative Produktpolitik durch virtuelle Communities? 301

Bernd Siebenhuner/ Marlen Arnold Organisationales Lemen zur Realisierung nachhaltiger Innovationen 319

Page 14: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Inhaltsverzeichnis XV

Teil IV: Produktion und Beschaffung

Julia Koplin Organisationale Innovationen im Beschaffiingsmanagement als Voraussetzung zur Integration von Nachhaltigkeit 339

Lutz Preuss Beschaffiingsmanagement und okologische Innovation in Zulieferketten 359

Jutta Geldermann Umwelttechnischer Fortschritt und Innovationsmanagement in China 377

TeilV: Managementinstrumente

Siegfried Behrendt Integrated Roadmapping Untersttitzung nachhaltigkeitsorientierter Innovationsprozesse in der Informationstechnik und Telekommunikation 395

Claus Lang-Koetz/ Daniel Heubach/ Severin Beucker Abschatzung von Umweltwirkungen in friihen Phasen des Produktinnovationsprozesses 417

Marcus Wagner Der Einfluss von Umweltmanagementsystemen auf Umweltinnovationsaktivitaten in Untemehmen: Empirische Evidenz und Schlussfolgerungen fur Managementinstrumente 433

Carl Ulrich Gminder Organisationsaufstellungen - eine methodische Innovation zur Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien 451

Katharina Sammer/RolfWilstenhagen Der Einfluss von Oko-Labelling auf das Konsumentenverhalten - ein Discrete Choice Experiment zum Kauf von Gluhbimen 469

Autorenverzeichnis 489

Page 15: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Typ 1: Bifurkation ohne spatere Konvergenz 29 Abbildung 2: Typ 2: Bifurkation mit spaterer Konvergenz 29 Abbildung 3: Typ 3: Konvergenz bei verschiedenen

Anfangsereignissen/Ursachen 30 Abbildung 4: Typ 4: Keine Konvergenz bei verschiedenen

Anfangsereignissen/Ursachen 31 Abbildung 5: Kontingenter zyklenfreier ProzeBgraph mit 3 Zeitpunkten

und 8 Prozessen 32 Abbildung 6: Kontingenter nicht zyklenfreier ProzeBgraph

mit 3 Zeitpunkten und 11 Prozessen 32 Abbildung 7: Kontingenter ProzeBgraph

mit 3 Zeitpunkten und 11 Prozessen 33 Abbildung 8: Dominante Rahmungen im deutschen Nachhaltigkeitsdiskurs 64 Abbildung 9: Darstellung der C02-Reduktionsraten durch

IBM-Energiesparprojekte 84 Abbildung 10: Reduzierung des Gewichts und der GroBe

von Mobiltelefonen tiber die letzten Jahre 86 Abbildung 11: Reduzierung des Energieverbrauchs bei

gleichzeitiger Zunahme der verfugbaren Sprechzeit (talk time) von Mobiltelefonen 87

Abbildung 12: Strukturbild der unterschiedlichen Ebenen der Gesetzgebung im Bereich Abfall- und Kreislaufwirtschaft in der Europaischen Union 90

Abbildung 13: Schematische Darstellung von Grundlagen, Funktionen und Prozessablaufen der Gemeinsamen Stelle „Stiftung Elektro-Altgerate-Register" (EAR) 91

Abbildung 14: Schematische Darstellung des „Stakeholder-Kommunikationsnetzes" von Untemehmen und Verbanden ...94

Abbildung 15: easeyX Modell 130 Abbildung 16: Nachhaltigkeits-Dimension 139 Abbildung 17: RIS als Institutionelle Arrangements 150 Abbildung 18: SD-erganzende Managementansatze 153 Abbildung 19: Vereinfachtes Logic Model des OkoBusinessPlan Wien 180 Abbildung 20: Das Akteursnetzwerk im OkoBusinessPlan Wien 182 Abbildung 21: Die Einwicklung der im OkoBusinessPlan Wien

ausgezeichneten Betriebe 185 Abbildung 22: Die Zufriedenheit der Teilnehmer

am OkoBusinessPlan Wien 186

Page 16: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

XVIII Abbildungsverzeichnis

Abbildung 23: Die Erreichung betrieblicher Ziele durch den OkoBusinessPlan Wien 188

Abbildung 24: Umweltentlastungen durch den OkoBusinessPlan Wien 189 Abbildung 25: Amortisationszeiten der umgesetzten MaBnahmen im

OkoBusinessPlan Wien 190 Abbildung 26: Objektbereich des Corporate Citizenship

imengeren Sinne 216 Abbildung 27: Objektbereich des Corporate Citizenship

im weiteren Sinne 217 Abbildung 28: Objektbereich des Corporate Citizenship

im weitesten Sinne 219 Abbildung 29: Ableitung von Bedingungen einer legitimen

Corporate Citizenship-Metapher.. 226 Abbildung 30: Allgemeines Modell progressiver

institutioneller Anpassung 244 Abbildung 31: Anforderungen an nachhaltige Innovationen 270 Abbildung 32: Ansatzpunkte zur Institutionalisierung nachhaltiger

Innovationsnetzwerke 274 Abbildung 33: Design des empirischen Forschungsteils 276 Abbildung 34: Struktur der InnoRegio-Netzwerke 278 Abbildung 35: In den Netzwerken NinA und Rio integrierte

Wertschopfungsstufen 280 Abbildung 36: Mitglieder der „Add-value-to-paper"

Innovation Community ...292 Abbildung 37: Interaktionsebenen in Innovation Communities 295 Abbildung 3 8: Die „Add-value-to-paper"-Innovation Community 297 Abbildung 39: Startseitewww.naturkost.de 308 Abbildung 40: Marktanteile der verschiedenen Absatzkanale bei

Bio-Lebensmitteln in Deutschland 2003 309 Abbildung 41: Kundenanforderungen und -zufriedenheit bei Naturkost.de ..311 Abbildung 42: GELENA-Bezugsrahmen zur Erfassung

nachhaltigkeitsbezogener Lemprozesse 324 Abbildung 43: Konzeptubersicht der

Multi Objective Pinch Analysis (MOPA) 385 Abbildung 44: Daten zur Fallstudie Fahrradlackierung 387 Abbildung 45: Modifikation eines Produktionssystems

durch integriertes Prozessdesign 389 Abbildung 46: Gestaltungsziele der Roadmap Displays 404 Abbildung 47: Nachhaltigkeitsorientiertes Roadmapping - die Methode 409 Abbildung 48: Schritte zur Erstellung der Roadmap 410 Abbildung 49: Phasen des Innovationsprozess 418

Page 17: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Abbildungsverzeichnis XIX

Abbildung 50: Kenntnisse der Umweltrelevanz und Einfluss auf die Umweltaspekte aller Produktlebensphasen 420

Abbildung 51: Der Stage Gate-Prozess nach Cooper 424 Abbildung 52: Verringerung der okologischen Unsicherheit

im betrieblichen Innovationsprozess und Gewahrleistung der Richtungssicherheit im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung 425

Abbildung 53: Anwendung der unterschiedlichen Handlungsstrategien fiir eine umweltgerechte Produktentwicklung 429

Abbildung 54: Beispielhafte Leitfragen fur die Operationalisierung der Handlungsstrategie 1: „Auswahl von Materialien mit geringen Umweltwirkungen" 430

Abbildung 55: Zusammenhang zwischen Implementierungsgrad und UMS-Elementen 439

Abbildung 56: Prozesse im Untemehmen 453 Abbildung 57: Struktur der Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien 455 Abbildung 58: Bereiche der Strategieumsetzung im Untemehmen 457 Abbildung 59: EU Energie Label 471 Abbildung 60: Umweltbewusste Konsumenten messen der Energieetikette

beim Kauf einer Lampe hohere Bedeutung bei 479 Abbildung 61: Zahlungsbereitschaft fur Attribute und

Merkmalsauspragungen bei Lampen 482

Page 18: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Mengenschwellenkonzept unter REACH 103 Tabelle 2: Neue Arbeit - Vision von der Zeitverwendung 119 Tabelle 3: Positionen zur Erweiterung des Arbeitsbegriffs 125 Tabelle 4: Zusammenstellung ausgewahlter Regionen

als empirische Basis fiir die Untersuchung 151 Tabelle 5: Arbeitshypothesen fur eine nachhaltige RIS-Gestaltung 154 Tabelle 6: Intemationaler RIS-Vergleich 162 Tabelle 7: Die Verbreitung von Beratungsprogrammen

in Deutschland und Osterreich 174 Tabelle 8: Die Effizienz des OkoBusinessPlans Wien 183 Tabelle 9: Die Teilprogramme im OkoBusinessPlan Wien 184 Tabelle 10: Die Marktdurchdringung des OkoBusinessPlan Wien 186 Tabelle 11: Auswirkungen der Entscheidungsdefekte

auf formaleNachhaltigkeitskriterien 205 Tabelle 12: Republikanische und liberale Biirgerschaftstradition

in der Ubersicht 221 Tabelle 13: Innovationswirkungen instrumenteller und zeremonieller

Krafte von Institutionen - Erweiterung der intra-institutionellen Dichotomie des okonomischen Institutionalismus als Ergebnis des Nachhaltigkeitsdiskurses....241

Tabelle 14: Marktorientierte Typologie okologieorientierterUntemehmungen 259

Tabelle 15: Bedeutung der Griindungsmotive 264 Tabelle 16: Bedeutung des Profitmotivs 265 Tabelle 17: Aktivitat der Gninderlnnen in der Umweltbewegung 266 Tabelle 18: Spektrum der in den Netzwerken bearbeiteten Innovationen 282 Tabelle 19: Ergebnisse der Faktorenanalyse 312 Tabelle 20: Ubersicht tiber die durchgeflihrten Untemehmensinterviews ....326 Tabelle 21: Ubersicht der Lemprozesse und resultierende Veranderungen..327 Tabelle 22: Integration okologischer Aspekte

in das Beschaffiingsmanagement 344 Tabelle 23: Zusammenfassung der Veranderungen

als organisationale Innovationen 352 Tabelle 24: Umsetzung der Merkmale organisationaler Innovationen 353 Tabelle 25: Umweltinnovationen in den Zulieferketten

von britischen Industrieuntemehmen 365 Tabelle 26: Typologisierung des Roadmappings 398 Tabelle 27: Ansatze im Vergleich 407

Page 19: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

XXII Tabellenverzeichnis

Tabelle 28: Zusammenhang zwischen UMS-Implementierungsgrad und Zertifizierung 437

Tabelle 29: Zusammenfassung der Variablendefinitionen des verwendeten Regressionsmodells 441

Tabelle 30: Ergebnisse der Modellschatzung fur Umweltprodukt-und-prozessinnovationen 441

Tabelle 31: Interaktion Wettbewerbsrelevanz von Umweltaspekten mit UMS-Implementierung 446

Tabelle 32: Discrete Choice Design: Attribute und Auspragungen 476 Tabelle 33: Wichtigste Kriterien beim Kauf einer Gliihlampe 477 Tabelle 34: Bekanntheit der Energieetikette 478 Tabelle 35: Ergebnisse des Discrete Choice Modells ftir Gliihlampen 481

Page 20: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Teil I:

Perspektiven auf

Innovation und Nachhaltigkeit

Page 21: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Innovationen fiir nachhaltige Entwicklung - eine betriebswirtschaftliche Perspektive

Reinhard Pfriem

„Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gaufi, so recht ein Beispiel fur die er-bdrmliche Zufdlligkeit der Existenz, dass man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen un-ziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft."

(Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt)

Es war 1990, als in Siegen unter Leitung von Eberhard Seidel eine Tagung stattfand, die die verbindliche Initiative zur Griindung der Kommission Um-weltwirtschaft des Verbandes der Hochschullehrer fiir Betriebswirtschaftslehre untemahm. Die Bezeichnung Umweltwirtschaft war ein pragmatischer Schritt, der in der Riickschau die verbandsoffizielle Anerkennung als Kommission si-cher erleichtert hat. Vielen Mitgriindem, darunter mir selbst, der ich aus Griin-den hinreichender okologischer Radikalitat und zur Hervorhebung des politi-schen Charakters des Untemehmenshandelns seinerzeit schon den Begriff okologische Untemehmenspolitik favorisierte, war und ist immer noch der Beg­riff Umweltwirtschaft (abgesehen davon, dass ein Untemehmen ja sehr viele Umwelten hat) viel zu identisch mit dem klassischen Denken in Faktoren und Funktionsbereichen nach dem Motto: nun haben wir noch einen identifiziert, den wir bewirtschaften miissen.

Die Durchfiihrung der jahrlichen Herbsttagung bei uns an der Carl von Os-sietzky Universitat Oldenburg, die mit diesem Band dokumentiert wird, fiel in den Rahmen der zwei Jahre des Kommissionsvorsitzes von Jiirgen Freimann (Universitat Kassel). Dies transportiert fiir ihn wie fiir mich den Symbolwert, dass wir gemeinsam 1989 bei der Wissenschaftstheoretischen Kommission des Verbandes einen Vortrag hielten mit dem Titel: Untemehmen und natiirliche Umwelt - programmatische und wissenschaftstheoretische Aspekte sozialoko-logischen Denkens in der Betriebswirtschaftslehre. Dahinter stand die Auffas-sung, dass die okologische Herausforderung der Untemehmenspolitik wie der Betriebswirtschaftslehre erst einmal in ihrer ganzen Scharfe angenommen und reflektiert werden will, wenn man eine angemessene Ubersetzung sowohl in die Untemehmenspolitik als auch in die akademische Betriebswirtschaftslehre hin-

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Reinhard Pfriem

bekommen mochte - ein Anliegen, das mit dem Begriff Umweltwirtschaft si-cher nicht angemessen markiert werden kann.

In diesem Sinne versammelt unsere Tagung einige Indizien dafur, dass die angemessene Ubersetzung der okologischen Herausforderung in betriebswirt-schaftliche Forschung und Lehre in vielerlei Hinsicht noch aussteht, erst recht namlich im Lichte der regulativen Idee nachhaltiger Entwicklung und des Ge-sichtspunkts von Innovationen fiir nachhaltige Entwicklung. Sowohl der theore-tische Bezugsrahmen als auch die institutionellen Bedingungen der betriebs-wirtschaftlichen Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung haben sich in der jtingeren Zeit konkretisiert. In der Zusammenarbeit einiger Oldenburger Be-triebswirte, Soziologen und Philosophen haben wir in den letzten Jahren erste gemeinsame Schritte zu einem kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramm fiir eine angemessene Theorie der Untemehmung hinter uns gebracht, durch das gerade auch Nachhaltigkeit als kulturelle Herausforderung fiir Untemehmens-und Wirtschaftspolitik genauer gesehen werden kann/ Vor Ablauf des Jahres 2005 hat das Prasidium unserer Universitat einen Errichtungsbeschluss gefallt fiir das Oldenburg Center for Sustainability Economics and Management (CENTOS), das der Starkung unserer wirtschafts-, rechts- und sozialwissen-schafllichen Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung dienen soil. Und ebenfalls noch im vergangenen Jahr hat der Senat der Universitat die Ordnung eines uni-versitatsiibergreifenden Zentrums fiir Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung verabschiedet. Mit diesen institutionellen Starken im Riicken lasst sich viel-leicht souveraner mit den - nicht nur Oldenburg betreffenden - noch vorhande-nen Schwachen und Defiziten dieses Forschungsfeldes umgehen. Dazu will der folgende Text mit gewissem Schwerpunkt auf das Innovationsthema einige Gedanken beisteuem.

Von daher lautet meine Einstiegsthese: wir - ich meine diejenigen, die sich als akademische Betriebswirte mit Okologie und Nachhaltigkeit beschaftigen -wir werden nur dann in einem hinreichend befriedigenden MaBe Teil der Lo-sung werden konnen, wenn wir zuvor erkennen, wie stark wir immer noch Teil des Problems sind. Das meine ich (1) ohne jede Koketterie und (2) selbstver-standlich auch selbstkritisch. Angesprochen sind unsere Schwierigkeiten, aus dem Nachhaltigkeitsthema mehr zu machen als eine terminologisch erweiterte und dadurch irgendwie breiter gefasste Bearbeitung dessen, was wir vorher als okologische Untemehmenspolitik, Betriebliche Umweltpolitik oder eben Um­weltwirtschaft gefasst haben. Mir geht es dabei nicht darum, unsere Bemtihun-gen der vergangenen zwei Jahrzehnte riickblickend zu diskreditieren, vielmehr ist mein Interesse, dass wir durch genaueres Hinsehen auf die noch vorhande-nen Unzulanglichkeiten bessere und prazisere Lehren fiir unsere kiinftige Arbeit Ziehen.

(Hrsg.) Forschungsgruppe Untemehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) 2004

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Innovationen fur nachhaltige Entwicklung

Ich will meine Argumentation dazu in drei Schritten entwickeln: (1) werde ich die Ambivalenzen der Thematisierung des Okologieproblems behandeln, dann (2) die Idee der Nachhaltigkeit als insbesondere kulturelle Herausforde-rung weiterer gesellschaftlicher Entwicklung, und schlieBlich (3) die groBen Moglichkeiten, die fur die Weiterentwicklung betriebswirtschaftlicher For-schung und damit zwangslaufig dessen, was akademische Betriebswirtschafts-lehre iiberhaupt ist oder sein soUte, in der theoretischen Bearbeitung des The-mas „Innovationen fur nachhaltige Entwicklung" liegen.

1 Die Ambivalenzen der Thematisierung des Okologieproblems

Ftir die Aufbruchsituation okologischer Untemehmenspolitik und betriebswirt­schaftlicher Umweltforschung seit Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ergibt sich ftir mich in der Riickschau folgendes Bild^:

1. Die okologischen Analysen und Diagnosen insbesondere der 80er Jahre waren getrieben von dem prognostischen Zweifel, ob das westliche, kapita-listische oder wie auch immer markierte Industriesystem grundsatzlich in der Lage sein konne, mit der gegebenen Expansion des Verbrauchs an Roh-stoffen und Energie sowie der Belastung von Luft, Wasser und Boden mit schadlichen Stoffen zurecht zu kommen. Es gab in den ersten Jahren dieser Diskussionen viele Stimmen, die dies bezweifelten.^

2. Neben dieser mit Begriffen wie carrying capacity zunachst eher technisch und quantitativ anmutenden Frage kamen bei einem Teil der an den Debat-ten Beteiligten Zweifel auf tiber die Sinnhaftigkeit des iiberkommenen ge-sellschaftlichen Entwicklungsmodells von immer weiterem technischem und okonomischem Fortschritt. Es gab anfangs nicht wenige, die in dem Druck auf permanente industrielle und wirtschaftliche Innovationen von daher nicht die Losung sahen, sondem das Problem, und daraus das Erfor-demis grundsatzlich neuer gesellschaftlicher und politischer Entwicklungs-optionen ableiteten, sowie ebenso einer Neubesinnung theoretischer Orien-tierungen."^

3. Wie in der Zyklizitat politischer Themen iiblich, beruhigte sich in Sachen okologische Krise nach einigen Jahren das Diskussionsklima merklich, mit erheblichen Folgen fur das Selbstverstandnis der beteiligten Akteure. So mancher vormalige gesellschaftliche Fundamentalkritiker sah nun seine vomehmste Pflicht darin, Untemehmen bei der Umsetzung der EG-Oko-

Vgl. auch Pfriem 1995 Zum publizistischen Auftakt der Okologiedebatte gehorten Publikationen, die in verschiedenen Bereichen der Umweitbelastungen Katastrophenszenarien einschlossen, auf dem Felde der Roh-stoffverknappung etwa Meadows/ Meadows 1972 und andere Berichte des Club of Rome Sehr verbreitet damals in Deutschland beispielsweise Capra 1983

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Audit-Verordnung zu begleiten. Das ist keineswegs diskreditierend ge-meint, ware sonst ja auch eine beiBende Selbstkritik. Nein, inklusive des operativen Herunterbrechens in EMAS, ISO usw. war die Ubersetzung gro-Ben Redens und Schreibens in haufig sehr kleines Handeln eine notwendige Entwicklungsetappe, an der viele von uns sich mit groBem Recht aktiv be-teiligt haben. Wer namlich gerade in den ersten Jahren personlich dabei war, Untemehmen wie Wilkhahn, merkle ratiopharm oder Kunert auf ihrem Weg zu systematischer okologischer Aktivitat zu begleiten, hat schnell merken konnen, wie viel das in diesen Untemehmen weit iiber den engeren okologischen Bereich hinaus bewegt hat, wie dadurch die eher gesellschaft-lich und zukunftsorientierten Krafte im Management Oberwasser bekom-men haben, welch vielfaltige Kommunikationen und Interaktionen auf die-sem Wege zwischen Untemehmen und extemen Stakeholdem aufgenommen wurden etc.

4. Meine vierte These ist nicht nur ruckblickend, sondem markiert das immer noch ungeloste Problem. Die terminologische Umstellung von Okologie bzw. Umwelt auf Nachhaltigkeit ist gerade auch in der Betriebswirtschafts-lehre in den mehr als zehn Jahren, die seit der Rio-Konferenz mittlerweile verstrichen sind, nicht sonderlich emst genommen worden. Dieser Befund lasst sich am besten gleich zweifach markieren: zum einen, insofem das Thema Nachhaltigkeit eigentlich die Fragen nach Bedingungen, Moglich-keiten und Sinnbeziigen untemehmerischer Tatigkeiten schlechthin stellt, in unserer Fachdisziplin auBerhalb derjenigen, die sich sowieso schon mit Fragen der Okologie, gesellschaftlicher Verantwortung etc. beschaftigten, bis heute aber keine nennenswerten Irritationen ausgelost hat. Auf Gesamt-verbandsebene war mit der Festlegung des Schwerpunktthemas Umwelt bei der jahrlichen Pfmgsttagung 1996, ein halbes Jahrzehnt nach Grlindung dieser Kommission, sowohl die Schublade in den Schrank der Funktionsbe-reiche offiziell eingebaut als auch die Akte geschlossen. Wer das Programm der Kieler Pfmgsttagung 2005 immerhin zum Thema Innovationen oder der Grazer Tagung 2004 zum Thema „Gesellschaftliche Verantwortung von Untemehmen" genauer anschaut, kann nur sicherer werden in dem Befund: Nachhaltigkeit ist fiir den deutschen Verband der Hochschullehrer fur Be-triebswirtschaftslehre kein Thema besonderer Relevanz.

Es war von zweifacher Markiemng des Befiindes die Rede. Auf der anderen Seite stehen namlich wir, deren insbesondere theoretische Kreativitat und Phan-tasie noch recht enge Grenzen hat bei dem Bemiihen, die Umstellung auf Nach­haltigkeit nicht nur als eine terminologische vorzunehmen. Wenn ich von nicht nur terminologischer, sondem sachlicher Umstellung spreche, meine ich selbst-verstandlich nicht jene auch existierende, wo die Idee der Nachhaltigkeit vor allem dazu fiihrt, die Scharfe der okologischen Probleme zu beschwichtigen.

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Innovationen ftir nachhaltige Entwicklung

indem entweder mit Verweis auf die soziale Dimension die Arbeitsplatze in Stellung gebracht werden oder mit Verweis auf die okonomische Dimension direkt die Notwendigkeit weiteren wirtschaftlichen Wachstums.^

Nein, es geht umgekehrt um die Frage, welche Beitrage wir als Wissen-schafller dazu leisten konnen, die Rolle von Untemehmen in modemen Gesell-schaften analytisch wie normativ enger zusammen zu bringen mit dem, worin nun einmal der Kern der Herausforderung Nachhaltige Entwicklung besteht: auch in den frtihindustrialisierten Landem zu solchen Wirtschafts- und Lebens-stilen zu kommen, die dauerhaft global iibertragbar sind, also auch zu entspre-chenden Untemehmenspolitiken. Und davon sind wir - bei alien erfreulichen Fortschritten bisheriger Umweltpolitik - unbestreitbar noch weit entfemt.

2 Die Idee der Nachhaltigkeit als insbesondere kulturelle Herausforderung weiterer gesellschaftlicher Entwicklung

Natiirlich handelt es sich bei den Problemen der globalen Ubemutzung von Ressourcen, der iibermaBigen Emission von Schadstoffen, der globalen Klima-veranderungen und vielem mehr auf den ersten Blick um okologische Probleme. Es sei aber daran erinnert, dass die in ihrer Bedeutung klassisch gewordene Rio-Konferenz 1992 nicht nur die weltweiten okologischen Zerstorungen zum Ge-genstand hatte, sondem auch die mangelnde Entwicklung vieler Lander dieser Erde vor allem auf ihrer siidlichen Halfte. Und die jiingste Entwicklung in Chi­na flihrt uns nicht nur drastisch vor Augen, was passiert, wenn flir die Industria-lisierung weiterer Lander keine okologischen Lehren aus vorangegangenen Industrialisierungsprozessen gezogen werden - sie zeigt auch, welch massive Verscharfung sozialer Ungleichheiten mit solchen Entwicklungsprozessen ver-bunden ist. Nun horen und lesen wir in den letzten Jahren zwar immer wieder, Gerechtigkeit dtirfe nicht mit Verteilungsgleichheit verwechselt werden. Aber sollen wir uns deswegen als zukunftsfahig einreden lassen, dass die Kluft zwi-schen Arm und Reich auf dieser Welt immer groBer wird, tibrigens auch in unseren friihindustrialisierten Landem?

Bei naherem Hinsehen erweist sich die okologische Frage als zutiefst gesell-schaftspolitische Frage, und bei weiterem naheren Hinsehen zeigt sich, dass es bei der gesellschaftspolitischen Frage um weit mehr geht als die materielle Gti-terverteilung, so wie wir das nicht nur politisch, sondem auch wissenschaftlich aus den frlihen Zeiten des kapitalistischen Industriesystems immer noch mit uns hemmschleppen. In einer Okonomie, die sich nicht nur von den klassischen Schwerindustrien und Massenproduktionen verabschiedet, sondem damit auch von den stabilen Organisationsformen und Ordnungsmustem, die gerade weni-ger orientiemngsfahigen Menschen Halt und Ordnung gaben, gehen materielle

Vgl. zu dieser Kritik Fichter/ Paech/ Pfriem 2005, 37 ff.

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und kulturelle Verarmungsprozesse zwangslaufig Hand in Hand. Die bundes-deutschen Verhaltnisse seit der Wiedervereinigung zeigen langst, dass ein Selbstverstandnis, die Fragen okologischer Innovationen unter den Bedingun-gen breiter materieller Wohlfahrt analysieren und konzeptualisieren zu konnen, anachronistisch geworden ist. So merkwiirdig das klingen mag, gibt es deshalb gute Grlinde dafiir, dass ein zu eng definiertes Umweltproblem in der Sicht der deutschen Bevolkerung an Bedeutung verloren hat.

Die daraus abzuleitende kritische Anmerkung heiCt insofem, dass eine zu eng definierte Umweltforschung ebenfalls zu Recht an Bedeutung verloren hat und weiter verlieren wird. Nunmehr zwei Jahrzehnte umweltokonomischer Forschung haben sich in weiten Teilen viel zu abstrakt mit den Beziehungen von okonomischem Handeln und okologischen Folgen, mit okologischen Mo-demisierungen und umweltpoHtischen Innovationen beschaftigt, statt konkreter die okonomisch-okologischen Probleme spezifischer Markte und Branchen zu analysieren, damit notwendigerweise auch die kulturellen und gesellschaftlichen Aspekte und Dimensionen. Die fokussierte wissenschaftliche Beschaftigung damit, mit welchen Anreizinstrumenten oko-effizientere Verfahren begUnstigt werden konnen, mag zwar in einzelnen Bereichen zu okologischen Verbesse-rungen fuhren. Es ware sicher toricht, die aktuell gegebenen Ungleichgewichte in der Frage des Dieselrussfilters fur unwichtig zu erklaren. In einer gewissen Weise haben diese Dinge aber immer weniger mit den Bedingungen und Mog-lichkeiten einer zukunftsfahigen Entwicklung im Sinne von Nachhaltigkeit zu tun. Denn diese ist abhangig davon, welche Ziele, Neigungen und Wiinsche sich bei den okonomischen Akteuren auf beiden Seiten der okonomischen Interakti-on - Angebot wie Nachfrage - entwickeln und wie es um die Entwicklung von Kulturtechniken, von intellektuellen, moralischen und asthetischen Kompeten-zen in der Gesellschaft steht. Was sind die kulturellen und sinnbezogenen Ori-entierungen, von denen das Handeln der okonomischen Akteure getrieben wird?'

Es geht also darum, diesen Fragen fur nachhaltigkeitsbezogene betriebswirt-schafltliche Forschung Aufmerksamkeit zuzuwenden und den vorgangigen Schein zu tiberwinden, als handle es sich dabei um Fragen gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungen, mit denen Betriebswirtschaftslehre gar nichts zu tun hat. Wir haben im Rahmen des BMBF-Forderprogramms Instrumente nach-haltigen Wirtschaftens unter dem Begriff summer - sustainable markets emerge - uber drei Jahre ein Forschungsprojekt durchgefuhrt, das die Generierung nachhaltiger Zukunftsmarkte durch Untemehmen zum Gegenstand hatte.^ Paral­lel zur Ausarbeitung unseres allgemeinen kulturwissenschaftlichen Forschungs-programms einer Theorie der Untemehmung und diese befordemd haben wir

^ Dass dies gerade eine Herausforderung der Anbieterseite darstellt, verdeutlicht Pfriem 2004 '^ Fichter/ Paech/ Pfriem 2005, s. a. www.summer-net.de

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Innovationen fur nachhaltige Entwicklung

bei diesem Projekt sehr konkret anhand unserer sechs Praxispartner gelemt, welche Relevanz die kulturelle Aufgeladenheit und Bedeutung des auf den ersten Blick erst einmal ganz eng okonomischen Handelns von Untemehmen und Untemehmensnetzwerken heute schon hat. Es ging bei diesen sechs Praxis-partnem namlich darum:

•=> wie wir nicht nur mit der Kiihlung, sondem insgesamt der Besorgung und Aufbewahrung unserer Lebensmittel umgehen (Bosch-Siemens-Hausgerate),

•=> wie weit es uns gelingt, den Papierverbrauch auf nachhahige Waldbewirt-schaftung zu stiitzen und diese in Landem zu befordem, in denen Nachhal-tigkeit als dringliches Thema noch viel weiter weg ist als hierzulande (mohnmedia),

•=> in welchem AusmaB Verkehrsmittelinnovationen zu einer umweltvertragli-cheren und lebensqualitatsvoUeren Gestaltung innerstadtischer Mobilitat beitragen konnen (velotaxi),

^ wie Intemet-Intermediare zur Entwicklung und Festigung neuer untemeh-merischer Existenzen beitragen konnen (projektwerk),

•=> wie unter auf billigen Neubau programmierten Verhaltnissen okologisches Bauen und Wohnen gestarkt werden kann (Institut fiir Bauen und Wohnen),

•=> wie durch Netzwerkverbund ein leistungsfahiges okologisches Mobelpro-gramm entwickelt werden kann, das den fur hinreichenden Absatz erforder-lichen Designanforderungen standhalt (KonnexX).

Es ist nach wie vor sinnvoll, wie Erich Gutenberg vor einem Dreivierteljahr-hundert die Untemehmung als Gegenstand betriebswirtschaftlicher Theorie auszuzeichnen. Wir miissen „nur" angemessen beriicksichtigen, wie sich das, was er als Untemehmung bezeichnet hat, inzwischen verandert und mit den verschiedenen anderen Elementen der Gesellschaft verwoben hat. Dem Okolo-gieproblem als Problem der Obemutzung von Ressourcen und der Schadstoff-uberlastung von Luft, Wasser und Boden konnte man iiber Modifikationen der klassischen betriebswirtschaftlichen Produktionstheorie noch gut beikommen, wie Harald Dyckhoff , Gerd Rainer Wagner^ und andere sehr friih gezeigt ha-ben. Fiir die andere wesentliche Gutenbergsche Idee der Isolierbarkeit der be-trieblichen Leistungserstellungsprozesse war damit aber bereits der Sprengsatz gelegt: schon bei okologischer Erweiterung der vormaligen Produktionstheorie erweist sich die Untemehmung als okonomische Organisationsform der Gesell­schaft, die nur tiber ihre Verflechtungen mit den gesellschaftlichen Umwelten angemessen analysiert werden kann.

' Dyckhoffl992 ^ Wagner 1990

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Wenn wir heute bei prominenten globalen Untemehmen auf Markten wie Bekleidung, Sportschuhe und vielen anderen nicht weniger erleben als deren Emanzipation von der Produktion als dem, was die Betriebswirtschaftslehre des 20. Jahrhunderts fur das hielt, was den Kern ihrer Sache ausmacht, dann miissen wir als betriebswirtschaftstheoretische Forscher, die auf der Hohe der Zeit blei-ben woUen, daraus Konsequenzen ziehen/^ Die untemehmerische Emanzipati­on von der Produktion mit der Herausbildung von Markenfiihrung als unter-nehmerischem Kemgeschaft macht in solchen Fallen wie Nike, H & M und anderen speerspitzenartig deutlich, wohin die Reise geht. Untemehmensstrate-gien sind insofem kulturelle Angebote an die Gesellschaft. Entgegen einer jahr-zehntelangen sozialwissenschaftlichen Forschungsrichtung, kulturellen und Wertewandel einer irgendwie allgemeinen gesellschaftlichen und vor allem konsumentenbezogenen Sphare zuzuordnen, der gegeniiber Untemehmen als Anpasser zu modellieren waren, sind Untemehmen wesentliche Produzenten kultureller Verandemngen in modemen Gesellschaften.^^ Sie waren das im Gmnd schon zu Zeiten, als die Chefs von Kmpp und Siemens noch Kmpp und Siemens hieBen, allerdings tauschten die Sach- und Zweckrationalitaten der fruhen kapitalistischen Entwicklung nicht nur dariiber hinweg, sondem gene-rierten schon aus Griinden der fruhen industriellen Technik ganz andere lock-ins als diejenigen, mit denen wir heute zu tun haben. ^

Wir haben es also mit einer wesentlich kulturell aufgeladenen Okonomie zu tun, in der Untemehmen heute agieren. Am Beginn unserer Einleitung zu dem Band unserer Forschungsgmppe Untemehmen und Gesellschaft (FUGO) iiber Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Untemehmung haben wir dies in vier Punkten zusammengefasst:

„1. die kulturelle Aufladung der betrieblichen Organisation, die sich durch alle relevanten Funktionsbereiche eines Untemehmens zieht,

2. die kulturelle Einbettung von Untemehmen in ihre gesellschaftlichen Um-welten, dabei insbesondere

3. die kulturelle Aufladung der Beziehung zwischen Untemehmen und Kon-sumenten, die sich wiedemm

4. in den, den Produkten anhaftenden Bedeutungen widerspiegelt."^^

Dieser Befund ist gerade unter dem Gesichtspunkt einer nachhaltigen Entwick­lung von aufierordentlicher Relevanz. Uber die Ausrichtung und Entwicklung ihrer Geschaftsfelder und Geschaftspolitiken unterbreiten Untemehmen der

'^ Vgl. dazu Pfriem 2005, insbesondere 187 ff. ^ Zur Kritik des „adaptionistischen Missverstandnisses" s. jiingst Hejl 2006 ^ Zur Frage der Lock-Ins in der Untemehmenstheorie s. Lehmann-Waffenschmidt/ Reichel 2000 ' Beschomer/ Fischer/ Pfriem/ Ulrich 2004, 11

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Gesellschaft eben in vielfaltigster Weise Angebote dazu, wie diese sich weiter entwickeln sollte, zum Beispiel:

•=> ob sie passive Tatigkeiten wie Femsehen starken sollen oder aktive wie Sport treiben, Reisen etc.,

O ob sie bestehende Trends zur Wertminderung von Emahrung (z.B. auch als Anteil der Lebenshaltungskosten) weiterffihren sollen oder Ansatze liefem, fiir Emahrung wieder mehr Zeit aufzuwenden und vielleicht auch mehr Geld auszugeben,

•=> ob die Fetischisierung des Automobils mit Typen von 300 und mehr PS wieder aufleben soil oder neue Wege zur Integration verschiedener Ver-kehrstrager beschritten werden,

^ ob kulturelle und geschichtliche Bildung ein wichtiges Element gesell-schaftlicher Fahigkeitsentwicklung ist oder eher hinderlich fiir Exzellenz in technisch-naturwissenschaftlichen Wettbewerben,

•=> ob Umweltqualitat als vortibergehende Modeerscheinung behandelt wird oder als unabdingbarer Bestandteil von Produkten und Dienstleistungen im 21. Jahrhundert,

•=> und ahnlicher Fragen mehr.

Nattirlich lieBe sich diese Liste unendlich fortfiihren. Die Beispiele zeigen be-reits deutlich genug, zu welch kulturell unterschiedlichen Perspektiven unter-nehmerische Angebotsstrategien fiihren konnen.

Wenn wir nicht nur auf filihere Ideologien verzichten, in der okonomischen Interaktion eine einseitige Manipulation der Konsumenten durch die auf Ab-satzsteigerung orientierten Untemehmen zu identifizieren, sondem auch auf die umgekehrten, die sogenannte Konsumentensouveranitat so zu tibersteigem, dass die Untemehmen nur noch als reaktive Auftragnehmer gefasst werden, wenn wir also verstehen lemen, dass es sich bei der okonomischen Interaktion um eine rekursive Beziehung handelt, dann fangen wir an, die kulturellen Effekte der Untemehmenstatigkeit und damit die gesellschaftliche und kulturelle Ver-antwortung von Untemehmen zu entdecken.

Konkurrierende Untemehmen machen sich nicht nur dadurch Konkurrenz, dass sie zu hoheren Periodengewinnen oder langfristig besseren betriebswirt-schaftlichen Erfolgspositionen kommen woUen als ihre Wettbewerber, dass sie vielleicht Marktfiihrer werden wollen und das nicht gleichzeitig auch der andere sein kann etc., sondem zunehmend iiber die unterschiedliche kulturelle Qualitat der von ihnen angebotenen Giiter und Dienstleistungen.

Diese rekursiven Prozesse kulturell aufgeladener okonomischer Interaktion - wir brauchten theoretisch ja eigentlich so etwas wie eine Interaktionsokono-mik - eingehend zu analysieren, scheint die notwendige Folge fiir eine nachhal-tigkeitsbezogene betriebswirtschaftliche Forschung zu sein. Erst recht auf dem

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Boden einer Interaktionsokonomik gibt es ftir Innovationen keine Regeln, keine Normen, keine Rahmenbedingungen, nur Kontexte und Ermoglichungsbedin-gungen (jenseits dessen, was die Akteure flir sich vermogen). In diesem interak-tiven Zusammenhang sind insofem auch evolutorisch, systemtheoretisch und sonst wie aufgeklarte Kategorien wie Pfadabhangigkeiten und Lempfade, Lem-typen, Lemmodelle zu denken, ebenso solche AnstoBe wie Perturbationen, Irritationen, Multifurkationen, der ganze Komplex der Altemativenraume, die so wichtigen was ware, wenn-Szenarien; die Formierung von Zukunftserwar-tungen. Organisationen sind nicht nur iiber Routinen und Anpassungshandeln erklarbar. Untemehmen kennen nicht nur ihre Kostenfunktionen nicht (das zielt auf eine weiterhin notwendige Kritik am transaktionskostentheoretischen An-satz), sie treffen ihre strategischen Entscheidungen auch beileibe nicht vor allem nach der Kostenseite, sondem nach der Erfolgs- bzw. Erfolgspotentialseite, damit nach einem kategorial anderen Kalkiil.

In der vor einigen Monaten erschienenen vierten Ausgabe des Jahrbuchs Okologische Okonomik hat Ulrich Witt, vor inzwischen rund 15 Jahren der Initiator des Ausschusses fiir Evolutorische Okonomik im Verein flir Socialpoli-tik, einen schon im Titel bemerkenswerten Kommentar zu einigen anderen Bei-tragen in diesem Band geschrieben. Der Titel lautet: Innovationsforderung als Konigsweg zur Nachhaltigkeit?^"^ Im selben Band hat Niko Paech nachhaltige Innovationen als Gestaltung ambivalenter Prozesse des Wandels charakteri-siert. ^ In diesem Sinne und in Pointierung des Wittschen Arguments scheint mir mit Blick auf das Tagungsthema der Hinweis wichtig, dass wir stark genug sein sollten, der Entwicklung und Verbreitung von Placebo-Theorien tuchtig zu widerstehen. Als Betriebswirtschaftler stehen wir bekanntermaBen flir eine traditionelle Macherlehre, auBerdem wollen wir vielleicht noch den einen oder anderen Beraterauftrag akquirieren - in Bezug auf die Frage nach Innovationen sind wir also doppelt gefahrdet.

3 Die groBen Moglichkeiten, die das Thema ^Innovationen fiir nachhaltige Entwicklung" fiir theoretische Fortschritte der Betriebswirtschaftslehre bietet

In einem seiner Beitrage fur das summer-Buch ist Niko Paech der Frage nach-gegangen, ob es bei Innovationen eigentlich darum geht, immer etwas Neues dazuzusetzen oder vielleicht gerade auch Korrekturen an der eingeschlagenen Richtung vorzunehmen. Meine bisherigen Ausflihrungen haben hoffentlich schon hinreichend deutlich den Standpunkt markiert, dass von Innovationen fiir nachhaltige Entwicklung nur in dem MaBe die Rede sein kann, in dem das Erste

^ Witt 2005 ^ Paech 2005

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in das Zweite eingebettet wird. Das ist ein explizit kulturwissenschaftliches Argument zum Innovationsphanomen, deshalb zitiere ich an dieser Stelle emeut Boris Groys: „Die Innovation besteht nicht darin, dass etwas zum Vorschein kommt, was verborgen war, sondem darin, dass der Wert dessen, was man immer schon gesehen und gekannt hat, umgewertet wird. Die Umwertung der Werte ist die allgemeine Form der Innovation."^^

In diesem Sinne spricht Dirk Fischer vom Strategischen Management in der Symbolokonomie.^^ Dabei fallt iibrigens auf, dass die symbolischen Konnotati-onen in unterschiedlichen Produkt-, Dienstleistungs- und Versorgungsbereichen sehr unterschiedlich ausfallen und gerade diese Ungleichzeitigkeiten wegen ihrer Nachhaltigkeitsrelevanz ein wichtiger Gegenstand betriebswirtschaftlicher Forschung werden sollten. Im Rahmen unseres BMBF-Projektes OSSENA zum Thema Emahrungskultur konnen wir feststellen, wie ausgerechnet das unter Lebensqualitatsgesichtspunkten fundamentale Bediirfnisfeld der Emahrung zu einem geworden ist, wo selbst bei Teilen hoherer Einkommensschichten die „Geiz ist geiP'-Mentalitat greift, wahrend in anderen Bereichen der von Thor-stein Veblen schon vor einhundert Jahren so bezeichnete demonstrative Kon-sum^ frohliche Urstande feiert. Die Scham der Reichen, ihren Reichtum zur Schau zu stellen, sinkt auch in Deutschland offenkundig rapide, bemerkens-werterweise zur selben Zeit, zu der hierzulande echte Armut eher wieder zu-nimmt. Das ist eine wichtige kulturelle, okonomisch natiirlich bedeutsame und, wie mir scheint, auBerordentlich nachhaltigkeitsfeindHche Entwicklung.

Die hochst unterschiedlichen Auspragungen der Beziehungen von Preis und Qualitat und untemehmensseitige Aktivitaten zur Forderung demonstrativen Konsums sind also fiir nachhaltigkeitsokonomische Forschung wichtige The-men, ebenso wie Bemiihungen um die Wiederbelebung handwerklicher Qualitat Oder solche Produkte und Dienstleistungen, die im Gegensatz zum demonstrati­ven Konsum von der Idee getragen sind, Zuganglichkeit fiir sehr viele oder alle sicher zu stellen. Nicht nur die okologischen Rucksacke, von denen wir seit langem aus unseren Forschungen wissen, sondem auch das Erfordemis oder besser: die Ermoglichung von handwerklichen Fertigkeiten und Kulturtechni-ken, die Entfaltungsbedingungen fflr asthetische Bildung sind in angebotene Produkte und Dienstleistungen haufig schon eingebaut, oder betriiblich haufig auch die Verhinderung. Das fangt bei der Spielzeugindustrie far kleinste Kinder schon an, die bei dem einen Spielzeug die Moglichkeit zu phantasievoller Ei-genaktivitat haben, bei dem anderen ist das Wegwerfen die einzige Alternative.

Damit stellen sich iibrigens ganz neue Herausforderungen fiir die Kultur ei-nes Untemehmens. Und wir haben zu lemen, dass es bei Untemehmenskultur

'' Groys 1992, 14 ' Fischer 2005 ^ Vgl. Veblen 1981

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nicht nur um etwas Internes geht. Thomas Beschomer hat das in einem Beitrag fur unser FUGO-Buch als Untemehmenskultur II bezeichnet.^^ Das heiBt, so wie etwa Untemehmen schon damit begonnen haben, im Sinne von Corporate Citizenship gesellschaftliches Engagement von Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tem zu fordem, so tragen Untemehmen selbstverstandlich durch die Gestaltung ihrer Angebote auch Verantwortung dafur, welche Befahigungs- oder Entmlin-digungsprozesse bei Nutzem und Konsumenten ablaufen konnen. In diesem Sinne und in Richtung einer erst wieder zu entfaltenden Debatte iiber Wirt-schaftsstile und Wirtschaftskulturen sollten wir der langst stagnierenden Dis-kussion und Forschung zum Thema Organisationskulturen neues Leben einflo-fien.^^

In der Literatur zu Innovationen fur nachhaltige Entwicklung ist damit be­gonnen worden, typologische Unterscheidungen fur Innovationen vorzuneh-men, die iiber friihere Einsichten, dass es jenseits technischer Produkt- und Verfahrensinnovationen doch auch irgendwie organisatorische oder soziale Innovationen gibt, an Prazision deutlich hinausgehen. Fiir unser Thema ist aber nicht nur wichtig, die gegenstandliche Seite von Nachhaltigkeitsinnovationen genauer als anfanglich zu markieren. Wenn wir direkt oder indirekt durch unse-re Untersuchungen und Forschungen etwas zum Thema beitragen woUen, sind die Handlungsbedingungen und -moglichkeiten der Innovationsakteure natiir-lich besonders belangvoU. Ebenfalls in Verkopplung mit unserem summer-Projekt hat Klaus Fichter kiirzlich seine Habilitationsschrift zum Interpreneurs-hip als Buch vorgelegt.^^ Die Arbeit reflektiert ausgehend von der kritischen Rekonstruktion, wie wenig Innovations- und Nachhaltigkeitsforschung bislang zusammen kommen wollen, das Innovationshandeln in der Welt grenzenlos werdender Untemehmungen. Die Gefahr ist selbstverstandlich groB, dass in der Verkoppelung von Nachhaltigkeitsinnovationen mit einem oberflachlich ver-standenen Schumpeterschen Untemehmertum, mit Entre-, Intra- und Interpre-neurship eine neue betriebswirtschaftliche Mode von Machermentalitat kreiert wird. Umso wichtiger scheint die konkrete Analyse realer Entwicklungen. Just in dem Kapitel, das mit dem seit Jahren verbreiteten Lieblingszitat vom Prozess der schopferischen Zerstorung iiberschrieben ist, hat Schumpeter formuliert: „Der Kapitalismus ist also von Natur aus eine Form oder Methode der okono-mischen Veranderung und ist nicht nur nie stationar, sondem kann es auch nie sein. Dieser evolutionare Charakter des kapitalistischen Prozesses ist nicht ein-fach der Tatsache zuzuschreiben, dass das Wirtschaftsleben in einem gesell-schaftlichen und naturlichen Milieu vor sich geht, das sich verandert und durch seine Veranderung die Daten der wirtschaftlichen Tatigkeit andert Der fun-

Beschomer/ Lindenthal/ Behrens 2004 ^ Zur Wirtschaftskulturdiskussion auch in historischer Perspektive s. Pfriem 2006 ^ Fichter 2005

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damentale Antrieb, der die kapitalistische Maschine in Bewegung setzt und halt, kommt von den neuen Konsumgiitem, den neuen Produktions- oder Transport-methoden, den neuen Markten, den neuen Formen der industriellen Organisati­on, welche die kapitalistische Untemehmung schafft."^^

Ohne Bezug auf dieses Zitat haben Frank Beckenbach und Jan Nill in dem schon erwahnten Jahrbuch fur Okologische Okonomik zu Recht darauf hinge-wiesen, dass diese in der Gestalt ihrer bisherigen fachwissenschaftlichen Aus-pragung dem evolutorischen Charakter der okonomischen Entwicklung noch nicht gerecht wird. ^ Jedes Mai, wenn ich von der Anfang Juli stattfindenden jahrlichen Tagung des Ausschusses fur Evolutorische Okonomik zurtickkomme - der Verfasser des folgenden Beitrags ist ja nicht zufallig dort einer der wichti-gen Akteure - stelle ich mir die Frage, ob wir fur die Betriebswirtschaftslehre nicht auch eine entsprechende Kommission griinden soUten (ahnlich tibrigens, wie es ja im Gegensatz zum Verein fiir Socialpolitik nach wie vor keine zum Gegenstand Ethik gibt). Aber vielleicht ist ja auch die Kommission, die diese Tagung veranstaltet, daflir nicht der schlechteste Ort, wenn wir es denn versu-chen sollten, iiber Okologie im engen Sinne hinaus die Nachhaltigkeit = Ent-wicklungs- und Zukunftsfahigkeit zu unserem Gegenstand zu machen.

Das verlangt nattirlich auch den offenen Blick fiir Entwicklungen, die viel­leicht nicht im normativen Suchfeld von Nachhaltigkeitsforschem liegen, aber an Nachhaltigkeitsrelevanz im kritischen Sinne kaum zu unterschatzen sind. Man muss sich nicht die Spezifika der auf Kondratieff zurlickgehenden und nach Schumpeter durch Nefiodow^^ wieder belebten Theorie langer Wellen wirtschaftlicher Entwicklung zueigen machen, aber die Frage, welche Kandida-ten fiir den Kondratieff sechs sich durchsetzen werden, wie es in den Begriffen dieser Theorie formuliert wird, steht im Raum. Im summer-Projekt haben wir vermutlich noch nicht hinreichend eingelost, in jedem Fall aber gelemt, dass Forschung zu Innovationen fur nachhaltige Entwicklung sich mit der Neukonfi-guration von Markten und Wertschopfungsketten sehr konkret beschaftigen muB, jenseits - ich wiederhole das - zu abstrakter Erorterungen iiber okologi­sche Modemisierungen oder umweltpolitische Innovationen. Hinzu kommen fiir uns neue Forschungsverpflichtungen, die erst einmal aus Kontexten scheinbar weit entfemt vom Nachhaltigkeitsthema stammen. Als ein Beispiel will ich die Frage markieren, ob wir es hinter dem unter „Mergers & Aquisitions" abgehan-delten Forschungsfeld nicht inzwischen mit einer so stark kapitalmarktgetriebe-nen Untemehmenspolitik zu tun haben, dass wir gerade unter Nachhaltigkeits-gesichtspunkten dieser Thematik kiinftig ganz andere Bedeutung beimessen

' ' Schumpeter 1993, 136 f. ^ Beckenbach, F./ Nill, J. 2005

Nefiodow 1997

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miissen (statt sie denen zu tiberlassen, die sich ganz traditionell damit beschafti-gen).

Die in diesem Text gemachten kritischen Kommentare zu Teilen der um-weltokonomischen Forschung verfolgen keineswegs den Zweck, die Bedeutung okologischer Diskussionen fur die Zukunft unserer Gesellschaft klein zu reden. Das Gegenteil ist der Fall, es braucht zur Durchsetzung effektiverer Umweltpo-litik moglichst bald eine gesellschaftlichen Diskurskonstellation, bei der wir wieder mit mehr Akzeptanz iiber okologische Probleme als zentrale gesell-schaftliche Probleme diskutieren konnen. Vielleicht konnte man formulieren: Nachhaltig sind Entwicklungen, die es u. a. erlauben, den okologischen Fragen einen hoheren Kommunikations- und Stellenwert als Teil der Lebensqualitat beizumessen, also gerade nicht quasi-automatische Prozesse iiber schiere An-reizveranderungen und ahnliches - weil namlich andere Emahrung, anderes Verhalten zu Tieren und Landschaften oder was auch immer diese sinnlichen und kognitiven Schritte der okonomischen und gesellschaftlichen Akteure ex-plizit braucht.

Fiir die weitere betriebswirtschaftliche Forschung zum Gegenstand Innova-tionen fur nachhaltige Entwicklung mochte ich zum Abschluss dieses Textes und zur theoretischen Rahmung der mit diesem Buch stattfmdenden Publikation unserer Oldenburger Tagung noch vier Punkte besonders hervorheben.

1. Die unter Verweis auf Schumpeter angesprochenen konkreten Analysen realer Entwicklungsprozesse sind nicht vorrangig oder gar ausschlieBlich so zu verstehen, dass wir nachhaltigkeitsokonomisch die globalen Trends zu unserem bevorzugten Untersuchungsgegenstand machen sollten. Fast im Gegenteil gehort in ganz anderem Umfang, als wir dies bisher betreiben, die ntichteme und konkrete Empiric hinsichtlich einzelner Untemehmensent-wicklungen, neuer Marktkonfigurationen, regionaler Clusterbildungen etc. in den Zentralbereich unserer Forschungsgegenstande. In Prazisierung da-von lieBe sich die mogliche Praxisrelevanz betriebswirtschaftlicher For­schung naher beleuchten. Ohne uns die Beraterrolle abspenstig machen zu woUen, miissen wir als Wissenschaftler lemen, zwischen dieser und auf Distanz bedachter empirischer Forschung immer wieder auch starker zu trennen - mit Blick etwa auf den Forderrahmen Instrumente nachhaltigen Wirtschaftens des Bundesforschungsministeriums eine nicht nur kritische, sondem auch selbstkritische Bemerkung.

2. Nicht nur, aber auch im Rahmen der Kommission Umweltwirtschaft miis­sen sich akademische Betriebswirte griindlicher als bisher mit den in ihrem Each miteinander wetteifemden theoretischen Stromungen auseinanderset-zen, die an Nachhaltigkeit Interessierten natiirlich insbesondere unter dem Gesichtspunkt der theoretischen Ergiebigkeit fiir nachhaltigkeitsbezogene Forschung. Im abschlieBenden Ausblickkapitel meiner Heranfiihrung an die

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Innovationen fiir nachhaltige Entwicklung 17

Betriebswirtschaftslehre^^ habe ich sieben solcher Stromungen identifiziert, und der Blick darauf gibt flir Nachhaltigkeitsforschung leider wenig Anlass zu Euphorie. Von (1) unverandertem Weiterdenken in klassischen Funkti-onsbereichen war schon die Rede. Etwa in dem Lehrbuch von Albach^^ kann man nachlesen, wie dann Umwelt als Produktionsfaktor erganzt wird und von Nachhaltigkeit keine Rede ist. Fiir die (2) u. a. in Lehrbiichem ver-breiteten Konzepte einer theorieaversen Managementlehre ist die Bezug-nahme auf Okologie und Nachhaltigkeit bestenfalls beliebig, das heiBt eine Frage personlicher Sympathie und nicht ein konsistent hergeleitetes theore-tisches Begriindungselement. Die (3) seit Jahren in unserer Fachdisziplin diskutierten organisationstheoretischen Konzepte von Simon, March, Weick und anderen, die in hervorragender Weise den Mythos der Rationali-tat bei Untemehmensorganisationen dekonstruiert haben, beschaftigen sich in ihrer soziologischen Herangehensweise an Organisationen leider gar nicht mit der okologischen Dimension untemehmenspolitischen Handelns. Das gilt (4) absolut auch fur die an der Luhmannschen Systemtheorie orien-tierten Theoretiker und Berater. ^ Von der Neuen Institutionenokonomik war (5) ebenfalls schon die Rede. Zur Bearbeitung okologisch-okonomischer Probleme taugt sie nach meinem Dafurhalten nur in dem MaBe, in dem man das von Jtirgen Freimann und mir seinerzeit^^ beflirwor-tete sozialokologische Denken zu einer Umwelt- und Ressourcenokonomik im eher neoklassischen Sinne amputiert. Die Evolutorische Okonomik als sechste Stromung ware ein hervorragender Kandidat fur die Fundierung von Nachhahigkeitsforschung, was die Arbeit des Ausschusses im Verein fur Socialpolitik noch keineswegs pragt. Bleibt als siebtes der Versuch, Nachhaltigkeitsforschung als untemehmensbezogene Forschung iiber einen kulturwissenschaftlichen Bezugsrahmen zu fiindieren wie zu revitalisieren. Das scheint die erfolgversprechendste theoretische Perspektive zu sein.

3. Nicht nur wegen der historisch erklarbaren Selbstbegrenzungen deutscher akademischer Betriebswirte, intemationale Literatur zu verarbeiten, sondem gleichrangig mit Blick auf das Erfordemis von Anschlussfahigkeit zu ande­ren wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fachdisziplinen sind wir nach wie vor zu autistisch. Aktiverer Bezug auf neuere Entwicklungen der Volkswirtschaftslehre, und zwar nicht nur die Neue Institutionenokonomik, auf Theorieangebote in der Soziologie, auch der Philosophic und Psycholo­gic, auf der anderen Seite auch der technischen und Naturwissenschaften (nur als ein Beispiel sei die Bionik genannt) konnte uns gerade bei dem

S.Pfriem 2005, 343 ff. Albach 2001 S. als grundlegenden Text Luhmann 1984 Freimann/Pfriem 1988

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Reinhard Pfriem

Thema Innovationen fiir nachhaltige Entwicklung sicher nicht schaden. Die betriebswirtschaftliche Forschung zu Innovationen fur nachhaltige Entwick­lung muss theoriebewusster und damit anschlussfahiger werden an neuere Theorieentwicklungen auch in anderen Fachdisziplinen.

4. Wenn ich schon die Gesellschaftswissenschaften jenseits der Okonomik angesprochen habe, will ich die Frage nach dem gesellschaftskritischen Po­tential einer Betriebswirtschaftslehre oder Theorie der Untemehmung, die sich um Innovationen fur Nachhaltigkeit kiimmert, nicht vollig aussparen. Denn sie kiimmert sich ja um ein Ziel, das (noch) nicht erreicht ist. Was folgt daraus fiir uns? Ich habe eingangs die Transformation der anfangli-chen gesellschaftstheoretischen Grundsatzkritik in auf einzelne Untemeh-men bezogene Umsetzungshilfen als eine notwendige Entwicklungsetappe bezeichnet. Unter den heutigen Bedingungen, wo hierzulande Okologie auf die Schlusslichtplatze der gesellschaftlichen Agenda gerutscht ist und Nachhaltigkeit fiir allzu viele immer noch ein Fremdwort, stellt sich nattir-lich auch die Frage: miissen wir uns als Wissenschaftler nicht wieder star­ker als offentliche, im klassischen aristotelischen Sinne als politische We-sen begreifen? Vermutlich ja, denn im Horizont einer prinzipiell offenen Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft wird es in den nachsten Jahren si­cher zu wichtigen Weichenstellungen kommen.

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Innovationen fur nachhaltige Entwicklung 19

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Forschungsgruppe Untemehmen und gesellschaftliche Organisation: Perspektiven einer kultur-wissenschaftlichen Theorie der Untemehmung, Marburg

Pfriem, R. (2005): Heranfuhmng an die Betriebswirtschaftslehre. Zweite erweiterte Auflage, Mar­burg

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Okonomik 5, Marburg

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Innovationen und nachhaltige Entwicklung aus volkswirtschaftlich evolutorischer Perspektive

Marco Lehmann- Waffenschmidt

1 Einleitung

Wer die Frage stellt, in welchem Zusammenhang Innovationen mit Nachhaltig-keit stehen, kann mit einer vordergrtindig einfachen Antwort rechnen: Wenn der status quo der techno-okonomischen Entwicklung dem Gebot der Nachhal-tigkeit nicht Geniige tut - und dies scheint in den post-industriellen Gesellschaf-ten und erst recht in den Schwellen-, Transformations- und Entwicklungslan-dem der Fall zu sein - , dann konnen nur Anderungen dieses status quo eine Verbesserung in Richtung Nachhaltigkeit bewirken. Und insofem Anderungen Neuerungen bedeuten, ist damit die Rede von Innovationen - seien sie techno-logischer, technischer, okonomischer, politischer, gesellschaftlicher oder ande-rer Art. Per defmitionem reichen fur die Initiierung von Innovationen in der Konzeptionalisierungsphase und flir ihre Realisierung in der Implementierungs-und Diffusionsphase bloBe repetitive und iterierende Aktivitaten der Akteure nicht aus. Anstelle bloBen Anpassungshandelns ist Such- und Neuerungshan-deln notwendig, das in der Regel nicht durch Optimierungskalkiile beschreibbar ist. Damit fmdet man sich im evolutorischen Kontext und Forschungsumfeld wieder - bis auf die Tatsache, dass Innovationen, die dem Prinzip der Nachhal­tigkeit in einem Wirtschaftssystem zu einer verstarkten Durchsetzung verhelfen soUen, nicht Gegenstand einer ergebnisoffenen Modellierung sein konnen. Denn damit ist ein Teil des evolutorischen Postulats der Ergebnis- und Ver-laufsoffenheit von handlungsgenerierten evolutorischen Prozessen nicht erfiillt (s. z. B. Witt 2003/2006, 2004 passim). Aber wie der Weg zur Verbesserung der Nachhaltigkeitsqualitat eines Wirtschaftssystems verlaufen kann, welche Inno­vationen daflir zweckdienlich sind und wie sie ausgelost werden konnen, ist damit noch keineswegs klar. Zumindest im Hinblick auf die (graduelle) Ver-laufsoffenheit sind also Innovationen mit der Zweckintention auf Nachhaltigkeit genuiner Gegenstand evolutorischen Denkens.

Die standardokonomische Antwort auf die Frage, was Innovationen auslost, namlich geeignete Anreize bzw. Anreizmechanismen („incentive schemes/ mechanisms"), zieht die weitere Frage nach sich, wie solche Anreize „designed"

Die inhaltliche Bedeutung des Konzepts „Nachhaltigkeit" soil in diesem Beitrag nicht themati-siert werden. Der Autor geht davon aus, daB im Nachhaltigkeitsdiskurs inzwischen ein hinrei-chender Konsens uber den semantischen Gehalt des Terminus „Nachhaltigkeit" erreicht wurde.

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22 Marco Lehmann-Waffenschmidt

sein sollen: als geeignete operative Politikinterventionen (Politik-MaBnahmen, Instrumenteneinsatz) mit intendierten „hydraulischen" Folgewirkungen einer-seits Oder andererseits „aufgeklart" und einer dezentralisierten Markt- und Wettbewerbswirtschaft adaquat als Rahmenrichtlinien und -bedingungen, in-nerhalb derer die Akteure selbstorganisiert nachhaltigkeitsfreundliche Aktivita-ten betreiben und sich entsprechende Strukturen bilden. Dieser Frage der opera-tiven wirtschafts-, umwelt- und gesellschaftspolitischen Umsetzung des Nachhaltigkeitsziels vorgelagert sind aber grundsatzliche Zweifel an der Taug-lichkeit von Innovationen fur die Forderung des Nachhaltigkeitsziels. So stoBt man im aktuellen Diskurs zu diesem Problem auf die folgenden kritischen Ar-gumente (vgl. z. B. Luks 2002, Faber/Manstetten 2003 sowie die Beitrage von Beckenbach, Luks, Nill, Paech, Rennings, Sartorius, Witt, Zundel in Becken-bach et al., 2005):

^ A priori-MiBtrauen aus historischer Erfahrung: Innovationen waren in der Wirtschaftsgeschichte der Generator von Beschleunigung und nicht nach-haltigem Wirtschaftswachstum, realisierten also Modemisierungsrisiken -wie sollen sie plotzlich nachhaltig werden?

•=> Rebound-Effekte: Innovationen entlasten das Naturkapital nur temporar und werden in ihrer Wirkung mittel- und langfristig durch erhohten sowie beschleunigten Konsum und gesteigertes Wirtschaftswachstum iiberkom-pensiert.

•=> Innovationen dienen systematisch der Steigerung, nicht der Nachhaltigkeit: Rebound-Effekte sind keine singularen historischen Zufalle, sondem sys-tematische, genuine Phanomene der Wachstumsokonomie. Innovationen haben immer auch neue Bedarfe bei den Konsumenten geweckt und neue Markte erzeugt. Nicht die Substitution zwischen nachhaltigen und nicht-nachhaltigen Produkten und Herstellungsverfahren stand oder steht in Wachstumsokonomien im Vordergrund, sondem die Generierung zusatzli-cher Nachfrage. Die Wachstumsokonomie als Multioptionsgesellschaft ist durch eine Steigerungs - und Beschleunigungscharakteristik gekennzeich-net: Angestrebt werden mehr Mengeneinheiten pro Zeiteinheit sowie schnellere Produkt- und Industrielebenszyklen, also eine hohere Wechsel-frequenz durch mehr Innovationen. Aus Innovationen entstand in der histo­rischen Erfahrung kein echter Strukturwandel, sondem Addition und „Stmkturaufblahung".

•=> Emeuemngsdilemma: Nachhaltige Innovationen bei Endverbrauchsproduk-ten und Anlagen bewirken Obsoleszenz und Entsorgungsaufwand der alten Artefakte.

^ Das „Umwelt-Kuznet-Kurven-Postulat" erfullt nicht die Erwartungen. ^ Substitutionsoptimismus im Hinblick auf Ersetzbarkeit zerstorter oder ge-

schadigter Natur-Gemeinschafts-Giiter („weak sustainability" vs. strong

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Innovationen und nachhaltige Entwicklung 23

sustainability) fiinktioniert haufig nicht: Zerstorte oder aufgebrauchte Na-turkapitalgiiter durch Artefakte zu substituieren, kann in vielen Fallen we-gen okologischer Irreversibilitaten nicht funktionieren.

•=> Internationale Arbeitsteilung durch Globalisierung: Dadurch wird zwar eine geographische Verlagerung von Naturbelastungen bewirkt, aber keine wirk-liche Entlastung der natiirlichen Lebensgrundlagen.

^ Durchsetzung nachhaltigkeitsfordemder Innovationen gelingt haufig nicht: Es gibt inzwischen zahlreiche Beispiele („3-Liter-Auto"), daB nachhaltig-keitsfordemde Innovationen zwar erfolgreich konzipiert werden, sich aber aus unterschiedlichen Griinden nicht in einem MaBe durchsetzen, daB Nachhaltigkeitseffekte erzielt werden (im Fall des 3-Liter-Autos auch we-gen der Praferenzen der Verbraucher).

•=> Ignoranzproblem: Auch zur Nachhaltigkeitsforderung intendierte Innovati­onen konnen unbeabsichtigte, nicht voraussehbare kontraproduktive Fol-gewirkungen haben.

In diesem Beitrag wird im weiteren nicht die Absicht verfolgt, eine systemati-sche und vollstandige Zusammenfassung dieses Diskurses zu geben und ihn durch weitere „Fros and Cons" zu erganzen. Das Ziel ist vielmehr, eine eigene evolutorische Perspektive auf die Frage nach „Innovationen fur das Ziel der Nachhaltigkeit" aus volkswirtschaftlicher Perspektive zu entwickeln, Dabei werden die beiden folgenden Fragenkomplexe im Vordergrund stehen:

1. Wie kann die Wirkung von Innovationen im Hinblick auf das Nachhaltig-keitsziel einerseits bei Planungsprojekten ex-ante und andererseits bei reali-sierten Innovationen ex-post mit einer allgemeinen Methode bewertet wer­den? (Abschnitt 2)

2. Was sind die eigentlichen, tieferen Ursachen fiir die Wachstums- und Stei-gerungsorientierung in heutigen Okonomien? (Abschnitt 3)

2 Der komparativ-evolutorische Ansatz zur Ex-post- und Ex-ante-Bewertung von Innovationen im Hinblick auf das Nachhaltigkeitsziel

Bevor im folgenden das Konzept einer komparativ-evolutorischen Analyse im Hinblick auf das Untersuchungsziel entwickek wird, soUen einige Schlaglichter auf die grundsatzliche Vorgehensweise der evolutorischen Okonomik geworfen werden. Die evolutorisch-okonomische Analyse versucht, der Verlaufs- und Ergebnisoffenheit okonomischer Prozesse Rechnung zu tragen, indem sie die konventionelle „geschlossene" („closed-loop") dynamische Modellierungshe-rangehensweise, die sich am Programm des zumindest prinzipiell allwissenden „Laplace'schen Damons" orientiert, durch eine „offene" („open-loop") Model-lierung ersetzt. In einer solchen offenen Konzeption wird der Wirtschaftspro-

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24 Marco Lehmann-Waffenschmidt

zeB als in historischer Zeit verlaufender, nicht a-priori determinierter und damit auch nicht teleologischer Prozess mit der Moglichkeit des Auftretens von Neu-em (Neuheiten, „novelties") verstanden. Innovationen stehen dabei gefadezu prototypisch fiir im wesentlichen nicht-antizipierbare Neuemngen. Selbst wenn eine Innovation geplant und damit zumindest in Teilen antizipierbar ist, so gilt dies fur ihre Auswirkungen keineswegs - wofur langfristige okologische Aus-wirkungen geradezu paradigmatisch stehen.

Wie kann eine evolutionsokonomisch orientierte Analyse zur Bewertung der moglichen Auswirkungen von Innovationen hinsichtlich der Nachhaltigkeits-zielsetzung konkret vorgehen, ohne die Desiderata an eine problemadaquate und nicht closed-loop, sondem open-loop arbeitende Analyse zu mifiachten? In diesem Beitrag wird eine methodische Vorgehensweise vorgeschlagen, die man als komparativ-evolutorischen Ansatz bezeichnen kann. In Erweiterung des komparativ-statischen oder komparativ-dynamischen Ansatzes werden in einer komparativ-evolutorischen Analyse mehrere, d. h. mindestens zwei, open-loop verlaufende kontingente, also im Gedankenexperiment altemativ mogliche, ProzeBverlaufe desselben evolvierenden Systems vom selben Anfangspunkt aus miteinander verglichen. Diese Vorgehensweise kann sowohl in die Zukunft gerichtet zu einer Planungsbewertung ex-ante als auch in die Vergangenheit gerichtet zu einer nachtraglichen Bewertung einer realisierten Innovation ex-post angewendet werden. Abstrakt gesprochen kann in einer komparativ-evolutorischen Analyse die graduelleVerlaufsoffenheit oder Verlaufsbestimmt-heit von Prozessen untersucht werden, wie in den nachfolgenden Uberlegungen deutlich wird. Es konnen aber auch konkrete Fragestellungen wie z. B. die Fra-ge nach der Tauglichkeit einer in der Vergangenheit faktisch realisierten (bzw. geplanten) Innovation fur das Nachhaltigkeitsziel analysiert werden. Denn die betrachtete faktische Innovation wtirde offenbar als inferiore Losung im Hin-blick auf die okologische Zielsetzung zu bewerten sein, wenn die komparativ-evolutorische Analyse einer faktischen Innovation (z. B. herkommliche Kemre-aktor-Technologie) und der kontrafaktischen Nichtrealisierung dieser Innovati­on oder der kontrafaktischen Realisierung einer konkurrierenden und prinzipiell realisierbaren Innovation (z. B. Gas-Graphit-Losung2) ergeben, dass in der Gegenwart giinstigere okologische Zielvariablenwerte ohne die faktisch reali-sierte Innovation oder durch die konkurrierende, grundsatzlich realisierbare Innovation moglich waren.

Verlaufsoffene okonomische Prozesse weisen defmitionsgemaB zu bestimm-ten „kritischen" Zeitpunkten „Bi-" oder „Multifurkationsstellen" auf, also Ver-zweigungsstellen oder Multifurkationsknoten, an denen der betrachtete Prozess

Eine Sammlung von Beispielen fur technologische Innovationen aus der Perspektive der evolu-torischen Okonomik im Hinblick auf die Nachhaltigkeitsbewertung findet man in Sartori-us/Zundel2005.

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Innovationen und nachhaltige Entwicklung 25

mehrere (d. h. mindestens zwei) „kontingente'' Moglichkeiten in seinem weite-ren Verlauf hat - z. B. wie oben bereits angesprochen durch Realisierung einer von mehreren zur Auswahl stehenden Innovationen oder in der Alternative, iiberhaupt eine Innovation zu realisieren oder nicht. Ergebnisoffenheit eines Prozesses bedeutet zusatzlich, daB Richtung und Verlaufsziel nicht feststehen. Natiirlich mu6 fur eine realistische Analyse sichergestellt sein, dass jede kon-tingente Verzweigungsmoglichkeit auch plausibel realisierbar ist. Andemfalls gerat eine solche Vorgehensweise zu einer unverbindlichen Spekulation. Die Struktur der Multifurkationsstellen hinsichtlich Zeitpunkten, Art und Anzahl der Altemativen eines betrachteten Prozesses kann nur durch wissenschaftliches Fachwissen begrtindet sein - im Kontext nachhaltigkeitsorientierter Innovatio­nen in der Retrospektive z. B. durch wirtschafts- und technikhistorisches Fach­wissen und in der Prospektive z. B. durch wirtschafts- oder ingenieurwissen-schaftlich fiindiertes Wissen, wie es auch fur Szenario- und Prognosemodellierungen relevant ist. Die Konstruktion der altemativen Mog­lichkeiten an Multifurkationsstellen ist insbesondere auch in negativer Hinsicht interessant, indem damit festgelegt wird, welche Altemativen nicht eintreten konnten oder konnen.

Nach dieser Erlautemng der Gmndkonzeption der komparativ-evolutorischen Vorgehensweise soil mit dem .^ontrafaktik-Kontingenz-Ansatz"^ eine operable Analysemethode vorgestellt werden, mit deren Hilfe man den kausalen Zusammenhang zwischen zwei x Zeiteinheiten auseinander liegenden Zustanden At und Bt+x eines Prozesses graduell durch eine Zahl zwi­schen 0 und 1 charakterisieren kann. Die kontrafaktisch-kontingente Methode wendet dazu das zuvor bereits eingefiihrte Gedankenexperiment systematisch an, entweder zu einem faktischen ProzeBverlauf retrospektiv oder in einer Sze-narioanalyse prospektiv altemativ mogliche Prozessverlaufe „virtueU" zu simu-lieren. Der kontrafaktische Teilansatz folgt dabei der Frage „Was ware, wenn ...", der kontrafaktisch-kontingenzorientierten Teilansatz der Frage „Konnte es heute/zum spateren Zeitpunkt x auch anders sein, und wenn ja, in welcher Wei-se und wieso?". Aus dieser Konzeption wird insbesondere deutlich, daB es bei der ex-post-Variante des KuK-Ansatzes um ein besseres Verstandnis des be­trachteten faktischen Prozesses geht, nicht um ein Wunschdenken („Wie schon ware es heute (in der Zukunft), wenn damals (heute) ...") oder um ein Ignorie-ren der Realitat.

Die wissenschaftliche Qualitat eines solchen komparativ-evolutorischen An-satzes wird bestimmt durch die spezifische Fachkompetenz und die wissen­schaftliche „Urteilskraft" des analysierenden Wissenschaftlers bei der Bestim-mung moglicher Kontrafakta. Ein „Kontrafaktum" ist ein konstmierter

Im weiteren durch „KuK-Ansatz" oder „KuK-Analyse" abgekurzt (vgl. Lehmann-Waffenschmidt 2002, 2004).

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moglicher Zustand (Ereignis), der also historisch (bzw. zukiinftig) altemativ und damit kontrafaktisch zum faktischen (bzw. als eine der moglichen Altema-tiven) plausibel vorstellbar ist. Ein Kontrafaktum kam also im zuruckliegenden faktischen Prozessverlauf so nicht vor, wenn es sich um eine ex-post-Analyse handelt, bzw. es kommt in der Gegenwart nicht vor bei einer ex-ante Analyse vom gegenwartigen Zeitpunkt aus. Ein (ex-post) „kontingentes Ereignis'' At zu einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt t ist dadurch charakterisiert, dass in der Retrospektive sowohl zum faktischen Prozessverlauf als auch zu den konstruierten kontrafaktischen Altemativverlaufen nach diesem Ereignis At jeweils eine schlusskraftige, plausible Begriindung geliefert werden kann. Fiir eine prospektive Analyse (ex-ante) gilt mutatis mutandis dasselbe. In vielen Fallen mag dies flir eine ex-post-Analyse wegen schwierig festzustellender historischer Bedingungen und Moglichkeiten anspruchsvoller erscheinen als fiir den ex-ante-Fall einer multiplen kontrafaktisch-kontingenten Szenarioanalyse. „Kontingente Prognosen" miissen aber ebenfalls einen hohen wissenschaftli-chen Standard erflillen, um nicht als Spekulation bzw. Phantasieprodukt oder schlimmer noch als interessengeleitete „Intentionalprognosen" eingeschatzt zu werden.

Worin besteht nun die Leistung einer KuK-Analyse genau, wie relevant und niitzlich sind Kontrafakten? Die Antwort auf die zweite Frage ist einfach - es ist offensichtlich, daB kontrafaktische Uberlegungen (counterfactuals) sowohl „lebensweltlich" als auch in der Wissenschaft omniprasent sind. So ist schon jedes okonomische Modell, das mindestens zwei Altemativen zulaBt, also z. B. die Wirkung von mindestens zwei verschiedenen moglichen Ursachen unter-sucht, kontrafaktischer Natur. Die erste Frage laBt sich nur beantworten, wenn die KuK-Methode zu einer systematischen und formalisierten Darstellung wei-terentwickelt wird. Bevor dies im folgenden geschieht, sollen die angestrebten Leistungsmerkmale der Kuk-Analyse kurz zusammengefaBt werden. Die KuK-Analyse ist in ihrer Ex-post-Variante auf die nachtragliche kausale Erklarung von Ereignissen, Zustanden oder ganzen Prozessverlaufen gerichtet und in ihrer Ex-ante Variante auf deren Prognose. Dabei liegt der Fokus auf einer graduellen Kausalitatscharakterisierung, nicht auf einer 0-1-Aussage. Eine schwache bzw. fehlende Kausalitatsbeziehung kann zu der beruhmten „post-hoc-ergo-propter-hoc-Falle" flihren, also der unberechtigten kausalen Schlussfolgerung iiber lediglich zeitlich aufeinanderfolgende Ereignisse. Behauptete, aber nicht exi-stente kausale Abhangigkeiten zwischen historischen Ereignissen oder Zustan­den konnen zur Legenden- oder Mythen-Bildung fiihren, die durch eine KuK-Analyse als nicht haltbar - oder zumindest nicht in der behaupteten graduellen Intensitat haltbar - entlarvt werden kann. Mit Hilfe einer KuK-Analyse kann zumindest eine Teilantwort auf die Frage nach der Unausweichlichkeit, also Determiniertheit, oder situativen Bedingtheit des Status Quo bzw. eines be-stimmten Ereignisses in der Vergangenheit oder in der Zukunft gegeben wer-

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Innovationen und nachhaltige Entwicklung 27

den. Sie eignet sich damit zur Zuschreibung und Bemessung von Verantwor-tung bzw. Schuld (insbesondere im juristischen Anwendungsbereich) und damit zum einen zur Bewertung von zuriickliegenden Entscheidungen und Handlun-gen maBgeblicher Entscheidungstrager wie Politikem, Untemehmem oder Un-temehmensvorstanden (Lehmann-Waffenschmidt/Reichel 2000), zum anderen kann sie Entscheidungstragem Hilfestellungen geben zur Entscheidung liber gegenwartige oder ktinftige strategische Handlungsoptionen.

Der Ansatz kontrafaktisch-kontingenten Denkens hat in der Wissenschaft bereits seinen Platz - in der „neuen Wirtschaftsgeschichte" oder „Kliometrie" („Klio" hieB in der Antike die Muse der Geschichte und des Gedachtnisses) insbesondere durch die Arbeiten von Robert Fogel, in der Evolutionsbiologie z. B. durch die Arbeiten von Stephen J. Gould und in der Geschichtswissenschaft in der sogenannten „Ahemativ-Geschichte" (auch bezeichnet als As-if-, Quasi-, Konjekturale, Kontingente, ungeschehene („Uchronie"), virtuelle oder Parallel-Geschichte).4

Wesentlich fiir den hier entwickelten KuK-Ansatz ist der Begriff der „Kon-tingenz". Kontingenz im aristotelisch modallogischen Sinne von „mogHch, aber nicht notwendig" kann auf zwei Weisen verstanden werden: einmal als situative oder entscheidungsbedingte Kontingenz und zum anderen als systemerzeugte bzw. strukturbedingte Kontingenz. Situativ oder entscheidungsbedingt ist ein kontingenter Prozessverlauf dann, wenn ein oder mehrere Akteure den Prozess-verlauf bestimmen - oder zumindest mit gestalten - konnen wie z. B. bei einer PolitikmaBnahme oder der Entscheidung iiber die Selektion und Implementie-rung einer Innovation. Systemerzeugt oder strukturbedingt ist ein kontingenter Prozessverlauf dagegen, wenn wie z. B. bei den okologischen Folgewirkungen einer technisch-okonomischen Innovation die betrachtete(n) okologische(n)

Z. B. gibt es von Max Weber eine kontrafaktische Analyse der moglichen Folgen der Schlacht bei Marathon mit anderem Ausgang, von Arnold Toynbee mehrere kontrafaktische Analysen bei veranderter Lebenszeit Alexanders des GroBen („Alexander lebt kurzer oder langer"), von Winston Churchill - nicht nur britischer Premierminister, sondem auch Literatumobelpreistrager - eine „kontrafaktische Analyse 2. Ordnung", also eine „counter-counter-history", der Folgen der Battle of Gettysburg („der faktische Ausgang der Battle of Gettysburg gedacht als kontra­faktische Alternative zu einem als faktisch gedachten anderen Ausgang als dem wirklichen"), und von Heinrich Heine eine kontrafaktische Analyse der Folgen einer von den Germanen ver-lorenen Hermannsschlacht. Die Idee der kontrafaktischen Geschichtsanalyse ist allerdings kei-neswegs eine Errungenschaft des 19. oder 20. Jahrhunderts. Friedrich August von Hayek zitiert in seinen Schriften „Conjectural History"-Ansatze bei schottischen Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts, und schon in der griechisch-romischen Antike gab es kontrafaktische Geschichts-schreibung bei Thukydides, Titus Livius, Tacitus und anderen. Modeme Autoren zur kontrafak­tischen Geschichtswissenschaft sind z. B. K. Brodersen, R. Cowley, A. Demandt, N. Ferguson, R. Koselleck, M. Salewski, K.-H. Steinmuller u. a., in der Okonomik z. B. Dominique Foray und vor allem der 1995 mit dem Nobelpreis fur seine Studien zur Neuen Wirtschaftsgeschichte geehrte Robert Fogel.

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28 Marco Lehmann-Waffenschmidt

Prozessvariable(n) nicht durch einzelne Akteure oder abgrenzbare Akteurs-Gruppen gestaltet werden konnen, sondem systemgeneriert ist (sind), also erst auf der Systemebene entstehen kann (konnen).

Zusammenfassend besteht das Ziel des KuK-Analyseansatzes in der Konzep-tion eines vereinheitlichenden und flindierten Analyse-Denkschemas oder Un-tersuchungsrahmens zur systematischen und formalisierbaren Analyse der Kau-salbeziehungen zwischen Zustanden bzw. Ereignissen von Prozessen, die graduell im Spektrum zwischen den Extrempolen „Zufall5 und Notwendigkeit" bestimmt werden.

Wie laBt sich nun die KuK-Analyse systematisieren und formalisieren und zur Kausalitatsbewertung von diachronen ProzeBzustanden oder -ereignissen nutzen?6 Der erste Schritt besteht darin, ihre Objekte, also okonomische Prozes-se7, in insgesamt vier Grundtypen zu unterteilen. Formal ist ein Prozefi n eine in diachron-historischer Zeit diskontinuierlich sowie verlaufs- und ergebnisoffen modellierte (unendliche oder) endliche Ereignis- bzw. Zustandssequenz Ei, E2, E3,.. . , Ei, ... , En eines sozio-okonomischen Systems, wobei der Subindex i den Zeitpunkt ti bezeichnet. AUe kontingent moglichen Prozesse des betrachteten Systems wahrend des betrachteten Zeitintervalls formen den kontingenten Pro­zefi (di)graphen r . Ein ProzeB n ist in der graphischen Darstellung ein Pfad im kontingenten ProzeB(di)graphen P. Die Menge aller Prozesse in einem kontin­genten Prozefi(di)graphen T zerfallt in zwei Teilmengen: Die erste Teilmenge bilden diejenigen Prozesse, bei denen verschiedene Prozessverzweigungen von einem Zustand aus - z. B. dem eindeutigen Status Quo-Zustand - in der Zukunft letztlich wieder zu einem Zustand fuhren (Stabilitat, Konvergenz), oder nicht (Divergenz). Die zweite Teilmenge besteht aus Prozessen, die von verschiede-nen Ausgangszustdnden aus letztlich zum selben Zustand zuriickfiihren, oder nicht. Man kann also vier Grundtypen kontingenter Prozesse unterscheiden: 1. Bi- bzw. Multifurkation ohne spatere Konvergenz von einem Anfangsereignis aus, 2. Bi-ZMultifurkation mit spaterer Konvergenz vori einem Anfangsereignis

„ZufaH" wird in dieser Studie im Sinne der Verwendung durch J. Monod (1996) verstanden, also als Beliebigkeit, und nicht als ein den stochastischen GesetzmaBigkeiten der Probabilistik unterliegendes Phanomen. Ziel dieses Abschnitts ist die Entwicklung des formalisierten Analyserahmens des KuK-Ansatzes, so daB Beispiele nur zur Illustrierung des Konzeptes verwendet werden, nicht in Form ausgearbeiteter empirischer Fallstudien. Fallstudien zur KuK-Analyse zu den Transformations-prozessen in Mittel- und Osteuropa nach 1990 aus wirtschaftshistorischer und wachstumsoko-nomischer Perspektiven fmdet man z. B. in Lehmann-Waffenschmidt/Schwerin (1998, 1999) und Fulda et al. 1998. Weitere Anwendungen auf Fallstudien miissen der kunftigen Forschung iiberlassen werden (vgl. FuBnote 10 u.), Beispielmaterial zu den okologischen und nachhaltig-keitsrelevanten Folgen technologischer Innovationen fmdet man in Sartorius/Zundel 2005. Der KuK-Ansatz ist auf jede Art Prozesse anwendbar, die von einem System generiert sind, das Freiheitsgrade in der ProzeBgenerierung zulaBt.

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aus, 3. Konvergenz bei verschiedenen Anfangsereignissen und 4. keine Kon-vergenz (Divergenz) bei verschiedenen Anfangsereignissen. Diese 4 Grundty-pen werden durch die folgenden illustrierenden Abbildungen 1 - 4 (Abszisse = Zeitachse; Ordinate, die zur besseren LFbersichtlichkeit nicht eingezeichnet ist = Ereignisraum) sowie mit Hilfe von Beispielen aus dem Kontext der Wirkungen nachhaltigkeits-relevanter Innovationen sowie aus der Altemativ-Geschichte veranschaulicht. Um die graphische Darstellung zu vereinfachen, werden je-weils nur 2 alternative Prozesse dargestellt, also jeweils zum faktischen Prozess nur ein kontrafaktischer Prozess.^

Abbildung 1: Typ 1: Bifurkation ohne spdtere Konvergenz

Abbildung 2: Typ 2: Bifurkation mit spdterer Konvergenz

Die spateren Abbildungen 5 - 7 zeigen zur Veranschaulichung komplexere Beispiele mit meh-reren altemativen Prozessen.

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Als Beispiel zu Fall 1 (Abbildung 1) kann man sich die faktische (oder kontra-faktische) Realisierung und die kontrafaktische (oder faktische) Nichtrealisie-rung einer Innovation und die damit verbundenen unterschiedlichen und unter-schiedlich bleibenden Auswirkungen auf die relevante okologische Variable vorstellen, die auf der Ordinate gemessen wird. Beispiele aus der virtuellen Geschichte findet man in kontrafaktischen Studien z. B. zu den Fragen „Was ware, wenn Pilatus Jesus begnadigt hatte?" (keine Ausbreitung des Christen-tums zur Weltreligion) oder „Was ware, wenn Hitler bei einem der ca. 40 Atten­tate vor 1939 ums Leben gekommen ware"? (kein 2. Weltkrieg).

Fall 2 letztendlicher Konvergenz trotz unterschiedlicher Pfade vom Aus-gangspunkt aus trifft zu auf das Beispiel einer faktischen (oder kontrafakti­schen) Realisierung und einer kontrafaktischen (oder faktischen) Nichtrealisie-rung einer Innovation mit letztlich identischen Auswirkungen auf die relevante okologische Variable nach anfanglich unterschiedlich verlaufenden Auswirkun­gen. Altemativ historische Beispiele fmden sich in Studien zu „Kolumbus ent-deckt nicht Amerika" (Amerika war bereits entdeckt und ware kurz darauf von einem anderen Seefahrer neu entdeckt worden), „Das Attentat von Sarajewo am 1.8.1914 misslingt, oder es bleibt aus" (der 1. Weltkrieg ware trotzdem aus-gebrochen), oder „J. F. Kennedy ware nicht ermordet worden" (es ware trotz­dem zum Vietnam-Krieg gekommen).

Abbildung 3: Typ 3: Konvergenz bei verschiedenen Anfangsereignissen/Ursachen

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Abbildung 4: Typ 4: Keine Konvergenz bei verschiedenen Anfangsereignissen/Ursachen

Ein Anwendungsbeispiel zu den Fallen 3 und 4 (Abbildung 3 und Abbildung 4) bietet die so genannte „Konvergenzhypothese der neoklassischen Neuen Wachstumstheorie", der zufolge sich anfangliche Wachstxims- und Wohlstands-disparitaten verschiedener Lander selbstorganisiert im Lauf der Zeit so anglei-chen, dass schlieBlich dasselbe Wachstums- und Wohlstandsniveau herrscht (Fall 3). Die empirische Evidenz allerdings entspricht dem Divergenz-Fall 4, in dem sich die anfanglichen faktischen Wachstumsdisparitaten entgegen der Konvergenzhypothese der neoklassischen Neuen Wachstumstheorie eher ver-groBem als verkleinem. Ein anderes Anwendungsbeispiel geben zwei unter-schiedliche umweltrelevante Technologien in zwei Landem, deren Auswirkun-gen auf dieselbe okologische Variable ( = Ordinate in Abb. 3 und 4) dargestellt wird. In beiden Fallen 3 und 4 haben die zwei unterschiedlichen Technologien im Ausgangspunkt ti dieselben unterschiedlichen Wirkungen auf die okologi­sche Variable, in Fall 3 konvergieren die Wirkungen ab Periode ti+2 zum selben Wert, wahrend sie in Fall 4 divergent auf dem unterschiedlichen Ausgangsni-veau bleiben.

Die folgenden drei Abbildungen zeigen Beispiele, die illustrieren, wie man Kontingenz graphisch in Form von „Prozessgraphen" darstellen kann. Die Ab­bildungen 5 und 6 zeigen kontingente ProzeBgraphen, die in einem eindeutigen Anfangszustand Ei zum Zeitpunkt ti beginnen, wahrend der kontingente Pro-zeBgraph in Abbildung 7 txber drei beliebige aufeinanderfolgende Zeitpunkte ti. 1, ti und ti+i der Zeitachse verlauft.

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Abbildung 5: Kontingenter zyklenfreier Prozefigraph mit 3 Zeitpunkten und 8 Prozessen

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Abbildung 6: Kontingenter nicht zyklenfreier Prozefigraph mit 3 Zeitpunkten und 11 Prozessen

Abbildung 5 stellt einen zyklenfreien Prozessgraphen mit 3 Zeitpunkten dar, enthalt also keine konvergenten Prozessverlaufe, wahrend der FrozeBgraph in

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Abbildung 6 nicht zyklenfrei ist, also konvergente (Teil)Prozesse enthalt. Eine besondere Starke des Kontingenzkonzeptes liegt darin, dass man zwischen prograder und retrograder Kontingenz (bzgl. eines bestimmten Prozesses) unterscheiden kann. Prograde Kontingenz eines Zustands bzgl. eines bestimm­ten Prozesses in einem ProzeBgraphen bedeutet, dass es in der Zeit nach vome gerichtet von diesem Zustand aus mehrer alternative weitere Prozessverlaufe gibt, so daB dieser Zustand mehrere kontingente Nachfolgezustande hat, wah-rend retrograde Kontingenz bedeutet, dass der betreffende Zustand mehrere potentielle Vorganger-Zustande besitzt. In Abbildung 7 unten wird AQX progra­de Kontingenzgrad, also die Zahl der unmittelbaren potentiellen Nachfolgerzu-stande, durch pk und der retrograde Kontingenzgrad durch rk (die Zahl der potentiellen Vorgangerzustande im Prozessgraph) abgekiirzt, wahrend der Buchstabe k bedeutet, dass ein Zustand kontingent ist, d. h., dieser Zustand (in Abb. 7 z. B. E / " ) hatte auch nicht stattfmden konnen, obwohl derselbe faktische Vorgangerzustand (in Abbildung 7 Ei./") stattgefunden hatte.

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Abbildung 7: Kontingenter Prozefigraph mit 3 Zeitpunkten und 11 Prozessen. Ei ist k, pk und rk. EJ hat keine Kontingenz-Eigenschaften

Wie verhalt sich das KuK-Konzept zu dem aus der evolutionsokonomischen Literatur bekannten Begriff .J^adabhangigkeit"? Der Begriff Pfadabhangigkeit bezeichnet zwei Eigenschaften von Prozessen:

"=> Die Sensibilitat eines evolvierenden Systems gegenuber den Anfangsbedin-gungen und den Einfliissen in der Anfangsphase der Evolution. Kleine Ein-fliisse zu Anfang der Evolution des Systems konnen zu unterschiedlichen Trajektorien der Systemevolution im Ereignisraum fiihren.

^ Die (proze6)intem eingeschrankte Verlaufsfreiheit von Prozessen, indem bestimmte Zustande eines Prozesses die Freiheitsgrade von zeitlich spateren

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Zustanden mehr oder weniger stark beeinflussen bzw. sogar festlegen. Z. B. erzeugen okologische Irreversibilitaten (z. B. Spurengase in der Atmospha-re) Pfadabhangigkeiten hinsichtlich der relevanten okologischen Variablen (weitere Entwicklung des Ozonanteils in der Stratosphare). Dabei kann sich der Bestimmungseinfluss frUherer Prozesszustande auf spatere nicht nur auf einen friiheren und einen spateren Zustand beziehen, sondem auf mehrere bzw. auf ganze Abschnitte des betrachteten Prozesses.

In beiden Bedeutungen ist Pfadabhangigkeit als Spezialfall im KuK-Anatz ent-halten: Die Sensitivitat gegentiber Anfangsbedingungen und kleinen Einfliissen in der Anfangsphase kann in Mulitfurkationsstellen zu Beginn des kontingenten ProzeCgraphen abgebildet werden, und die prozeBintem eingeschrankte Ver-laufsfreiheit auBert sich in verminderten Variationsmoglichkeiten an den Kno-ten des ProzeBgraphen, also in weniger Multifurkationsstellen und in einer ge-ringeren Anzahl kontingenter Verzweigungen (Kanten) an den Multifurkationsstellen. Eine quantifizierende Anwendung zur graduellen Kausa-litatsanalyse wie beim KuK-Ansatz ist fiir das Pfadabhangigkeitskonzept aus der Literatur nicht bekannt.

Der KuK-Ansatz leistet in dieser Hinsicht zweierlei: Zum einen laBt er die Analyse der Moglichkeit zu, daB die Beziehung zwischen zwei diachronen Ereignissen nicht notwendig vollstandig kausal unabhangig oder abhangig sein muB, sondem beide Ereignisse durch eine graduell kausale Beziehung charakte-risiert sein konnen. Und zum anderen stellt der KuK-Ansatz ein MeBverfahren fur graduelle Kausalitat bereit (durch Zahlen der „relativen" Anzahl relevanter Altemativen im KontingenzprozeBgraph, s. u.), das zudem noch zwischen pro-grader und retrograder Kausalitatsmessung unterscheidet. Dabei wird eine schwache Kausalitat durch einen ,JCausalitdtsgm(f'^ naher bei 0 als bei 1 cha-rakterisiert, wahrend eine starke (bis strikte) kausale Abhdngigkeit einen hohe-ren Kausalitatsgrad naher bei 1 (bzw. = 1) aufweist. Daruber hinaus kann die KuK-Analyse wie bereits gesagt eine zeitdifferenzierte Kausalitatsbetrachtung anstellen: Prograde Kontingenz gibt Auskunft zu der Frage, in welchem MaB ein Zustand Ei in einem Prozess die Ursache von Ei+i ist, wahrend retrograde Kontingenz die Frage untersucht, ob Ei eine (graduelle) Konsequenz von Ei.i ist.

Wie aber laBt sich die Vorstellung einer graduellen Kausalitat zwischen zwei diachronen Ereignissen oder Zustanden operationalisieren? Die Methode, die hier vorgeschlagen wird, beruht auf der Idee, den „kausalen Beziehungs-grad", oder Kausalitatsgrad, zwischen zwei zu untersuchenden Ereignissen Ei

Man konnte anstatt des Begriffs Kausalitatsgrad auch den Begriff „Kontingenzgrad" als inver­ses MaB verwenden (hoherer Kontingenzgrad entspricht geringerem Kausalitatsgrad, z. B.: 1 -Kausalitatsgrad = Kontingenzgrad).

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und Ej zu Zeitpunkten ti < tj als proportional zur Anzahl altemativ moglicher Pfade im kontingenten ProzeBgraphen zwischen Ej und Ej und umgekehrt pro­portional zur Anzahl der moglichen Pfade im kontingenten ProzeBgraphen zu konzipieren, die zwar in Ej beginnen, aber nicht in Ej enden, oder die in Ej en-den, aber nicht in Ei beginnen. lo Auch hier ist zwischen dem prograden und dem retrograden Fall zu unterscheiden. 11 Genauer laBt sich definieren: Der prograde Kausalitdtsgrad K Ei- Ej zwischen diachronen ProzeBzustanden Ei und Ej im kontingenten ProzeBgraphen T zu den Zeitpunkten ti und tj, wobei i < j , betragt k/w, wenn Ei mit Ej im kontingenten ProzeBgraph F durch k Prozesse verbunden ist und w die Gesamtanzahl aller Prozesse in F bezeichnet, die in Ei beginnen und in einem beliebigen Zustand von F zum Zeitpunkt tj enden. Insbe-sondere ist k/w < 1. Im Beispiel von Figur 6 betragt K^EI^ES"^ = 3/11.

Entsprechend betragt mutatis mutandis der retrograde Kausalitdtsgrad K\j_>Ei zwischen diachronen ProzeBzustanden Ei und Ej im kontingenten Pro­zeBgraphen F zu den Zeitpunkten ti und tj, wobei i < j , m/y, wenn Ei mit Ej im kontingenten ProzeBgraph F durch m Prozesse verbunden ist und y die Gesamt­anzahl aller Prozesse in F bezeichnet, die in Ej enden und in einem beliebigen Zustand von F zum Zeitpunkt ti beginnen. Insbesondere gilt auch fur m/y < 1. In Abbildung 6 gih beispielsweise K\3"^->EI = 3/3 = 1 und K\3"^->E2^^ = 1/3.12

Beide Konzepte des prograden und des retrograden Kausalitatsgrades lassen sich in naheliegender Weise erweitem, falls die Wahrscheinlichkeiten fiir alle kontingente Altemativen in einem kontingenten ProzeBgraphen bekannt sind, indem alle Altemativen (Kanten) mit ihrer jeweiligen Wahrscheinlichkeitsge-wichtung in die Zahlungen eingehen. Damit sind in diesem Fall der KuK-Ansatz und der Wahrscheinlichkeitsansatzes komplementar. In welcher Bezie-hung stehen der KuK-Ansatz und der probabilistische Ansatz der Wahrschein-lichkeitstheorie zueinander? Wie gerade angesprochen, laBt der KuK-Ansatz die

Das Ziel der folgenden Uberlegungen ist die Konzeptionalisierung eines operablen graduellen KausalitatsmaBes, so dal3 Beispiele nur zur Illustrierung des Konzeptes verwendet werden, nicht als ausftihrliche Anwendung auf empirische Fallstudien. Dies wurde den Rahmen dieses Bei-trags sprengen und muB Gegenstand ktinftiger Forschung sein (vgl. FuBnote 6 oben). Fine der wenigen expliziten okonometrisch-statistischen Methoden zur Kausalitat ist das Kon-zept der „(Stewart-)Granger-Kausalitat" (vgl. Slembeck 2002). AUerdings fehlt der Granger-Kausalitats-Konzeption die Differenzierung zwischen prograder und retrograder Kausalitat. Zu-dem bezieht sie sich auf die Giitebestimmung von Prognosen, und zwar in der Weise, daB Gran-ger-Kausalitat zwischen der erklarenden Variablen X und der zu erklarenden Variablen Y dann vorliegt, wenn in der beobachteten zuriickliegenden Zeitreihe von X Informationen enthalten sind, die nicht schon in der zuruckliegenden Zeitreihe von Y enthalten sind. Die faktischen oder kontrafaktisch gedachten inhaltlich-sachlichen Kausalzusammen-hange zwischen faktischen und kontrafaktischen Zustanden sind im KuK-Ansatz implizit in der spezi-fischen Ausgestaltung des KontingenzprozeBgraphen, also in der Konzeptio-nalisierung und „Zeitk6mung" der moglichen Altemativen und ihrer Zeitpunkte, enthalten.

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Erweiterung zu, die einzelnen kontingenten bzw. kontrafaktischen Verzwei-gungsaltemativen an Multifurkationsknoten des ProzeBgraphen durch ihre Wahrscheinlichkeiten, soweit bekannt, zu erganzen. Tatsachlich sind der KuK-Ansatz und die Wahrscheinlichkeitstheorie aber in keiner Weise konkurrierend Oder deckungsgleich, sondem „inkonimensurabel". Nur falls alle Wahrschein­lichkeiten flir die kontingenten Altemativen in einem kontingenten Pro­zeBgraphen bekannt sind und entsprechend an die Verzweigungskanten des KontingenzprozeBgraphen geschrieben werden konnen, sind der KuK-Ansatz und der Wahrscheinlichkeitsansatz in der Kausalitatsgradbestimmung wirklich komplementar. Wie ist diese Inkommensurabilitat zwischen beiden Ansatzen begrundet? Zum einen benotigt der KuK-Ansatz keine Wahrscheinlichkeiten der kontingenten Altemativen und damit auch kein Zufallsexperiment, das ja jeder Wahrscheinlichkeitsuberlegung gedanklich zugrunde liegen muB. Bei der Kontingenzanalyse geht es grundsatzlich nicht um eine Wahrscheinlichkeits-tiberlegung, sondem jede Altemative ist in einem KontingenzprozeBgraph in plausibler Weise rationalisierbar, d. h. plausibel begrlindbar im ex-ante-Fall und plausibel rekonstmierbar im ex-post-Fall, sei sie realisiert worden, oder nicht. Ohne explizite Wahrscheinlichkeitsgewichtungen ist damit jede prograde Alter­native in einem KontingenzprozeBgraph gleichgewichtet (Wahrscheinlichkeits-gleichverteilung).

Vor allem aber beschaftigt sich die Wahrscheinlichkeitstheorie nicht mit Kausalitatsanalysen, sondem nur mit der Analyse und der Bestimmung von Abhdngigkeiten bzw. Zusammenhdngen (Korrelationen). In der Tat liefert eine beobachtete und statistisch-wahrscheinlichkeitstheoretisch untermauerte Ab-hangigkeit (Korrelation) zwischen zwei beobachteten Phanomenen keine Kau-salitatserklamng, sondem nur eine Zusammenhangsaussage (vgl. z. B. Bamard 1982, Stier 1996, Fahrmeir et al. 1997). Aber nur eine wissenschaftlich unter­mauerte Kausalitatsanalyse, die den tatsachlichen inneren kausalen Zusammen-hangen von Ereignissen bzw. Zustanden auf die Spur zu kommen versucht, kann die Frage beantworten, ob eine zeitlich diachrone Aufeinanderfolge von Ereignissen eines Prozesses wirklich ursachlich ist oder nicht (vgl. auch Frank 1988).

Das Ziel einer KuK-Analyse ist also zusammenfassend gesagt eine differen-zierte Kausalitatsanalye von Prozessen in dem Sinne, dass zwei beliebige dia-chron in der Zeit auseinander liegende Ereignisse des betrachteten Prozesses graduell kausalitatscharakterisiert werden konnen. Derartige Erkenntnisse kon­nen in einem weiteren Schritt zu VerlaufsregelmaBigkeiten bzw. Verlaufsgeset-zen oder -mustem kondensiert werden, die damit wissenschaftstheoretisch den Status von empirischen Generalisiemngen bzw. Empiremen haben. Damit kon­nen die Freiheitsgrade von Gestaltungsmoglichkeiten bzw. (angeblichen) Un-vermeidbarkeiten und Zwangslaufigkeiten, mit denen Entscheidungstrager kon-frontiert sind, genauer bestimmt werden. So konnen nicht nur

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Entscheidungsleistungen in komplexen Entscheidungssituationen mit Hilfe des KuK-Konzepts analytisch untersucht und graduell bewertet werden, sondem auch personliche Verantwortlichkeit („Schuld") von Entscheidungs- bzw. Handlungstragem ex-post - oder in Zukunftsszenarien ex-ante, was gerade fur die Nachhaltigkeitsthematik von Bedeutung ist. Damit hat der KuK-Ansatz auch eine ethische Dimension, indem fundierte Werturteile iiber erwiinschte bzw. faktische Ereignisse und Prozessverlaufe moglich werden - mit moglicherweise weitreichenden Folgen fur die betroffenen Akteure. Zudem kann dieses Instru­ment auch zur strategischen Entscheidungsunterstiitzung durch die differenzier-te Abwagung moglicher Konsequenzen verschiedener Handlungsweisen beitra-gen bzw. als Prognoseinstrument verwendet werden.

3 Innovationen, Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum - Versuch einer Ursachen-Tiefenanalyse

In der Nachhaltigkeits-Debatte spielt die Wachstumsthematik traditionell eine zentrale RoUe (vgl. stellvertretend fur eine Ftille von Veroffentlichungen aus okologisch okonomischer Perspektive Daly 1991, 1992, aus „aufgeklarter stan-dardokonomischer" Perspektive Bretschger 1999 und aus okologisch-evolutorischer Perspektive Witt 1997, 2005). Selten wird aber die Frage thema-tisiert, woher das Bediirfnis von Menschen nach standiger Steigerung der Wert-schopfung eigentlich kommt.i^ In diesem Abschnitt soil eine Spurensuche nach den Wurzeln des menschlichen Bediirfnisses nach dem „Steigerungsspiel" (Schulze 2003) betrieben werden. Die vielleicht alteste Spur eines explizit gren-zenlosen (Wert)Steigerungsbedurfnisses fiihrt zur Alchemic (z. B. Ploss et al. 1970, Gebelein 1996, Priesner et al. 1998, vor allem Binswanger 1985/2005). Es war das ausdriickliche Ziel der mittelalterlichen Alchemisten, unbegrenzten Reichtum zu schaffen, indem sic das WertvoUste, namlich Gold, aus wertlosem Material mit Hilfe des Steins der Weisen in unbeschranktem MaBe herzustellen versuchten.i4 Menschliches Entgrenzungsstreben war aber zu Beginn der Neu-

Ausnahmen findet man z. B. in Riedl/Delpos (1996), Renter (2000), Schulze (2003), Faber (2003) und vor allem in der „6konomischen Lesart" von Goethes „Faust"-Drama von H. Chr. Binswanger (1985/2005). Die „Faust"-Thematik soil in diesem Beitrag nicht vertieft werden, in-teressierte Leser seien an dieser Stelle auf die Beitrage von H. Chr. Binswanger nach 1985, Binswanger et al. 1990, Faber/Manstetten 1991 sowie Lehmann-Waffenschmidt 2004, 2005 und 2006 und die dort angegebenen Referenzen verwiesen.

Zwar haben die Alchemisten den Stein der Weisen nicht gefunden, dafur entdeckten sie aber unter anderem Porzellan, Alkohol und Phosphor und legten damit den Grundstein fiir die mo-deme naturwissenschaftliche Chemie und insbesondere fiir die heutige Farbenchemie und pharmazeutische Chemie - also fiir Bereiche, die fur die Wertschopfung in heutigen Volkswirt-schaften von groBer Bedeutung sind (s. z. B. Ploss et al. 1970, Gebelein 1996, Priesner/Figalla 1998).

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zeit um 1500i5 nicht nur der esoterisch-hermetischen Alchemic vorbchaltcn, sondem cntsprach durchaus dcm Zeitgeist. Als stcllvertretend dafiir kann man den Wahlspruch Kaiser Karl V. ansehen: „Plus ultra: Immer weitcr"!^, Offen-sichtlich charakterisiert der Wahlspruch Karl V. aber nicht nur das beginnende 16. Jh., sondem auch unsere heutige Zeit. Beispiele fmdet man in der fortwah-renden Beschleunigung von Konsum- und Produktionsprozessen. Kiirzere Pro-duktlebenszyklen und Produktionsprozesse bewirken cine allgemeine Tempo-steigerung des Lebens, die allgemein zunehmend als nachteilig empfunden wird (Backhaus/Bonus 1994, Reheis 1998, 2003, Held/Geissler 2000, Gun-ther/Lehmann-Waffenschmidt 2003 sowie 2006, Borscheid 2004; Osten 2003 bringt die Beschleunigungsthematik direkt in Zusammenhang mit Goethes „Faust").

Das Grenzenlosigkeitsmotiv zeigt sich in modemen Okonomien an ver-schiedenen Stellen. So spricht der bekannte Borsenspekulant George Soros von der „Alchemy of Finance" (1994), und seit Anfang der 90er Jahre wird in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur iiber die sogenannte „Casino-Mentalitat" diskutiert, also die Vorstellung, nur durch fmanzielle Transaktionen Wertschopfung betreiben und Wohlstand erzeugen zu wollen (s. z. B. M. Bins-wanger 1994). Realitat wurde die Casino-Mentalitat u. a. im New Economy-Borsenhype Ende der 90er Jahre, als nach geradezu historisch-traditionellem Spekulationsmuster Aktienwerte vor allem von Kleinanlegem zu exponentiell steigenden Kursen gekauft wurden, obwohl allgemein bekannt war, daB ihnen kein Fundamentalwertaquivalent gegeniiberstand - und auch gar nicht gegenii-berstehen konnte, da der Borsenkapitalisierungswert der eigenkapitalschwachen „dot-com"-Firmen schwindelerregende Hohen erreicht hatte, die schon von kapitalstarken „01d-Economy"-Firmen nicht einzulosen gewesen waren. Wie schon in historischen Borsenspekulationswellen geniigten den Anlegem allein die von der Allgemeinheit vermuteten Gewinnaussichten fiir ein Kaufengage-ment.

Schon Mitte der 90er Jahre hatte es in Albanien sogenannte Pyramidenspiele gegeben, die den Anlegem Renditen von 10 % und mehr im Monat auf das investierte Kapital versprachen. Diese Pyramidenspiele waren nichts anderes als Kettenbriefsysteme nach dem Schneeballprinzip: Alte Anleger werden durch die Einlagen von neu gewonnenen Investoren ausbezahlt mit der voraussehba-ren Konsequenz, dass irgendwann neue Anleger ihr investiertes Kapital nicht

Die Lebensdaten des historischen Doktor Faustus (ca. 1480 - 1540) fallen mit der Wende zur Neuzeit zusammen. Eine ideengeschichtliche Spurensuche des Grenzenlosigkeitsmotivs im abendlandischen Den-ken fmdet man z. B. in Gerschlager 1996. Entgrenzungstendenzen werden in den Wirtschafts-wissenschaften z. B. von Kassiola 1990, Scherhom 1993, 1996, Braun/Joerges 1994, Diefenba-cher 1994, Fritsch 1994 oder Lowe 1995 sowie in der Soziologie diskutiert (z. B. Honegger/Hrasil/Traxler 1999).

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mehr zuruckbekommen, well die Rekrutierungsbasis fiir Neuanleger dem Erfor-demis exponentiellen Wachstums nicht folgen kann und das System kollabiert. Es gibt beruhmte historische Beispiele fiir solche Schneeballsysteme, z. B. das Papiergeldexperiment von John Law in Frankreich um 1720, das Goethe als historisches Vorbild fur die Papiergeldszene in seinem Faust-Drama gedient hatte (Binswanger 1985/2005, Gleeson 1999). Die Papiergeldemission, die Law betrieb, fiihrte nach einer deutlichen Belebung der Konjunktur in Frankreich zu einer Borsenspekulation der Mississippi-Compagnie-Aktie, die Law ebenfalls kreiert hatte. Dank des in steigender Menge verfiigbaren Papiergeldes stieg der Kurs der Mississippi-Compagnie-Aktie in schwindelerregende Hohen und ende-te schlieBlich im totalen Crash, als allgemein bekannt wurde, dass die angektin-digten Gewinne aus den Kolonien in der neuen Welt nicht realisiert werden konnten (vgl. auch Aschinger 1995). Zwei andere historische Beispiele fiir kollabierende Schneeballsysteme, die naher an unserer Zeit liegen, fmdet man im „Fall Adele Spitzeder" in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts (Spitzeder 1996) sowie im Ponzi-Skandal in den USA in den 20er Jahren des 20. Jahrhun­derts (Kaufer 1990). Adele Spitzeder wurde nach ihrem Bankrott zu einer Ge-fangnisstrafe verurteilt, blieb aber in Miinchen trotzdem eine von vielen geach-tete Person, da sie nicht nur Menschen um ihre Investitionen gebracht, sondem auch vielen hohe Renditen auf ihre Einlagen verschafft hatte. Es gibt aber auch aktuelle Falle betriigerischer Schneeballfmanzsysteme. Z. B. werden in den USA und in Deutschland kommerzielle Pyramidenspiele betrieben, die sich an der Grenze der Legalitat durchaus groBen Beliebtheit erfreuen (siehe z. B. den Bericht in der ZEIT 2003). In den USA wurde im Zusammenhang mit der Zer-storung des World Trade Centers am 11. September 2001 der Fall der dort an-gesiedelten betriigerischen Investmentfirma „Evergreen" bzw. „First Equity" bekannt. Evergreen versprach den Investoren eine mehr als viermal so hohe Rendite auf ihr investiertes Kapital als zu dieser Zeit am Markt iiblicherweise zu erzielen war. Dem Kettenbriefsystem entsprechend bestand die Firma nur aus einem Call-Center, das fur die Anwerbung von Neuinvestoren zu sorgen hatte.

Der entscheidende Punkt bei diesen Fallen von Kettenbrief- oder Schnee-ballsystemen ist nun nicht, dass Anlagebetrug im Finanzbereich versucht wird. Was den Beobachter iiberrascht, ist die Tatsache, dass modeme Kapitalanleger, die einen leichten Zugang zu Informationen iiber realistische Marktrenditen haben, dazu bereit sind, ihr zum Teil mtihsam gespartes Kapital in einer Art und Weise anzulegen, bei der ganz offensichtlich die ublichen Marktkrafte ausgehe-belt werden sollen. Und was bedeutet unter diesen Bedingungen der Glaube an die Moglichkeit einer bis zu zehn- und hoherprozentigen monatlichen Rendite anderes als ein Grenzenlosigkeitsdenken? Die modeme rastlose und ungentig-same Lebensweise driickt ebenfalls diese Dynamik aus - wie aktuelle Beispiele aus der Werbung als Barometer des Zeitgeistes unmiBverstandlich zeigen:

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Autos, Erfrischungsgetranke, Bier, Parfiim oder Salatessig - Produkte unserer Zivilisation, die sich im Prinzip heute jeder leisten kann, verschaffen angeblich die erhoffte Moglichkeit zur Grenziiberwindung, verkiindet die Werbung, sozu-sagen Unsterblichkeit zum Discountpreis (vgl. auch Scherhom 1994).

Im okologischen Kontext wirft das Entgrenzungsdenken die bekannte Frage auf: Gibt es Grenzen des Wachstums oder nicht? Unterliegen wir tatsachlich einer Wachstumsillusion (Scherhom 1994, Douthwaite 1999), oder werden die realen Bedingungen nicht treffender durch die optimistische Metapher des „Wachstums der Grenzen" als durch „Grenzen des Wachstums" beschrieben?

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Die okologische Position des strong sustainability principle (stellvertretend Daly, Ayres u.a.) lautet vereinfacht: Wie sollte es auf dem endlichen Planet Erde, der den Gesetzen der Thermodynamik unterliegt, keine Grenzen des Wachstums geben? Keine Materie ist erzeugbar aus dem Nichts, und alle Trans-formationsprozesse sind wegen der notwendigen Entropieerzeugung irreversi-bel. Die neoklassische Position halt mit dem Substitutionsprinzip dagegen (So-low, Beckerman, Nordhaus, Stieglitz u.a.): Technischer Fortschritt, also Faktoreffizienzzunahme und -substitution, lost letztlich alle diese Probleme. Dem Konzept der schwachen Nachhaltigkeit folgend^^ sind Naturwer-te/Naturkapital durch Artefakte (Kapitalgiiter) substituierbar, und es werden „Backstop"-Technologien zur Energiegewinnung gefixnden, die das Ressour-cen- und das Deponieproblem der naturlichen Umweltmedien losen. Es gibt also keine echte Grenze des Wachstums! is Und selbst wenn man dem starken Nachhaltigkeitsprinzip recht gibt, bleibt die Frage bestehen, ob nicht doch zu-mindest eine standige Lebensstandardsteigerung unter Beachtung des Nachhal-tigkeitsgebots durch qualitatives Wachstum potentiell unbegrenzt moglich ist, also eine unbegrenzte immaterielle Wohlstandssteigerung durch imaginative, z. B. virtuelle oder digitale, Giiter, die keine oder nur minimale nachhaltigkeits-schadlichen Folgewirkungen haben.

Die offentliche Diskussion liber die Grenzen des Wirtschaftswachstums er-fuhr Anfang der siebziger Jahre mit der Veroffentlichung des Berichts „Limits to Growth" von Meadows und Forrester an den Club of Rome einen entschei-denden Anstofi. Allerdings kommt den Prognosen selbst eine eher geringe Be-deutung zu. Trafen doch die Ressourcen-Verknappungs- und Verteuerungs-prognosen der Simulationsstudien nach der Veroffentlichung des Berichts jahrzehntelang nicht zu^^ - erst in letzter Zeit scheint sich das zu andem. Und die Erkenntnis, daB allein schon wegen naturgesetzlicher Effizienzgrenzen (trotz der Idee der Effizienzrevolution2o („Faktor x") in den 90er Jahren) endli-che Energieressourcen mit den bekannten Energiegewinnungsverfahren kein unbegrenztes Wirtschaftswachstum ermoglichen konnen, war schon damals nicht neu. Was an den „Limits to Growth" aber heute noch interessant ist, sind die unmittelbar anschlieBenden Reaktionen darauf Schon kurz nach der Verof­fentlichung der „Limits to Growth" gab es eine erste Reaktion von Robert So-

Fur eine differenzierte Form des schwachen Nachhaltigkeitsprinzips s. z. B. Neumayer 1999. Die sogenannte „Daly-Solow-Kontroverse" fand in der Zeitschrift Ecological Economics, Jahrgang 1997, statt. Auf Angriffe wegen ihrer unzutreffenden Prognosen reagierten Meadows und Forrester in den 90er Jahren mit dem freilich nicht sehr tiberzeugend wirkenden Argument, sie hatten von vom-herein ihre Prognosen als „self-destroying prophecy", also als intentionale Prognosen, konzi-piert. Zur wachstumskritischen Debatte um die Effizienzrevolution s. Mtiller, Hennicke 1995, von Weizsacker et al. 1995, von Weizsacker 1997.

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low (1973, 1974). Er begnindete damit eine neue Tradition der sogenannten „Anti-Doomsday Modelle" (z. B. Cole et al. 1973), die den okonomischen Weltuntergangspessimismus des Club of Rome mit der bereits erwahnten neo-klassischen Idee des Substitutionsprinzips durch unbegrenzten technischen Fortschritt und der backstop-Technologie zu unbegrenzter Energiegewinnung zu entkraften suchten (s. auch Baumol 1986). Damit konne zwar nicht die Pro-duktion materieller Giiter unbegrenzt gesteigert werden - auch „Anti-Doomsday-Okonomen" miissen anerkennen, daB der Planet in materieller Hin-sicht endlich und ohne die deus-ex-machina backstop technology keine radikale Wende dieser Situation realisierbar ist - , aber vielleicht eben doch die Wert-schopfung - gemessen durch die menschliche Wohlfahrt. In spateren Veroffent-lichungen schrankten Solow und andere Anti-Doomsday-Okonomen ihre Aus-sagen insofem ein, daB sie mit ihrem Pladoyer der potentiellen Unbegrenztheit der Wachstumsmoglichkeiten nicht wirkliche Grenzenlosigkeit im mathemati-schen Sinne gemeint hatten, sondem soweit hinaus geschobene Grenzen, daB sie in menschlichen Zeitdimensionen nicht als Grenzen zu sptiren waren. Aber unabhangig von der individuell praferierten Semantik des Begriffs der Grenze ist offensichtlich, daB sich hinter dieser Entgrenzungs-Rhetorik eine Einstellung zu Wirtschaft und Natur verbirgt, die etwas anderes bedeutet als nur den nahe-liegenden Wunsch nach okonomischer Existenzsicherung oder nach materiel-lem Komfort und Luxus - sondem letztlich das gleiche, was schon die Alche-misten woUten: die Suche nach moglichst weitgehender Autonomic durch die Uberwindung der menschlichen Beschrankungen, auch und vor allem derjeni-gen der Sterblichkeit. Dazu wird gleich noch mehr zu sagen sein.

Es gibt aber eine weitere Quelle der Begrenzung des Wirtschaftswachstums, die ihren Ursprung nicht in auBeren, sondem in inneren Grenzen der Mensch-heit hat. Gemeint ist der sogenannte Statuskonsum oder positionale bzw. relati­ve Konsum (Hirsch 1976, Reisch 1995, Diwan 2000), also das Konsummotiv des sich Abhebens und Unterscheidens von anderen. Das Bedtirfnis nach Kon­sum positionaler Giiter bzw. von Statusgiitem ist nach anthropologischen, so-ziologischen und psychologischen Forschungsergebnissen offensichtlich eine transkulturell giiltige Universalie der Menschheit (s. die eben genannten Refe-renzen). Ein zentraler Widerspmch des positionalen Konsumbedtirfnisses liegt vor allem darin, dass auf diese Weise das dahinter liegende Bedtirfnis offen­sichtlich nie wirklich gestiUt werden kann. Denn zum einen sind gerade Status-giiter wie besondere bemfliche Positionen, Kunstwerke oder Immobilien per defmitionem nicht beliebig vermehrbar - denn waren sie es, wtirden sie nicht als statusdifferenzierende Objekte taugen. Und zum anderen hat jemand, der sich auf seine Zehenspitzen stellt, um besser sehen zu konnen als die um ihn stehen-den Personen, ein Problem, wenn sich die anderen ebenfalls auf die Zehenspit­zen stellen. Entsprechend fiihrt das Bedtirfnis nach positionalem Konsum in

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eine nicht endende Spirale, da die Vergleichssubjekte nachziehen und dadurch standig gesteigerte Statusgiiterkonsumanstrengungen erforderlich machen.

Zwar kann man den positionalen Konsum positiv als Movens standigen Wachstums und damit standig gesteigerten Wohlstands ansehen, aber das Pha-nomen des positionalen Konsums fiihrt offensichtlich zu einem „Wohlstandspa-radox" und stellt damit eine innere Beschrankung unbegrenzten Wohlstands-wachstums fur die Menschheit dar, indem die eigentlich angestrebte Nutzenerzielung oder Bediirfnisbefriedigung gerade nicht erreicht wird.

Das Phanomen des positionalen Konsumbediirfnisses fuhrt aber bei der Spu-rensuche nach den tiefer liegenden Wurzeln des menschlichen Entgrenzungsbe-diirfnisses noch weiter. Setzt man das positionale Motiv namlich konsequent fort, gelangt man letztlich zwangslaufig zum Statuswettbewerb mit dem hochs-ten denkbaren Statusinhaber, mit „Gott". Dieser Wettbewerb zwischen dem Menschen und Gott ist nicht neu. Er beginnt im Alten Testament im Buch Mose und hatte dort bekanntlich als erste Konsequenz die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies und den Verlust der Unsterblichkeit zur Folge. Es gibt aus der Zeit der Entstehung des Alten Testaments auBerdem chassidische Schriften, die die Statuskonkurrenz zwischen Gott und dem Menschen explizit thematisieren und eindeutig Stellung in der Weise beziehen, dass der Mensch diesen Wettbe­werb aufnehmen diirfe und sogar versuchen solle, individuelle Autonomic und Selbstbestimmung zu gewinnen (s. z. B. Fromm 1980, 2002).2i

Gotteskomplexwerte als ins Extrem getriebenes positionales Denken kom-men als tiefer liegende Ursache in Frage flir das Selbsttiberhohungsbediirfnis und Entgrenzungsbestreben des modemen autonomiebestrebten homo faber und homo creator. Goethes „Faust" drtickt es zu Anfang des Dramas in seiner Iden-titatskrise (Studierzimmer-Szene) unverbliimt aus: Bin ich ein Gott? Mir wird so licht! Ich, Ebenbildder Gottheit!.... Was bin ich denn, wenn es nicht moglich ist, Der Menschheit Krone zu erringen, Nach der sich alle Sinne dringen? His-torische Beispiele fur das Ausleben des Gotteskomplexes fmdet man im Turm-bau zu Babel im Alten Testament und in der griechisch-antiken Sagenwelt. Konig Midas wurde flir seinen maBlosen Wunsch der Allverwandlung der Welt in Gold mit bleibenden Eselsohren gestraft, den Konigssohn Erysichthon strafte die Gottin der Natur und der Jagd, Demeter, fiir seine MaBlosigkeit und seinen Umweltfrevel beim Abholzen des heiligen Hains der Demeter mit ewig unstill-barem Hunger, der schliefilich zum Selbstkannibalismus fiihrte (Ovid 2001, H. Chr. Binswanger 1998). Und sind nicht der Aufbau und standig weiter betriebe-ne Ausbau des virtuellen Universums im Internet (Cadoz 1998), die Gentechno-logie (Kingsdon 1997, Sloterdijk 1999, Kiinzli 2001), die Kern- und Nanotech-

Der „Gotteskomplex" wurde auch von dem Sozialpsychologen Horst Eberhard Richter themati-siert und als ein wesentliches Charakteristikum unserer Gesellschaft identifiziert (Richter 1986, vgl. auch Grafrath 1998).

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nologie sowie die Eroberung des Weltraums ganz offensichtlicher Ausdruck eines „Leonardoschen" und „Baconschen" Entgrenzungsstrebens (Schafer 1999)?

Zusammenfassend haben die zurtickliegenden Uberlegungen eine Wachs-tumsillusion 1. Ordnung identifiziert, indem die Vorstellung der grundsdtzli-chen Moglichkeit unbegrenzten Wohlstandswachstums durch materielle oder virtuelle Guter unrealistisch erscheint, da okologische Grenzen, Effizienzgren-zen und innere Wachsturnsgrenzen infolge Statusprdferenzen bestehen.

Die bisherigen tJberlegungen lassen sich zusammenfassen in der These, daB sich im unbeschrankten menschlichen Steigerungsbedtirfnis auf einer tieflie-genden Motivationsebene das Streben nach Autonomie gegeniiber allem aus-driickt, das auBerhalb des menschlichen Zugriffs liegt - gegeniiber der Natur, der Zeit, der Sterblichkeit und der Transzendenz. Aber wieso ist das Erreichen maximaler Autonomie so erstrebenswert, was bedeutet es letztlich? Die Antwort muB sein, daB es offenbar das bedeutet, was fiir den Menschen am erstrebens-wertesten ist, namlich individuelles „Gluck". In diesem anthropozentrischen, anti-eschatologischen Gliicksverstandnis macht sich der Mensch also zu seinem eigenen Schopfergott, zum homo faber, homo creator. Genau dies war auch das Ziel der mittelalterlichen Alchemisten. Die modeme Menschheit versucht aber nicht, die Selbstbestimmung durch Uberwindung aller Grenzen im diesseitigen Leben durch geheimwissenschaftliche Herstellung kiinstlichen Goldes zu errei­chen, sondem vordergriindig realistischer durch grenzenlose Wertschopfung mit Hilfe unbegrenzten technischen Fortschritts und ungehinderter Besitznahme der Natur. Die modeme Wirtschaft erscheint so als Alchemic mit anderen Mitteln.

Aber wie erfolgreich ist diese „alchemistische Gliicks-Strategic" unbegrenz­ten Wertschopfungsstrebens? Offenbar ist sie in langfristiger Perspektive aus Sicht des okologischen Nachhaltigkeits-Erfordemisses keine intelligente Vor-gehensweise. Wieso wird sie dann aber standig weiter betrieben? Selbst wenn man auf diese Frage die vordergriindig naheliegende Antwort gibt, es liege an der Gegenwartspraferenz der meisten Menschen, bleibt die Frage, was das Bei-behalten der „alchemistischen Gliicks-Strategic" fiir das zugrundeliegende Gliicksverstandnis bedeutet.

Die Suche nach Antworten auf die Frage nach dem Lebenssinn fiir den Menschen bzw. nach dem menschlichen Gliick steht schon immer im Zentrum des philosophischen Denkens und hat auch in der okonornischen Wissenschaft in den letzten Jahren verstarkt Aufmerksamkeit gefunden (Oswald 1997, Belle-baum/Schaaf/Zinn 1999, Kenny 1999, Winterfeld 1999, Lane 2000, Frey/Stutzer 2000, Easterlin 2002, Bellebaum 2002). Hier zeigt sich die Starke des okonomischen Denkansatzes, indem ein solches umfassendes Thema wie die Frage nach dem Lebenssinn oder Lebensgliick mit Uberlegungen zu indivi-duellem Nutzen und Wohlergehen analysiert werden kann. Was aber ist Nutzen, was sind Bediirfnisse (vgl. Renter 2000), und was bedeutet das Konzept der

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Nutzenmaximierung, die die neoklassisch modellierten Agenten betreiben? Oder anders formuliert: Was steht letztlich fur ein Interesse hinter der Steige-rung der positiven Befindlichkeitsbeitrage oder des individuellen Nutzens, wel-che Variable steht in der Nutzenftinktion, die AnlaB zur grenzenlosen Steige-rungsdynamik gibt? Die Antwort darauf kann wieder nur lauten: das Interesse an - oder in okonomischer Sprache die Praferenz fur - individuel-lem/individuelles Gliick.

Diese Antwort fiihrt aber unmittelbar wieder auf die Ausgangsfrage nach der Tauglichkeit der angewendeten Strategie, die in ihrem Kern auf die alte Frage hinauslauft, ob Wohlstand, Geld und Reichtum wirklich glucklich machen. Auch wenn das Problem in dieser Formulierung alles andere als neu erscheint -erst die modeme Sozialwissenschaft kann durch fortgeschrittene Befragungs-techniken den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Prosperitat und sub-jektivem Glucksempfinden der Menschen exakt analysieren (z. B. Oswald 1997, Clark/Oswald 2002). Insbesondere die transkulturellen (cross-cultural) Untersu-chungen von R. Inglehart (1996, 1998, 2000) belegen, dass ganz offensichtlich kulturiibergreifend deutlich abnehmende Grenzertrage des Wohlstandswachs-tums in bezug auf die Zielvariable personliches Glucksempfinden auftreten. Das Gliicksempfmden wird offensichtlich stark gesteigert im unteren Einkommens-bereich, aber dieser deutlich positive Zusammenhang geht in hoheren Bereichen des Bruttosozialproduktes in alien Kulturen verloren. Dabei ist es unerheblich, ob die verwendete MeBskala individuellen Gliicksempfmdens nach oben offen oder aber mit einem Maximalwert (,,100 %") gedeckelt ist. In jedem Fall muB aus dem Befund geschlossen werden, dass zunehmender Wohlstand nur im unteren Bereich mehr Gliick und damit Lebenssinn stiftet und diese gliicksstei-gemde Wirkung fur „reiche" Volkswirtschaften weitgehend verloren geht. Das bedeutet aber wiederum nichts anderes, als daB das materielle Wertesystem bei zunehmendem gesellschaftlichem Wohlstand durch postmaterielle bzw. post-modeme Wertesysteme abgelost wird. Damit bedeutet weiteres Festhalten am Steigerungsdenken eine Wachstumsillusion 2. Ordnung (vgl. auch Scherhom 1994): Es ist ab einem Schwellenwert keine wirkliche Steigerung des Wohlbe-

findens i. S. eines umfassenden Lebensstandardkonzepts, vulgo „GlUck'\ durch materielle Wohlstandsvermehrung mehr moglich.

Worin bestehen aber solche postmateriellen, oder postmodemen, Werte? Es sind Werte, die soziale, kommunikative und intrinsisch motivierte, autotelische Aktivitaten in den Vordergrund stellen, also weniger den Konsum materieller Gtiter, sondem eher den Konsum immaterieller Giiter - und tiberhaupt eher weniger Konsumaktivitaten als aktive, kreative und produktive Tatigkeiten. Das durch extremes Statusdenken als Gotteskomplex standig weiter getriebene Stei-gemngsspiel unbegrenzten Wertschopfungszuwachses funktioniert zwar tempo-rar durchaus als Mittel zur Befriedigung dieser Bedtirfnisse. Es taugt aber we-gen der damit verbundenen Gefahrdung und irreversiblen Zerstorung der

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menschlichen Lebensgrundlagen sowie der Unersattlichkeit und inharenten Widerspriichlichkeit des Statuswettbewerbs nicht als nachhaltig lebenssinnstif-tendes Prinzip.

Welche Altemativlosungen gibt es, die nicht die unbegrenzte Wertschop-fung und die damit zwangslaufig verbundene unbegrenzte Steigerung der Zeit-und Naturergreifung zur Basis fur das menschliche Streben nach Gliick und Unsterblichkeit machen?22 Bei der Suche nach moglichen Altemativen zur Steigerungsdynamik besteht ein notwendiger erster Schritt in der Selbsterkennt-nis, daB der „Gotteskomplex" als Extremform des Positionaldenkens eine we-sentliche Motivationskraft fiir das Entgrenzungsdenken liefert. Erst diese Selbsterkenntnis gibt einer Selbsttherapie eine Chance, das Steigerungs- und Entgrenzungsdenken zu bekampfen und zu iiberwinden. Konkret ist das alche-mistische Steigerungsdenken zu ersetzen durch die Vision eines dematerialisier-ten, postmodemen Wohlstandswachstums. Aber wie laBt sich das operativ um-setzen? Die nachstliegende Losung besteht offensichtlich darin, das Problem direkt an der Wurzel zu packen und der menschlichen Lebensfiihrung ein ande-res individuelles Gliicksverstandnis zugrunde zu legen (vgl. z. B. Politische Okologie 1998, 2000, 2001). Das Gegenteil zum sekundar an Erfolg motivier-ten, „konsequentialistischen" Steigerungsdenken ist eine Einstellung, die dem postmateriellen Wertekanon entsprechend an intrinsischer, oder autotelischer. Motivation orientiert ist, also daran, durch eine Tatigkeit selbst und nicht (nur) durch ihre Effekte Gltick empfmden zu konnen. Das Spielen ist ein geradezu paradigmatisches Beispiel fur eine autotelische Tatigkeit (Csiksentmihalyi 2000 a, b) - wenn im eigentlichen Sinn des Wortes wirklich gespielt wird, also um seiner selbst willen und unabhangig davon, ob man gewinnt oder nicht. Oder man denke z. B. an ein Kind, das selbstvergessen eine Melodic singt - die Sache selbst und nicht irgendeine Absicht oder eine Aussicht auf etwas anderes ist es, was ihm Freude macht und zum Singeamotiviert.

Viele der groBen spirituellen Denkrichtungen und Religionen der Welt ha-ben ein anderes Gliicksverstandnis als die sakularisierte westliche Gesellschaft - z. B. die femostlichen Geistesrichtungen wie Hinduismus, Taoismus, Konfu-zianismus oder der (Zen-)Buddhismus (z. B. Reichle 1998, Schumann 1998, insbesondere H. Chr. Binswanger 1998). So wird das Fundament buddhistisch-taoistischer Prinzipien durch zwei Begriffe wesentlich gepragt: „Soziabilitdt'' und ,,Satisficing'' (s. z. B. H. Chr. Binswanger 1998, Conze 1995, Reichle 1998, Schumann 1998, Gang 2002). Die Ausrichtung an Anspruchsniveaus (Satisficing) anstatt an einem fata-morganahaft standig in unerreichbare Feme

Da Altemativlosungen zwangslaufig einen normativen Charakter haben und damit den Boden einer positivistischen wissenschaftlichen Analyse verlassen, sei den folgenden Uberlegungen das Caveat vorangestellt, daB im folgenden Text keinerlei dogmatische Ausrichtung befiirwortet oder ideologischen Uberzeugungen das Wort geredet werden sollen.

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entschwindenden Steigerungsideal sowie eine verstarkte Hinwendung zu sozia-len Werten (Soziabilitdt) in einer Gesellschaft (Gross 1999) werden auch in der modemen Konsumforschung thematisiert (vgl. z. B. Scherhom 1993, 2000, Rosenkranz/Schneider 2000, Graaf/Wann/Naylor 2001, Scherhom/Weber 2002).

Bin weiterer Vorschlag zu einer Losung, der keine religios-weltanschauliche Umstellung, aber ein Umdenken in der Gesellschaft erfordert, kommt aus dem evolutorischen Denken. Er besteht darin, sich von der homo faber'schen Omni-potenzhaltung, alles Unwagbare und Unwillkommene vollstandig ausschliefien Oder zumindest kontroUieren zu wollen, zu losen. Nur so kann die herkommli-che, im cartesianischen wissenschaftlichen Denken weitverbreitete „closed-loop" Sichtweise von Prozessen und Ereignissen ersetzt werden durch eine neue Sichtweise, die der unvermeidlichen menschlichen Ignoranz bei allem Zuktinf-tigen Rechnung tragt und die Verlaufs- und Ergebnisoffenheit anerkennt, so daB die Natur nicht mehr bloB in beherrschter und reduzierter Form einen Wert hat (vgl. auch Faber et al. 1992, Faber /Manstetten 1992, 2003).

Wie die historische Erfahrung gezeigt hat, sind alle Wege zu einer bona fide Oder mala fide vermeintlich besseren Welt untauglich, bei denen - wie bei alien autoritar-kollektivistischen oder fiindamentalistischen Ideologien - der mensch-liche Drang nach Neuem, nach Invention und Innovation und nach Entwicklung und Fortschritt, unterdriickt wird. DaC das Bedtirfiiis nach Neugierde, Entwick­lung und Fortschritt eine elementare anthropologische Konstante des menschli­chen Verhaltensrepertoires ist und in einer stationaren und autoritar gefuhrten Gesellschaft nicht ohne erhebliches Stor- und Konfliktpotential unterdruckt werden kann, wird auBer durch die historische Erfahrung auch von der moder-nen Anthropologic und Motivationspsychologie bestatigt. Daraus ergibt sich die SchluBfolgerung, dass nicht etwa fortschritts- und innovationsfeindliche gesell-schaftliche Strukturen die Losung bringen konnen, sondem im Gegenteil Fort­schritt und Innovation auf alien Ebenen in die gesellschaftlichen Strukturen integriert werden miissen.

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Innovation fur Nachhaltige Entwicklung - die soziologisclie Perspektive

Karl- Werner Brand

Einleitung

Die Kategorie der „Innovation" stellt in der Soziologie, anders als in den Wirt-schaftswissenschaften und den technischen Disziplinen, keinen zentralen Fokus innerdisziplinarer Debatten dar. Eine gewisse Ausnahme bilden nur die Tech-nik- und Industriesoziologie, die sich, als wirtschaftsnahe Teildisziplinen, im Sog der offentlichen Innovationsdebatte der vergangenen Jahre flir diese The-matik geoffnet haben (vgl. Bechmann/Rammert 1997, Blattel-Mink 1996, Rammert 2000, Sauer/Lang 1999). Dieses weitgehende Desinteresse der Sozio­logie am Innovationskonzept hat wesentlich mit dem okonomisch-instrumentell verengten Bezugspunkt der derzeitigen Innovationsdebatte zu tun: getrieben von anhaltenden Wachstumsproblemen steht hier fast immer die Frage im Vor-dergrund, durch welche Produkt-, Verfahrens- oder Dienstleistungsinnovationen der deutschen Wirtschaft Wettbewerbsvorteile auf globalisierten Markten ver-schafft werden konnten und was getan werden musste, um ein entsprechend „innovationsfreundliches Klima" zu schaffen. Dass diese positiv besetzte, mit viel Hoffnung und dem progressiven Gestus der Gestaltung nationaler „Zu-kunftsfahigkeit" geftihrte Innovationsdebatte auch fur Fragen einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung genutzt wird, liegt nahe und ist strategisch sicher von Vorteil. Allerdings bleibt, zumindest aus soziologischer Perspektive, der thematische Bezugspunkt im wesentlichen derselbe: statt um wettbewerbsfahige Produkt- oder Verfahrensinnovationen schlechthin geht es nun um gerichtete, am Leitbild der Nachhaltigkeit orientierte Produkt- und Verfahrensinnovation und um die Frage, wie sich diese am Markt durchsetzen konnen. Das ist sicher eine legitime und fur den Erfolg von Nachhaltigkeitsprozessen auch zentrale Fragestellung - sie hat allerdings ftir Soziologen zunachst wenig Charme.

Das andert sich erst, wenn die soziale und kulturelle Einbettung technischer und organisatorischer Nachhaltigkeitsinnovationen ins Blickfeld gerat wie in industriesoziologischen Studien zu Okologisierungspfaden und Nachhaltig-keitsblockaden von Untemehmen (Birke/Schwarz 1994, Birke et al. 2003, Blat­tel-Mink 2001, Brandl/Hildebrand 2002, Brentel 2003) oder in regional und international vergleichenden wirtschaftssoziologischen Studien zu „okologi-schen Innovationssystemen" (vgl. Blattel-Mink 2006, Blattel-Mink/Renn 2003).

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56 Karl-Werner Brand

Hier ergeben sich dann auch groBere Schnittmengen zur betriebs- und volks-wirtschaftlichen Forschung zu Nachhaltigkeitsinnovationen.

Grundsatzlich hat die derzeitige Innovationsdebatte aber einen technisch-okonomischen Fokus und steht deshalb per se nicht im Zentrum der soziologi-schen Beschaftigung mit Nachhaltigkeitsfragen. In der Soziologie geht es zu-meist um strukturelle und kulturelle Transformationsprozesse, die mit der oko-logischen Herausforderung verkntipft sind, um die Herausbildung neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien, neuer Deutungs- und Wertmuster, neuer Inte-ressen- und Akteurskonstellationen, neuer institutioneller Regulierungen, neuer Lebensformen und alltagskultur^Uer Praktiken. Und um die in diesen konflikt-haften Wandlungsprozessen begriindeten Hemmnisse einer nachhaltigen Ent-wicklung.

Die Soziologie hat primar diese komplex sich ,verhakenden' Transformati­onsprozesse und die mit alien Steuerungsversuchen einhergehenden Nebenfol-gen im Auge. Hier entwickelt sich laufend „Neues", entstehen permanent ge-sellschaftliche „Innovationen". Welche davon aber nachhaltige Entwicklungsprozesse befordem und welche ihnen im Wege stehen, lasst sich vorweg selten eindeutig bestimmen. Fast alle Entwicklungstrends haben ambi-valenten Charakter. Der Innovationsbegriff verliert in diesem Kontext seinen prazisen Sinn. Die Probleme der Soziologie mit dem Innovationsbegriff sind insofem nicht nur seiner aktuellen politisch-ideologischen Vereinnahmung, sondem auch ihrer speziellen disziplinaren Perspektive geschuldet. Ftir Sozio-logen macht es mehr Sinn, von gerichtetem Wandel, Transformation oder Re­form zu sprechen.

Im Folgenden mochte ich diese soziologische Perspektive und die darin lie-genden Potentiale ftir eine interdisziplinare Forschung zu den Bedingungen gesellschaftlicher „Nachhaltigkeitsinnovationen" verdeutlichen. Zu diesem Zweck sollen exemplarisch einige theoretische Zugange zur Okologieproblema-tik skizziert sowie einige empirische Strange der soziologischen Nachhaltig-keitsforschung vorgestellt und daraus dann einige Schlussfolgerungen gezogen werden.

1 Die soziologische Perspektive

Was ist die Besonderheit der soziologischen Perspektive? Das lasst sich viel-leicht am besten anhand von zwei klassischen Definitionen von Soziologie verdeutlichen, die zugleich das Spannungsfeld umreifien, in dem sich soziologi­sche Analysen bewegen. Das eine stammt von Max Weber, dem deutschen Griindervater der Soziologie, das andere vom Emile Durkheim, seinem franzo-sischen Pendant.

Max Weber. „Soziologie ( ) soil heifien: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wir-

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Innovation fiir Nachhaltige Entwicklung 57

kungen ursachlich erklaren soil." ,,'Soziales' Handeln soil ein Handeln heiBen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist." (Weber 1956)

Hier riicken die Ebene intentionalen, sinnhaften Handelns - oder interaktio-nistisch erweitert, die Ebene symbolisch vermittelter Interaktionen - und die daraus erwachsenden gesellschaftlichen Strukturen in den Vordergrund. Ge-genstand der Soziologie ist aus dieser Perspektive das Gewebe aus Bedeutun-gen, Erwartungen und Verhalten, das sich aus der wechselseitigen Orientierung von Menschen an ,sozialen Situationen' ergibt und zu institutionellen Struktu­ren verfestigt.

Emile Durkheim: „Ein soziologischer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fahigkeit besitzt, auf den einzelnen einen auBeren Zwang auszuiiben, (...) wobei sie ein von den individuellen AuBerun-gen unabhangiges Eigenleben besitzt". (Durkheim 1961)

Hier erscheint die Gesellschaft als iibergeordneter, fiinktionaler Systemzu-sammenhang, der das individuelle Handeln nicht nur in vorgegebene kollektive Sinnzusammenhange und institutionelle Regulierungen einbindet, sondem auch einer von der Handlungsintention der einzelnen Subjekte unabhangigen Struk-tur- oder Systemdynamik folgt. Hier liegt der Fokus somit auf den objektiven Strukturen und Prozessen (Kultur, Institutionen, soziale Ungleichheit, Herr-schaftsverhaltnisse, sozialer Wandel etc.), die das individuelle Handeln pragen.

Soziologie besteht aus einer Pluralitat von Ansatzen, die sich zwischen die-sen beiden Polen bewegen, zwischen einer mikro- und makrotheoretischen, einer handlungs- und einer system- oder strukturtheoretischen Perspektive, aber auch zwischen den Polen einer Integrations- und einer Konfliktperspektive sowie - methodisch - zwischen Deuten und Erklaren, zwischen qualitativen, hermeneutisch-rekonstruktiven und quantitativen, empirisch-analytischen Ver-fahren. Seit den achtziger Jahren fmden synthetisierende Ansatze in der Sozio­logie allerdings eine wachsende Resonanz. Einer der bekanntesten Ansatze dieser Art ist Anthony Giddens' ,,Theorie der Strukturierung" (1988), die die wechselseitige Reproduktion von Handlung und Struktur in den Vordergrund ruckt. Was Giddens die „Dualitat der Struktur" nennt, bezieht sich auf die Tat-sache, dass institutionelle Strukturen „Handeln nicht nur einschranken, sondem auch ermoglichen" (ebd.: 78). Sie begrenzen zwar den Spielraum gesellschaft-lich moglicher Handlungsweisen, schaffen gleichzeitig aber tiberhaupt erst die Voraussetzung eines geregelten Zusammenlebens. Sie bieten Orientierung in einem tiberkomplexen gesellschaftlichen Umfeld und verleihen dem Handeln Sicherheit und Kontinuitat. Institutionen konnen das soziale Leben allerdings nur insoweit strukturieren, als sie durch das alltagspraktische Handeln sozialer Akteure reproduziert und so in ihrer Geltung immer wieder aufs Neue bestatigt werden.

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58 Karl-Werner Brand

Dieser Ansatz bietet m.E. einen sinnvollen Rahmen fiir die Untersuchung leitbildgesteuerter gesellschaftlicher Transformationsprozesse.

2 Antworten der Soziologie auf die okologische Herausforderung

Die Soziologie konstituiert sich als eigenstandige Disziplin Ende des 19. Jahr-hunderts durch den spezifischen Gegenstandsbezug des „Sozialen", durch das Programm, „Soziales (nur) durch Soziales zu erklaren" (Durkheim). Damit grenzt sich die Soziologie sowohl von den bereits etablierten Disziplinen der Psychologic und der Okonomie als auch - und vor allem - von naturdeterminis-tischen Erklarungen des Sozialen (durch klimatische, biologische, geographi-sche Gegebenheiten etc.) ab. Theoriestrategisch wird dieser disziplinare Zu-schnitt der Soziologie durch die Wahl entsprechender grundbegrifflicher Kategorien - „sinnhaftes Handeln" (Max Weber), „symbolische Interaktion" (G.H. Mead), „Kommunikation" (Niklas Luhmann) oder auch „Herrschaft & Macht" (neomarxistische Theorievarianten) - abgesichert. Damit gerat nun allerdings die Interaktionsdynamik von Gesellschaft und (vergesellschafteter) Natur aus dem Blickfeld. 'Natur' wird in ihren verschiedenen, insbesondere in ihren technisch reproduzierbaren Aspekten dem Feld der Natur- und Technik-wissenschaften iiberlassen.

Die Soziologie ist, was ihr Verhaltnis zur Naturthematik betrifft, mit ihrem disziplinaren Zuschnitt lange Zeit zufrieden. Nicht nur das. Die Soziologie wird im MaBe ihrer Professionalisierung auch immer mehr von Naturbeziigen „gerei-nigt". So geriet der humanokologische Strang der Soziologie, wie er von der Chicago School in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Rahmen von stadtsoziologischen Untersuchungen entwickelt wurde, gerade aufgrund seiner biologistischen Anleihen in Verruf (Gross 2001). Ab den vierziger und funfzi-ger Jahren entwickelt sich die Soziologie so auf einer rein „sozialen" Basis weiter. Natur ist nun nur noch in Gestalt von kulturellen Symbolisierungen ein soziologisches Thema. Das andert sich erst wieder im Gefolge der Okologiebe-wegung der siebziger und achtziger Jahre.

Aus dem normativ aufgeladenen, gesellschaftskritischen Okologiediskurs der siebziger Jahre entwickelt sich in den USA zunachst eine erste Version der environmental sociology. Ihre Vertreter, insbesondere Riley Dunlap und Willi­am Catton (Catton & Dunlap 1978, Dunlap & Catton 1979) bemiihen sich, die ausgeblendete Natur in die Soziologie zu integrieren. Durch einen Paradigmen-wechsel vom „human exemptionalism paradigm" (HEP) zum „new ecological paradigm" (NEP) mochten sie die defizitare Berticksichtigung der Natur in der Soziologie korrigieren. Statt von der Einzigartigkeit des Menschen und einer unbegrenzten Fortschrittsperspektive auszugehen, miisse die menschliche Ge­sellschaft als eine biologische Lebensgemeinschaft begriffen werden, die natur-lichen, biologisch-physischen Grenzen unterliege und deren Handlungen im

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Innovation flir Nachhaltige Entwicklung 59

Gewebe der Natur eine Vielzahl unbeabsichtigter okologischer Folgen produ-zierten. Wahrend es Dunlap und Catton mit diesem konzeptionellen VorstoB zumindest in den USA gelang, die Umweltsoziologie als Subdisziplin der So-ziologie zu etablieren und die soziologische Aufmerksamkeit auf die Relevanz okologischer Probleme fur gesellschaftlichen Handelns zu lenken, blieb ihre Hoffnung auf eine theoretische Reorientierung der Soziologie doch ohne groBe Resonanz (vgl. Buttel 1987).

Dass okologische Fragen dann ab Mitte der achtziger Jahren auch in der deutschen Soziologie vermehrte Aufmerksamkeit fmden, hat nicht nur mit Tschemobyl sondem auch mit der zunehmenden Institutionalisierung umwelt-politischer Anliegen zu tun (Brand et al. 1997). Die proklamierte Wende vom nachsorgenden zum vorsorgenden, 'integrierten' Umweltschutz, die fortschrei-tende, wenn auch sehr widerspriichliche Intemalisierung okologischer Hand-lungsimperative in AUtagshandeln und institutionelle Kontexte, ruckt die Frage nach den Barrieren und Chancen fur die 'Ankoppelung' okologischer Interessen an akteurspezifische Motive und Handlungsrationalitaten in den Vordergrund. Die okologische Problematik hat damit in vielfacher Hinsicht Anschluss-fahigkeit flir die Soziologie gewonnen.

Entscheidende AnstoBe zu einer starker soziologischen Auseinandersetzung mit der okologischen Problematik lieferte zum einen die „Cultural Theory", zum anderen, insbesondere im deutschen Sprachraum, Niklas Luhmanns 1986 publizierte Arbeit „Okologische Kommunikation" und Ulrich Becks im selben Jahr erschienene Studie „Risikogesellschaft". Vor allem letztere brachte das nach dem Unfall von Tschemobyl vorherrschende Bedrohungsgefiihl auf den Begriff. Beck gelang mit dieser Arbeit aber auch eine konzeptionelle Neuorien-tierung der soziologischen Analyse, die iiber die okologische Problematik selbst hinauswies.

Die Cultural Theory (vgl. Douglas & Wildavsky 1982, Thompson, Ellis & Wildavsky 1990) geht davon aus, dass unterschiedliche soziale Organisations-und Lebensformen („ways of life") mit unterschiedlichen Welt- und Naturbil-dem, Risikodefmitionen und Problemlosungsstrategien verbunden sind. Jndi-vidualistischen'' Organisationsformen (geringe Kontrolle und Gruppenbindung) - so die Annahme -'entspricht der Mythos einer nachgiebig-toleranten Natur {nature benign)', was wir auch immer machen, die Natur kommt immer wieder von selbst ins Lot. .JEgalitdre'' Lebensformen (geringe Kontrolle, hohe Grup­penbindung) sind dagegen mit der Vorstellung verbunden, dass Natur als ein sehr fragiles, durch menschliche Eingriffe stets gefahrdetes System darsteUt (nature ephemeral). ,Jiierarchfschen" Organisationsmustem (hohe Kontrolle und Gruppenbindung) entspricht die Vorstellung, dass Natur ein im groBen und ganzen robustes System ist, das durch unangemessene Inanspruchnahme jedoch auBer Kontrolle geraten und zusammenbrechen kann (nature perverse/tolerant). Dem .fatalistischen " Typus (hohe Kontrolle, geringe Gruppenbindung) schlieB-

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lich erscheint nicht nur die Gesellschaft, sondem auch die Natur als „Lotterie-spiel", als eine vom Zufall regierte Welt {nature capricious). Aus diesen unter-schiedlichen Problem- und Risikowahmehmungen ergeben sich dann ganz unterschiedliche, miteinander konkurrierende Losungsstrategien.

Natiirlich wirft diese Deutung viele Probleme auf; irritierend ist vor allem die vollige Abkoppelung gesellschaftlicher Risikokontroversen von den zugrunde liegenden „realen" Problemen. Eine ahnliche, sozialkonstruktivisti-sche Perspektive verfolgt auch Niklas Luhmann (1986). Sein differenzierungs-theoretischer, funktionalistischer Zugang und sein Verstandnis von sozialen Systemen als selbstreferentiell geschlossene Kommunikationssysteme lenkt das Augenmerk aber auf die unterschiedlichen ,Codes' der Wahmehmung und Bearbeitung von Umweltproblemen in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen - und auf die darin liegenden Grenzen einer problemadaquaten Bearbeitung okologischer Probleme. Ulrich Beck (1986, 1996) sensibilisiert wiederum ftir die institutionellen Effekte der (nicht-intendierten) „Nebenfolgen" industrieller Modemisierung. Er scharft den Blick fiir die Erosion zentraler Leitbilder und Strukturen der modemen Industriegesellschaf und die Herausbil-dung einer neuen, „reflexiven Modeme", ftir die Entstehung neuer Ambivalen-zen, neuer Konfliktlinien und Akteursallianzen in der „Weltrisikogesellschaft" -und fiir die Chancen, die sich daraus fiir neue Politikmuster und nachhaltigere Entwicklungspfade ergeben („Subpolitik", „globaler Verantwortungszusam-menhang").

Diese drei Ansatze konnen als durchaus typisch far den soziologischen Zu­gang zur Umwelt- und Nachhaltigkeitsthematik gelten, auch wenn in der Sozio-logie ein viel breiteres Spektrum an Ansatzen gibt, die fiir die Analyse von Nachhaltigkeitsproblemen und entsprechenden Reformstrategien genutzt wer-den (vgl. u.a. Brand 1997 und 1998, Diekmann/Jager 1996, Gorg 1999, Dun-lap/Michelson 2002). Was die meisten dieser Ansatze auszeichnet ist, dass sie Umweltkontroversen aus der Art ihrer sozialen Einbettung oder ihrer Verkntip-fiing mit bestimmten System- und Entwicklungsdynamiken zu entschliisseln versuchen. Das bleibt tiblicherweise noch sehr allgemein. Inwieweit und in welchen Formen dadurch eine Veranderung gesellschaftlicher Strukturen in Richtung Nachhaltigkeit ermoglicht wird, erschlieBt sich nur auf der Ebene themenspezifischer Analysen.

3 Probleme der „sustainability transition": Ausgewahlte empirische Forschungsfelder

Das Leitbild der „nachhaltigen Entwicklung", das sich in Deutschland nach der Rio-Konferenz 1992 zunachst nur sehr zogerlich, ab Mitte der 90er Jahre dann aber um so rascher verbreitete, fiihrte zu einer erheblichen Umstrukturierung der Umweltdebatte. Die okologische Modemisierungseuphorie, die Ende der

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Innovation fiir Nachhaltige Entwicklung 61

80er Jahre in Deutschland vorherrschte, war im Gefolge der deutschen Vereini-gung und angesichts wachsender sozialer und wirtschaftlicher Probleme rasch verflogen. Umweltpolitisch folgte eine Zeit der Stagnation, die bei NGOs und der Umweltbewegung zu Emuchterung und Desorientierung fuhrte (vgl. Brand et al. 1997). In diese Lticke stieB das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung". Die dadurch ausgeloste strategische Neuorientierung wurde dabei entscheidend sowohl durch das von der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" (1994) entwickelte „Drei Saulen-Modell" als auch durch die in der Wuppertal-Studie „Zukunftsfahiges Deutschland" (BUND & MISEREOR 1996) sinnfallig skizzierten Leitbilder nachhaltiger Entwicklung gepragt (z.B. „gut leben statt viel haben").

Auf welche Variante des Nachhaltigkeitsverstandnisses auch immer Bezug genommen wird: klar ist, dass „nachhaltige Entwicklung" ein umfassenderes Konzept gesellschaftlichen Wandels darstellt als „okologischer Umbau" oder „okologische Modemisierung". So wie es im Brundtland-Report entwickelt und in den zentralen Dokumenten der UNCED-Konferenz in Rio 1992 verankert wurde, verbindet das Leitbild .sustainable development" okologische, soziale, okonomische und politisch-institutionelle Bedingungen einer „zukunftsfahigen" oder „nachhaltigen Entwicklung". Gegeniiber der „alten" Umweltdebatte riickt die Nachhaltigkeitsdebatte die langfristige, intergenerative und die globale Problemperspektive starker in den Vordergrund; und sie misst dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit in der langfristigen Sicherung und der globalen Vertei-lung von Lebenschancen ein wesentlich groBeres Gewicht bei.

All das fuhrte zu einer erheblichen Aufwertung integrativer und partizipati-ver Strategien. Es wurde so zu einer Art Common Sense in der Nachhaltigkeits­debatte, dass nur durch die Bildung neuer Akteursallianzen und Akteursnetz-werke, durch breite gesellschaftliche Beteiligung sowie durch neue komnlunikative Koordinations- und Steuerungsformen nachhaltige Entwicklung vorangetrieben werden konne. Dies ist ein durch und durch optimistisches Re-formprogramm, das sich nicht nur von der radikalen Systemkritik neomarxisti-scher Ansatze (wie z.B. der Regulationstheorie oder radikaler Globalisierungs-kritik), sondem auch vom Politikstil der „politischen Okologie" und der „neuen sozialen Bewegungen" der 1970e und 80er Jahre deutlich unterscheidet.

Auch auf der Ebene der Forschungsforderung (BMBF, EU) wurde auf ein inter- und transdisziplinares Forschungsmodell umgestellt, um integratives, problembezogenes Handlungswissen zu gewinnen.^ Da Umweltsoziologie in Deutschland an Universitaten nur auBerst schwach verankert ist (nur an drei

In der problembezogenen Nachhaltigkeitsforschung geht es, so eine weithin geteilte Einschat-zung, um die Generierung von drei Wissensarten: normatives „Ziel- und Bewertungswissen", empirisch-analytisches „Systemwissen" und gestaltungsorientiertes „Transformationswissen" (CASS/ProClim 1997).

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Oder vier Soziologie-Lehrsttihlen gehort Umweltsoziologie tiberhaupt zum en-geren Lehrkanon), disziplinare Umweltforschung somit auch kaum eine Per-spektive ftir junge Wissenschaftler bietet, waren rasch fast alle Soziologen, die in diesem Bereich (inner- und auBeruniversitar) arbeiteten, in den neuen inter-und transdisziplinaren Verbundprojekten der Nachhaltigkeitsforschung tatig. Auch wenn die reine Projekt- und Drittmittelforschung, bei der ein Projekt das nachste jagt, eine systematische Wissensakkumulation, die Arbeit an der Ver-allgemeinerung heterogener empirischer Befiinde, eher blockiert, so kann die Soziologie inzwischen doch eine ganze Menge an disziplinspezifischen Erfah-rungen und Wissensbestanden in eine integrativ angelegte, problemorientierte Nachhaltigkeitsforschung einbringen.

Das soil hier exemplarisch an drei thematischen Feldem verdeutlicht wer-den , an den Themenbereichen: a) Protestkommunikation & Nachhaltigkeitsdis-kurs, b) Umweltbewusstsein, Umweltverhalten & nachhaltiger Konsum und c) Umweltgerechtigkeit (Environmental Justice).

(a) Protestkommunikation und Nachhaltigkeitsdiskurs

Wird der eingangs skizzierte „strukturationstheoretische" Ansatz Anthony Gid-dens', der den wechselseitigen Konstitutionsprozess von Handlung und Struktur untersucht, mit der Einsicht verkniipft, dass Kommunikation das basale Medium der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit darstellt, so lasst sich Giddens' Ansatz auch symbolisch-interaktionistisch interpretieren. Diese Forschungsper-spektive geht davon aus, dass Menschen auf der Grundlage der jeweiligen „Be-deutungen" handeln, die sie Personen, Situationen, Institutionen, Dingen, Tech-niken, der Natur usw. beimessen, wobei diese Bedeutungen in einem standigen interpretativen Prozess dem jeweiligen Handlungsumfeld angepasst und dabei auch geandert werden (vgl. Joas 1988).

Gesellschaftliche Bedeutungen erlangen im Rahmen von gesellschaftlichen Institutionalisierungs- und Sozialisationsprozessen eine normierende, machtge-stiitzte, ,objektive' Kraft. Sie liefem die Kategorisierungen, mit denen wir uns in der Wirklichkeit orientieren und sie zu gestalten versuchen. Sie bieten aber auch die Legitimationsgrundlagen fiir die bestehenden Institutionen und fur die Sanktionierung und Disziplinierung ,abweichenden' Verhaltens (vgl. Ber-ger/Luckmann 1970). Das heiBt umgekehrt, dass der Wandel von Institutionen die Infragestellung dieser Wirklichkeitsdeutungen und ihrer institutionellen Leitbilder voraussetzt. Das geschieht nicht von selbst. Nur ihre aktive Infrage­stellung in offentlichen Debatten und die erfolgreiche Mobilisierung konkurrie-

^ Ich beziehe mich hier im wesentlichen auf Forschungsstrange, mit denen ich mich in den ver-gangenen zehn Jahren an der Miinchner Projektgruppe ftir Sozialforschung (MPS) beschaftigt habe.

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render Problemdeutungen und Leitbilder kann ihnen die Legitimation entziehen. Das gilt auch flir den Wandel in Richtung Nachhaltigkeit.

Es liegt deshalb nahe, Veranderungsprozesse in Richtung Nachhaltigkeit un-ter einer diskursanalytischen Perspektive zu untersuchen (vgl. Dingier 2003). Was die soziologischen Varianten der Diskursanalyse betrifft (vgl. Keller et. al. 2001), so lassen sich im groBen und ganzen zwei Grundorientierungen unter-scheiden: eine strukturalistische und eine symbolisch-interaktionistische Varian-te. (Post)strukturalistische Ansatze beziehen sich zumeist auf Michel Foucault und riicken den Macht- und Disziplinierungsaspekt von Diskursen in den Vor-dergrund. Obwohl dieser Aspekt auch bei der Nachhaltigkeitsdebatte nicht vemachlassigt werden darf, erscheint mir unter dem Aspekt der Veranderungs-chancen die symbolisch-interaktionistische Variante aufschlussreicher.

Aus dieser Perspektive riickt die interaktive Dynamik der „sozialen Kon-struktion" neuer gesellschaftlicher Deutungsmuster und institutioneller Prakti-ken in den Vordergrund. Diskurse werden dabei als kontrovers strukturierte Felder symbolischer Interaktion verstanden, in denen verschiedene Akteure um die Durchsetzung ihrer jeweiligen Problemdeutungen kampfen. Jede der kon-kurrierenden „Frames" (Gamson 1988) oder „Problemrahmungen" riickt andere Problemursachen, ,Schuldige' und Handlungsnotwendigkeiten in den Vorder­grund. Das ist immer mit der Privilegierung bestimmter Interessen, Akteure und institutioneller Praktiken und der gleichzeitigen Delegitimierung anderer Inte­ressen, Akteure und institutioneller Praktiken verbunden. Fiir die offentliche Durchsetzung bestimmter Problemdeutungen spielen resonanzfahige „story lines" (Hajer 1995), d.h. einfach strukturierte „Erzahlungen", die in der verwir-renden Vielfalt der Argumente Ordnung schaffen, eine zentrale Rolle. Solche „story lines" bilden den „diskursiven Zement" fiir die Bildung neuer „Diskurs-koalitionen" zwischen Akteuren, deren Uberzeugungen und Problemwahmeh-mungen sich ansonsten nur in Teilbereichen uberlappen (ebd.).

Auch in der Nachhaltigkeitsdebatte lassen sich solche konkurrierenden Rahmungen und „story lines" identifizieren. Nachhaltige Entwicklung ist, trotz der breiten rhetorischen Zustimmung zu diesem Leitbild, ein in mehrfacher Hinsicht unscharfes, kontrovers interpretiertes Konzept, hinter dem unterschied-liche Welt- und Naturbilder, unterschiedliche Interessen und unterschiedliche Modelle einer „guten Gesellschaft" stehen, aus denen sich auch unterschiedliche Nachhaltigkeitsstrategien ergeben. Diese ringen in der (fach)offentlichen Debat-te um gesellschaftliche Akzeptanz und Hegemonic.

In einer empirischen Studie wurde Mitte/Ende der 1990er Jahre die kontro-verse Struktur der deutschen Nachhaltigkeitsdebatte untersucht (Brand/Jochum 2000). Die unterschiedlichen Positionen und „Rahmungen" lieBen sich dabei in einem Feld verorten, das durch zwei Achsen aufgespannt wird: Die vertikale Achse bezeichnet unterschiedliche Gesellschaftsverstdndnisse. Hier stehen sich die beiden Pole „marktliberales'' und „egalitdres GesellschaftsmodelV gegen-

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iiber. Sehen Verbandsver t re ter der Wirtschafl im Wir tschaf tswachstum, in der freien Entfaltung einer globalisierten Marktwirtschaft und der Liberal is ierung des Wel thandels zumeis t die entscheidende Vorausse tzung fiir nachhal t ige Ent-wicklung, so sehen entwicklungspol i t ische Gruppen darin gerade das Gegentei l . Fiir sie stellen die Herrschaftsstrukturen und die Dynamik des globalen Kapi ta-l ismus den zentralen Motor einer nicht-nachhal t igen Entwicklung dar. Gefordert wird deshalb vor al lem eine neue , gerechtere Weltwir tschaf tsordnung. Die hori-zontale Achse bezeichnet demgegeni iber unterschiedl iche Konzep te gesell-schaftlicher Naturbeziehungen. Hier stehen sich „technozentristische" und „ okozentristische " Posi t ionen polar gegeniiber. Wahrend auf der okozentr is t i -schen Seite eine Hal tung vertreten wird, die ,Respekt vor der Na tu r ' und statt ,gewal t samer ' , technischer Eingriffe eine sanfte ,Anpassung an die Kreislaufe der Na tu r ' fordert, vertreten Gruppen, die d e m technozentr is t ischen Pol naher stehen, die Posit ion, dass technische Innovat ion die entscheidende Bed ingung fiir nachhal t ige Entwicklung darstellt. Abbi ldung 8 zeigt, wie sich die in der deutschen Debat te dominanten Rahmungen nachhal t iger Entwicklung in d iesem Koordinat ionssys tem verorten.

MarktliberalesGesellschaftsmodell

•;*technische Innovation"

Techno-zentrismus

<•-

„okologis'b ie Modemisierun^"

„Drei-Saulen Modell"

Oko-zentrismus;

„Neue,a»Wohl-•staH smodell"

„Neue Weltwirt­schaftsordnung"

Egalitares Gesellschaftsmodell

Abbildung 8: Dominante Rahmungen im deutschen Nachhaltigkeitsdiskurs

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Innovation fur Nachhaltige Entwicklung 65

Die Gewichte in dieser Debatte konnen sich durchaus verschieben. Was aus dem Leitbild nachhaltiger Entwicklung gemacht wird, ist ein - in Grenzen -offener Prozess, der von der Dynamik offentlicher Problem- und Risikodiskurse aber auch davon abhangt, welche konkreten, positiven Visionen und Konzepte einer nachhaltigen Emahrung, Mobilitat oder Energieversorgung sich in der Offentlichkeit durchsetzen. Was hier in den Mittelpunkt riickt, ist die Tatsache, dass es in der Nachhaltigkeitsdebatte nicht nur um die Entwicklung geeigneter Win-Win-Strategien oder den Einbau einiger innovativer Organisationsmodule in den gesellschaftlichen Gesamtmechanismus, sondem um die konflikthafte Gestaltung umfassender Normbildungsprozesse, um die Restrukturierung ge-sellschaftlicher Wirklichkeitsdeutungen und Leitbilder geht.

An diese Einsicht lassen sich auch die Erkenntnisse des soziologischen Ne-oinstituionalismus bruchlos anschlieBen (vgl. March/Olson 1989, Mau-rer/Schmid 2002, Powell/DiMaggio 1991). Ich beziehe mich dabei weniger auf die - auBerst fruchtbaren - Konzepte des „organisationalen Feldes", des „Iso-morphismus" und des „institutionellen Entrepreneurs", sondem primar auf die These, dass Organisationen, um ihr Uberleben zu sichem, in hohem MaBe die Legitimationsanforderungen ihrer organisationsrelevanten Umweh inkorporie-ren - und zwar insbesondere auf der symbolischen, zeremoniellen, kommunika-tiven Ebene (Meyer/Rowan 1977/1991). Das unterstreicht die Bedeutung des offentlichen Diskurses und der Institutionalisierung bestimmter Leitbilder und Verhaltensnormen.

Fiir die soziologische Nachhaltigkeitsforschung ergibt sich daraus nicht nur eine analytische sondem auch eine gestaltungsorientierte Aufgabe. Um trotz der gesellschaftlichen Pluralitat konkurrierender Positionen und Wertbeztige in der Nachhaltigkeitsdebatte zu kooperativen Losungen zu kommen, ist es hilfreich, die Einsicht in die soziale Konstmktion von (problembezogenen) Nachhaltig-keitskonzepten auch fur reflexive Klamngsprozesse der implizierten Interessen, Denkstile, Deutungs- und Bewertungsmuster zu nutzen. Das lauft auf metho-disch fundierte dialogische Verfahren der Politikgestaltung hinaus, etwa in der Form, wie sie Renn (2002) als sequentielle Abfolge von „Wissensdiskurs" (auf der Ebene von Experten), „Bewertungsdiskurs" (mit organisierten gesellschaft­lichen Gmppen) und „Reflexionsdiskurs" (mit betroffenen Biirgem) vorschlagt. Fiir jede dieser Diskursebenen liegt eine Fulle erprobter dialogischer Verfahren vor. Diese werden bisher allerdings fast nur auf der lokalen Ebene (z.B. im Rahmen von Lokalen Agenda 21-Prozessen) genutzt.

Thomas Beschomer und seine Mitautoren aus der SOF-Nachwuchsgruppe GELENA haben eine sehr aufschlussreiche Studie vorgelegt, die das Instrumentarium des soziologischen Neoinstitu-tionaUsmus fur die Frage der „Institutionalisierung von Nachhahigkeit" (Beschomer et al. 2005) in verschiedenen Bediirfnisfeldem systematisch genutzt hat.

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(b) Umweltbewusstsein, Umweltverhalten & nachhaltiger Konsum

Der Bereich ,Umweltbewusstsein, Umweltverhalten, nachhaltige Lebensstile' ist eines der klassischen Felder der Umweltsoziologie. Die Verschiebung hin zur Nachhaltigkeitsdebatte hat an den Befiinden dieser Forschung nicht allzu viel geandert; gestiegen ist nur die Komplexitat und die Diffusitat des normati-ven Bezugspunkts. Impliziert ein „nachhaltiger" Lebensstil oder „nachhaltige Konsummuster" doch nicht nur die Berucksichtigung der okologischen, sondem auch der sozialen und wirtschaftlichen Implikationen des Kaufs, der Nutzung und der Entsorgung von Produkten und Dienstleistungen entlang des gesamten Produktlebenszyklus. In der Praxis kann diese Vision - schon allein deshalb, weil einfache, sinnfallige, komplexitatsreduzierende Symbole nachhaltigen Konsums nur in wenigen Fallen vorliegen - immer nur als schrittweise Annahe-rung realisiert werden, wobei die Kriterien nachhaltigen Konsums in vielen Fallen (z.B. Kauf von regionalen Produkten) selbst noch unscharf und mit Ziel-und Abwagungskonflikten verkniipft sind. Empirisch lautet die Frage somit immer, welche Faktoren umweltfreundlichere oder nachhaltigere Verhaltens-und Konsummuster hemmen oder fordem (unter der Voraussetzung, dass zu-mindest uber die Art und die Richtung der jeweils geforderten Verhaltensande-rung ein gewisser Konsens besteht).

In der Soziologie werden dabei, im Unterschied zur Psychologic, weniger die Einflussfaktoren individueller Verhaltensbereitschaft, als vielmehr der so-ziale (sozio-technische, sozialstrukturelle, sozio-kulturelle) Handlungskontext untersucht, in dem sich umweltbezogene Einstellungen, normative Verhaltens-standards, Konsumstile, Alltagsarrangements und Handlungsrroutinen heraus-bilden.

Unterstellen wir einmal, dass Frau M oder Herr F ihr Konsumverhalten in der einen oder anderen Hinsicht tatsachlich umweltfreundlicher oder „nachhal-tiger" gestalten wollen (und dem verschlieBt sich alien Umfragen zufolge nur ein kleiner Prozentsatz der deutschen Bevolkerung), so stoBt sic oder er zu-nachst einmal auf typische Barrieren. Genannt werden immer wieder Wahrneh-mungsprobleme (aufgrund der hochgradig vermittelten Effekte des eigenen Umweltverhaltens und der selektiven massenmedialen Darstellung von Nach-haltigkeitsproblemen), Informationsprobleme (fehlende oder widerspriichliche, iiberkomplexe Informationen, wenig handlungsrelevante Information tiber Al-temativen), die Widerspruchlichkeit kultureller Werte, infrastrukturelle und alltagspraktische Barrieren (Preis, erhohter Aufwand, mangelhaftes Angebot usw.) und typische sozial-okologische Dilemmata („warum soil gerade ich der Dumme sein?").

Die vielzitierte Kluft zwischen Umweltbewusstsein und Umwelthandeln ist so nicht weiter verwunderlich (vgl. de Haan/Kuckartz 1996, Preisendorfer 1999: 72ff.). Verwunderlich ist auch nicht der andere, ebenso haufig zitierte

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Innovation fur Nachhaltige Entwicklung 67

Befund der Inkonsistenz, des „Patchwork-Charakters " umweltbezogenen Han-delns (Reusswig 1994). So spielen Umweltgesichtspunkte in unserem Konsum-verhalten, beim Kauf von Lebensmitteln, von Kleidem oder von langlebigen Konsumgiitem, beim Wasser- und Energieverbrauch, beim Miilltrennen oder in unserem Mobilitatsverhalten meist eine sehr unterschiedliche Rolle. Manche Verhaltensaspekte werden dabei subjektiv als hoch bedeutsam herausgegriffen; andere, okologisch vielleicht wesentlich relevantere Bereiche, werden nahezu ausgeblendet. Diekmann/Preisendorfer (1992) interpretieren diesen Sachverhalt - aus der Perspektive der okonomischen Kosten-Nutzen-Theorie - mit der „Low Cost/High Cosf'-Hypothese. Das ist durchaus plausibel. Aufwand und Kosten ist aber nicht alles.

Erhohter Aufwand und Kosten werden, je nach „Umweltmentalitat", unter-schiedlich interpretiert; sie konnen sowohl als Entlastung von eigenem, aktivem Handeln oder aber auch als personliche Herausforderung verstanden werden (Poferl et al. 1997). Die wahrgenommene Dringlichkeit der Probleme, die Zu-rechnung von Verantwortlichkeit, die (wahrgenommene) Prasenz von Hand-lungsaltemativen, die jeweilige Wertorientierung - all dies modifiziert die Be-deutung der alltagspraktischen Hemmnisse nachhaltigen Konsums. Hinzu kommt, dass die jeweiligen Konsumentscheidungen, die An- oder Abschaffung von Autos, der Kauf oder Nichtkauf von Bio-Lebensmitteln, die Wahl des Ur-laubsortes usw. iiblicherweise immer erst zwischen den Anspriichen und Be-dtirfnissen verschiedener beteiligter Personen, insbesondere zwischen den Haushaltsmitgliedem, ausgehandelt werden mtissen (Lange 2002, Lan-ge/Warsewa 2005). Die Notwendigkeit, zwischen verschiedenen Anspriichen und Zielen Kompromisse zu fmden, gilt gleichermaBen fiir Konsumentschei­dungen offentlicher Trager oder privater Institutionen. Konsum hat nicht zuletzt eine hohe symbolische Bedeutung fflr den eigenen Lebensstil, fur soziale In­tegrations- und Distinktionsprozesse erlangt (Ludtke 2000, Wiswede 2000). Ohne die Beriicksichtigung dieser sozialen Kontexte und symbolischen Bedeu-tungszusammenhange von Konsum laufen Bemiihungen um eine Veranderung von Konsummustem ins Leere.

Diese Einsicht hat der Diskussion um zielgruppenspezifische Okologisie-rungsstrategien starken Auftrieb verliehen. Dazu wurden marktgangige Le-benstil-Typologien wie z.B. das SINUS Modell verwendet (vgl. ECOLOG-Institut 1999) oder auch eingestandige, z.T. auch bediirfnis- oder handlungs-feldspezifische Konsumstil-Typologien entwickelt (vgl. Empacher et al. 2002, Gotz et al. 1997). Auch wenn der Erfolg dieser Strategien bisher bescheiden ist, was wesentlich mit den Problemen eines Nachhaltigkeitsmarketing zu tun hat (vgl. Brand et al. 2003), so geht es hier doch immer darum, die jeweils gegebe-nen selektiven Ankniipfungsmoglichkeitenfiir Diffusionsstrategien nachhaltigen Konsums zu nutzen. Das ergibt zwar alles kein in sich konsistentes Muster nachhaltigen Konsums. Auch der Trend zur fortschreitenden Kommerzialisie-

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rung von Bediirfnissen, zu einem immer differenzierteren, an die Auffacherung von Lebensstilen, Subkulturen und modischen Trends gekntipften Erlebnis- und Markenkonsum, ist ungebrochen. Aber es konnte doch - ohne den Aufwand einer „heroischen" Entscheidung zugunsten eines anderen, nachhaltigen Le-bensstils - erhebliche Nachhaltigkeitspotentiale erschlieBen.

Wahrend dieser Zugang zu Fragen nachhaltigen Konsums stark durch sozio-logische Lebensstil- und Milieuanalysen gepragt ist (vgl. Bourdieu 1992, Schul-ze 1992), so wurde in der angelsachsischen Debatte von verschiedenen Sozio-logen ein anderer, nicht minder wichtiger Aspekt nachhaltigen Konsums in den Vordergrund gerlickt: die Formen des „inconspicuous" oder „ordinary con­sumption" (vgl. Gronow/Warde 2001, Shove/Warde 2002). Hier geht es weni-ger um die stilisierungsfahigen, sondem um die alltaglichen Bereiche von Kon-sum (wie Wohnen, Heizen, Waschen, Nahrungszubereitung, usw.), die in starkem MaBe durch technische Versorgungssysteme gepragt sind. Konsum-muster sind in diesen Bereichen nicht nur hochgradig routinisiert; die Gestal-tungsmoglichkeiten der Konsumenten beziehen sich hier meist auch nur auf periphere Aspekte. Die Veranderung von Konsummustem muss somit nicht nur ihre soziale, sondem auch ihre technische Einbettung berticksichtigen.

Damit gewinnt die generelle Einsicht an Gewicht, dass sich Konsumenten in einem komplexen, durch technische Systeme, infrastrukturelle Bedingungen, Marktangebote, Haushaltseinkommen, soziale Standards, Gruppennormen und Alltagsarrangements strukturierten Rahmen bewegen, der sich durch eindimen-sional ansetzende MaBnahmen oder Okologisierungsstrategien kaum verandem lasst. Dieser Rahmen wird zwar durch den stetigen Einbau neuer Produkte und Dienstleistungen in die jeweiligen Alltagsroutinen, durch die Verbesserung oder Verschlechterung infrastruktureller Angebote, durch biographische Umbriiche und den Wechsel des sozialen Umfelds immer wieder modifiziert. In fast alien Fallen ist individuelles Konsumverhahen aber an technische Funktionssysteme angekoppelt und in hochgradig differenzierte, global vemetzte Produktions- und Distributionsketten eingebunden.

So werden bspw. unsere aktuellen Emahrungsgewohnheiten und unsere Er-wartungen an Lebensmittel ganz entscheidend durch die Industrialisierung und Massentierhaltung der modemem (konventionellen) Landwirtschaft gepragt, durch immer groBere, den ganzen Globus umspannende Verarbeitungstiefen der Lebensmittelherstellung, durch modeme Formen des Food Design, die fort-schreitende Diversifizierung des Sortiments, den starken Preiswettbewerb im Lebensmitteleinzelhandel usw. - aber auch durch die diesem System inharenten Risiken und Lebensmittelskandale (vgl. Tappeser et al. 1999, Vinz 2005). Ef-fektive Veranderungen unsere Konsummuster sind deshalb auch nur dann zu erwarten, wenn die verwendeten Steuerungsinstrumente die ftir die jeweiligen Konsumpraktiken im Alltagskontext typischen Kopplungen von technischen.

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okonomischen, sozialen und kulturellen System- und Bedeutungszusammen-hangen berticksichtigen.

(c) Umweltgerechtigkeit (Environmental Justice)

Ftir die soziale Resonanz von Steuerungsinstrumenten ist dariiber hinaus das Kriterium der „Faimess", die Beriicksichtigung der Kriterien der „Zumutbar-keit" entscheidend. Bin wesentlicher Aspekt dieser Zumutbarkeit ist die gerech-te bzw. als gerecht empfundene Verteilung von Umweltbelastungen und Um-weltnutzungsmoglichkeiten.

Ausloser der Debatte um Umweltgerechtigkeit ist die „environmental justi-ce"-Bewegung, die sich Ende der 1970er Jahre in den USA vor dem Hinter-grund einiger stark beachteter Falle ethnischer und sozialraumlicher Kumulation von Umweltbelastungen formierte (vgl. Cole/Foster 2001). „Black, brown, poor, and poisened" war die Formel, mit der die Aktivisten den „Umweltrassis-mus" der gangigen Verteilung von Umweltbelastungen anprangerten. „Envi-ronmental justice" ist - zumindest in den USA - inzwischen zum offiziellen politischen Programm geworden (vgl. Agyeman 2000). Neu ist daran, im Ver-gleich z.B. mit den Debatten der deutschen Umweltbewegung, nicht nur die systematische Verknupfung von Umweltproblemen und sozialer Ungleichheit (Verteilungsgerechtigkeit), sondem auch die Verknupfung mit den btirgerrecht-lichen Prinzipien des freien Zugangs zu Information und der fairen Beteiligung der potentiell Betroffenen an entsprechenden Planungs- und Entscheidungspro-zessen(Verfahrensgerechtigkeit).

Wahrend in den USA die ethnische bzw. rassistische Komponente im Vor-dergrund der environmental justice-Bewegung steht, ist das allgemeinere Prob­lem die iiberproportionale Belastung sozial benachteiligter Regionen und Be-volkerungsgruppen durch Umweltrisiken und Umweltschaden. Diese Zusammenhange wurden insbesondere von der Public Health-Forschung fiir die westlichen Industriestaaten vielfach bestatigt (vgl. Bolte/Mielck 2004). Aber sie spielen nattirlich auch in weniger industrialisierten Teilen der Erde eine zentrale Rolle (vgl. Adeola 2000)

Im Rahmen der Debatte um nachhaltige Entwicklung und des Rio-Nachfolgeprozesses riicken dann andere Aspekte der Umweltgerechtigkeit star­ker in den Vordergrund, insbesondere die Frage der gerechten Verteilung von Ressourcen, von Umweltnutzungsmoglichkeiten und Emissionsrechten Diese Themen werden in der Umweltokonomie wie in der Umweltpolitik seit lange-rem intensiv bearbeitet. In der deutschen Umweltsoziologie blieben sie dagegen langere Zeit etwas unterbelichtet.

Nun ist die Frage sozialer Ungleichheit zwar ein, wenn nicht gar das Kem-thema der Soziologie. Allerdings hat sich der Fokus der soziologischen Un-gleichheitsdebatte seit den achtziger Jahren von vertikalen hin zu horizontalen

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Formen sozialer Differenzierung, also von „Klassen" und „Schichten" hin zu „Milieus" und „Lebensstilen" verschoben. Das gilt in besonderem MaBe fur die deutsche Soziologie. Als dann die Umweltfrage Anfang der neunziger Jahre in der Soziologie hoffahig wurde, wurde der Anschluss an diese Lebensstilkonzep-te gesucht, um die Pluralitat der lebensweltlichen Verarbeitungsformen der Umweltproblematik aufzuzeigen oder zielgruppenspezifische Okologisierungs-strategien zu entwickeln. Die Fokussierung auf kulturelle Differenzen lieB aber das eigentliche Thema sozialer Ungleichheit und Umweltgerechtigkeit in den Hintergrund treten.

Dieser Trend wurde durch den praktischen Diskurs der Umweltbewegung, der sich auf groBtechnische Risiken, auf die Neudefinition des Verhaltnisses von Gesellschaft und Natur, auf Fragen der okologischen Modemisierung mo-demer Industriegesellschaflen konzentrierte, noch erheblich verstarkt. Theore-tisch reflektiert sich dieser okologische Diskurs auch in Ulrich Becks Konzept der „Risikogesellschaft". Wie erwahnt, konzentriert sich Beck auf die neuen „Modemisierungsrisiken", die - so eine viel zitierte Passage - einen „Bume-rang-Effekt (enthalten), der das Klassenschema sprengt. Auch die Reichen und Machtigen sind vor ihnen nicht sicher . (...) Auf eine Formel gebracht: Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch"(BQQk 1986: 29f).

Die suggestive Kraft nicht nur dieser Formel (die freilich nie als emsthafte, empirische Bestandsanalyse des Zusammenhangs von sozialen Ungleichheiten und okologischen Belastungen gedacht war), sondem des Beckschen Ansatzes iiberhaupt, verdrangt Verteilungs- und Ungleichheitsfragen fiir einige Jahre aus der deutschen Umweltsoziologie. Indem Beck die Aufmerksamkeit aber gleich-zeitig auf die Rolle von Unsicherheit und Nicht-Wissen in den offentlichen Risikokonflikten lenkt, fSrdert sein Ansatz die in der Nachhaltigkeitsdebatte generell vorherrschende Fokussierung auf Partizipationsaspekte und Verfah-rensgerechtigkeit (vgl. u.a. Minsch et al. 1998).

Nachdem sich inzwischen der Nebel okologischer Schlachten gelichtet hat und die gesellschaftliche Sprengkraft der okologischen Frage wieder etwas niichtemer betrachtet wird; nachdem auch die Frage sozialer Ungleichheit im Gefolge der wirtschaftlichen Globalisierung und des Umbaus sozialer Siche-rungssysteme erheblich an Aktualitat gewonnen hat, erhalt die Frage der Um­weltgerechtigkeit auch in der Umweltsoziologie wieder einen hoheren Stellen-wert. Dass es bisher z.B. im Rahmen der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie nicht gelungen ist, die Nachhaltigkeitsdebatte systematisch mit den zentralen Reformdebatten tiber den Umbau des deutschen Sozialstaats zu verkniipfen, ist ein zentrales Defizit dieser Debatte - und beeintrachtigt die Chancen fiir eine nachhaltigkeitsorientierte Reformpolitik erheblich. Solange „neue Wohlstands-modelle" in der Nische der postmaterialistischen Suffizienzdebatte verbleiben, wird sich kein fiir breitere Krise attraktives Modell „nachhaltiger Wohlfahrt" durchsetzen konnen. Solche altemativen Visionen oder Modelle bedtirfen dann

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allerdings auch iiberzeugender Umsetzungsinstrumente - und ein fundiertes soziologisches Wissen iiber die alltagspraktischen Realisierungsmoglichkeiten und soziokulturellen Resonanzen der verschiedenen Modelle „nachhaltiger Lebensflihrung" (Brandl/Hildebrandt 2002, Spangenberg 2003, VoB/Weihrich 2002)

Festzuhalten ist so zum einen, dass sich mogliche Veranderungen individu-eller und koUektiver Praktiken in Richtung Nachhaltigkeit immer „im Kontext von sozial ungleich verteilten Ressourcen (okonomisch, politisch, kulturell) und Machtasymmetrien" vollziehen und deshalb „als konfliktueller sozialer Prozess gesehen werden" miissen (Heinrichs u.a. 2004: 53f; so auch Lange 2000). Dies gilt fur den privaten Alltagskontext wie fur Untemehmen, staatliche Verwaltun-gen Oder intemationale Regime. Zum anderen machen die theoretischen und empirischen Studien zu „environmental justice" deutlich, dass sich Umwelt-oder Nachhaltigkeitsinnovationen im gesellschaftUchen Bereich - aufgrund der Verteilungsimplikationen bestimmter Umweltnutzungen, ihrer Relevanz fiir Lebensstandard und Lebensqualitat - nur in enger Verkniipfung mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der prozedualen Fairness durchsetzen lassen. In diesem Zusammenhang spielen dann unterschiedhche, gruppenspezifische Fair-ness-Konzepte, unterschiedhche Vorstellungen von „Zumutbarkeit" und einer „fairen" Verteilung von Umweltbelastungen, Nutzungs- und Vorsorgemoghch-keiten, wie sie u.a. von der Cultural Theory oder von der Lebensstil- und Mi-lieuforschung untersucht werden, eine wesentliche RoUe (vgl. Rink 2002, Thompson/Rayner 1998).

4 Resiimee

Ich mochte an dieser Stelle den - notgedrungen sehr kursorischen - Uberblick tiber soziologische Zugange zur Nachhaltigkeitsthematik und zu den fordemden und hemmenden Faktoren einer „sustainability transition" (Parris 2003) abbre-chen. Ich habe z.B. nicht tiber die Effekte struktureller Entwicklungstrends wie Globalisierung, Entwicklung der Informations- und Wissensgesellschaft, Struk-turwandel der Arbeit, Individualisierung, demographischer Wandel etc. auf die Gestaltungschancen nachhaltiger Entwicklung gesprochen (vgl. Brand 2000b). Auch nicht tiber die Befunde der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, dass kooperative Netzwerke, die „leaming by interacting" ermoglichen, eine zentrale Bedeutung fiir erfolgreiche Innovationsstrategien besitzen, auch fur solche, die einen Kurswechsel in Richtung nachhaltiger Entwicklung anstreben (vgl. Blattel-Mink 2006, Kowol/Krohn 1997, Lundvall 1992). Aber dieser Dis-kussionsstrang ist in der betriebswirtschaftlichen und umweltokonomischen Innovationsforschung ohnehin gut verankert. Erwahnt wurde auch nicht die soziologische Forschung zu Global Change-Problemen, zur komplexen Interak-tionsdynamik von sozialen und nattirlichen Prozessen etwa im Rahmen der

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„Syndromforschung", die Aufschltisse tiber die kritischen Variablen liefem kann, an denen angesetzt werden musste, um Entwicklungsdynamiken in eine nachhaltigere Richtung umzupolen (vgl. Reusswig 1999 Schellnhuber et al. 1997). Diese und viele andere Forschungsstrange (etwa zu den Bedingungen nachhaltiger Stadt- und Regionalentwicklung) konnen hier nicht naher beleuch-tet werden.

Welche generellen Schlussfolgerungen lassen sich aus den skizzierten An-satzen ziehen? Was ist der spezifische Beitrag der Soziologie zum Thema „sustainability transition" und gesellschaftliche Nachhaltigkeitsinnovationen?

Insgesamt tut - oder tat - sich die Soziologie mit der Umwelt- und Nachhal-tigkeitsthematik aufgrund ihrer Fokussierung auf das Soziale etwas schwer. Soziologen fuhlen sich daruber hinaus in ihrer groBen Mehrheit einer kritisch-distanzierten Beobachterperspektive verpflichtet und lassen sich ungem auf eine politisch-normative Programmatik ein. Soweit sich die Soziologie trotzdem in der Nachhaltigkeitsforschung engagiert, kann sie eine Reihe von Einsichten in die Chancen gesellschaftlicher Transformationsprozesse in Richtung Nachhal-tigkeit beisteuem.

Ihr Schwerpunkt liegt dabei zum einen auf der Analyse „sozialer Konstruk-tionsprozesse" unterschiedlicher Weltbilder, Risikowahmehmungen, Problem-deutungen und Handlungspraferenzen in der Nachhaltigkeitsdebatte; das fordert reflexives „Bewertungswissen" und legt dialogisch-partizipative Transformati-onsstrategien nahe - ohne dabei der Illusion einer grundsatzlichen rationalen Verstandigungsfahigkeit der beteiligten Akteursgruppen aufzusitzen. Der ande­re Schwerpunkt ist die Analyse komplexer Verkettungen individueller oder kollektiver Handlungsweisen mit systemischen Entwicklungsdynamiken und den daraus erwachsenden emergenten Strukturen (mit ihrer spezifischen Ge-mengelage von intendierten und nicht-intendierten Folgen). Diese Analyse kann aus einer Makro-, aber auch aus einer Mikroperspektive geschehen, die wider-sprtichliche, gesellschaftliche Wandlungsprozesse in Organisationen oder in den Formen alltaglicher Lebensfiihrung ins Auge fasst. Die besondere Starke sozio-logischer Perspektiven kommt immer dann zum Tragen, wenn die jeweilige Verkettung der Dynamiken der (inter)subjektiven, sinnorientierten Handlungs-ebene mit den Dynamiken der System- und Strukturebene aufgezeigt werden kann; aus sozial-okologischer Perspektive gehort dazu auch die Verkniipfting mit technischen und okologischen Systemdynamiken. Unter dem Gestaltungs-oder Transformationsaspekt ist es dann das Ziel oder zumindest der Anspruch soziologischer Nachhaltigkeitsforschung, Ansatzpunkte fur eine gezielte Beein-flussung dieser Entwicklungsdynamiken aufzuzeigen, die die Komplexitat die-ser Verkettungen, die jeweiligen sozialen und sozio-technischen Einbettungen nicht-nachhaltiger Praktiken, in hinreichendem MaBe benicksichtigen.

Betrifft dies den epistemologischen Aspekt soziologischer Nachhaltigkeits-und Transformationsforschung, so lassen sich aus den skizzierten Diskussions-

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strangen auch einige inhaltliche Schlussfolgerungen fiir die Chance gesell-schaftlicher Nachhaltigkeitsinnovationen ableiten.

1. Kulturell oder diskursanalytisch orientierte Ansatze der sozialwissenschaft-lichen Nachhaltigkeitsforschung machen deutlich, dass die Art der offentli-chen Problemrahmung einen zentralen Stellenwert fiir die Chancen eines gesellschaftlichen Strukturwandels in Richtung Nachhaltigkeit besitzt. Es ist m.E. ein entscheidendes Defizit der deutschen Nachhaltigkeitsdebatte, dass es ihr bislang kaum gelungen ist, dem Leitbild der nachhaltigen Ent­wicklung einen zentralen Stellenwert fiir die derzeit laufenden Reformde-batten (z.B. um den Umbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme) zu ver-schaffen. Die regulative Idee der Nachhaltigkeit bleibt gegeniiber den meisten dieser Debatten marginal. Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie hat in dieser Hinsicht bisher keine wesentlichen Verbesserungen gebracht.

2. Die Forderung nach einem integrierenden Rahmen, der es erlauben wiirde, das widerspriichliche, halbherzige „muddling through" der vorherrschenden Nachhaltigkeitspolitiken, die Vielzahl heterogener Forderansatze, Pro­gramme und Initiativen, die durch ebenso viele gegenlaufige Programme wieder konterkariert werden, zielgerichtet zu biindeln und zu synchronisie-ren, ergibt sich auch aus den Studien zu nachhahigem Konsum. Alle Bemu-hungen um eine Verbreitung nachhaltiger Konsummuster erreichen nur dann eine kritische GroBe und lassen sich nur dann stabilisieren, wenn ein GroBteil der relevanten Einflussfaktoren und Steuerungsinstrumente in die gleiche Richtung zielt und eine entsprechende Passung aufweist.

3. Dass Fortschritte in diese Richtung kaum zu verzeichnen sind, hat nicht nur damit zu tun, dass vom kurzatmigen, von akuten Problemen, Medienschlag-zeilen und parteipolitischen Profilierungszwangen getriebenen politischen Alltagsgeschaft keine konsequente, an langfristigen Vorsorgeprinzipien und integrativen Problemlosungen orientierte Politik der Nachhaltigkeit zu er-warten ist. Das erfordert neue institutionelle Zuschnitte der Problembearbei-tung. Tendenzen in diese Richtung sind durchaus erkennbar, wenn auch nur liber langere Zeitraume hinweg.

Der hochgradig inkrementelle, widerspriichliche Charakter der Nachhal-tigkeitsprozesses hat aber auch damit zu tun, dass das Ziel „nachhaltiger Entwicklung" auf einer sehr generellen Ebene zwar weitgehend geteih, im Konkreten aber doch sehr unterschiedlich interpretiert und mit z.T. gegen-satzlichen Strategien verfolgt wird (wenn die Bezugnahme nicht ganzlich auf der rhetorischen Ebene verbleibt). Der gemeinsame Bezug auf dieses Leitbild andert wenig an der Heterogenitat gesellschaftlicher Interessen, an den Machtstrukturen, okonomischen Abhangigkeiten und sozialen Un-gleichheiten im nationalen wie im intemationalen Kontext. Neu ist nur, dass der Kampf gegensatzlicher Interessen und Gesellschaftsentwtirfe auf einem

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neuen Terrain ausgetragen wird, das die Anerkennung bestimmter normati-ver Anspriiche und bestimmter Problemlagen als regelungsbediirftiger kol-lektiver Probleme impliziert. Diese Verschiebung des diskursiven und insti-tutionellen Handlungsterrains bietet allerdings auch Chancen fur die Verschiebung von Machtgefugen, fiir die Einflussnahme und Mitsprache neuer Akteursgruppen und fur die Entwicklung neuer Modelle und Strate-gien gesellschaftlicher Problemlosung. Das ist nicht gering zu veranschla-gen.

Entwicklungsschiibe in diese Richtung sind allerdings weniger vom in-krementalistischen Alltagsgeschaft als von katastrophischen Ereignissen und Skandaldiskursen zu erwarten, die etablierte Praktiken delegitimieren und Chancen fur eine radikaleren Kurswechsel eroffnen. Dass sie genutzt werden konnen, setzt voraus, dass Gegenmodelle, dass Wissen, Erfahrung und infrastrukturelle Netzwerke altemativer, nachhaltigerer Praktiken be-reits vorliegen, auch wenn sie bisher nur in der Nische existierten. Solche Gelegenheitsfenster schlieBen sich aber wieder nach kurzer Zeit. Radikale Kurswechsel stoBen nicht nur auf den Widerstand etablierter Interessenge-fuge; sie werden auch durch Abhangigkeiten von den bestehenden Technik-und Sachstrukturen, durch ungleiche Marktmacht und durch die Einbindung in die Systeme der Mehrebenenpolitik erschwert.

4. Um so wichtiger ist es, bei alien strategischen Schritten und Steuerungs-maBnahmen ihre Anschlussfahigkeit an die Handlungsrationalitaten der in-volvierten institutionellen Akteure und an die lebensweltlichen Erfahrungs-horizonte und BewertungsmaBstabe einer breiteren Offentlichkeit sicher zu stellen (auch und gerade wenn kontroverse Entscheidungen getroffen wer­den). Das setzt weitgehende Partizipation bei der Formulierung entspre-chender Leitbilder, Ziele und UmsetzungsmaBnahmen voraus. Ein zentraler Punkt ist dabei, die jeweiligen Kriterien von Fairness und Gerechtigkeit zu beachten. Das ist das entscheidende Kriterium, an dem sich die Akzeptanz Oder Nicht-Akzeptanz „nachhaltiger" Strukturreformen entscheidet.

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Innovative Informations- und Kommunikationstechnik ermoglicht Sustainability - eine unternehmenspraktische Perspektive

Reinhard Hohn/ Siegfried Pongratz/ Mario Tobias

1 Einfiihrung

Es ist ahnlich wie bei den grofien Themen Klimaschutz, demografische Ent-wicklung Oder Umbau des Bildungssystems: Forschung und Wissenschaft ha-ben umfangreiche Hintergriinde, Zusammenhange und Auswirkungen der rele-vanten Trends beschrieben. Reformideen und MaBnahmenpakete sind in vielen Fallen bekannt, indes lasst breites und konsequentes Handeln der Politik und/oder Gesellschaft viel zu lange auf sich warten.

Auch iiber „Nachhaltigkeits-Innovationen" liegt bereits umfangreiches Wis-sen vor. Zahlreiche Forschungsprojekte haben die - insbesondere okologische -Vorteilhaftigkeit einer nachhaltigen Wirtschaftsweise an verschiedenen Fallbei-spielen aufgezeigt (vgl. u. a. die Ergebnisse diverser Forschungsprojekte im Rahmen des Programms „Forschung fur Nachhaltigkeit" des Bundesministeri-ums fiir Bildung und Forschung). Neuere Initiativen belegen zudem die okono-mischen Vorteile einer Nachhaltigkeitsorientierung (vgl. u. a. WBCSD 2002, Oekom Research und TU Mtinchen 2005). Parallel steigt das gesellschaftliche Bewusstsein um Fragen der Nachhaltigkeit. Wirtschafts- und sozialpolitische Umbriiche fuhren zu einer zunehmend kritischen Sicht auf global agierende Untemehmen und ihre Verbande. So werden vermehrt „moralische Anspriiche" an Firmen formuliert, letztere steigen - leider nach wie vor zu haufig reaktiv -seit einigen Jahren vermehrt in eine transparente Berichterstattung ein.

SchlieBlich greift die Politik Begriffe wie „Innovation" und „Nachhaltig-keit" begierig - indes leider viel zu selten konkret - auf, stehen sie doch fiir Zukunftsorientierung, Wachstum und Wohlergehen von - gleichermaBen -Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt.

Eine Frage ist vor diesem Hintergrund, was in der Informations- und Kom­munikationstechnik (ITK) unter dem Begriff „nachhaltiges Wirtschaften" zu verstehen ist und wie ITK-Produkte und -Dienstleistungen dazu beitragen kon-nen, gesellschaftliche Fragen losen zu helfen (vgl. zur nachhaltigen Informati-onsgesellschaft u. a. Schneidewind et al. 2000, Karg & Ehrendorfer 2001).

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2 Hintergriinde

Auch wenn die Diskussion um das Thema Nachhaltigkeit zunehmend breit in der Gesellschaft gefuhrt wird, ist auBerhalb der Fachkreise kaum eine allge-meinverstandlich konkrete und iiber die ethischen Grundsatze des Brundtland-Reports hinausgehende Definition anerkannt. So ist die Vokabel auch in der Industrie bislang nur schwer vermittelbar und bei nicht wenigen Entscheidungs-tragem verschiedentlich sogar negativ besetzt. Hilfreicher und leichter zu ak-zeptieren ist haufig das Synonym „Zukunftsfahigkeit", das unmittelbar auf den Fortbestand in der Zukunft hinweist und sich leicht auch mit wirtschaftlichem Uberleben verbinden lasst. Trotzdem - oder gerade deshalb - wachst das Be-wusstsein der Wirtschaft, dass sie, nicht zuletzt auf Grund der gesellschaftlich zunehmenden Bedeutung von Fragen untemehmerischer Verantwortung, dieser Thematik nicht ausweichen kann. Von grundlegender Bedeutung ist es daher, iiber eine geeignete Kommunikation den Zugang zu diesen Themen und zum Wert einer nachhaltigen Orientierung fur die Untemehmen zu erschlieBen. Der Vorwurf, dass bislang viel zu wenig nachhaltige Geschaftsmodelle existieren, ist in diesem Zusammenhang nur schwer zu entkraften. Gerade die geforderten „Business Cases for Sustainability" konnen aber erfolgreich sein, wie im Fol-genden anhand dreier Bereiche aus der Informations- und Kommunikations-technologie gezeigt werden soil.

Die aufgefiihrten Beispiele sorgen zum einen ftir Nachhaltigkeit in der ITK-Industrie selbst. Zum anderen stellen sie den Beitrag von ITK-Produkten und -Anwendungen dar, um in anderen Bereichen (Anwender-Branchen, Verwaltun-gen, Privatleben) zur Ubemahme von gesellschaftlicher Verantwortung beizu-tragen. Die Beispiele soUen zur Diskussion anregen, in wie fern gerade innova­tive Technologien zur Nachhaltigkeit auch auf der Ebene von Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfahigkeit von Untemehmen beitragen konnen. Es soil gezeigt werden, dass durchdachte Ansatze in alien drei Nachhaltigkeitssaulen gleicher-maBen Vorteile generieren und Losungswege zu vielfaltigen Fragen gesell­schaftlicher Zukunftsfahigkeit eroffnen konnen.

3 Die drei Module der Innovativen ITK

Damit Innovationen zur nachhaltigen Entwicklung beitragen konnen, miissen sie weit iiber den bisher eingeengten Horizont hinausschauen - sowohl zeitlich (Stichwort: Generationengerechtigkeit, demografische Entwicklung, Persistenz von Chemikalien etc.) als auch raumlich (Stichwort: Globalisierung, Verantwor­tung fiir weltweite Supply-Chains, Digital Divide etc.). Um sich in Marktwirt-schaflen durchsetzen zu konnen, miissen sich nachhaltigkeitsorientierte Innova­tionen aber auch „langfristig rechnen". „Sustainability muss zum Business-Case werden".

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Innovative Informations- und Kommunikationsteclinik 81

Soziale, Umwelt- und wirtschaftliche Anforderungen mtissen dafiir integra-ler Bestandteil von Geschaftsprozessen werden. Dieses ist angesichts globaler Stoff- und Finanzstrome, weltweit agierender Konzeme und teilweise konkur-rierender nationaler und intemationaler Vorgaben der Politik sehr komplex und kann nur gemeinsam von Untemehmen, Wissenschaft, Politik und Kunden erreicht werden. Notwendig fur dieses Zusammenspiel ist eine innovative In-formations-ZKommunikationskultur und -technik (ITK), welche die drei folgen-den Module einschlieBt:

^ Nachhaltigkeit in der ITK-Wirtschaft ^ Nachhaltigkeit durch ITK-Produkte und -Anwendungen ^ Verantwortung, Transparenz und offene Kommunikation gegeniiber den

gesellschaftlichen Stakeholdem

Jedes dieser drei Module kann konkrete Beispiele dafur liefem, was ITK leisten kann (und muss), um innovative Prozesse und Technologien im Sinne einer „triple-win-Situation" fiir Wirtschaftskraft, Umweltschutz und sozialer Verant­wortung zu gestalten.

4 Nachhaltigkeit in der ITK-Wirtschaft - am Beispiel mobilen Arbeitens bei IBM

Die Diskussion um sparsamen Verbrauch der natiirlichen Ressourcen hat seit langem weltweit zu Anstrengungen zum Schutz der Umwelt geftihrt und in vielen Firmen konkrete Umweltschutzprogramme etabliert. Umweltgerechtes Design ist keine neue Vokabel fiir die ITK-Industrie und so genannte „best practices" wurden und werden weltweit diskutiert und umgesetzt (vgl. Hoehn & Brinkley, 2003). Ersetzt man zum Beispiel stationare Arbeitsplatzcomputer (Deskside oder Desktop PC) durch mobile Gerate, reduziert man allein durch den Ersatz von PC/CRT-Monitor durch ein Notebook den Energieverbrauch von ca. 200 Watt auf ca. 25 Watt, also eine Effizienzsteigerung um den Faktor 8. Andere Beispiele zeigen, dass auch die innovative Anwendung der ITK-Technologie weitere Reduzierungen des Ressourcenverbrauchs ermoglicht und Beitrage zur Zukunftsfahigkeit von Untemehmen und Gesellschaft leisten kann.

Eine Diskussion zur Effizienz beziiglich anderer Ressourcen (okologischer Rucksack) ist ohne eine ausfiihrliche Lebenszyklusanalyse(LCA) nicht durchfuhrbar. Der okologische Rucksack ist schwer zu bewerten, denn diese Informationen sind nicht konsistent verfugbar. Allerdings lasst sich eine Abschatzung iiber die Gewichte und den Beitrag der Komponenten treffen. In dem aufgefuhrten Modell ersetzen zwei Gerate mit eine Gesamtmasse von ca. 14kg (CRT- Bild-schirm) bzw. 4,5 kg(Flachbildschirm) + 6,5 kg (Systemeinheit) ein Gerat von maximal 3 kg. Die Prozessoren und die Festplatten sind vergleichbar, CD Laufwerke ebenfalls. Der Bildschirm am Desktop ist groBer, und damit der so genannte okologische Rucksack ebenfalls. Vermutlich ist der okologische Rucksack des Notebooks eher kleiner als der des PCs mit Bildschirm.

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Went! wir uns die heutige Arbeitswelt innerhalb der ITK-Industrie ansehen, so ist sie bestimmt von einem globalen Markt, dessen Geschafte 24 Stunden am Tag abgewickelt werden, weil sie sich in alien Zeitzonen der Welt abspielen. Dariiber hinaus ist es eine Notwendigkeit, um in einem sehr schnell wechseln-den Markt mit immer neuen Anforderungen und Randbedingungen konkurrenz-fahig (zukunftsfahig) zu bleiben, dass Untemehmen sich diesen veranderten Bedingungen schnell und immer wieder neu anpassen. Wechselnde Verantwort-lichkeiten, wechselnde Teams und Kundenorte sind nahezu tagliches Geschaft. Dementsprechend miissen auch die Arbeitsumgebung und die Arbeitsplatzges-taltung einen hohen Flexibilitatsgrad aufweisen.

Grundlegende Voraussetzung fiir Flexibilitat von Arbeitsumgebung und Ar-beitsplatzgestaltung ist eine flexible, schnell anpassbare Infrastruktur. Diese ist nur durch die heute verfugbare ITK- Technologic kosteneffizient zu realisieren.

Das folgende Beispiel soil aufzeigen, dass die Flexibilisierung einhergehen kann mit erhohter Ressourceneffizienz und damit weiteren Beitragen zur Zu-kunftsfahigkeit eines Untemehmens.

Hauptbestandteile unserer heutigen Arbeitswelt sind Notebook-Computer und Telefon, beides verbunden mit einem weltweiten Netzwerk ahnlicher Gera-te. Die Kombination mit Wireless LAN oder GPRS und Mobiltelefon ermog-licht es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitem eines Untemehmens nicht nur am vorgesehenen Arbeitplatz zu arbeiten, sondem wechselnden Anforderungen leicht Rechnung zu tragen. Im Prinzip wird jeder Ort der Welt zum Arbeitsplatz und mobiles Arbeiten wird zum Standard.

Dieser Standard hat neben der erhohten Flexibilitat im Einsatz der Mitarbei-ter nicht nur Auswirkungen auf die Effizienz der Mitarbeiter, sondem kann einen weiteren Beitrag zur weiteren Ressourceneffizienz des ganzen Untemeh­mens und zum Schutz der Umwelt leisten.

Untersucht man in Firmen die Nutzung eines normalen, traditionellen Btiro-arbeitsplatzes fiir Vertriebs- und Servicemitarbeiter, wird man sehr schnell fest-stellen, dass diese Arbeitsplatze haufig leer stehen, da die Mitarbeiter bei Kun-den sind. Diesem Rechnung tragend haben bereits heute viele Firmen fiir Vertriebsmitarbeiter auf permanente Arbeitsplatze verzichtet. Typischerweise werden bestimmte Biirobereiche in einem Untemehmen fiir Vertriebsmitarbeiter reserviert, die in diesen Bereichen Arbeitsplatze vorfmden, die nur bei Bedarf benutzt werden. Das Verhaltnis von Schreibtisch zu Mitarbeiter kann durchaus im Bereich von 1:8 oder 1:10 liegen.

Es ist aber auch denkbar, das gleiche Prinzip auf andere Untemehmensbe-reiche anzuwenden. Analysiert man Abteilungen, die normalerweise mit fest zugeordneten Arbeitsplatzen operieren, wie Finanz, Personal, Liegenschaften oder IT-Infrastmktur, so wird man ebenfalls feststellen, dass zu jeder Zeit ein gewisser Prozentsatz der Schreibtische leer steht. Urlaub, Krankheit, Schulung, ganztagige Meetings etc. fiihren dazu, dass die vorgehaltene Infrastmktur zu

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Innovative Informations- und Kommunikationstechnik 83

einem gewissen Prozentsatz ungenutzt ist. Mit einer Flexibilisierung der Ar-beitsplatze und der Aufgabe personalisierter Schreibtische, konnen diese unge-nutzten Ressourcen eingespart, bzw. anderweitig fur das Untemehmen nutzbar gemacht werden. Die Einftihrung des „Desk-sharing" auch fiir Infrastrukturab-teilungen erlaubt eine Reduzierung der vorgehaltenen Arbeitsplatze um mindes-tens 10-20 %, mit der einhergehenden Einsparung von Kosten im Liegen-schaftsbereich.

Kombiniert man dieses Prinzip mit einem veranderten Personalmanagement, in dem die Mitarbeiter nicht mehr nach Arbeitszeit (traditionelles Stempelkar-tenszenario) gemessen werden, sondem iiber Zielsetzung und Zielerfiillung gefuhrt und ihnen mehr Eigenstandigkeit bis bin zur Souveranitat iiber Arbeits­zeit und -ort zugestanden wird, sind weit groBere Effizienzsteigerungen erziel-bar.

Ein konkretes Beispiel soil die dabei erzielbare Steigerung der Ressourcen-effizienz greifbar machen. 1999 hat die IBM Deutschland begonnen das so genannte „shared desk" Konzept auf die Hauptverwaltung der IBM Deutschland in Stuttgart anzuwenden, mit dem Ergebnis, dass heute von ca. 3500 Mitarbei-tem nur noch ca. 200 einen festen, direkt zugeordneten Arbeitsplatz haben. Der Rest bucht sich einen Platz im Biiro, arbeitet zu Hause oder von unterwegs. Die Biiroflache pro Mitarbeiter konnte IBM dadurch rein rechnerisch knapp halbie-ren (vgl. Rupf&Kelter, 2003). Das spart nicht nur Geld, sondem schont auch die Umwelt.

Die Stuttgarter Hauptverwaltung beispielsweise reduzierte den Verbrauch von Strom um 7,5 Prozent, von Heizenergie um 20 Prozent und senkte die E-mission von CO2 um knapp 5000 Tonnen und leistete einen erheblichen Beitrag zum Klimaschutzziel der IBM. Dieses Klimaschutzziel wurde 1997 in einem weltweit gtiltigem Abkommen mit dem WWF dergestalt konkretisiert, dass die IBM sich verpflichtet hat, von 1998 bis 2004 die CO2-Emissionen durch reali-sierte Energiesparprojekte um 4% Jahr iiber Jahr zu senken. Schaubild 1 zeigt, wie sich die CO2 - Emissionen der IBM vor und nach der Veroffentlichung des Projektes entwickelt haben.

2 Weitere Beitrage zum Klimaschutz erfolgen durch die Einsparung von Fahrten ins Biiro, da Mitarbeiter vermehrt auch von zuhause arbeiten konnen und diese Option auch wahmehmen. Dieser Anteil lasst sich allerdings nur durch umfangreiche Analysen quantifizieren und wird hier nicht weiter betrachtet.

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fW^ Klimaschutz Programm £:=7£?i: 4% Ziel fur Jahr uber Jahr C02 Reduktion

durch Energiesparprojekte

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Abbildung 9: Darstellung der C02-Reduktiondraten durch IBM-Energiesparprojekte

Interessant ist das mobile Arbeiten aber nicht nur fiir Manager. Auch junge Eltem fmden schneller zuriick in den Job, wenn sie schrittweise von zu Hause aus einsteigen konnen. Der mobile Einsatz erlaubt es die unterschiedlichen Forderungen der Arbeitswelt und des privaten Lebens leichter zu vereinbaren und vereinigt so okonomische, soziale und okologische Anforderungen in ei-nem Konzept.

Damit derart flexible Arbeitskonzepte fiinktionieren, braucht es Vertrauen zwischen Management und Mitarbeitem, denn eine Anwesenheits- oder Ar-beitszeitkontrolle ist nicht mehr moglich. IBM hat solche Kontrollen und die Kemarbeitszeit schon 1999 aufgehoben. Jeder Mitarbeiter entscheidet selbst, wann und wo er arbeitet.

5 Nachhaltigkeit durch ITK-Produkte und - Anwendungen - am Beispiel innovativer Mobiltelefon-Konzepte bei Motorola

Mobiles Telefonieren hat innerhalb weniger Jahre einen dauerhaften gesell-schaftlichen Einfluss erlangt. Die Anzahl an Mobiltelefonen steigt kontinuier-lich und wird bis im Jahre 2006 weltweit die Grenze von 2 Milliarden Stiick iiberschreiten. In einigen Landem gibt es heute schon mehr Mobiltelefone als Festnetzanschliisse. Der Mobilfunkmarkt ist einer der schnellstwachsenden Markte der IKT (vgl. u. a. EITO 2005). Insgesamt wurden im Jahr 2003 welt­weit 471 Mio. und in 2004 schatzungsweise 630 Mio. Mobiltelefone verkauft. Der Treiber fur dieses Wachstum sind insbesondere die neuen Markte in Brasi-lien, Russland, Indien und China - den seit kurzem so genannten BRIC-Staaten.

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Innovative Informations- und Kommunikationstechnik 85

Gleichzeitig sind vollig neue Geschaftsfelder wie z.B. Navigationssysteme Oder Electronic Cash entstanden. Trotz kultureller Herausfordemngen wie dro-hender Uberschuldung von Jugendlichen hat die Mobilkommunikation groBe gesellschaftliche Chancen eroffnet - gleichermafien auf professioneller (z.B. Telemedizin) wie privater Ebene (z.B. Erreichbarkeit und Sicherheit von Kin-dem).

So haben sich Mobiltelefone in den letzten Jahren von speziell auf Ge-schaftsleute zugeschnittenen Produkten zu modemen Accessoires fur den Alltag entwickeh. Wahrend der letzten Jahre fuhrten technologische Innovationen zu immer kleineren und leichteren Geraten, welche eine deutlich verlangerte Standby- und Gesprachszeit besitzen und verschiedenste Funktionen erfiillen. Die Ressourceneffizienz der Hardware hinsichtlich Material- und Energie-verbrauch konnte im gleichen Zeitraum um Faktor 10 erhoht werden.

Seit Mobiltelefone auf den Markt kamen, sind sie deutlich kleiner und leich-ter geworden (vgl. Abb. 10). Dieser Trend hat dazu geflihrt, dass der Umwelt-einfluss eines einzelnen Mobiltelefons durch den Verbrauch von weniger Mate­rial und Komponenten deutlich gesunken ist. Es darf an dieser Stelle indes nicht verschwiegen werden, dass so genannte „Rebound-Effekte" dazu fiihren, dass die relativen Ressourceneinsparungen pro Gerat, durch die weltweiten Produk-tions- und Absatzzahlen absolut gesehen zu einem hoheren Ressourceneinsatz fahren konnen. Aufgehoben werden diese negativen okologischen Trends erst dadurch, dass gleichzeitig die verschiedensten Funktionen, wie Kamera, MP3-Player, Organizer etc. in das Mobiltelefon integriert werden und so eine Viel-zahl an Einzelgeraten kiinftig durch wenige kombinierte Produkte ersetzt wer­den konnten (Stichwort Konvergenz). Dieser Trend wird sich in Zukunft weiter fortsetzen und eine „nahezu unbegrenzte Mobilitat" erlauben. Mobile Kommu-nikation und daruber hinaus die gesamte ITK-Technologie sind in diesem Sinne deutlich „dematerialisierende" Technologien.

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86 Reinhard Hohn/ Siegfried Pongratz/ Mario Tobias

Cityman

2110

I f 8210

B 10kg

100%

770g

-99,3%

236g

-69%

137g

-42%

79g

-42%

Mobile phones development by mass (Source Nokia)

Percentages show decreasing of weight between older and newer models

Abbildung 10: Reduzierung des Gewichts undder Grofie von Mobiltelefonen uber die letzten Jahre (EUIPP-Report 2005)

Die „Evolution des Mobiltelefons" hat gleichzeitig dazu gefuhrt, dass bezogen auf den gleichen Energieverbrauch langere Nutzungszeiten ermoglicht wurden. Die Energieeffizienz eines Mobiltelefons ist - sei es durch den Einsatz von optimierten elektrischen und elektronischen Komponenten bei gleichzeitiger Reduzierung der Betriebsspannung, sei es durch eine verbesserte Software und nicht zuletzt durch innovative Batterien deutlich gesteigert worden (vgl. Abb. 11). Insbesondere der Energieverbrauch des Ladegerats, und vor allem der Standby-Energieverbrauch sind in den letzten Jahren deutlich gesenkt worden.

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Innovative Informations- und Kommunikationstechnik 87

1 \ \ 1 \ 1 \ 1

93 94 95 96 97 98 99 00 01

-Weight (g) Talk time (min) Standby (h)

Watt

3 1

2,5

2

1,5

1

0,5

0

\ !

\ j v ^^v.,^^

""" ^ 1 ^

1997 1998 1999 2000 2003 2005

Changes in weight, tall( and standby times by mass (Source Nokia)

Standby Energy Use of Chargers (Source Motorola)

Abbildung 11: Reduzierung des Energieverbrauchs bei gleichzeitiger Zunahme der verfugbaren Sprechzeit (talk time) von Mobiltelefonen (EUIPP-Report 2005 bzw. Motorola)

Die technologische Konvergenz von Telekommunikation, Unterhaltungselekt-ronik, Internet und drahtloser Vemetzung hat zu einer zunehmenden Funktiona-litat - und Komplexitat - von Mobiltelefonen beigetragen. In den letzen zwei Jahren hat sich das Mobiltelefon von einem reinen Kommunikationsprodukt zu einem multimodalem, multifunktionalem hochintegrierten Gerat entwickelt. Einige Trends dieses Ubergangs sind Funktionen wie SMS und MMS, Organi­zer, Terminplaner, Spiele, Internet (WAP), MP3-Player, (Video-) Kamera, PDA Funktionalitaten, GPS, Business AppHkationen zum Bearbeiten von Dokumen-ten, Videokonferenzen und die Moglichkeit mit Mobiltelefonen zu bezahlen. Zwei spezifische Beispiele sind „Smartphones" und Kamerahandys. Smartpho-nes bieten neben der gewohnten drahtlosen Kommunikation auch Funktionen, welche bisher nur in einem PDA (Personal Digital Assistent) zu fmden waren. E-mail, das Erstellen, Bearbeiten und Versenden von Dokumenten, Manage­ment der personlichen Information wie Adressbiicher und Terminkalender und die Synchronisation mit dem PC sind heute schon Stand der Technik. Kamera­handys zeigen exemplarisch die Konvergenz im Bereich der digitalen Bildbear-beitung auf. Schon heute werden mehr Mobiltelefone mit integrierter Kamera verkauft, als vergleichbare Digitalkameras. Diese bieten mehr Moglichkeiten

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Reinhard Hohn/ Siegfried Pongratz/ Mario Tobias

der standigen Erreichbarkeit, tragen aber auch dazu bei, dass der Nutzer dieser Gerate standig erreichbar sein „muss". In diesem Zusammenhang diirfen kultu-relle Fragestellungen zur Kommunikation innerhalb von Untemehmen, zur Abgrenzung des Privatlebens oder der Verwendung von Handys „im offentli-chen Raum" nicht auBer acht bleiben.

So bietet jede neue Technologic nebcn ihren Chancen auch spezifische Risi-ken. Gerade Jugendschutzaspekten ist mehr an Bedeutung beizumessen, um der Uberschuldung von Jugendlichen durch exzessive Nutzung der Mobiltelefonie entgegenzusteuem. Die Serviceanbieter habe dieses Problem erkannt und bieten Spezialtarife mit eingebautem Kostenlimit an, um die „Kostenfalle" zu entschar-fen. Der Wettbewerb hat einen „Tarifdschungel" hervorgerufen, der ein Gebot nach mehr Klarheit und Einfachheit bei den Tarifmodellen erfordert. Einfach-heit und Glaubwtirdigkeit sowie cine seniorengerechte Technik und Handha-bung sind kritische Elemente im Hinblick auf die zunehmende Komplexitat der Gerate. Nur ein fairer Kundenumgang ist nachhaltig.

Ein anderes Thema ist die Frage nach dem Umgang mit ausgedienten Gera-ten, die - zumindest potenziell - die jahrliche Millionschwelle weit iiberschrei-ten. In der Praxis zeigt sich dabei, dass nur die wenigsten Kaufer eines Neugera-tes gleichzeitig ihr Altgerate zuriickgeben mochten - die meisten Gerate lagem nach wie vor in Haushalten oder werden als Spielzeug genutzt. So bieten zwar alle groBen Netzbetreiber in Deutschland mittlerweile eine kostenfreie Ruckga-

>be von Handys an. Auch kann mit Spenden an Umweltverbande und soziale Einrichtungen geworben werden, da die Altgerate in der Regel einem Refurbis­hing (Wiederaufarbeitung und Weitervermarktung auBerhalb der EU) zugefahrt werden. Die Riicklaufquoten sind indes nur bescheiden. Die Hersteller haben sich daher u. a. in einer UNEP-Initiative (http://www.step-initiative.org/) zu-sammengefunden, um ein Management der weltweiten Stoffstrome zu planen. Nur so konnte vermieden werden, dass Altgerate in Schwellen- und Entwick-lungslandem - wie in den Medien in jiingster Zeit vielfach berichtet - unter widrigsten Umstanden fur Umwelt und Gesundheit der Personen entsorgt wer­den. Auch dieses Thema kann indes nicht ohne Beteiligung und Bewusstsein der Kunden geregelt werden.

Trotz der nicht zu vemachlassigenden Risiken eroffnete die Mobilkommu-nikation erhebliche, auch globale, gesellschaftliche Chancen. Die Mobiltelefo­nie hat einen wesentlichen Anteil daran, den so genannten „Digital Divide" zwischen armen und reichen Landem zu tiberwinden. Durch die Mobilkommu-nikation konnen Menschen in armen Regionen die Moglichkeit bekommen, die Lebensumstande ihrer Familie und auch ihres Umfelds in der Kommune zum Positiven zu verandem. Hierzu werden schon heute spezielle Programme aufge-legt, die den Erwerb von kostengiinstigen Mobiltelefonen ermoglichen. Hinzu kommen innovative drahtlose Technologien, die einen schnellen und billigen Intemetzugang in Regionen erlauben, die nicht iiber Kabelmodems oder DSL

Page 105: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Innovative Informations- und Kommunikationstechnik 89

erschlossen sind. Damit konnen Erziehungs- und Unterrichtsprogramme durch Virtuelle Classrooms (electronic whiteboards, webcames etc.) verwirklicht werden. Ein weiteres wichtiges Beispiel ist der Gesundheitsservice, der durch die Mobilkommunikation in unterentwickelten Landem maBgeblich verbessert werden kann.

Auch kann die Lieferung von Giitem und Dienstleistungen durch den Ein-satz von ITK-Tools vereinfacht werden. Durch eine entsprechende Prozesssteu-erung wie beispielsweise das „online-tracking" von Transporter in Speditionen eroffnet die Anwendung mobiler Kommunikationstechnologien im taglichen Leben groBe Chancen, Umwelteinfliisse zu reduzieren und die Wettbewerbsfa-higkeit von Untemehmen zu starken.

Eine bedeutende zukunftsfahige Applikation von mobiler Kommunikation ist beispielsweise die Telemedizin. Die Entwicklung intelligenter Smartphones ist die Plattform fur mobile medizinische Betreuung von Risikopatienten und von alteren Menschen, die nicht direkten Zugang zu Krankenhausem oder Arztpraxen haben. Dadurch kann eine aktive Uberwachung der lebenswichtigen Daten des Patienten erreicht werden. Insbesondere angesichts der demografi-schen Entwicklung unserer Gesellschaft(en) und der gesundheitlichen Siche-rungssysteme erscheinen diese neuen Formen sehr geeignet, um die kiinftigen sozialen Fragen durch eine „menschliche ITK-Nutzung" besser losen zu kon­nen. Mobiltelefone bieten somit die Moglichkeit kostengiinstig und leistungsfa-hige medizinische Rundumbetreuung und Dienstleistung zu gewahrleisten, die durch einen standardisierten Aufbau und ihre Mobilitat fiir Patienten und Kran-kenkassen bedeutende Vorteile haben.

Auch im privaten Umfeld hat die Mobilkommunikation erheblich zur Si-cherheit des einzelnen beigetragen. Eltem konnen jederzeit mit ihren Kindem in Verbindung bleiben. Bei Unfallen oder Notfallsituationen ist durch das Mobilte-lefon eine schnelle und oft lebensrettende Hilfe moglich geworden. In Zukunft wird durch die im Mobiltelefon eingebauten Navigationssysteme eine einfache Orientierung in fremden Stadten, im Urlaub und bei der Suche nach bestimmten Zielen ermoglicht.

All diese Beispiele zeigen das hohe Potential der mobilen Kommunikation und der damit einhergehenden Auswirkung auf die Gesellschaft sowohl in den Industrielandem aber auch in den sich entwickelnden Landem auf. Die damit einhergehende globale Verantwortung der Hersteller (vgl. u. a. Jamieson et al. 2004) fiir eine nicht nur umweltgerechte Entwicklung ihrer Produkte und deren Entsorgung haben fiir die nachwachsende Generation Auswirkungen, die dem Gedanken der Nachhaltigkeit bereits heute im groBen Masse Rechnung tragen.

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90 Reinhard Hohn/ Siegfried Pongratz/ Mario Tobias

6 Verantwortung fiir Umsetzung umweltpolitischer Vorgaben -am Beispiel der Entsorgung von Altgeraten

Im Bereich der „okologischen Saule" der Nachhaltigkeit ist die Abfallwirtschaft - Oder einem ganzheitlicheren Ansatz folgend - die Kreislaufwirtschaft ein wesentlicher Aspekt. Die Politik hat diesen Gedanken bereits vor Jahren sowohl auf nationaler wie auf europaischer Ebene aufgegriffen. Im Zuge dessen wurden umfangreiche Strategien und Richtlinien erlassen, die - durch jeweilige Umset­zung in den Mitgliedsstaaten der Europaischen Union - landeriibergreifend Gesetzescharakter erlangt haben. Einen Uberblick iiber die Rahmenregelungen und Direktiven der EU zu speziellen Stoffstromen soUen in Abb. 3 gegeben werden.

Community Waste Strategy COM (96) 399

Waste Treatment Operations

Incineration 20Oe/76/EC

Undfill

mimmc

Zukunltsstra^gm Pefltillion bliKleniler Standanls

statt W0iterer Direktiven ?

Waste,

r Streams

Waste Oils 1 Dir 75/439/EEC |

1 Sewage Sludge

1 Dir 86/278/EEC |

Titanium Dioxide

Dir 78/176/EEC

1 Packaging and

Packaging Waste

1 Dir94/62/EC |

Batteries and Accumulators Dir 91/157/EEC und 93/ COM (2 )03) 723

> f 1

End-of-life Vehicles

1 Dir2000/53/EC

PCBs Dir 96/59/EC

1 Mining Waste COM (2003) 319

Restriction of hazardous

Substances Dir 2002/95/EC

Ahbildung 12: Strukturbild der unterschiedlichen Ehenen der Gesetzgehung im Bereich Abfall- und Kreislaufwirtschaft in der Europaischen Union - hervorge-hoben ist die im Text ausgefuhrte WEEE-Direktive (eigene Darstellung nach einer Skizze von Marianne Klingbeil, DG Environment)

Die Umsetzung der in der Abbildung markierten Direktive zur Entsorgung von Altgeraten (Directive 2002/96/EC of the European Parliament and of the Coun­cil of 27 January 2003 on waste electrical and electronic equipment - WEEE) war dabei eines der groBen Themen der deutschen ITK-Industrie in den vergan-.

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Innovative Informations- und Kommunikationsteclinik 91

genen drei Jahren. Die Industrieverbande waren bereits auf Europaischer Ebene als ein wesentlicher Politikakteur (vgl. Janicke 1995) aktiv, da bei den Unter-nehmen, insbesondere der ITK-Branche, umfangreiche Erfahrungen zum Hand­ling von Altgeraten (vomehmlich aus dem Geschaft mit GroBkunden) existie-ren. So konnte zu Beginn der deutschen Implementierung der Richtlinie zwischen dem federfiihrenden Bundesministerium fiir Umwelt und dem Bun-deskartellamt auf der einen und den Wirtschaftsverbanden BITKOM (Bundes-verband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V.) und ZVEI (Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e. V.) auf der anderen Seite vereinbart werden, dass der Aufbau der notwendigen Abstimmungs- und Regelungssysteme in weitgehender Eigenregie der betroffe-nen Industrie ablaufen soil. Hierzu zahlte u. a. der Aufbau einer neutralen und bundesweit verbindlichen Clearingstelle sowie eine Systemarchitektur, die Trittbrettfahrer vermeiden hilft. Bei Einhaltung aller relevanten „Spielregeln" sollte das System gleichzeitig Wettbewerb um die eigentliche Entsorgungslogis-tik entstehen lassen. Abbildung 4 gibt einen schematischen Uberblick iiber das Zusammenwirken regulativer Elemente, allgemein verbindlicher (untergesetzli-cher) Vorgaben und wettbewerblicher Spielraume dieses Ansatzes.

Grundlagen und Funktion der Gemeinsamen Stelle „Stiftung EAR"

c o "E D C o o a 3

LU V . O "O

o 'E

o & \h m \n

Prozessablauf fiir verpflichtete Hersteller

Gesetzliche Vorgaben

Leistungen Im Wettbewerb

Abbildung 13: Schematische Darstellung von Grundlagen, Funktionen und Prozessab-Idufen der Gemeinsamen Stelle „StiftungElektro-Altgerdte-Register" (EAR)

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92 Reinhard Hohn/ Siegfried Pongratz/ Mario Tobias

Mit der Griindung der Stiftung Elektro-Altgerate-Register (EAR) im August 2005 konnte die ITK-Industrie somit ihren Beitrag zu einer innovativen Umset-zung politischer Vorgaben leisten. Diese beinhaltet nicht nur, dass alle umwelt-politischen Vorgaben (okologische Saule) der Herstellerverantwortung ein-gehalten und moglichst kundenfreundlich umgesetzt werden konnen (gesellschaftliche Saule). Die „L6sung in Eigenregie" der Industrie kann zugleich als effektiv und sehr kosteneffizient beschreiben werden, da sie den groBtmoglichen Spielraum fur Wettbewerb zwischen Untemehmen um die besten Logistik- und Entsorgungsdienstleistungen auslotet, der im Rahmen (kartell-) rechtlicher Vorgaben moglich ist (okonomische Saule einer nachhalti-gen Entwicklung). Die Ausgestaltung einer industrie-getragenen Koordinie-rungsstelle hatte zudem zwei positive Wirkungen, die hier nicht weiter vertieft werden sollen. Das friihe (auch finanzielle) Commitment zahlreicher Untemeh­men bewirkte eine recht kurzfristige Befassung der betroffenen Untemehmen mit den anstehenden gesetzlichen Vorgaben. Diese konnten somit - der Kom-plexitat der Aufgaben entsprechend - rechtzeitig in Entwicklungs- und Ver-triebsprozessen eingefiihrt werden. Zudem konnte durch die Innovation eines eigenfmanzierten Registers eine Kosteneffizienz bewirkt werden, die fur die Einrichtung einer staatlich getragenen „Reguliemngsbehorde Elektronikschrott" nicht zu erwarten gewesen ware. Detaillierte Ausfiihmngen zum Stoffstromma-nagement fmden sich u. a. bei Spengler & Herrmann (2004), weiterfiihrende Aussagen zur Systemarchitektur und den Beteiligten des EAR-Prozesses finden sich bei Bullinger et al. (2005) und Tobias & Ltickefett (2005).

7 Transparenz und Kommunikation gegeniiber gesellschaftlichen Stakeholdern - am Beispiel des Branchenverbands BITKOM

Die Einhaltung bestehender gesetzlicher Regeln ist das eine, die dariiber hinaus gehende Offnung und Transparenz in Fragen untemehmerischer Verantwortung ist etwas anderes. Wahrend „compliance" als „license to operate" nicht zur Diskussion steht, mussten (und miissen) sich Prozesse der Untemehmensoff-nung erst etablieren. Auch wenn es in der ITK-Wirtschaft bereits herausragende Beispiele fixr eine Orientiemng von Untemehmen am Leitbild der Nachhaltig-keit gibt, ist diese Entwicklung in vielen Bereichen bei weitem noch nicht abge-schlossen. Nicht zuletzt aufgmnd der hohen Sichtbarkeit von Untemehmen der Informations- und Kommunikationstechnologie und ihren Verbanden in der Offentlichkeit hat diese Branche, die „Enabler" fur nahezu alle anderen Wirt-schaftsbereiche ist und den Weg in die Informationsgesellschaft ebnet (vgl. BITKOM 2005), eine besondere Verantwortung wahrzunehmen.

Diese beinhaltet neben der bereits oben angesprochenen Verantwortung fiir Design, Produktion und Vertrieb von Produkten, die zu einer nachhaltigen ge­sellschaftlichen Entwicklung sowie der Wettbewerbsfahigkeit der Untemehmen

Page 109: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Innovative Informations- und Kommunikationstechnik 93

beitragen konnen, insbesondere auch die - brancheninteme und exteme -Kommunikation. Innerhalb der Branche geht es darum, best-practise-Beispiele aufzuarbeiten und Untemehmen, darunter insbesondere Klein- und Mittelstan-dischen Untemehmen (KMU), Leitbilder einer nachhaltigen Entwicklung nahe zu bringen. Da eine verbindliche Zielsetzung nicht zuletzt aufgrund sehr unter-schiedlicher Verstandnisse des Begriffs Nachhaltigkeit und diverser Auslegun-gen zur Themenbreite bislang nur in wenigen Teilbranchen besteht, ist es sinn-voll, Nachhaltigkeit als eine Art „Puzzle" zu begreifen. Dieses gilt es gemeinsam zu gestalten, indem jeder Beteiligte den ihm moglichen Stein zum Gesamtbild beisteuert. Dass dieses Puzzle dynamisch und ohne „letztes Teil" bleiben muss, ist offensichtlich, da gesellschaftliche und technologische Ent­wicklung stetigen Veranderungsprozessen unterworfen sind. Ftir nachhaltige Entwicklung ist somit der Weg das Ziel, der Begriff „Entwicklung" deutet die­ses bereits an. Demnach kann auch nicht von Beginn an ein spezifisches Ziel (Leitbild) vorgegeben werden, vielmehr sollte sich dieses im gesellschaftlichen Dialog entwickeln. Ebenso sind neue Instrumente zu schaffen und stetig anzu-passen, die gleichermafien eine Kommunikation in die Tiefe einzelner Unter-nehmen, wie in die Breite der Wertschopfiingskette zu gewahrleisten im Stande sind.

Die Kommunikation nach auBen beinhaltet den kritisch-konstruktiven Aus-tausch mit alien relevanten extemen Anspruchsgruppen (Stakeholder) wie Kun-den, Politik, Wissenschaft oder Medien. Die Schwierigkeit, der sich Untemeh­men und Wirtschaftsverbande dabei gegeniibersehen auBert sich in der Situation eines sehr komplexen „Kommunikationsnetzes", in dessen Mittelpunkt die Un­temehmen und ihre Verbande stehen. Hinzu kommt, dass die unterschiedlichen Adressaten bzw. Kommunikationspartner nur in Einzelfallen ahnliche Anforde-mngen und Wiinsche an die Kommunikation der Wirtschaftspartner haben. Im Regelfall sind die Bedarfe ambivalent - bis zu hin dem Punkt, dass haufig kein wirkliches Interesse an positiven Nachrichten zum nachhaltigen Wirtschaften besteht (vgl. Abb. 5). Notwendig sind daher in jedem Fall professionelle Kom-munikationsstrategien und unterschiedliche Schwerpunktsetzungen fur eine zielgmppenspezifische „Kommunikation der kleinen Schritte".

Page 110: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

94 Reinhard Hohn/ Siegfried Pongratz/ Mario Tobias

Umwelt - Regulation, Energiesparen etc.

Sozial - Arbeitsplatze etc.

Wirtschaft - ArbeitsplMtze, Steuer etc.

/ Folltik

orie y*

Wtssenschaft

Sozial - Globalisierung, Gender etc.

Umwelt - Abfall, Energie etc.

bei Unfailen, Skandalen

Medien

\ Aktionare

Wirtschaft - FInanzkraft, Risikoabsicherung etc.

bei Preisanderungen, nach Medienberlcliten

gemaa Wert-schopfungsketten

Sozial - Standards etc.

Umwelt - Standards, Audits, Energie etc.

Abbildung 14: Schematische Darstellung des „Stakeholder-Kommunikationsnetzes " von Unternehmen und Verbdnden. Die unterschiedliche Bedeutung der ein-zelnen Akteure ist im Hinblick aufderen Bedeutung bei der externen Kommunikation Uber die Grofie der Fldchen angedeutet (in Anlehnung an Tobias & Pongratz 2004)

Die ITK-Branche in Deutschland hat diese Herausforderung der Innen- und AuBen-Kommunikation seit einigen Jahren in verschiedenen Beispielen aufge-griffen, von denen hier nur zwei genannt werden sollen. So wirkten Unterneh­men und BITKOM als das groBte Netzwerk der ITK-Wirtschaft in Deutschland aktiv im Projekt „Nachhaltigkeit in der ITK-Industrie" mit, das aufljauend auf den Ergebnissen der Enquetekommission des 13. Deutschen Bundestages zum Schutzes des Menschen und der Umwelt tiber das Bundesministerium fiir Bil-dung und Forschung initiiert wurde. In diesem Projekt engagierte sich BITKOM mit der Zielsetzung, die Diskussionsthemen und Ergebnisse in den Kreis der Mitglieder zu tragen und eine Multiplikatoren- und KommunikatorenroUe zu tibemehmen (vgl. Behrendt 2002, Lahser et al. 2002, Tobias et al. 2003).

Daneben wurde im Verband ein Leitfaden zur Beschaffting umweltfreundli-cher ITK-Produkte erstellt. Dieser ist (in deutsch und englisch) kostenfi-ei iiber das Internet zu beziehen und soil die Praxis offentlicher und betrieblicher Aus-schreibungen erleichtem, die haufig ineffektiv und ineffizient ablaufen. Der Kriterienkatalog befasst sich mit alien relevanten Vorschriften, dem technischen

Page 111: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Innovative Informations- und Kommunikationstechnik 95

Entwicklungsstand sowie marktiiblichen Produkteigenschaften und wird im Zuge der fortschreitenden Technisierung und sich andemder gesetzlicher Vor-gaben stetig aktualisiert (vgl. Hintemann & Tobias 2002).

8 Zusammenfassung

An Hand der vorgestellten Beispiele soil eines klar werden: Mit Kostendruck und starker Konkurrenzsituation verbundener Wettbewerb einerseits sowie Innovation und Kooperation andererseits miissen sich keineswegs im Wege stehen. Durch die Nachhaltigkeitsdiskussion wird zweifellos ein gewisser Druck auf Uritemehmen ausgeiibt. Um zukunftsfahig zu bleiben, sollte dieser Druck als Motor verstanden werden, Strukturen und Verhaltenweisen, aber auch Pro-dukte und Angebote den sich standig veranderten Gegebenheiten so anzupas-sen, dass ein Untemehmen auch im kiinftigen Wettbewerb Bestand haben wird. Globalisierung und weltweite Vemetzung haben Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, die vielleicht nicht jedermann gefallen. Sie zwingen zu Anpassun-gen, um unsere Wirtschaft und Gesellschaft zukunftsfahig und somit auch tiber-lebensfahig zu machen. AUerdings konnen Untemehmen diese Veranderung nicht alleine vomehmen. Ein Dialog um Chancen und Risiken ist notwendig, um Fehlentwicklungen zu vermeiden und die Bediirfnisse aller zu beriicksichti-gen.

Eine einseitige Verbesserung der Konkurrenzfahigkeit eines Untemehmens birgt die Gefahr, dass die Belange der Mitarbeiter vergessen oder ignoriert wer­den. Diese kann zu erheblichen Problemen in der Umsetzung einer Veranderung bewirken und deren Scheitem verursachen. Die reine okonomische Ausrichtung eines Untemehmens ohne Berucksichtigung des Eingebettetseins in eine Gesell­schaft mit vielfaltigen Anspruchen, ftihrt zu Feindbildem und gefahrdet die wirtschaftliche Stellung des Untemehmens.

Gleichzeitig bringt das Wissen um Nachhaltigkeit wenig, solange es nicht „wertschopfend" zwischen den Stakeholdem ausgetauscht und ausgebaut wird. Da dieses nur durch eine innovative Kommunikationskultur und -technik ge-schehen kann, kommt ITK nicht nur eine hohe Verantwortung, sondem zugleich eine wesentliche Rolle als „Enabler" nachhaltigen Wirtschaftens zu. Diese zu erweitem und zu kommunizieren, obliegt Untemehmen und Verban-den - sie mit Leben zu fallen, obliegt offentlichen, privaten und gewerblichen Kunden. Die Beispiele zeigen, dass die Industrie sich durch die Debatte um Nachhaltigkeit nicht bedroht fiihh, sondem die Herausfordemngen vielmehr inhaltlich aufgreift, um die gesellschaftliche Zukunftsfahigkeit aktiv mit gestal-ten.

Page 112: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

96 Reinhard Hohn/ Siegfried Pongratz/ Mario Tobias

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Page 113: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Teil II:

Ermoglichungsbedingungen

und institutionelle Arrangements

Page 114: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Menge oder Risiko? - Institutionelles Design der Chemikalienregulierung und Innovationen zum nachhaltigen Wirtschaften -

RalfNordbeck/ Bernd Hansjurgens

1 Problemstellung

Eine der zentralen Fragen der Innovationsforschung besteht darin, ob und in-wieweit staatliche Regulierung das Neuerungsverhalten von Untemehmen in der Volkswirtschaft befordem oder behindem kann. Ungeklart ist insbesondere, welchen Einfluss die konkrete institutionelle Ausgestaltung der staatlichen Rahmenbedingungen - das institutionelle Design - auf die Moglichkeiten, Fa-higkeiten und Anreize zur Innovation hat (Ropke 1977).

Die Frage nach den Innovationswirkungen stellt sich auch und insbesondere in der chemischen Industrie als einem Sektor der Volkswirtschaft, dessen Pro-dukte einerseits mit hohen okologischen Risiken behaftet sind und der anderer-seits wichtig fiir die okonomische Entwicklung ist. Hier hat in den vergangenen Jahren eine intensive Diskussion beziiglich des Zusammenhangs von staatlicher Regulierung - hier: der Chemikalienregulierung - und ihren Wirkungen auf untemehmerische Innovationen stattgefunden (siehe als Uberblick Hansjurgens u. Nordbeck 2005). Nach kontrovers gefiihrten Diskussionen hat die Europai-sche Kommission im Oktober 2003 ihren Vorschlag fiir eine neue EU-Verordnung zur Registrierung, Bewertung und Zulassung von Chemikalien (REACH) vorgelegt. Mit der Reform der europaischen Chemikalienpolitik verfolgt die Kommission zwei elementare Ziele: (1) ein hohes Schutzniveau fiir die menschliche Gesundheit und Umwelt zu garantieren und (2) die intematio-nale Wettbewerbsfahigkeit der europaischen Chemieindustrie zu verbessem.

Im Verordniingsvorschlag der Kommission basiert die Reihenfolge der Re­gistrierung der Stoffe, abgesehen von Stoffen, die zu hoher Besorgnis Anlass geben und einem Zulassungsverfahren unterliegen, prinzipiell auf den jahrlich produzierten oder importierten Mengen. Die Stoffmengen bestimmen auch den Priifiimfang, der in den Anhangen V-VIII des Verordnungsvorschlags darge-stellt ist, und mit dem die Stoffe auf ihre Risiken getestet werden. In diesem Zusammenhang spricht man von einem Mengenschwellenkonzept.

In der offentlichen Diskussion wird diesem mengenorientierten System vor-geworfen, es setze die falschen Prioritaten. Stoffe mit geringen Risiken, die in groBen Mengen hergestellt oder importiert werden, miissten umfangreich getes­tet werden, wahrend umgekehrt gefahrliche Stoffe, die ein Risiko darstellen

Page 115: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

100 RalfNordbeck/BemdHansjurgens

konnten, nicht ausreichend untersucht wiirden. Die Orientierung der geforderten Daten an der Produktionsmenge fiihre zu unnotigen Kosten und falschen Selek-tionsanreizen, da sie nicht auf das Stoffrisiko abstelle. Innovationen in der che-mischen Industrie und den nachfolgenden Anwenderbranchen wiirden durch ein aufwandiges Registrierungsverfahren stark behindert. Zudem drohe durch die hohen Kosten ein Wegfall von Stoffen (LFU 2005).

Mit dem Ziel, das REACH-System insgesamt einfacher, transparenter und kosteneffizienter zu machen, haben der Verband der Chemischen Industrie (VCI 2005) und die Landesanstalt fiir Umweltschutz in Baden-Wiirttemberg (LFU 2005) risikoorientierte Konzepte als Ahemative in die Diskussion eingebracht. In beiden „Vorschlagen fur ein besseres REACH" soil dies durch einen Uber-gang auf Registrierungsverfahren und Prlifanforderungen geschehen, die sich am Risiko orientieren.

Im vorliegenden Beitrag soil diese Diskussion aufgegriffen und nach den Ef-fekten der institutionellen Ausgestaltung der staatlichen Regulierung, speziell der Mengen- versus Risikoorientierung, auf Innovationen zum nachhaltigen Wirtschaften gefragt werden. Der Beitrag beginnt mit kurzen Anmerkungen zum Zusammenhang von Innovationen und Nachhaltigkeit (2.). Daran anschlie-Bend werden die zwei altemativen Steuerungsmodelle kritisch dargestellt (3.) und dann die potentiellen Innovationswirkungen abgeschatzt (4.). Der Schluss-abschnitt (5.) fasst die Ergebnisse zusammen und bewertet sie.

2 Innovationsrate und Innovationsrichtung

Innovationen zur Verbesserung der Umweheffizienz haben in der chemischen Industrie eine lange Tradition. In der Literatur fmden sich viele Beispiele, in denen Innovationen in der chemischen Industrie zu einer verbesserten okonomi-schen und okologischen Performance gefiihrt haben (Faber, Jost und Miiller-Fiirstenberger 1995, Porter und van der Linde 1995). Die Innovationsrate ist jedoch in weiten Teilen der chemischen Industrie riicklaufig, und radikale Inno­vationen sind weniger haufig (Eder 2003). Dies gilt vor allem fiir die industriel-len Subsektoren mit einem hohen Material- und Energieverbrauch, wie der organischen und anorganischen Basischemie. Vor diesem Hintergrund steht die Frage im Raum, ob es sich bei der chemischen Industrie um einen Innovations-motor Oder eine reife Branche handelt (Felcht 2000, Rammer et al. 2003).

Innovationen in der chemischen Industrie werden zumeist mit der Entwick-lung von Neustoffen (Stoffmnovation) oder im Bereich der Altstoffe (das sind Chemikalien, die bereits vor dem September 1981 in Verkehr gebracht wurden) mit der Entwicklung von neuen Anwendungen fiir bereits existierende Stoffe (Anwendungsinnovationen) gleichgesetzt. Wie innovativ die chemische Indust­rie im intemationalen Vergleich ist und welche Innovationswirkungen zum Beispiel von der europaischen Chemikalienregulierung ausgehen, bestimmt sich

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Menge oder Risiko? 101

nach diesem Verstandnis anhand der Zahl der Innovationen. Diese quantitative GroBe entspricht der Innovationsrate. Die Innovationsrichtung bleibt bei dieser Betrachtungsweise ausgeblendet.

Als Innovationen zum nachhaltigen Wirtschaften konnen demgegentiber nur solche Innovationen bezeichnet werden, die im Rahmen der Stoffentwicklung die Ziele des Umwelt- und Gesundheitsschutzes beachten und die dazu flihren, dass die Verwendung bedenklicher Stoffe durch unbedenkliche Stoffe ersetzt wird (Nordbeck u. Faust 2002). Solche Innovationen vollziehen sich unter den gegebenen Marktbedingungen nicht von selbst, sondem sind auf eine unterstiit-zende staatliche Umweltpolitik angewiesen. Der Innovationsbegriff stellt daher kein homogenes Konzept dar, und Innovationen fiihren nicht zwangslaufig zu gesellschaftlichem Fortschritt und mehr Lebensqualitat. Eine hohe Innovations-rate kann auch mit einer sozial und okologisch nicht erwtinschten Innovations­richtung einhergehen (Mahdi, Nightingale, Berkhout 2002).

In der Debatte um eine nachhaltige Chemikalienpolitik hat sich das so ge-nannte Generationenziel als konsensfahige politische Handlungsmaxime her-auskristallisiert. Bis zum Jahr 2020 soil sichergestellt werden, dass Chemikalien nur so hergestellt und verwendet werden, dass sie keine wesentliche Gefahr fur die Gesundheit des Menschen und die Umweh darstellen (CEC 2001: 11; UN 2002: 19; Backhaus u. Faust 2005: 300). Damit wird in der bestehenden Ziel-setzung der EU implizit der Aspekt der Innovationsrichtung beriicksichtigt.

3 Alternative Modelle der Stoffregistrierung unter REACH

Grundvoraussetzung fur den sicheren und nutzbringenden Gebrauch einer Chemikalie ist die Bewertung der von ihr ausgehenden Risiken flir Gesundheit und Umweh. Ftir die Risikoabschatzung der Stoffe werden Daten zum Verbleib und Verhalten in der Umwelt (z.B. Wasserloslichkeit, Abbaubarkeit) und zur Toxizitat gegentiber Mensch und Okosystemen benotigt (SRU 2004: 749). Vor-aussetzung der Registrierung ist daher die Vorlage von Informationen zu den Stoffeigenschaften, der Herstellungsmenge, den Verwendungszwecken und den moglichen Gefahren fiir die menschliche Gesundheit und die Umwelt. Ange-sichts der groBen Zahl zu priifender Stoffen und der hohen Anzahl moglicher Tests ist eine Staffelung der Testanforderungen nach bestimmten Kriterien erforderlich, da ansonsten sowohl Untemehmen als auch Behorden tiberfordert wiirden (SRU 2004: 744). Zur Diskussion stehen zwei alternative Modelle: zum einen die Staffelung nach Produktionsmengen, wie es der Vorschlag der EU-Kommission vorsieht, und zum anderen die Priorisierung nach Stoffrisiken, wie es die Vorschlage des VCI und der LFU thematisieren.

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102 Ralf Nordbeck/ Bemd Hansjtirgens

3.1 Der Mengenschwellenansatz im Verordnungsvorschlag der EU-Kommission

Mit dem Verordnungsvorschlag vom Oktober 2003 hat die Europaische Kom-mission ihre Vorstellungen fiir die Neuregelung der europaischen Chemikalien-politik dargelegt und dem Rat und dem Europaischen Parlament zur weiteren Beratung zugeleitet. Zentrales Element der neuen Chemikalienregulierung ist ein System fur die Registrierung, Bewertung und Zulassung von Chemikalien (REACH). Dieses neue Regelungskonzept besteht aus drei wesentlichen Kom-ponenten:

^ Registrierung: Hersteller und Importeure von Chemikalien werden ver-pflichtet, Daten iiber die Sicherheit von Stoffen beizubringen, die in einer Menge von iiber 1 Tonne pro Jahr hergestellt oder importiert werden, und diese Informationen flir ein adaquates Risikomanagement zu nutzen. Im Gegensatz zur bisherigen Regulierung gilt diese Anmeldepflicht nicht nur fur Neustoffe, sondem auch fur schatzungsweise 30.000 Altstoffe, die be-reits auf dem Markt gehandelt werden. Angesichts dieser Zahl ist ein mehr-stufiger Ansatz mit marktmengen- und gefahrdungsabhangigen Registrie-rungsfristen vorgesehen, so dass Stoffe mit hohen Produktionsmengen und besonders gefahrliche Stoffe als erste registriert werden miissen.

•=> Bewertung: Samtliche in groBeren Mengen hergestellten Stoffe (iiber 100 t/Jahr) miissen grundsatzlich bewertet werden. Dies gilt ebenfalls fiir Stoffe, die zur Besorgnis Anlass geben. Rund 4.500 Stoffe werden daher in den nachsten 11 Jahren einem abgestuften Risikobewertungsverfahren unterzo-gen. Ausgehend von den Registrierungsdaten der Untemehmen werden die Stoffbewertungen von den zustandigen Behorden der Mitgliedstaaten durchgefuhrt.

•=> Zulassung: Fiir die Verwendung besonders gefahrlicher Stoffe sieht die neue Regulierung ein Zulassungsverfahren vor. Dieses ermoglicht spezifi-sche Verwendungen unter der Bedingung, dass die Untemehmen nachwei-sen, dass sie die Risiken eines solchen chemischen Stoffes ausreichend un­ter Kontrolle haben oder dass die durch seine Verwendung entstehenden sozialen und wirtschaftlichen Vorteile groUer als die Risiken sind. Aufier-dem wird die Moglichkeit einer Substitution erwogen. Zulassungspflichtig sind Stoffe mit bestimmten Eigenschaften wie CMR-Stoffe (krebserzeu-gende, erbgutverandemde und fortpflanzungsgefahrdende Stoffe), PBT-Stoffe (persistente, bioakkumulierbare und toxische Stoffe) und vPvB-Stoffe (hoch persistente und hoch akkumulierbare Stoffe). Uber eine Zulas-sungspflicht von endokrin wirksamen Stoffen wird von Fall zu Fall ent-schieden.

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Menge oder Risiko? 103

Nach Artikel 5 des Verordnungsvorschlags muss jeder Hersteller und Impor-teur, der einen Stoff in einer Menge von iiber einer Tonne pro Jahr herstellt oder importiert, bei der Europaischen Chemikalienagentur ein Registrierungsdossier fiir diesen Stoff einreichen. Fur Neustoffe bedeutet dies wie bisher, dass eine Registrierung vor der Vermarktung erforderlich ist. Die Mengenschwelle der Registrierungspflicht wird allerdings von 10 kg auf 1 Tonne angehoben. Die Datenanforderungen sind gegeniiber der bisherigen Neustoffrichtlinie reduziert worden. Die Registrierung der Altstoffe erfolgt schrittweise in Abhangigkeit von der Produktionsmenge. Ausgenommen von dieser Regel sind bekannterma-Ben Krebs erzeugende, mutagene und reproduktionstoxische Stoffe, fur die unabhangig von der Produktionsmenge eine beschleunigte Registrierung vorge-sehen ist.

Der Zeitplan fiir Altstoffe sieht unter REACH folgende Registrierungsfristen vor:

^ 3 Jahre nach Inkrafttreten von REACH fiir Stoffe, die in Mengen iiber 1.000 Tonnen jahrlich hergestellt oder importiert werden, sowie besorgnis-erregende Stoffe (CMR-Stoffe der Klassen 1 und 2) iiber 1 Tonne;

•=> 6 Jahre nach Inkrafttreten von REACH fiir Stoffe, die in Mengen zwischen 100 und 1.000 Tonnen jahrlich hergestellt oder importiert werden;

^ 11 Jahre nach Inkrafttreten von REACH fiir Stoffe, die in Mengen von 1 bis 100 Tonnen jahrlich hergestellt oder importiert werden.

Die Registrierungsanforderungen nehmen dabei in Abhangigkeit von der Pro­duktionsmenge zu (Tabelle 1).

Tabelle 1: Mengenschwellenkonzept unter REACH

In Verkehr gebrachte Menge pro

Jahr

unter 1 Tonne

1-10 Ton­nen

10-100 Tonnen

Zeitpunkt der Registrierung

(Jahre)

nicht erforderHch

11

11

Prufungsanforderungen fur die Registrierung

keine Testanforderungen

Annex V

Zus. Annex VI

Umfang

-

In vitro-Tests

Grundstufe

Anzahl der

Stoffe

k.A.

17.500

4.977

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104 Ralf Nordbeck/ Berne Hansjurgens

100-1.000 Tonnen

Uber 1.000 Tonnen

6

3

Zus. Vorschlage nach Annex VII

Zus. Vorschlage nach Annex VIII

Stufe I

Stufe II

2.641

2.704

Die EU halt unter REACH prinzipiell am Mengenschwellenkonzept und damit an einer Staffelung der Testanforderungen nach Produktionsmengen fest. Die Anforderungen flir Stoffe mit einer Herstellungsmenge zwischen 1 und 10 Ton­nen sind im Verordnungsvorschlag nochmals reduziert worden. Die Informati-onsanforderungen fur Stoffe ab einer Menge von 10 Tonnen entsprechen dem Datensatz zur Basisbeschreibung fur Stoffe gemaB Anhang VII a der RL 67/548, ab 100 Tonnen den Stufe I-Tests, die stoffbezogene Priifungen zur Bestimmung langfristiger Wirkungen vorsehen, und ab 1000 Tonnen den Stufe II-Tests. Fiir Stoffe ab 10 Tonnen muss bei der Registrierung auBerdem ein Stoffsicherheitsbericht vorgelegt werden, in dem die verfiigbaren Informationen zu den Stoffeigenschaften, die Risiken far die menschliche Gesundheit und die Umwelt sowie die gewahlten RisikominderungsmaBnahmen dokumentiert sind. Der Verordnungsvorschlag bietet jedoch in Anhang IX vielfaltige Moglichkei-ten, von den Standardprufprogrammen gemaB den Anhangen V bis VIII abzu-weichen.

3.2 Kritikam Mengenschwellenansatz

Zum Verordnungsvorschlag der EU-Kommission hat es seit seiner Vorlage viel Kritik gegeben. Kritisch beurteilt wird vor allem die gewahlte Methode zur Registrierung, welche die Datenanforderungen in erster Linie auf die produzier-te Oder importierte Menge eines Stoffes stiitzt. Dieser mengenbasierte Ansatz wurde aus mehreren Griinden in Frage gestellt, vor allem weil sich die Regist-rierungspflicht iiber den el^ahrigen Zeitraum nicht nach den tatsachlichen Risi­ken eines Stoffes richtet. So hat der VCI bemangelt, dass bei der Registrierung Daten verlangt wtirden, „die nicht zu einer Verbesserung der Sicherheit bei der Anwendung chemischer Stoffe beitragen. Die Datenanforderungen beziehen sich namlich iiberwiegend auf die produzierten/importierten Mengen, ohne Berlicksichtigung der tatsachlichen Exposition" (VCI 2003: 3).

Mit der gleichen Argumentation hatte sich der Berichterstatter des Aus-schusses flir Binnenmarkt und Verbraucherschutz im Europaischen Parlament, Hartmut Nassauer, entschieden gegen den Mengenschwellenansatz ausgespro-chen. Der mengenorientierte Ansatz besitze keine Plausibilitat, der geforderte Aufwand stehe in keinem vemiinftigen Verhaltnis zum okologischen oder so-zialen Ertrag, sei also unverhaltnismaBig, und Daten wiirden ohne jeden Bezug

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Menge oder Risiko? 105

zu konkreten Risken eingefordert. Die Datenanforderungen erhohten sich beim Uberschreiten der Mengenschwellen, ohne dass dies zwingend durch ein erhoh-tes Risiko fur Mensch und Umwelt begrtindet sei (Nassauer 2004: 3). Analog zum VCI (Romanowski 2003, VCI 2003) sieht er den mengenorientierten An-satz als Grund fur „weitere unerwiinschte Wirkungen" (Nassauer 2004: 3ff):

•=> die LFberforderung von Untemehmen durch hohen biirokratischen Auf-wand,

^ die Einschrankung von Stoffvielfalt und Produktion durch zu hohe Regist-rierungskosten,

•=> falsche Anreize fiir die Aussonderung von Stoffen, •=> den Verlust von Flexibilitat fur maflgeschneiderte Anwendungen, •=> die Einschrankung der Innovations- und Wettbewerbsfahigkeit.

Im Gegensatz zum Kommissionsvorschlag pladiert Nassauer daher fur eine risikogesteuerte Registrierung, bei der das Stoffrisiko und nicht die Menge die Datenanforderung bestimmt (Nassauer 2005a). Erste Ausarbeitungen zu risiko-basierten Konzepten sind im November 2004 vom VCI, im Februar 2005 von CEFIC und ebenfalls im Februar 2005 von der Landesanstalt fur Umweltschutz in Baden-Wiirttemberg vorgelegt worden. Auf den Gegenvorschlag des VCI soil im Folgenden exemplarisch naher eingegangen werden.

3.3 Risikobasierte Prioritdtensetzung: das bessere REACH?

Der Mengenschwellenansatz folgt der Annahme, dass das Risiko eines Stoffes mit der Produktionsmenge steigt. Diese Annahme ist pauschal nicht haltbar (SRU 2004: 454). Das Risiko eines Stoffes ist vielmehr das Ergebnis zweier Faktoren(BMU2005: 11):

^ den Stoffeigenschaften, also der Wirkungsweise und der Wirkungsstarke eines Stoffes, und

•=> der Hohe der Exposition, also der Belastung von Mensch und Umwelt mit eben diesem Stoff

Ist ein Stoff hochgradig wirksam, dann ist er potentiell gefahrlich. Ein Risiko ergibt sich erst dann, wenn der Mensch oder die Umwelt diesem Stoff auch tatsachlich ausgesetzt sind (Exposition). Nach Ansicht des VCI muss der Um-fang der Datenanforderung bei der Registrierung deshalb davon abhangen, wie haufig und intensiv Mensch oder Umwelt diesem Stoff ausgesetzt sind.

Femer soil nicht mehr jede denkbare Verwendung eines Stoffes betrachtet werden, sondem die Verwendungen in bestimmte Kategorien (industrielle, gewerbliche und private Verwendung) gebiindelt und an typische Expositions-kategorien fiir Mensch und Umwelt gekoppelt werden. Dies sind ftir den Men-schen die Hauptaufnahmewege (oral, inhalativ oder dermal) und fiir die Umwelt

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106 Ralf Nordbeck/ Bemd Hansjurgens

die Eintragswege (Luft, Wasser und Boden). Zusatzlich wird die Belastung in Abhangigkeit von der Dauer der Exposition bestimmt (einmalig oder kurzzeitig, wiederholt, langfristig).

Aufbauend auf den Verwendungs- und Expositionskategorien soil nach die-sen Vorstellungen das Verfahren der Registrierung unter REACH wie folgt modifiziert werden (VCI2005, Nassauer 2005b, UBA 2005):

Stufe 1 - Vorregistrierung: Hersteller und Importeure melden ihre Stoffe, von denen sie mehr als eine Tonne pro Jahr produzieren oder importieren, innerhalb von 18 Monaten bei der Europaischen Chemikalienagentur an. Diese veroffent-licht ein Stoffregister.

Hersteller und Importeure liefem innerhalb von weiteren 3 Vi Jahren Kemin-formationen fiir alle Stoffe des Stoffregisters. Zu den Keminformationen zahlen Daten tiber Stoffeigenschaften, Menge, Verwendung und Exposition. Die hier-fiir erforderlichen Testdaten sind in einem neuen Anhang V dargestellt, der im Wesentlichen dem alten Anhang V plus zwei weiterer Tests entspricht. AuBer-dem sind Angaben zur Verwendung und zur Exposition des Stoffes zu liefem, so dass insgesamt eine erste Risikoeinschatzung eines Stoffes moglich ist. Fiir Stoffe zwischen 1-10 Tonnen sollen anstelle der Keminformationen nur die verfiigbaren Informationen eingereicht werden.

Stufe 2 - Risikobasierte Prioritatensetzung: Die Agentur verteilt alle vorre-gistrierten Stoffe auf der Basis der gelieferten Keminformationen und dem aus ihnen ersichtlichen Risiko auf 4 Prioritatslisten. Die Priorisiemng erfolgt an-hand der Kriterien Menge, inharente Stoffeigenschaften und Exposition. Eine Ausnahme bilden die CMR- und vPvB-Stoffe sowie Stoffe iiber 1000 Jahres-tonnen, deren Registriemng bereits nach flinf Jahren - also mit Ablauf der Frist fiir die Angabe der Keminformationen fiir alle anderen Stoffe - abgeschlossen sein soil.

Stufe 3 - Registrierung: Die Stoffregistriemng durch die Hersteller und Im­porteure erfolgt gemafi den Prioritatenlisten mit Registriemngsfristen von 5, 7, 9 und 11 Jahren nach Inkrafttreten von REACH. Uber die Keminformationen hinaus werden weitere Tests nur dann erforderlich, falls sich dies aus der Risi-kobetrachtung auf der Gmndlage der eingereichten Daten oder der Angaben zur Exposition aus Sicht der Agentur als notwendig erweist.

Stufe 4 - Evaluierung: Die Agentur evaluiert die Informationen und die vorge-schlagenen MaBnahmen zur Risikomindemng. Sie entscheidet ggf uber erfor-derliche zusatzliche Informationen, z.B. bei kumulativen Eintragen in die Um-welt.

Stufe 5 - Zulassung und Beschrankungen: Ist die Agentur zu der Auffassung gelangt, dass iiber die von den Firmen vorgeschlagenen RisikomindemngsmaB-

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Menge oder Risiko? 107

nahmen hinaus zusatzliche allgemein giiltige MaBnahmen in der EU notwendig sind, so wird sie Verbots- und BeschrankungsmaBnahmen vorschlagen. Fiir spezielle Anwendungen zu bestimmten Stoffen kann sie ein Autorisierungsver-fahren einleiten.

Wie beim Kommissionsvorschlag ware das Registrierungsverfahren fiir die rund 30.000 Altstoffe nach Ablauf von 11 Jahren nach Inkrafttreten der Ver-ordnung abgeschlossen. Durch den risikobasierten Ansatz, so das zentrale Ar­gument des VCI, konnten die mit der Registrierung verbundenen Belastungen ohne EinbuBen fur den Gesundheits- und Umweltschutz erheblich reduziert werden. Die Befurworter der risikobasierten Herangehensweise sehen aus die-sem Grund deutliche Vorteile des modifizierten Ansatzes:

•=> friihe Ubersicht iiber alle Stoffe in der EU und Keminformationen iiber die 30.000 Altstoffe bereits nach 5 Jahren;

•=> die Vorregistrierung schafft Planungssicherheit fur Hersteller, Weiter-verarbeiter und Anwender;

•=> nur ein Registrierungszeitpunkt pro Stoff. Auf der Grundlage der Vorre­gistrierung eroffnet dies bessere Moglichkeiten fur die Konsortienbildung von Untemehmen bei der Registrierung;

^ mehr Sicherheit fiir Menscii und Umwelt, weil Stoffe mit hohem Risiko zuerst bearbeitet werden;

^ die Registrierung ist einfaclier und kostengiinstiger, da weitergehende Priifanforderungen von der Exposition und dem bestehenden Risikomana-gement abhangig sind - und nicht von den Mengen;

•=> der Ansatz ist innovationsfreundlicher. Die Stoffe werden unabhangig von der Menge registriert, so dass Zeitverzogerungen durch zusatzliche Tests bei Uberschreiten einer Mengenschwelle entfallen. Die Flexibilitat hinsichtlich des Einsatzes und der Verfugbarkeit von Stoffen wird erhoht. Die Gefahr einer Stoffselektion allein aufgrund von okonomischen Fehlan-reizen wird vermindert.

Der Vorschlag des VCI fur eine risikobezogene Prioritatensetzung besticht zunachst durch seine Einfachheit und Risikoorientierung. Allerdings ist auch dieses Konzept, wie der Mengenschwellenansatz der Kommission, nicht frei von Schwachstellen. Im folgenden Abschnitt sollen die Hauptkritikpunkte kurz dargestellt werden.

3.4 Kritik am risikobasierten Ansatz des VCI

In der Literatur sind mittlerweile eine Reihe von Bedenken gegen den VCI-Vorschlag angefuhrt worden (SRU 2004: 454; BMU 2005; UBA 2005). Drei Bedenken stechen dabei besonders hervor, die hier aufgegriffen werden sollen:

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108 Ralf Nordbeck/ Bemd Hansjiirgens

1. bei dem Vorschlag handele es sich nicht um ein risikobasiertes, sondem vielmehr um ein expositionsorientiertes Konzept, auf dessen Grundlage ei-ne Abschatzung der Umwelt- und Gesundheitsrisiken nur unzureichend moglich sei;

2. der Vorschlag verlagere die Beweislast, entgegen der Zielrichtung von REACH, wieder von den Untemehmen auf die Behorden.

3. der Vorschlag gehe zu Lasten kleiner und mittelstandischer Betriebe.

ad 1: Der Vorschlag des VCI sieht vor, aus den Keminformationen und aus wenigen Expositionskategorien die Risikokonstellationen zu erfassen, die Stoffe entsprechend dieser Risikokonstellation in Prioritatslisten zu gruppieren und auf der gleichen Datenbasis auch die Notwendigkeit von Langzeittests zu bestim-men. Dabei geht der Vorschlag davon aus, dass von den akuten Wirkungen eines Stoffes auch auf seine Langzeitwirkungen geschlossen werden kann.

Demgegentiber hat das Bundesumweltministerium in seiner Stellungnahme zum VCI-Vorschlag deutlich gemacht, dass es weder fiir die Humantoxikologie noch fur die Okotoxikologie moglich sei, aus dem vom VCI angebotenen Kem-datensatz Wirkungsaussagen fiir Langzeitwirkungen abzuleiten. Dieser enthalte nur Daten zu Kurzzeittests, mit denen ausschlieBlich akute Wirkungen erfasst wiirden. Im Mengenbereich unter 10 Tonnen waren sogar nur verfiigbare In-formationen einzureichen. Als Fazit stellt das BMU fest, dass aus dem Kemda-tensatz „weder die genannten Prioritatslisten risikobezogen noch die Risiken fiir Langzeitwirkungen abgeleitet werden konnen" (BMU 2005: 12).

Dies hat den VCI dazu bewogen, nur mehr von einer expositionsorientierten Testung zu sprechen und die Priifanforderungen allein aus den Expositionen abzuleiten. Der Mangel an Daten zur Exposition ist allerdings die Schwachstelle der bisherigen Chemikalienregulierung schlechthin gewesen, da es sehr schwie-rig ist, die Exposition gegentiber Stoffen belastbar abzuleiten. Diese Schwierig-keit zieht sich wie ein roter Faden durch die Vergangenheit der Altstoffbewer-tung nach altem Chemikalienrecht (BMU 2005: 12). Auch der Sachverstandigenrat fiir Umweltfragen hat erhebliche Bedenken gegenuber rein expositionsgestiitzten Testanforderungen geauBert (SRU 2004: 455).

ad 2: Eines der zentralen Anliegen des Kommissionsvorschlags ist, die Eigen-verantwortung der Untemehmen fiir ihre Produkte zu starken. Demzufolge erstellt der Hersteller eigenverantwortlich das Registrierungsdossier. Die Be-griindungslasten fiir die Stoffbewertung, die Einstufimg, zusatzlich erforderli-che bzw. nicht erforderliche Tests und ggf Vorschlage fiir Risikominderungs-maBnahmen liegen beim Hersteller. Demgegentiber verlagert der VCI-Vorschlag Arbeits- und Begriindungslasten auf die Agentur (UBA 2005: 1). Diese ist fiir die Erstellung des Stoffregisters zustandig, sie muss die Richtigkeit der Zuordnung zu den Prioritatslisten gewahrleisten, schlieBlich muss sie ent-

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scheiden, fflr welche Stoffe zusatzliche Langzeittests erforderlich sind und dies gegeniiber den Untemehmen begrtinden und durchsetzen. Der VCI-Vorschlag fiihrt hier die Mangel der EG-Altstoffverordnung fort und widerspricht dem grundsatzlichen Ziel von REACH, die Verantwortung und Beweislast flir die Ermittlung der Stoffeigenschaften und der Exposition von den Behorden auf die Untemehmen zu verlagem.

ad 3: Der VCI-Vorschlag erhoht tendenziell die Kosten von Stoffen mit gerin-gen Produktionsvolumen, sofem diese offen und verbrauchemah verwendet werden. In diesem Fall (hohe Exposition) sind weitere Daten notwendig, so dass sich der Aufwand fiir die Datenerstellung erhoht. Betroffen sind hiervon vor-rangig kleine und mittlere Untemehmen. Bei den hochvolumigen Stoffen, die meistens von groBen Untemehmen hergestellt werden, trate hingegen eine Ent-lastung ein. Problematisch sind femer Konstellationen, bei denen einzelne Ver-wendungen eines Anwenders eine hohere Exposition vemrsachen. Die Herstel-ler werden hier versucht sein, die entstehenden Kosten fur zusatzliche Tests auf die Anwender abzuwalzen. In diesem Szenario ist ein jahrelanges Ringen zwi-schen Behorde und Hersteller/Anwender iiber Expositionen, die von den regist-rierten Kategorien abweichen, vorprogrammiert, inklusive etwaiger Haftungs-fragen bei fehlerhafter Einstufung eines Stoffes.

4 Abschatzung der Innovationswirkungen der alternativen Ansatze zur Registrierung von Stoffen

Die Chemikalienreguliemng in der EU kostet zu viel und ist deshalb innovati-onshemmend. Diese These hat die Diskussion iiber die Chemikalienpolitik in den vergangenen Jahren stark dominiert. Die Gmndlage fiir diese Behauptung bildet die Studie von Fleischer et al. (2000), in der die Reguliemng von Neu-stoffen in der EU, Japan und den USA vergleichend untersucht wurde. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die starren Testanfordemngen nach dem Mengenschwellenkonzept in der EU zu dreifach hoheren Kosten bei den Neu-stoffanmeldungen fiihren, wahrend im Vergleich mit den USA nur ein Drittel an Neustoffmnovationen in der EU stattfmdet. Dem Ganzen stiinde femer kein nennenswerter Zugewinn beim Schutz vor Umwelt- und Gesundheitsrisiken gegeniiber. Fleischer kommt insgesamt zu dem Schluss: „Die risikoorientierten Systeme sind im Durchschnitt kostengiinstiger, schneller und effektiver als Systeme mit starren Testanfordemngen" (Fleischer 2001: 24).

Die Ergebnisse der Studie sind mittlerweile von mehreren Autoren kritisiert worden (Mahdi et al. 2002, Nordbeck u. Faust 2002). Hinterfragt wurden so-wohl die Einschatzung der Effektivitat und Effizienz der unterschiedlichen Reguliemngssysteme in den USA und der EU als auch der Zahlenvergleich bei den Neustoffanmeldungen.

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110 Ralf Nordbeck/ Bemd Hansjurgens

Neuere Untersuchungen zeigen zudem, dass die These einer innovations-hemmenden Neustoffregulierung zu kurz greift (Nordbeck 2005: 136). Denn die primare Innovationswirkung der bestehenden europaischen Chemikalienregulie-rung ist die Verlagerung der untemehmerischen Innovationsaktivitaten in den Altstoffbereich. Diese Entwicklung geht zu Lasten der Neustoffentwicklung und schlagt sich in einer geringeren Zahl von Neustoffanmeldungen in der EU nieder. Das sektorale Innovationsmuster ist in der EU demnach weniger durch Stoffinnovationen gekennzeichnet als vielmehr durch neue Formulierungen und Anwendungen bereits bekannter Stoffe. Beriicksichtigt man diesen Zusammen-hang, so stehen insgesamt betrachtet die europaischen Untemehmen in ihren Innovationsaktivitaten nicht hinter den amerikanischen oder japanischen zu-riick.

Vor diesem Hintergrund sollen im folgenden Abschnitt die Innovationswir-kungen des mengenorientierten Kommissionsvorschlags und des risikobasierten VCI-Vorschlags dargestellt und bewertet werden.

4.1 Innovationswirkungen des Kommissionsvorschlags

Die Europaische Kommission hat in ihren Verordnungsvorschlag eine Reihe von neuen Mechanismen und Anreizen eingebaut, um die Informationsproble-me der Altstoffregulierung und die Innovationsprobleme der Neustoffregulie­rung simultan zu beheben:

^ Integration der Alt- und Neustoffe: Die Auflosung des bisherigen „dualen Systems" fiir Alt- und Neustoffe und die Schaffiing eines einheitlichen Rahmens fiir alle Stoffe ist die wichtigste Veranderung unter REACH. Die Vereinheitlichung schafft nicht nur mehr Transparenz in der Chemikalien-regulierung, sondem beseitigt zugleich die gegenwartige Diskriminierung der Neustoffe durch hohe Anmeldekosten, die gegeniiber den frei vermark-teten Altstoffen als Markteintrittsbarriere wirken. Die Integration wird sich daher positiv auf die zukiinftige Entwicklung von neuen Stoffen auswirken. Andererseits belastet die neue Regelung die vorherrschenden Innovations­aktivitaten der chemischen Industrie im Bereich der Zubereitungs- und An-wendungsinnovationen zukiinftig mit hoheren Kosten.

•=> Ubergangsregelungen fur Altstoffe: Die langen Ubergangsfristen helfen den Untemehmen in zweifacher Hinsicht (Wolf u. Delgado 2003: 24): sie bieten erstens gentigend Zeit, um sich mit der neuen Regulierung vertraut zu ma-chen und die notwendigen Informationen fiir die Registrierung zu sammeln. Zweitens werden durch die Ubergangsfristen die fmanziellen Belastungen der Untemehmen liber einen Zeitraum von bis zu elf Jahren gestreckt, so dass hier kein Anlass besteht, fmanzielle Ressourcen kurzfristig aus ande-

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Menge oder Risiko? I l l

ren Untemehmensbereichen, wie zum Beispiel der Forschung und Entwick-lung von innovativen Verfahren oder Produkten, abzuziehen. Anhebung der Mengenschwellen: Die Mengenschwelle fur eine Registrie-rungspflicht ist unter REACH fiir Neustoffe von 10 kg auf 1 Tonne ange-hoben worden. Die nachfolgenden Mengenschwellen, die zusatzliche In-formationspflichten auslosen, sind dementsprechend auf 10 Tonnen (Grunddatensatz), 100 Tonnen (Stufel-Tests) und 1000 Tonnen (Stufe2-Tests) angehoben worden. Die Informationsanforderungen fiir Stoffe mit einer Herstellungsmenge zwischen 1 und 10 Tonnen sind auf ein Minimum reduziert worden. Diese MaBnahmen sind getroffen worden, um mehr Frei-raume fiir Stoffmnovationen zu schaffen und die Kosten von REACH ins-besondere fiir kleine und mittlere Untemehmen zu reduzieren, da diese Un-temehmen tiberwiegend im unteren Mengenbereich tatig sind. Unterhalb der Mengenschwelle von 1 Tonne wird durch die neue Regulierung form-lich eine Spielwiese fiir Innovationen eingeraumt. Die Anhebung der Men­genschwellen lost damit eines der oft angefiihrten Innovationsprobleme der Neustoffregulierung. Stdrkere Risikoorientierung: Der Verordnungsvorschlag orientiert sich weiter am Mengenschwellenansatz, erganzt diesen jedoch um risikoorien-tierte Elemente. So sind die Testanforderungen abhangig von der Menge und den Stoffeigenschaften, und Stoffe mit hohen Produktionsmengen oder gefahrlichen Eigenschaften werden unter dem neuen System prioritar be-handelt. Dariiber hinaus sind Stoffe, die als ungefahrlich gelten (Anhang II), und Stoffe, die in der Natur vorkommen (Anhang III), von der Regist-rierung ausgenommen. Das Risiko bestimmt unter REACH also zumindest den Zeitpunkt, wann ein Stoff getestet wird (nach drei, sechs oder elf Jah-ren), und verzichtet fiir die bekanntermaBen ungefahrlichen Stoffe auf eine Registrierung. Die Kombination von mengen-, eigenschafts- und expositi-onsgestiitzten Registrieranforderungen ist zweifelsohne eine deutliche Fle-xibilisierung gegentiber den bisherigen starren Testanforderungen in der EU. Sie ist deshalb als Instrument gut geeignet, die Kosten der Registrie­rung zuktinftig zu reduzieren und Freiraume fiir innovative Aktivitaten zu erhohen. Fokussierung aufhochkritische Stoffe: Durch das Zulassungsverfahren wird zudem der Schwerpunkt auf die hochkritischen Stoffe mit gefahrlichen Ei­genschaften gelegt und ein Anreiz fiir die Substitution dieser Stoffe durch weniger gefahrliche Ersatzstoffe oder alternative Technologien gesetzt. Von dem Zulassungsverfahren gehen daher nach wie vor die starksten Impulse fiir eine Anderung der Innovationsrichtung aus. Kostenminimierende neue Verfahren der Informationsgewinnung: Durch die Nutzung innovativer Verfahren der Informationsgewinnung wie

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112 Ralf Nordbeck/ Bemd Hansjurgens

(Q)SAR^ oder Stoffgruppen- und Analogiekonzepte schafft REACH die Voraussetzungen, um die Kosten der Registrierung fur die Hersteller und Importeure deutlich zu senken und auf unnotige Tierversuche zu verzichten. Die Einflihrung von Verwendungs- und Expositionskategorien konnte die-sen Effekt noch verstarken und zu einer weiteren Vereinfachung der Regist-rieranforderungen insbesondere fur die kleinen und mittleren Untemehmen beitragen.

O Ausnahmeregelungen: Der Verordnungsvorschlag der Kommission defi-niert eine Reihe von Fallen, in denen Stoffe von der allgemeinen Registrie-rungspflicht ausgenommen sind bzw. geringeren Informationspflichten un-terliegen. Generell ausgenommen sind die Stoffe des Anhangs II, die als ungefahrlich gelten, und die Stoffe des Anhangs III, die aus natiirlichen Prozessen entstehen oder Teil der naturlichen Umwelt sind. Weitere Aus-nahmen und Erleichterungen bei den Registrierungsanforderungen sind fur Polymere, isolierte Zwischenprodukte und Stoffe in der produkt- und pro-zessorientierten Forschung und Entwicklung vorgesehen.

Ob die Innovationsanreize im Resultat tatsachlich zu den gewiinschten Innova-tionswirkungen fiihren, ist in der laufenden Diskussion sehr umstritten. Die Studien sehen sowohl positive wie negative Innovationswirkungen als Folge des Kommissionsvorschlags. Kurzfristig konnen die negativen Innovationswirkun­gen aufgrund von Kostenbelastungen und Unsicherheiten dominieren. Die Mehrheit der Studien kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass mittel- bis langfris-tig die positiyen Innovationswirkungen Uberwiegen (siehe auch Nordbeck 2005). In der Tat enthalt der Verordnungsvorschlag der Kommission eine Fiille von neuen Anreizen, die sich positiv auf die Entwicklung von Neustoffen und auch den Ersatz gefahrlicher Altstoffe durch ungefahrlichere Stoffe auswirken werden. Der Kommissionsvorschlag setzt den Innovationsschwerpunkt zukiinf-tig im Bereich der Stoffmnovationen und leitet damit eine Abkehr von der regu-lativen Bevorzugung der Zubereitungs- und Anwendungsinnovationen ein. Erganzt werden die Innovationsanreize fiir die Neustoffentwicklung durch ein effektiveres staatliches Risikomanagement fiir besonders gefahrliche Stoffe durch das Zulassungsverfahren. Das Substitutionsprinzip fiir diese Stoffe ist der zweite Baustein zur Verbesserung der Innovationswirkungen und zugleich das entscheidende Instrument zur Veranderung der Innovationsrichtung.

4.2 Innovationswirkungen des risikobasierten VCI-Vorschlags

Der VCI erhofft sich durch seinen Vorschlag eines risikobasierten Ansatzes vor allem zwei innovationsrelevante Wirkungen: zum einen eine geringere Kosten-

SAR heiJ3t quantitative structure-activity relationship und bezeichnet den Ansatz, aus der chemi-schen Struktur von Stoffen auf ihre Eigenschaflen zu schliefien.

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Menge oder Risiko? 113

belastung fiir KMUs in der Bandbreite zwischen 1 und 10 Tonnen, so dass es nicht zu einer Produktrationalisierung allein aus wirtschaftlichen Griinden kommt und damit der gesamte Innovationspool bei den Altstoffen erhalten bleibt, und zum anderen die Vermeidung von Zeitverzogerungen durch zusatz-liche Datenanforderungen und Informationen bei Uberschreiten einer Mengen-schwelle (Fink 2005: 8). Daniber hinaus sind einige der Innovationsanreize aus dem Kommissionsvorschlag auch fur den VCI-Vorschlag relevant, zum Beispiel die Integration von Alt- und Neustoffen, die Nutzung der Ubergangsfristen und die Anhebung der Mengenschwellen bei den Neustoffen.

Ob und inwiefem Produktrationalisierungen unter dem Kommissionsvor­schlag iiberhaupt zu erwarten sind, war Gegenstand einer Studie im Auftrag von CEFIC und der Europaischen Kommission (KPMG 2005). Die Studie kam zu dem Schluss, dass es keine Anzeichen flir eine Produktrationalisierung bei Stof-fen mit hohen Produktionsmengen gebe. Das groBte Risiko, aufgrund von REACH weniger oder iiberhaupt nicht mehr profitabel zu sein, bestehe flir Stof-fe unterhalb von 100 Tonnen Jahresproduktion. Von den 152 untersuchten Stof-fen gab es jedoch nur bei 10 Stoffen Anzeichen daflir, dass sie unter REACH weniger oder iiberhaupt nicht mehr profitabel seien und somit unter Umstanden vom Markt genommen wiirden. Dies entspricht einer Rate von 6,5% iiber den gesamten Zeitraum von elf Jahren bzw. einer jahrlichen Substitutionsrate von 0,6%. Dieser Wert ist deutlich niedriger als die bisherigen Annahmen, ging doch die Kommission bisher von einer Produktrationalisierung von 10 bis 20%) und der VCI sogar von einer Rate zwischen 20 und 40 % aus.

Insofem gibt es berechtigten Anlass zu der Annahme, dass mit dem Uber-gang zu einem risikobasierten Ansatz ein marginales Problem gelost wird, und die resultierenden zusatzlichen positiven Innovationseffekte gegeniiber dem Kommissionsvorschlag ebenfalls gering einzuschatzen sind. Dies ist umko be-denklicher, als diese marginalen Innovationswirkungen mit deutlichen Abstri-chen bei den verfiigbaren Daten iiber die Stoffeigenschaften und die Exposition von Mensch und Umwelt erkauft werden.

Dariiber hinaus ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht geklart, ob der risikobasierte Ansatz des VCI die Kosten flir kleine und mittlere Untemehmen nicht tenden-ziell erhoht, anstatt sie, wie behauptet wird, zu senken. Die im Abschnitt 3.4 vorgetragenen Bedenken sind Grund flir eine nicht zu optimistische Einschat-zung der moglichen Kostensenkungen durch den VCI-Vorschlag.

Kritisch stimmt femer, dass einer der zentralen Innovationsanreize flir die zuktinftige Innovationsrichtung, namlich das Zulassungsverfahren flir besonders gefahrliche Stoffe, im VCI-Vorschlag faktisch nicht mehr vorgesehen ist. Nur in wenigen Ausnahmefallen soil uberhaupt von einer gemeinschaftlichen Rege-lung in Form von Beschrankungen, Stoffverboten oder einer Zulassung Gebrauch gemacht werden. Damit flihrt der VCI-Vorschlag die Fehler der Alt-stoffverordnung fort. Innovationsanreize werden in einem solchen Verfahren

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114 Ralf Nordbeck/ Bemd Hansjiirgens

nur einzelfallorientiert erzeugt. Im Gegensatz zu dem geplanten Zulassungsver-fahren des Kommissionsvorschlags ist dieses Verfahren nicht geeignet, um dynamische Anreize zur Stoffsubstitution fiir ganze Gruppen besonders kriti-scher Stoffe (CMR-, PBT- und vPvB-Stoffe) auszulosen.

5 Zusammenfassung und Bewertung

Der vorliegende Beitrag analysierte die Wirkungen des institutionellen Designs in der Chemikalienregulierung im Hinblick auf Innovationen zum nachhaltigen Wirtschaften. Dabei wurden zwei zentrale Ausgestaltungsvarianten der Chemi­kalienregulierung, das mengenorientierte Verfahren des REACH-Ansatzes sowie ein risikobasierter Ansatz, gegeniibergestellt.

Die kritische Darstellung des mengenorientierten Kommissionsvorschlags und des risikobasierten Gegenvorschlags haben gezeigt, dass beide Ansatze spezifische Probleme aufweisen. Der risikobasierte Ansatz iiberzeugt argumen-tativ durch seine Klarheit und ware aus wissenschaftlicher und okonomischer Sicht der bessere und wohl auch gerechtere Ansatz. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich aber Defizite dieses Ansatzes: Die prioritaren Stoffe zu klassifizie-ren erfordert ein mehrstufiges Verfahren, in dem sowohl das intrinsische Gefah-renpotential der Stoffe als auch das Risiko einer Exposition identifiziert werden muss, um das Stoffrisiko angemessen bewerten und managen zu konnen. Dieses mehrstufige Verfahren erhoht den biirokratischen Aufwand und verlagert Be-weislasten auf die Europaische Chemikalienagentur. Der angebotene Kemda-tensatz ist fiir eine adaquate Risikobewertung unzureichend, und es ist zweifel-haft, ob mit diesem Konzept wirklich das gleiche Schutzniveau fur Mensch und Umwelt erzielt wird. Die Kostenentlastungen sind vor allem bei hohen Produk-tionsmengen zu erwarten, wovon in erster Linie GroBuntemehmen profitieren. In den mittleren und niedrigen Mengenbereichen, und damit vor allem fiir die KMUs, sind Kostenentlastungen durch die Einfiihrung eines risikobasiertes Konzept weitaus weniger sicher.

Demgegeniiber mangelt es bei der mengenorientierten Registrierung an einer effizienten Allokation der eingesetzten Mittel entsprechend dem Stoffrisiko. Tatsachlich konnen Kosten auftreten, ohne dass dadurch ein Beitrag zur Minde-rung von Umwelt- und Gesundheitsrisiken geleistet wird. Andererseits bringt auch der mengenorientierte Ansatz Vorteile fiir die Wirtschaft mit sich, well er sehr transparent und gut planbar ist. Bei diesem Ansatz wissen Untemehmen mit Inkrafttreten von REACH bereits, wann sie Stoffe registrieren miissen, im Gegensatz zum VCI-Vorschlag, wo diese Planungssicherheit erst nach einigen Jahren mit der Vorlage der Prioritatslisten durch die Agentur erreicht wird. Femer ist der Kommissionsvorschlag nicht nur an Mengenschwellen ausgerich-tet, sondem kombiniert mengen-, eigenschafts- und expositionsorientierte Krite-rien.

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Menge oder Risiko? 115

Mittel- bis langfristig ist von positiven Innovationseffekten des Kommissi-onsvorschlags auszugehen, auch wenn kurzfristig negative Innovationswirkun-gen dominieren konnen. Im Neustoffbereich werden unter REACH deutliche Verbesserungen gegeniiber der bisherigen Neustoffrichtlinie geschaffen. Dem-gegeniiber ist der risikobasierte Ansatz ist in erster Linie auf die Vermeidung moglicher negativer Innovationswirkungen durch zu hohe Kosten ausgerichtet. Die Kosten fur die Registrierung der Altstoffe sind aber nach jungsten Studien geringer als von der Industrie angenommen und wirken sich nicht prinzipiell negativ auf das Innovationsverhalten der Untemehmen aus (KPMG 2005). Eines der zentralen Innovationsargumente des risikobasierten Ansatzes, den Wegfall von Altstoffen allein aufgrund wirtschaftlicher Uberlegungen zu ver-hindem, hat dadurch stark an Uberzeugungskraft verloren. Zudem bietet der risikobasierte Ansatz, wie er vom VCI vorgeschlagen wird, durch die faktische Abschaffung des Zulassungsverfahrens deutlich weniger Anreize zur Anderung der Innovationsrichtung.

Insgesamt ist nach dem Gesagten nicht davon auszugehen, dass die Einfiih-rung eines risikobasierten Registrierungsverfahrens statt des mengenorientierten Ansatzes zu einer deutlichen Steigerung der Innovationsanreize unter REACH ftihren wird.

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Neue Arbeit. Impuls fur eine nachhaltige Entwicklung?

Reinhard Paulesich

1 Neue Arbeit

Das Konzept zu NA ist mit der Grlindung eines ersten gleichnamigen Zentrums zu Beginn der 1980er Jahre in Flint (Michigan, USA) entstanden. GM entlieB an diesem Standort als Folge der Automatisierung nahezu die Halfte seiner Belegschaft. Es formierte sich eine Gruppe, die meinte, es gabe bessere Losun-gen als ,halb Flint' arbeitslos zu machen. Eine davon ware nur die Halfte des Jahres zu arbeiten und die andere Halfte der Entwicklung verborgener Talente und Fahigkeiten zu widmen, die nicht nur zu erftillenderen Tatigkeiten sondem auch zu einem ,substantiellen Einkommen' ftihren sollten. Das Lohnarbeitssys-tem wiirde bereits 200 Jahre nach seiner Einfiihrung an schwerwiegenden Man-geln kranken, woraus sich die Berechtigung einer grundlegenden Neuorganisa-tion ableiten lieBe. Zweck der Arbeit solle es sein, dem Menschen zu dienen und nicht umgekehrt (Bergmann 2004, ll).Ziel sei es, die Arbeit so zu trans-formieren, dass sie fi*eie selbstbestimmte menschliche Wesen hervorbringt.

Es wurde daraus die an die Handlungsforschung angelehnte Begleitung von Initiativen und im Weiteren die Entwicklung eines Konzepts von ,Neue Arbeit'. Dieses diagnostiziert eine „Pathologie des Lohnarbeitssystems" (Bergmann 2004, 84) aufgrund zweier sich wechselseitig bedingender Entwicklungen:

•=> Die sich immer mehr offnende Schere zwischen Arm und Reich aufgrund steigender Arbeitslosigkeit und sinkenden Einkommen in den beiden unte-ren Drittel der Einkommensbezieher;

•=> Parallel dazu steigen Anforderungen und Druck auf jene, die einen Arbeits-platz haben bzw. fi'eiberuflich tatig sind.

Die Pathologic besteht welters aus einer weltweit steigenden Armut bei gleich-zeitiger Verschwendung von Arbeitskraft und Ressourcen. Der Vorwurf lautet auf ,eklatante Unproduktivitat des Lohnarbeitssystems', die nur durch drasti-sche und innovative Losungen beseitigt werden kann. „[...] das bloBe Durch-driicken des wirtschaftlichen Gaspedals, was ja das Rezept des Neoliberalismus ist" hilft da wenig (Bergmann 2004, 86). Es zeuge von schlechter Organisation, dass soziale Bedarfe in zB. Gesundheit oder Erziehung nicht abgedeckt und nahezu grenzenlose Bediirfiiisse nach kreativer Entfaltung oder Bildung nicht befi-iedigt werden konnten. Dariiber hinaus werde die Botschaft verbreitet, der

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118 Reinhard Paulesich

Gesellschaft ginge die Arbeit aus, und ginge man ihrer verlustig, ware man selber oder besser gesagt fehlende Fertigkeiten schuld daran.

NA ist derzeit in den DACH Landem ein Netzwerk aus Initiativen und Pro-jekten mit einer grob strukturierten und lockeren Kooperationsbeziehung. Mit-tels Workshops werden Aspekte des Konzeptes vertieft bzw. Konkretisierungen mancher Projektvorhaben vorangetrieben. Das lose Netzwerk bietet ein Portal im Web (www.neuearbeit-neuekultur.de), das den Zugang zu Informationen zu den einzelnen Projekten ermoglicht. Es wird in Freiburg von einem entspre-chenden Verein betreut, der auch die Europaaktivitaten von Frithjof Bergmann betreut und koordiniert.

1.1 Konzeption

Die vorliegende Darstellung ist eher als eine erste Exploration denn eine tief-schiirfende Analyse zu verstehen. Es sollen die Fragen beantwortet werden: Woraus besteht das NA Konzept und wie weit ist es in seiner Umsetzung? In-wieweit ist ein Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung tiberhaupt schon identifi-zierbar?

„Der urspriingliche Impuls der Neuen Arbeit war, Technologien zusammen-zubringen oder zu erzeugen, die es Menschen erlauben, ein freies und selbst-standiges Leben zu fuhren, doch ohne die schweifitreibende und seelenzersto-rende harte Arbeit [...]." [wie sie das ,Jobsystem' mit sich bringt, d.Verf] (Bergmann 2004, 231). Die Vision, die die Entwicklung von Projekten zur Neuen Arbeit vorantreibt, entwirft eine Gesellschaft, die nur mehr zu einem Drittel ihrer Zeit einer Erwerbsarbeit im herkommlichen Sinn nachgehen wird. In einem weiteren Drittel der Zeit wird der Eigenbedarf in gemeinschaftlich organisierter Produktion gedeckt. Das tragt nicht nur zur Senkung der Lebens-haltungskosten sondem auch zur Erhaltung der Nahversorgung bei. Das dritte Drittel dient dazu, jenen Personlichkeitsbereich auszuloten, der zu einem erfull-ten aktiven Leben fuhrt. Ziel ist es, die eigene Berufung zu erkennen und das zu tun, was man ,wirklich wirklich' will.

Die Berufung erkennen bzw. der Weg zu dieser Erkenntnis hat mehrere Be-deutungsebenen:

•=> Es ist der inhaltlich entscheidende Teil des Konzepts; •=> es ist eine Kemaufgabe fur die Einzelperson und der erste Schritt zur NA; •=> dieser Schritt bestimmt jedwede weitere individuelle - und Gruppenorgani-

sation von ,Arbeit'.

Eine nach NA Prinzipien organisierte Wirtschafl braucht Zeit zur Entwicklung und Entfaltung, um die jeweils individuellen Berufungen entdecken und ihnen folgen zu konnen. Bergmann leitet mit Blick auf die Erkenntnisse modemer Personalentwicklung positive Riickkoppelungseffekte auf Produktivitat, Kreati-

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Neue Arbeit. Impuls fiir eine nachhaltige Entwicklung? 119

vitat und Innovationskraft eines Wirtschaftsraumes ab. Im Vordergrund der konzeptionellen Entwicklungsanstrengungen steht folglich nicht eine straffe Zeitplanung, sondem eine strategisch von den sozialen Kontexten der Projekte abhangige Vorgangsweise.

Das bedeutet in der Projektpraxis freilich einen Suchprozess auf sich neh-men, der sich langwierig gestalten kann, bedenkt man Einfliisse auf die Wahl der Ausbildung, des Berufs oder Arbeitsplatzes auf die Projektteilnehmer. Kon-sequenterweise besteht die Mehrzahl der in den untersuchten Projekten ange-flihrten Angebote aus Untersttitzung zum Lemen, personlicher Beratung und Orientierungshilfen. Die Projekte verstehen sich im gegenwartigen Stadium als Werkstatt fiir Bildung und Experimente.

Das NA Konzept bietet damit zuerst einmal ein zweidimensionales Modell, in dem tiber die individuelle Selbstfmdung ein Zugang zu organisierter Arbeit geschaffen wird. Es gibt keine Vorgaben oder Einschrankungen. Projekte ent-stehen aus ihren sozialen Kontexten heraus und bauen auf allgemeine menschli-che Beweggriinde, etwas ,sinnvolles' und ,flir die Gesellschaft ntitzliches' tun zu wollen. Was konstituiert nun eine ,neue' Kultur?

Tabelle 2: Neue Arbeit - Vision von der Zeitverwendung

V. Erwerbsarbeft

Gelderwerb zum Kauf jenar Waren und Diensttefstungen, die in Ergen- bzw. Gemelnschaltsarbeft nicht hergestellt werden kann (Bergmann 2005, 314f).

% [HiTechl Gemein-scfiaftsproduktlon

DieHTGPschaffidle matdrielle Unabtiinglgkeit, um jene Arbeit machen zu kdnnen die man ,wtrkiloh wrrkllch' will. Es jst die ,Pufferzone' zwischen Geldera/erb und Frelhelt Ihre Existenz ermoglicht die ,echte' Freiheit der Wahl (Bergmann 2005, 324f). Enveiterung des Begrrffes und der Rolle des »Prosumers* (Toffler 1981,283)

V3 der eigenen Berufung folgan

Voraussetzung ist die Freiheit von Z\f^T\gbn wfe sie Unternehmenshierarchien oder die Logik der GeWwIrtschaft erzeugen (Bergmann 2005, 147f). „Das Ziei <iBf H%\xm^ Arbeit besteht nicht darih, die Menschen von der Arbeit zu befreien, sondem die Arbeit so zu transfbmiieren, damit sie freie, selbstb^timmte menschliche Wesen hervorbringt." (Bergmann 2005, 324f).

Wahrend im Jobsystem' die Einzelperson Bildung, gefordert durch die offent-liche Hand, zum dem Zweck geboten bekommt, ihre Fertigkeiten dem Unter-nehmensbedarf anzupassen, geht die NA den umgekehrten Weg. In Projekten und Experimenten wird nach jenen Arbeitsinhalten und Organisationsformen gesucht, die der Personlichkeit entsprechen und materielle Unabhangigkeit verschaffen. Wissen die Einzelnen um ihre jeweiligen Voraussetzungen zur Lebensgestaltung, dann steigt die Entscheidungssicherheit dariiber, was davon individuell und was in der Gruppe zu bewaltigen ist, was zur Deckung der

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120 Reinhard Paulesich

Grund- und was der Kulturbediirfnisse zu untemehmen ist. Die Wahlmoglich-keiten sollen nicht wie im Jobsystem durch den Druck, zuerst die Existenz si-chem zu mussen, eingeschrankt werden.

Selbstentfaltung gehort zu den grundlegendsten Bediirfnissen der Menschen. Die Frage ist nun inwieweit die Arbeit dieses Bediirfnis befriedigt und in wel-chem AusmaB unterschiedliche Organisationsformen von Arbeit dazu beitragen. Gehen wir nach Zeitanteilen vor, so leistet im globalen Vergleich Eigen- bzw. informelle Arbeit einen hoheren Beitrag als Erwerbsarbeit (Brandl, Hildebrandt (2002) S 13) Das bedeutet, dass ein GroBteil der Wertschopfting auBerhalb von Untemehmen passiert.

Das NA Konzept erinnert inhaltlich in vielem an die Eigenarbeitsdebatte, die in der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung immer wieder aufflammt (Merz / Wolff 1988; Offel991 und Littig / Leuthold 2000).Es geht aber entscheidende Schritte dariiber hinaus und beansprucht zweierlei.

1. die Riickgewinnung und Konsolidierung des Eigenarbeitsraums steht in funktionalem Zusammenhang mit Technologieentwicklungen, die Ande-rungen der Rolle des Konsumenten zum Prosumenten (Toffler, 1980 S 283 ff) mit sich gebracht haben.

2. der dadurch entstandene und sich weiter entwickelnde Eigenarbeitsraum muss politisch aufgegriffen und in einem von staatlichen Institutionen un-abhangigen Prozess gestaltet werden.

Drei Schltisseltechnologien geben fiir eine Modemisierung den Ausschlag: Internet, Mobiltelefon und Notebook; mit dem zusatzlichen Trend zur Miniatu-risierung der Hard Ware. Sie unterstiitzen die Herausbildung dezentraler Struk-turen. Betrachtet man die Entwicklung der Produktion vor allem in modemen Industrien zu immer kleiner werdenden Einheiten, so erscheint es wahrschein-lich, dass in Zukunft die AusmaBe der Produktionsstatten diesem Trend folgen werden. (Bergmann 2005, 93) Dazu kommt, dass die Grenzen der Organisation von Untemehmen vor allem in den modemen Industrien immer mehr und mehr verschwimmen. Kembelegschaften schmmpfen, periphere Arbeitsverhaltnisse nehmen zu. Immer mehr Arbeitende haben mehrere ,Arbeitgeber', sind ,Pro-jektarbeiter'.

Die Voraussetzungen fur politisches Handeln haben sich damit geandert. Das ganze Arsenal der Technologien, die zusammengenommen die Automati-siemng moglich machten, hat die Zahl der in der Industrie Beschaftigten ver-kleinert. Gleichzeitig jedoch wuchs der Dienstleistungssektor nicht in dem Mas­se, dass alle Arbeitssuchenden auch Arbeit fanden.

Eine immer groBere Zahl Erwerbstatiger ist aufgmnd der technologischen Entwicklungen ,scheinselbststandig'. Sie formen damit eine Zielgmppe fiir die Umsetzung von NA. Eine weitere Zielgmppe erwachst aus der Entwicklung des

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Neue Arbeit. Impuls fur eine nachhaltige Entwicklung? 121

Konsumenten zum Prosumenten. Als Beispiel dient hier der Trend zum Selbst-bau, auch Jkearisierung' genannt, drastischer noch die vielen in Eigenregie erstellten Eigenheime.

1.2 Stand der Umsetzung

Konsolidierung des Eigenarbeitsraums unter Nutzung der Technologieentwick-lungen bedeutet daher, die NA kann das geeignete Angebot fiir eine individuelle und proaktive Gestaltung der Veranderungen konzipieren. Die Gestaltung aber muss ein von staatlichen Institutionen unabhangiger Prozess sein solange Leis-tungen aus der Arbeitsmarktpolitik an die Qualifizierung fur den konventionel-len Untemehmenskontext gebunden bleiben. Dieser koppelt namlich die Berufs-und folglich auch die Lebensplanung an ,Einkommen' in Abhangigkeit des Wachstums von Markten und einer kaufkraftigen Nachfrage bzw. ihrer Steige-rung. Der Zusammenhang weist aber in den letzten Jahren groBer werdende Verwerfungen auf. Gute Ausbildung bietet keine Garantie fur einen Arbeits-platz.

In strategischer Perspektive sollen innovative Formen der Gemeinschafts-produktion' organisiert werden. Durch Nutzung aktueller technologischer Mog-lichkeiten soil in ,High Tech Gemeinschaftsproduktion' (HTGP) eine Selbstver-sorgung auf hohem technologischen Niveau realisiert werden. Damit ist die Vision verbunden, dass dank intelligent genutzter Hochtechnologie die Mog-lichkeit eroffnet werden kann, befriedigender, kreativer und selbstbestimmter zu arbeiten.

NA betont die soziale Dimension der Nachhaltigkeit. Dabei geht es jedoch in zweifacher Weise iiber die in der Brundtland-Defmition angesprochenen Anforderungen hinaus. Das eine Mai geht es nicht nur um die Herstellung der bloBen Moglichkeit zu einem menschenwiirdigen Leben sondem um das Recht auf die Entfaltung der individuellen Personlichkeit. Daraus leitet sich die zweite Defmitionstiberschreitung ab, namlich die Gerechtigkeitsforderung ist nicht alleine eine Agenda demokratisch marktwirtschaftlicher sondem iiber den Weg der Selbstermachtigung zivilgesellschaftlicher Institutionen.

Eine Darstellung des Konzepts muss auch kritische Seiten ansprechen. We-der in der NA Literatur noch auf den relevanten Web Sites sind Projektevaluie-rungen erwahnt. Es gibt auch keine Vorschlage zur zB. Selbstbewertung, keine Angaben zu Messpunkten oder Kriterien, die den Fortschritt auf dem Weg von der Erwerbsarbeit zur Berufung erkennbar macht. Zwar kann der Ablehnung von Checklisten als Wegweiser zugestimmt werden, well Wege zur Selbster-kenntnis und sei sie auch nur die Arbeit betreffend individuell bestimmt sind aber die angefiihrten Einzelbeispiele zeigen nur die bereits in Politikprogram-men (Bildung, Forschung usw.) verankerte Empfehlung, aus Berufung von

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122 Reinhard Paulesich

unselbststandiger Arbeit zu einer „Untemehmensgrundung" (bzw. Projektinitia-tive) zu wechseln.

Es gibt keine Vorgaben zur Vorgangsweise und Organisation der ersten Schritte. Vom Eroffnen eines Moglichkeitsraumes (Bergmann 2004, 328) ist zu lesen, doch in keinem Beispiel ist das ausgeffihrt obwohl dazu die Konsultation eines Zentrums fflr NA nahe gelegt wird. Welche Produkte kann man dort er-warten, wenn selbst die oberflachliche Beschreibung von Strukturen und Ge-schaftsfeldem fehlt? Ebenso im Unklaren bleibt die High-Tech-Eigen-Produktion als materielle Grundlage des Lebens. Ansatze sind da, Ausfuhrun-gen fehlen (Bergmann 2004, 321)

Die Darstellung der Beispiele fur die „Arbeit die man wirklich wirklich will" geraten in eine fur die weitere Erklarung des Entwicklungsweges nicht tiberbnickte und manchmal kontraproduktive Diskrepanz zwischen psychologi-sierender Darstellung individueller Befmdlichkeiten vor dem Hintergrund ge-sellschaftlicher Problemlagen, als deren Losung sich vor allem die Gemein-schaftsproduktion anbietet. So werden Zentren neuer Arbeit als Mittel der Verbreitung der Idee immer wieder angefiihrt, aber iiber ihre Wirksamkeit auf Gruppen und Organisationen gibt es keine Auskunft.

Das erschwert die Darstellung und Analyse des Standes der Umsetzung. Es kann auf kein bestehendes Referenzniveau zum Thema zugegriffen werden, zumal diese dann Entwicklungsverlaufe auf beiden Ebenen sowohl Individuum wie auch Gruppe zu beschreiben und erklaren hatte. Ein Unterfangen, das fur eine Forschung in Eigenleistung, wie es der vorliegende Beitrag darstellt, zu groBen Aufwand mit sich brachte.

Die Projekte, von denen weiter unten die Rede sein wird, haben ihre eignen Methoden entwickelt, um diesen Mangel zu beheben. Es wurden Regeln zur Kooperation erarbeitet ebenso wie zur Berichterstattung iiber den Fortschritt mit Bedachtnahme auch auf Personen unterschiedlicher Vorbildung bzw. berufli-cher Qualifikation. Bildung erfolgt durch die Projektpraxis und das Reflektieren daruber bzw. iiber die teilnehmende Beobachtung. Diese ist der Einstieg ftir an Projektteilnahme Interessierte.

2 Untersuchungsrahmen

Die Beantwortung der Frage nach dem Beitrag des Konzepts Neue Arbeit [NA] zu einer nachhaltigen Entwicklung muss zwei Aspekte beleuchten: einerseits seine Verortung in der Diskussion um die Zukunft der Arbeit auf gesamtgesell-schaftlicher kultureller Ebene und andererseits der Grad seiner Umsetzung in Projekten bzw. die Realisierung der eigenen Anspriiche im Kontakt mit den Schliisselstakeholdem.

Der erste Aspekt beriihrt das institutionelle Gefiige aus Politik und Sozial-partnem, das die Arbeitsmarktpolitik bestimmt und in dem das Thema VoUbe-

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Neue Arbeit. Impuls fur eine nachhaltige Entwicklung? 123

schaftigung bzw. Altemativen dazu erortert werden. Hier lautet die Frage, wie soil Arbeit in Zukunft gesellschaftlich organisiert (verteilt) werden angesichts der anhaltenden Krise des Arbeitsmarkts.

Der zweite Aspekt, die Projekte, ist in einem einzelwirtschaftlichen Zusam-menhang zu betrachten. Mit zunehmender Tragfahigkeit zivilgesellschaftlicher Strukturen wachsen Initiativen in Selbstorganisation an Zahl und Qualitat. Sie zielen auf eine Krisenbewaltigung in einem iiberschaubaren gesellschaftlichen Umfeld und bedienen sich dazu unterschiedlicher Nischenstrategien.

2.1 Dimension Gesellschaft

Eines der zentralen Ziele der Politik ist die Schaffung neuer Arbeitsplatze, im Begriffsverstandnis von Erwerbsarbeit, anzustoBen. Die Wahl der Mittel wird begrlindet mit der Starkung jener Ursache Wirkungskette, die bei Bildung und Forschung beginnt und auf die Steigerung der Wettbewerbsfahigkeit zielt. Wettbewerbsfahige Untemehmen, so die Annahme, konnten sich besser in ihren Markten durchsetzen und so leichter neue Arbeitsplatze schaffen. Legitimiert ist das Ziel im Wesentlichen durch zwei Griinde:

1. Im europaischen Sozialmodell erwachst aus der Erwerbsarbeit und dem daraus resultierenden Zahlungsstrom eine Reihe materieller und immateriel-ler Nutzen. Fiir die Einzelperson entstehen Anspriiche auf Versicherungs-leistungen und im weiteren auf Leistungen zur sozialen Sicherheit.

2. Erwerbsarbeit tragt zur Identitat bei. Berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten sind verbunden mit Selbstwertgefiihl und Sinnstiftung.

Punkt Eins befmdet sich in Diskussion unter dem Titel Grundeinkommen. Die Bewaltigung der bloBen Subsistenz soil nicht mehr von Erwerbsarbeit alleine abhangen. Samtliche Sozialtransfers soUen in ein solches Grundeinkommen umgelegt werden. Dazuzurechnen ist das freiwerdende Geld, das sich durch den Wegfall der Administration einsparen lasst. Punkt Zwei wird weiter unten dis-kutiert unter der Frage nach dem Begriffsinhalten von Arbeit im AUgemeinen und Erwerbsarbeit im Besonderen.

2.2 Dimension Einzelwirtschaft

Das Konzept Neue Arbeit, will man es flir eine Analyse forscherisch erfassen, kann auch als ein einzelwirtschaftlicher Zugang gefasst werden. Es stellt die Eigeninitiative von Einzelnen bzw. nach Interessen homogenen Gruppen bei der gegenseitigen Unterstiitzung zur Bewaltigung der Krise des Arbeitsmarktes heraus. Der AnstoB zu Veranderungen kommt nicht von Politik und / oder Markt sondem aus den wie immer auch vorhandenen Handlungskompetenzen von veranderungswilligen Akteuren.

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124 Reinhard Paulesich

Projekte zur Neuer Arbeit entstehen vomehmlich in einem zivilgesellschaft-lichen Umfeld, das den Anspruch stellt, unabhangig von staatlichen Institutio-nen deren Leistungsdefizite durch Selbstorganisation abzudecken. Die Commu­nity und ihr Umfeld soil jenes Entdeckungsverfahren zur personlichen Berufung ermoglichen, fiir das im konventionellen Forderumfeld keine Zeit und kein Raum vorhanden sind.

Will man nun nachhaltige Entwicklung nicht nur als Begriff auffassen, der sich in einem langwierigen gesellschaftlichen Diskurs iiber Politik und Markte mit Inhalten fullt und mit Zeitverzogerung praktische Handeln wird, sondem hier und jetzt Projektpraxis anstoBen und konzipieren, miissen jeweils eigene Wege zu seiner Operationalisierung gefunden werden. (vgl. Diefenbacher 2001, 92)

Das erfordert die Konzeption von adaquaten Ordnungsstrukturen, die nach­haltige von weniger nachhaltigen Entwicklungsschritten unterscheidbar ma-chen. Zusatzlich konnen jene Teilbereiche mit Indikatoren unterlegt werden, iiber die Sicherheiten hinsichtlich ihres Bewertungsbeitrags bestehen. Daran schlieBt sich die Festlegung von Zielen und Strategien an, die Moglichkeiten des Experimentierens offen halten soUen.

Die Gruppen, die hier vorgestellt werden, haben sich aufgrund ihres Wun-sches nach Veranderungen zusammengefunden und wurden selbststandig initia-tiv. Welche Entwicklungen hat NA angestoBen bzw. welche Projektpraxis kann beobachtet werden?

3 Gesellschaft

3.1 Erweiterung des Arbeitsbegriffs

Die sozialwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung hat das Konzept der Mischarbeit vorgelegt, das sich auf einer Erweiterung des Arbeitsbegriffs grlin-det (Brandl / Hildebrandt; 2002 S 100 ff). Der Begriff ,Arbeit' erfordere eine Erweiterung, weil individuelle und gesellschaftliche Konflikte vomehmlich durch das Festhalten an der Bindung zwischen Arbeit und Gelderwerb entstehen zB. durch Koppelung der Altersvorsorge an Erwerbseinkommen. Eine Erweite­rung konnte den Blick offnen far Aspekte einer Umverteilung jenseits einer Verkniipfung mit Arbeitseinkommen.

Die Erweiterung des Arbeitsbegriffs basiert konzeptionell auf der Einsicht, nur ,nutzliche' Tatigkeit fahre zur Anerkennung als vollwertiges Gesell-schaftsmitglied. Ziel ist es, soziale Anerkennung und Sinnstiftung zu erreichen und iiber ein gesichertes Einkommen die Teilhabe an der gesellschaftlich kultu-rellen Entwicklung zu ermoglichen.

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Neue Arbeit. Impuls fiir eine nachhaltige Entwicklung? 125

Tabelle 3: Positionen zur Erweiterung des Arbeitsbegriffs (Brandl / Hildebrandt 2002, 85)

Erweiterung JA

Sektorenmodelle, die jeweils auf spezifische Merkmale der Arbeitsorganisation abstellen. Plurale Arbeitsgesellschaft in Erganzung zur Erwerbsarbeit. Kooperationsverhaltnisse auf Gegenseitigkeit anstatt Konkurrenzverhaltnisse aufgrund Markt und Geld. Pragender Begriff: .vorsorgendes Wirtschaften', das als Eigen-, Versorgungs- und Gemeinwesenarbeit organisiert ist.

Erweiterung Zuwenig

Entwicklung von der Erwerbsgesellschaft zur Tatigkeitsgesellschaft erforderlich. ,Egalitare Arbeit' als Gegenentwurf zu Erwerbsarbeit, die die Selbstentfremdung des Menschen und Ausnutzung der Natur befordert, beruht auf einenn direkten Verantwortungsverhaltnis zwischen Produzent und Produkt und ist selbstbestimmte Tatigkeit.

Erweiterung Nein

Integrative Kraft der Erwerbsarbeit dominiert nach wie vor, Flexibilisierung und Ausdifferenzierung wird im globalen Rahmen und als normaler Entwicklungsprozess betrachtet. Wirkungen auf die Identitat durcln alternative Tatigkeiten konnen den dominanten Einfluss der Erwerbsarbeit nicht ersetzen. Eigen- oder Burgerarbeit ist kein Ausweg -Arbeitslosigkeit gilt als ein die Personlichkeit zerstorender Prozess.

Eine plurale Arbeitsgesellschaft unterscheidet Arbeit nach dem Zweck, zu dem sie in Zukunft organisiert werden soUte. Folgende vier Segmente konnen be-stimmt werden:

1. Erwerbsarbeit - [ . . . ] Gelderwerb. 2. Versorgungsarbeit. Selbstversorgung von Personen und Lebensgemein-

schaften mit hauslichen Dienstleistungen - Fiirsorge. 3. Gemeinschaftsarbeit: entgeltlose Erstellung von Produkten und Leistungen

- Selbsthilfe und Solidaritat. 4. Eigenarbeit: selbstbestimmte tiber die alltagliche Versorgung hinausgehen-

de Arbeit als Ersatz fur Kaufen; enthalt ,arbeitsbezogene' Aus- und Weiter-bildung - Subsistenz.

Das Konzept der NA wird in die Kategorie Sektorenmodelle eingereiht (Brandl / Hildebrandt 2002, 102). Es stellt sich die Frage, warum? Ein Grund konnte die Rolle sein, die NA der Gemeinschaftsproduktion einraumt - Eigenversorgung. Ihre Funktion wird aber gegentiber ,Wirklich Wirklich Wollen' (eigene Beru-fiing erkennen) nachrangig behandelt.

Beziehen wir auch noch den weiter oben angesprochenen Entwicklungshin-tergrund der NA Konzeption mit ein, kann man also zwei Ansatzpunkte, die in einem Ursache Wirkungszusammenhang stehen, fur eine Begriindung identifi-zieren, um NA im Bereich ,egalitare Arbeit' anzusiedeln:

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126 Reinhard Paulesich

1. Die Diagnose zur Pathologie des Lohnarbeitssystems und 2. Die Entwicklung einer Therapie aus der Betonung der Selbstbestimmungs-

komponente.

Daraus resultiert die Einschatzung, die Gesellschaft birgt Entwicklungspotentia-le in Richtung Aufbau einer kritischen Anzahl von NA Projekten, die zur Ge-genmacht zum Jobsystem' werden konnten. Selbstbestimmte Arbeit und (wie immer auch) unabhangige Versorgung wirkten, so wird angenommen, dann auf die Untemehmen und Markte disziplinierend.

Das NA Konzept sttitzt sich auf die Begriffe Gemeinschafts- und Eigenar-beit, ohne jedoch Markt und Geld aus dem System komplett auszuschlieBen. ,Entgeltlos' und ,als Ersatz fur Kaufen' sind Eigenschaften, die NA Projekte in Abhangigkeit ihrer sozialen Kontexte und ihrer Praferenzen selber wahlen. Selbstbestimmung hingegen und in diesem Zusammenhang auch Selbstversor-gung sind pragende Merkmale jeder Form Neuer Arbeit. Damit geht der NA Ansatz iiber jenen der pluralen Arbeitsgesellschaft hinaus.

Bezieht man die High Tech Gemeinschaftsproduktion, eine zentrale Kom-ponente der NA Entwicklungsstrategie, in die tJberlegungen mit ein, so wird klar, dass Untemehmen und Markte mit den relevanten Technologien fiir eine zukiinftige Realisierung eine entscheidende Rolle spielen. Damit beruhrt man auch die Position ,Erweiterung Nein', insoweit als es vollig offen ist welches Arbeitsparadigma in einer Kooperation zwischen NA und Technologielieferan-ten dominiert. Je nachdem wird daraus eine Strukturinnovation, well eine de-zentrale Produktion Gesellschaften und Regionen unabhangiger macht, oder eine konventionelle Technikinnovation, die bestehende Losungen ohne gesell-schaftliche Veranderungswirkungen vereinfacht bzw. verbilligt.

Das NA Konzept spricht nur das Was und nicht das Wie einer Kooperation bzw. eines Umgang mit HTGP an. Es werden eine Reihe von technischen Ent-wicklungen mit NA Anschlussfahigkeit angefuhrt, aber in keinem der Beispiele wird auf die Wirkung verwiesen, die sie hinsichtlich einer Reorganisation von Arbeit hat oder haben konnte.

3.2 Wirkungsebenen

Mischarbeit ist kein neues normatives Modell, sondem ein analytisches Kon­zept, das es erlaubt einerseits die Ausdifferenzierung der Erwerbsarbeit syste-matisch zu erfassen und andererseits die Wirkungen von Kombinationen mit den anderen Arbeitsformen abzuschatzen. Die gegenwartige Kombination der vier Segmente, die bestehende Verteilung gesellschaftlicher Arbeit, erfolgt aufgrund von Wertvorstellungen und Normstrukturen, die die Erwerbsarbeit am hochsten schatzt. Veranderungen darin und ihre Wirkungen konnen auf drei Ebenen beobachtet werden: (Brandl / Hildebrandt 2002, 106).

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Neue Arbeit. Impuls fiir eine nachhaltige Entwicklung? 127

•=> Die individuelle Ebene (intrapersonelle Kombination): Der Beitrag erfolgt in alien vier Segmenten zur individuellen Bedurfnisbefriedigung und zur gesellschaftlichen wie auch marktlichen Versorgung.

•=> Die Ebene der sozialen Gemeinschaften (interpersonelle Kombination). Netzwerke im Sinne sozialer Gemeinschaften konnen Notsituationen iiber-briicken helfen wie auch durch Leistungstausch die Sicherheit der Versor­gung verbessem.

•=> Die gesellschaftliche Ebene (intrasektorale Kooperation). Mit dem Begriff Kooperation ist das Zusammenspiel der vier Segmente angesprochen. Das Mafi der Durchlassigkeit fiir individuellen Wechsel bestimmt die Integrati-onspotentiale, die eine Realisierung des Mischarbeitskonzepts beinhaltet.

Das NA Konzept zeigt in den Projekten Wirkung auf den beiden ersten Ebenen, Individuum und soziale Gemeinschaften. Diese helfen derzeit Notsituationen zu iiberbriicken, die unter anderem aus einem Mangel an Durchlassigkeit entste-hen. Das Mischarbeitskonzept sieht die Politik in der Verantwortlichkeit. Sie konnte die Wertigkeit der drei Segmente heben, die eine plurale Arbeitsgesell-schaft ergeben.

Das Ordnungsprinzip der ,Mischarbeit' eignet sich fiir die Konzeption poli-tischer Programme zur Allokation offentlicher Mittel. Doch die daraus folgem-de Logik ihrer Umsetzung stabilisiert das Jobsystem', das im NA Konzept kritisiert wird. Beteiligungsorientierte diskursive Prozesse in einer Aufgaben-dimension, wie sie die gesellschaftliche Organisation von Arbeit darstellt, gibt es noch nicht. Aktuelle Politikprogramme, die sich auf Wachstumsimpulse konventioneller Art stiitzen, werden nur in randstandigen Gesellschaftsgruppen hinterfragt.

Solche Verfahren und Prozesse miissen erst entwickelt und gelemt werden, ihre Effektivitat, Effizienz und Realisierungswahrscheinlichkeit sind weitge-hend unbekannt (Brandl,/Hildebrandt 2002, 13). Bei vermutlich weiterhin vor-herrschender Dominanz der Erwerbsarbeit sind gesellschaftlich politische Suchprozesse gefragt, die in einer veranderten Wertestruktur den Untemehmen eine neue Rolle zuschreibt namlich in einem Erganzungsverhaltnis zu altemati-ven Arbeitsformen. (Brandl / Hildebrandt 2002, 113).

Die Entwicklungsabfolge zur Realisierung des Konzepts Neue Arbeit be-ginnt mit dem Individuum und der Starkung seiner reflexiven Fahigkeiten (,wirklich wirklich wollen'). Zwar beginnt die gangige Arbeitsmarktpolitik ebenso mit individuellen BildungsmaBnahmen, doch die erfolgen mit der Ab-sicht, die individuellen Chancen im ersten Arbeitsmarkt zu verbessem. NA Projekte gibt es erst in geringer Anzahl. Sie haben noch nicht die Strahlkraft entwickeh, die fiir den AnstoB zu einem Diskurs in entscheidenden gesellschaft­lichen Teilbereichen notig ware.

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128 Reinhard Paulesich

3.3 Schlussfolgerungen und eine erste Bewertung

Aus der Verortung des NA Konzepts in einer Systematik zur Mischarbeit beste-hend aus Erweiterung der Arbeitsbegriffs, Zwecksetzung und Wirkungsebenen alleine kann noch keine Einschatzung des Beitrags zu nachhaltiger Entwicklung erfolgen. Jedoch einzuordnen ist es wie folgt:

1. Das NA Konzept geht in seinen Entwicklungsabsichten vom Individuum aus. Unter Beriicksichtigung von Aspekten einer pluralen Arbeitsgesell-schaft wird egalitare Arbeit beabsichtigt, die drei Anforderungen geniigen muss: Selbstversorgung, Selbststandigkeit und Selbstbestimmung.

2. Die Wahl des Weges bleibt dem Einzelnen uberlassen mithin auch der Weg zu einer gemeinschaftsorientierten Organisation von Eigenarbeit. Hier ist es das Ziel den Moglichkeitsraum zur HighTech Eigenproduktion zu eroffnen.

3. Das NA Konzept fiihrt mit der Betonung der Selbstbestimmung zu einer Ausdifferenzierung zivilgesellschaftlicher Strukturen. Das beinhaltet auch ein Erganzungsverhaltnis zu Untemehmen vor allem wenn man an die HTGP denkt.

Wie kann an dieser Stelle die Frage nach dem Innovationsgehalt beantwortet werden? Eine soziale Innovation im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Neuorganisation von Arbeit ware ein neues Regelsystem zur Umsetzung. Das Konzept Neue Arbeit bietet kein solches Regelsystem. Es fehlt die Ausformung zB. zu den Beitragen zivilgesellschaftlicher Institutionen und Abschatzung ihrer Wirkungen. Es bietet eine Antwort auf das Warum einer Veranderung und in ersten Ansatzen auf das Wie Beginnen.

NA ist ein untemehmerisches Konzept wie unter anderem aus der Beschrei-bung der Zukunft eines Systems aus kleinen Werkstatten hervorgeht (Bergmann 2005, 92). Damit kommen einzelwirtschaftliche Oberlegungen iiber den Innova­tionsgehalt zum Tragen. Die Abfolge in der Entwicklung von ,die eigene Beru-fiing erkennen' iiber die Entfaltung ausgebildeter Talente und angeborener Kreativitat bis zur Gemeinschaftsproduktion fiihrt zur Heranbildung einer un-temehmerischen Personlichkeit neuen Typs.

Zwei Faktoren beeinflussen die Entdeckung untemehmerischer Chancen (Fichter / Paech / Pfriem 2005, 14). Sie sind im NA Konzept vertreten als:

1. Die Pathologic des Lohnarbeitssystems aus Arbeitslosigkeit und Armut auf der einen Seite und Uberlastung und Unzufriedenheit auf der anderen Seite erfordert neue Losungen zur Arbeitsorganisation wie Eigen- und Gemein-schaftsarbeit. Chancen dazu bieten die technologischen Entwicklungen in der Mikroelektronik und die zunehmenden zahlreicher werdenden User Communities, die sich nicht nur in marktlichen (zB. Linux, eBay) sondem auch in zivilgesellschaftlichen (Lokale Okonomien) Strukturen formieren.

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Neue Arbeit. Impuls fur eine nachhaltige Entwicklung? 129

2. Die Bewertung der Chancen besteht im Falle der NA nicht in der Einschat-zung zuktinftig zu erwartender kaufkraftiger Nachfrage, sondem in der Veranderungsbereitschaft von Personen und Gruppen, die unabhangiger werden wollen von Entscheidungslogiken in Untemehmen und Sachzwan-gen in den Markten. Wtinschenswert ist die Reduktion der Erwerbsarbeit in einer zweifachen Bedeutung, namlich Lebenszeit und Sicherung der Exis-tenz.

4 Einzelwirtschaft

Der folgende LFberblick bietet eine erste Einschatzung tiber den Stand nachhal-tiger Entwicklung und den Innovationsgehalt von NA Projekten. Mit dem Beg-riff Projekt ist jeweils eine Organisation bezeichnet, die iiblicherweise als ein-getraqener Verein, Ziele des NA Konzepts verfolgt . Als Teilprojekte werden Aktivitaten von Gruppen bezeichnet, die auf spezielle Inhalte bzw. Themen abstellen.

Fiir diesen Beitrag wurden Projekte kontaktiert, die iiber das Web Portal ,Neue Arbeit - Neue Kultur' zuganglich sind (http://www.neuearbeit-neuekultur.de/projekte_vor_ort.html 09 2006). Ihre Tatigkeitsfelder reichen von Stadtteilarbeit tiber ,gegenseitige Hilfe' bis zu ,Neue Arbeit lemen'. Um den Eindruck einer Rangreihung zu vermieden, wird^ die Analyse beschrieben als ware sie die eines einzigen Projekts. Selbstverstandlich sind manche Projekte fortgeschrittener als andere. In manchen Projekten sind viele, in anderen sind weniger der hier angefiihrten Merkmale beobachtbar. Nicht alle Teilprojekte geben via Web Auskunft iiber ihren jeweiligen Entwicklungsstand. Die vorlie-gende Darstellung ist damit als Bild oder auch Muster, des gegenwartigen Stan-des der NA Umsetzung, zu lesen

4.1 Modell zur Analyse

Es ist notwendig, wenn es um ein Thema wie Arbeit geht, detaillierter auf ein zugrundeliegendes Verstandnis von Nachhalktigkeit einzugehen als es sonst iiblich ist, wenn nur kurz auf das 3 Saulen Modell oder die Definition im Brundlandt Report verwiesen wird.

Es gilt das Selbstdeklarationsprinzip dh. die ,Projekte' bezeichnen sich selber als Projekt oder Gemeinschaftsproj ekt, Damit ist folgende Zitierregel verbunden: unter einfachem Anfiihrungszeichen ' ... ' werden Projekttexte zitiert; unter doppeltem Anfuhrungszeichen „ ... „ werden Projekttexte zitiert, die ihrerseits ein Zitat darstellen. Dazu brauchte man das Ein verstandnis der Projekte und Konsens uber Bewertungsverfahren und Indikatoren.

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Nachhaltigkeit-Zieldimensionen *Sichefung der mBnsch[ichen Existenz

Abbildung 15: easeyXModell Quelle: Reinhard Paulesich - WUWlUW 08 2005

Zur Projektbeschreibung und -analyse dient ein Evaluierungsinstrumentarium: das easeyX-Modell . Es wurde mit dem Ziel erarbeitet, als eine konzeptionelle Klammer ftir strategische Entwicklung wie auch Bewertung von Leistungen bzw. Beitragen vom Untemehmen zu nachhaltiger Entwicklung zu dienen. Es stellt sich als Modell in drei Dimensionen dar: (1) Prozesse, (2) Stakeholder, (3) langfristige Ziele. Eine erste Anwendung hat es in der Bewertung der an der Wiener Borse im Prime Market notierten Untemehmen erfahren.

Im Unterschied zur Untemehmensanalyse wurden hier nicht Indikatoren sondem Kriterien herangezogen, die in alien Projekten, die emstlich auf Wirkung und Nutzen zielen, berticksichtigt sein mtissen, wenn sie gelingen sollen. Indikatoren mussten bedarfsgerecht erst gemeinsam mit den Bewerteten entwickeh werden.

Das Entwicklungs- und Bewertungsmodell „Ecological and Social Efficiency" ist Ergebnis eines Projekts an der Abteilung Umweltwirtschaft (lUW) der Wirtschaftsuniversitat Wien (WUW) finanziert zu 90% vom Bundesministerium fiir Verkehr, Innovation und Technologic (BM VIT) und zu 10% vom Bundesministerium fur Land- und Forst, Umwelt und Wasserwirt-schaft (BMLFUW) in den Jahren 2001 bis 2004. Ist als VONIX - VBV Osterreichischer Nachhaltigkeitsindex publiziert - siehe www.voenix.at und www.teletrader.at.

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Neue Arbeit. Impuls fur eine nachhaltige Entwicklung? 131

4.2 Prozessdimension

In der Prozessdimension wird die Frage beantwortet, wie ist das Projekt denn organisiert? Zu Beginn stand immer eine Gruppe von Initiatoren, die nach ei-nem mehrjahrigen Diskussionsprozess das Projekt mit seinen Angeboten startet. Im Vergleich zu Untemehmen fehlt die strukturierende Wirkung der Produkti-on. Es gibt keinen Druck aus der Refinanzierung durch den Markt. Es fallt auch die Verantwortlichkeit gegeniiber offentlichen Geldgebem weg. Wie kommen die Projektakteure ,freiwillig' zu ihren Ergebnissen?

4.2.1 Strategien, Ziele ~ Projektpolitik

Die NA Vision ist Grundlage der Strategieentwicklung. Das Projekt stellt sich eingangs Fragen nach den Wegen, um die Pathologie des Lohnarbeitssystems zu wenden:

^ „Was soUen Menschen tun, die trotz eigenem Bemiihen dauerhaft er-werbslos bleiben bzw. den Einstieg in das Erwerbsleben nicht schaffen?"

^ „Was sollen Menschen tun, die sehr viel Erwerbsarbeit haben, darin fast voUstandig aufgehen und damit unzufrieden werden?" (Lokale Okonomie Hamburg).

Das fur die Organisation von Arbeit relevante Umfeld bietet keine Perspektive mehr. Von staatlicher Intervention wie einer Arbeitszeitverkiirzung oder multi-lateralen Vereinbarungen wie einer Reform der Welthandelsbeziehungen (zB. ,Fairer Handel') waren keine befriedigenden Antworten zu erwarten. Staatliche Interventionen und ihre Wirkung blieben abhangig von einem System aus Wa­ren und Geld. Neue Arbeit ist aber nicht die alte Erwerbsarbeit, die Waren pro-duziert, die auf dem Markt gegen Geld ausgetauscht werden, sondem die Ge-meinschaftsarbeit, die eine Trennung von Produktion und Konsum aufzuheben beabsichtigt.

Das Projekt versucht Antworten in gegenseitiger Hilfe, die ihrerseits in meh-reren Teilprojekten operativ zu entwickeln ist. Der Zwang zur Erwerbsarbeit soil gemildert und es sollten ,Erfahrungen selbstbestimmteren Wirtschaftens' ermoglicht werden: „so viel Erwerbsarbeit wie notig, so viel Gemeinschaftsar-beit und freie Zeit wie moglich"(Lokale Okonomie Hamburg). An solchen Or-ten gegenseitiger Hilfe und Gemeinschaftsarbeit soil es ,erkennbar menschli-cherzugehen'.

Das Spektrum der Angebote reicht von emanzipatorischer Gemeinwesenar-beit bis zur Projektentwicklungen, die den Kern der NA Konzeption, die eigene Berufung erkennen, realisieren sollen. Gemeinsame Arbeitsgrundlage ist das Verstandnis, nicht menschliches Unvermogen sondem der Mangel an Moglich-keiten fiihrt zu den Problemen. Gemeinsam teilt man auch die Erkenntnis, dass

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Losungen bei unmittelbar erfahrbaren Lebenszusammenhangen ansetzen miis-sen.

Neue Arbeit bedeutet im Projekt mithin einen Aufbruch zu mehr Selbstbe-stimmung bei der Wahl der Arbeit und ihrer Gestaltung. Die Mittel sind gegen-seitige Hilfe, Eigenarbeit und Gemeinschaftsarbeit. Sie wird in Umfang und Verteilung innerhalb der Gemeinschaft vereinbart.

Ziel ist es, uber solidarisches Verhalten zwischen Einzelnen hinaus durch die Zusammenarbeit innerhalb und zwischen den Projekten eine gemeinschaftli-che, verabredete Arbeitsteilung zu entwickeln. Was fur die einzelnen 'Aktiven' in der Projektgemeinschaft gilt, gilt eben auch fur die Zusammenarbeit zwi­schen den Teilprojekten. Widmen die Teilgruppen einen kritischen Teil ihrer Kapazitat fiir die Gesamtgruppe, kann von einem entscheidenden Schritt von der gegenseitigen Hilfe Richtung Gemeinschaftsarbeit gesprochen werden. Der gegenwartige Status - ,intensiviere punktuelle gegenseitige Hilfe' - wird als eine Vorstufe zur Gemeinschaftsarbeit betrachtet.

Gegenwartig begreift sich nur ein Teil der 'Aktiven' als Mitglied der Pro­jektgemeinschaft. Manche ,Aktive' beschranken ihre Arbeit auf ein Teilprojekt. Daraus erwachst jedoch kein Unterschied fiir die Rechte und Pflichten. Auch unterschiedliche Intensitaten von Engagements sind erwunscht.

4.2.2 Organisation, Management und Finanzierung

Die Projektgemeinschaft versteht sich als ein offenes Projekt. Doch nicht alle Teilprojekte sind ganzlich unabhangig von staatlicher bzw. kommunaler Unter-sttitzung. Jedes Teilprojekt ist selbstandig und selbstverantwortlich. Alle inte-ressierten sind unabhangig von ihrer Weltanschauung eingeladen mitzumachen bzw. eine eigene Projektidee vorzustellen.

Die Projektgemeinschaft fmanziert sich iiber freiwillige Beitrage der Akti­ven, Spenden der 'Nutzerlnnen' von Dienstleistungen wie zB. den Umsonstla-den und aus der Abgabe von Gebrauchsgegenstanden wie zB. Kleinmobeln. Andere Teilprojekte geben Kunstwerke fiir Geld, legen eine ,Gonner Aktie' auf Oder planen einen Fonds, mit dem der iibrigbleibende Rest an Geldwirtschaft professionalisiert werden soil.

Das Projekt kennt auch Gemeinschaftsbesitz. Das sind gemeinsame Raume, Computer, aber auch groBere Anschaffungen wie ein Kleintransporter. Dieser Gemeinschaftsbesitz verursacht laufende Geldausgaben. Sie werden aus einer gemeinsamen Kasse beglichen, in die die Aktiven monatlich '3 Euro plus x' zahlen. Sie werden aber auch aus Sachleistungen bestritten. In jedem Fall wird aber in Eigenarbeit fiir die Erhaltung und den Ausbau gesorgt. Das kann fur Projekte mit einem Standort in denkmalgeschiitzten Industrieanlagen zu einer komplexen Aufgabe werden. Die Fixkosten werden so niedrig wie moglich gehalten, um die Abhangigkeit von „Warenwelt", Staat und Kommune zu ver-

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mindem. In einem Fall dient die Gemeinschaftskasse noch einem weiteren Zweck: Aktive konnen Untersttitzung in kurzfristigen Notlagen bekommen.

Das Projekt arbeitet in mehreren Netzwerken. Am Standort selbst sind wei-tere Projekte angesiedelt, die sich ausserhalb des NA Anspruchs befinden. In der Region haben sich in den letzten Jahren Initiativen und Projekte herausge-bildet, mit denen gemeinsam eine hohere gesellschaftliche ,Strahlkraft' entwi-ckelt werden kann.

In den vierzehntagigen abgehaltenen Meetings fmdet ein Austausch zwi-schen den Projekten statt. Die Teilprojekte sind verpflichtet Vertretungsperso-nen zu schicken. Den Aktiven der verschiedenen Projekte stehen die Leistungen der anderen Projekte umsonst zur Verfligung. Die Vollversammlung ist das projektiibergreifende Entscheidungsorgan fiir alle Projekte. Sie findet als mo-natliches Arbeitscafe statt. Die anfallenden gemeinsamen Aufgaben der Pro-jektgemeinschaft werden arbeitsteilig, nach gemeinsamer Entscheidung erledigt. Es wird eine „Liste der Bediirfnisse" gefuhrt. Sie ist ein Mittel zum Abgleich zwischen Wtinschen und Bediirfnissen. Zugleich bietet sie neben den laufenden Teilprojekten einen Einblick in die moglichen bzw. erwiinschten Tatigkeitsfel-der.

Personen, die sich dem Projekt anschliessen wollen, erhalten eine ,Probe-zeit' von einem halben Jahr. Die Grundlage aller Tatigkeiten ist die Freiwillig-keit. Zweck ist eine freiwillige Verantwortlichkeit zu erzeugen. Als Grundlage der Attraktivitat des Projektes und einer wachsenden Personenzahl in der Ge-meinschaft wird die Offenheit gegeniiber den Tatigkeitswiinschen und -Ideen der Menschen genannt.

Damit wird der Personlichkeitstyp angesprochen, der am Besten zum Kon-zept NA passt. Ihn zeichnen zwei Merkmale aus: Ideen und der Wunsch diese auch - in der Managementlehre wtirde man sagen ,proaktiv' - umzusetzen. Dies wird mit dem Angebot verbunden sich jederzeit einem der offenen ,Mitmach-Projekte' anzuschliessen. Der Begriff weist mittelbar auf Personen hin, die sich nicht angesprochen fiihlen sollten: Zuschauer, Konsumenten und Nutzer von ,sozialen Warmestuben'.

Ein Projekt, soil es zweckgerichtet funktionieren, braucht Grundsatze fiir den Umgang miteinander wie Leittugenden, Projektspielregeln, Berichterstat-tung, Eintrittsphase, Ausschlussgrunde und ahnliches (Lokale Okonomie Ham­burg). In manchen Teilprojekten wurden solche erstellt.

4.2.3 Aktivitaten und Ergebnisse

Das Spektrum an Aktivitaten und Ergebnissen, innerhalb dessen die Teilprojek­te eingeordnet werden konnen, bewegt sich zwischen den beiden in der nach-folgenden Tabelle angefiihrten Kategorien.

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Tabelle: Tdtigkeitsfelder von NA Projekten (Auswahl)

Handwerk - Gewerbe

Selbsthilfe: Selberbauen von Mobilitatshilfen wie Fahrrad, Rollstuhl u.a.

Garten: urbane Selbstversorgung;

Wohnen: Kleinmdbel Nutzungsuberlassung;

Reparatur: Schrauben, Rat und mehr;

Textilwerkstatt: .Nahkastchen.

Bildung - Freizeit

•(Einzel) Beratung, Orientierung, Infornnationen zu Neue Arbeit;

•Frauentreff;

•Diskussionsreihen und Seminare wie freies Sprechen, Computerkenntnisse, Videoprojekt und kunstlerisches Schaffen;

•Bundesweite Monatszeitung Oder Stadtteilzeitung; On Line News;

•Friedenskreis; Bibliothek; Chor;

•Planungswerkstatt u.a. Nutzungsidee fur eine denkmalgeschutzte Industriebrache;

•Theorie und Praxis: Kritik und Diskussion zB. aktuelle Debatte urn die Umsonstladen.

Quelle: RP WUW lUW NW 08 2005-

Die Produktseite zeigt den beanspruchten Anschluss an die praktische Lebens-welt von potentiell Aktiven. Nach dem Verstandnis einer okologischen Okono-mik erfolgt die Orientierung an den Bedurfnisfeldem Mobilitat, Wohnen, Be-kleidung. Zur Aufgabenbewaltigung sind vermutlich Qualifikationen zum Management von Selbstorganisation erforderlich. Die Dienstleistungsseite deckt den Bedarf zum Einstiegszeitpunkt bzw. zeitHch begrenzten Engagement und zum Erwerb dieser QuaHfikationen ab. Ziel einer Einstiegsberatung zB. in ei-nem Stadtteilladen ist es, aus den Bedurfnissen und Neigungen der Einzelnen, zukiinftige Tatigkeitsfelder zu entwickeln:

•=> ,in denen sie geme aktiv sind, •=> die zumindest teilweise eine Alternative zu ihrer Erwerbsarbeit darstellen

und •=> die ihre kreativen Moglichkeiten (zum Beispiel Kunst, Wissenschaft, freies

Spiel usw.) verwirklichen.'

Die konventionelle Erwerbsarbeit nimmt noch immer eine wichtige RoUe zur Sicherung von Einkommen und Lebenshaltung ein. Viele der benotigten Dinge werden weiterhin uber den Markt besorgt. Der Rtickzug von der Erwerbsarbeit und der marktbezogenen Seite der Projektarbeit erfolgt nur langsam und schrittweise. Zurzeit sind mehr als die Halfte der Aktiven erwerbslos.

Die Projektgemeinschaft stellt den Anspruch an sich, ihre Tatigkeiten sollen „merklich ruhiger, angenehmer, freiwillig-verantwortlich und mit zunehmender

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Neue Arbeit. Impuls fur eine nachhaltige Entwicklung? 135

gegenseitiger Anerkennung" ausgeflihrt werden konnen. Der Realisierung ste-hen wie in jeder Organisation Konflikte entgegen. Man hat Mediationsverfahren zu deren Bewaltigung entwickelt.

Die ,praktische Grundlage' der Projektaktivitaten wird als ein stark einigen-des Moment gesehen. Die Grosse der Organisation wiirde es erlauben im Streit-fall einander aus dem Weg zu gehen. Doch Streit ware an sich noch nichts Schlechtes. In eigenen Angeboten konne man eine entsprechende Kultur dazu auch lemen.

Man will keine Therapieveranstaltung oder karitative Organisation sein, wo sich durch Engagement ein reibungsloseres Funktionieren in der Marktwirt-schaft bewirken lasst. Es braucht einen kritischen Sinn, dass Gemeinschaftsar-beit jenseits des Marktes gestaltet werden kann. Dazu muss eine „flexible Tak-tik des kritischen Umgangs mit der Warenwelt" entwickelt werden.

Zusammenfassend kann zum gegenwartigen Stand der Entwicklung gesagt werden: Das Projekt realisiert im Kleinen eine pluralistische Arbeitsgesell-schaft, aber insofem unfreiwillig und dann unvermeidbar, wenn noch ein Teil der Arbeitszeit fiir ein Erwerbseinkommen verwendet werden muss. Damit geht die strategische Absicht tiber das NA Konzept hinaus und zielt auf eine Plurali-tat, die sich auf drei Segmente des Mischarbeitskonzepts beschrankt und diese zusatzlich noch fiir die eignen Absichten anpasst.

Auf dem Weg dorthin entwickeln sich die Projektteilnehmerlnnen mit unter-schiedlichen Geschwindigkeiten. Daraus resultiert ein unterschiedlicher Grad an Integration in das Projekt. Offen bleibt die Frage nach dem Umgang mit Einzel-beitragen zum Organisationszweck, die Erwerbseinkommen und NA Engage­ment als Komplementaritat ihrer eigenen Berufung wahmehmen. Entstehen daraus Konflikte?

Ahnlich unterschiedlich stellt sich der Umgang mit Geld und Finanzierungs-fragen dar. Einerseits ist eine Abkoppelung beabsichtigt andererseits hat man sich in Teilprojekten zur Erhaltung von Bausubstanz verpflichtet. Dem nachzu-kommen bedeutet gegenwartig unweigerlich eine Verbindung zum Markt.

„Innovation heiBt zunachst einmal, die Dinge anders machen zu wollen als bisher, und tritt insofem nicht nur in Opposition zu Bestehendem, sondem auch zu den Akteuren, die dies Bestehende tragen (und haufig genug heftig verteidi-gen). Nichts anderes pragt freilich den Geist und die Mentalitat des neuen Un-temehmertums, auf das es far das 21. Jahrhundert ankommt." (Pfriem 2005, 42). Unter der Voraussetzung dass der von der NA und Pfriem erwiinschte soziokulturelle Wandel der Markte sich auch wirklich zutragt, handelt es sich bei der NA Konzeption und seinen ersten dokumentierten Umsetzungsbeispie-len um ein neues Untemehmertum, weil

O strategische Absicht der NA ist die Implementation gesellschaftlich konsens- und zukunftsfahiger Technologien - zuerst in einem erweiter-

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ten Sinn sozialer und erst danach daraus folgender materieller - im Sinne von Selbstbestimmung;

^ NA Projektteilnehmerlnnen brauchen den Mut zu einem Wandel ohne [bzw. stark eingeschranktem] Sicherheitsnetz; Verlierer ist man nam-lich schon;

•=> Nur ,anpacken' statt Schuldzuweisungen (Lokale Okonomie Hamburg) fiihrt iiber Handeln und Reflektieren zum Lemen von selbststandigem Wirtschaften.

4.3 Stakeholderbeziehungen

Die Stakeholder-Dimension dient der Darstellung und Analyse der Wirkung der ,Prozesse' auf die einzelnen Anspruchsgruppen bzw. dem jeweils relevanten Umfeld. Zur Untemehmensanalyse werden sechs Stakeholder betrachtet: Mitar-beiterlnnen, Gesellschaft, Kundlnnen, Markt, Investorlnnen und Umwelt. Re-flexivitat und Resonanzfahigkeit einer Organisation, mithin ihre Kommunikati-on, stehen im Vordergrund. Dieses Kriterium der Untemehmensanalyse ist auf die NA Projekte Bins zu Bins iibertragbar. Im Falle von Untemehmen zum Beispiel wiirde es zur Beurteilung der Nachhaltigkeitsleistung nicht ausreichen den Grad der Einhaltung bzw. Unterschreitung von Grenzwerten zu bestimmen. Die Anforderungen an nachhaltige Entwicklung gehen dariiber hinaus.

NA Projekte haben ihre eigene Begriffswelt kreiert. So kennt die Projekt-gemeinschaft nicht Mitarbeiterlnnen sondem ,Aktive'. An die Stelle der Kun­dlnnen treten die Nutzerlnnen. Der Staat und der Markt treten als Institutionen hervor, die die konventionelle Erwerbsarbeit befordem und gegeniiber denen man sich abgrenzen muss. Die Gesellschaft wird tiber Nachbarschaft, Stadtteil und Kommune hinaus nicht naher bezeichnet und wird als Potential an zuktinf-tigen Aktiven angesprochen. Zuguterletzt wird auf die Umweltentlastungswir-kung (Abfall) von Teilprojekten hingewiesen.

Zur Erschliessung des Potentials an Nutzerlnnen werden von einem Teilpro-jekt „Tage der offenen Tiir" veranstaltet. Sie sollen den Kontakt zu Interessier-ten verbessem. Von Staat und Markt mochte man unabhangig werden. Man gibt und nimmt Gebrauchsgegenstande oder Tatigkeiten, keine Waren oder Geld. Man schafft keine Stellen sondem aktiviert Mitmenschen.

Die Projektgemeinschaft besteht aus Teilgmppen, in denen sich Aktive ge-genseitig Hilfe leisten, mit dem Ziel den Weg zur Gemeinschaftsarbeit zu fm-den. Ihre Inhalte wurden weiter oben bereits gelistet: es sind Gemeinschaftspro-dukte zum taglichen Leben, zur Brhaltung der eigenen Infrastmktur (zB. Industriedenkmal) und - ganzliches Abschotten gegeniiber dem Markt ist eine Illusion - fur den Markt bzw. andere Gemeinschaftsproduktionen.

Gemeinschaftsarbeit wird auch defmiert als Arbeit einer Teilgmppe fur an­dere Teilgmppen, als ein Netzwerken. Damit erhalt diese Art der Arbeit eine

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Neue Arbeit. Impuls fiir eine nachhaltige Entwicklung? 137

Einschrankung auf das Innenverhaltnis ungeachtet der Grosse der Netzwerke. Das wird als Mangel empfunden. Deshalb sucht man die praktische Zusammen-arbeit in der Nachbarschaft und im Stadtteil. Teilprojekte wie der Umsonstladen haben diesen Binnenbezug iiberwunden und bereits ihr eigenes iiberregionales Netzwerk geschaffen.

Die Umweltrelevanz der Projekttatigkeiten hat eine materielle und eine im-materielle Seite. Die materielle Seite kommt dem Umsonstladen, dem Mobella-ger, der Fahrradwerkstatt, und dem Nahkastchen zu. Dort verwendet man Stii-cke und Telle, die nicht weiter genutzt worden und vermutlich im Abfall gelandet waren. Die immaterielle Seite zeigt sich im Hinweis auf die beabsich-tigte Entkoppelung des Gebrauchs der Gegenstande von der ,Warenwelt'. Die fuhrt zu einem achtsamen Umgang mit Dingen- so das Ergebnis der Selbstbeo-bachtung mancher Teilprojekte. Die Einstellung zu Eigentum andert sich. Klei-dungsstucke und Gebrauchsgegenstande werden mitgenommen und nach Nut-zung wieder in den Laden zurtickgebracht, well man sie nur fiir begrenzte Zeit benotigt.

Die Innenorientierung im Netzwerk aus Teilprojekten dominiert. Die Au-Benorientierung ist durch zivilgesellschaftliche Strukturen und weniger durch Markt und Staat bestimmt. Die Bedeutung des Stakeholders 'Umwelf wird als 'Nutzen statt Besitzen' abgehandelt.

Stand der Selbstreflexion: Auf dem Weg von ,die eigene Berufung erken-nen' gibt es Fortschritte fiir einzelne Aktive, aber die stellen keine kritische Zahl dar, die deutliche Merkmale einer Gemeinschaftsarbeit aufweisen wiirden. Was sind nun die Ansprtiche eine solche?

„Innovationen miissen heute mehr denn je von den gesellschaftlichen Um-setzungen und Folgen her geplant und bedacht werden. Das hat mit Behinde-rung von Fortschritt iiberhaupt nichts zu tun, sondem akzentuiert vielmehr das Problem der Richtungssicherheit von Innovationen und gerade das Erfordemis des reflektierten Experimentierens." (Pfriem 2005, 33).

Bedachtnahme und Planung der Folgen untemehmerischen Handelns braucht reflektiertes Experimentieren. Doch damit werden hier nur mittelbar die Aufgaben und Probleme angesprochen. Hinter der Wendung verbirgt sich unter anderem das Konzept der Handlungsforschung oder auch jenes des Controlling als Evaluierung. Doch es ist zeitintensiv, der Lemprozess lang und wer machts? Es gilt dasselbe wie auf der Ebene Gesellschaft (Brandl / Hildebrandt); Gesell-schaftliche Diskurse und Beteiligung an komplexen Themen wie Arbeit jenseits eingefahrener politischer Verhandlungsmuster gibt es noch nicht. Es bestehen keine Erfahrungen - also wo und wie beginnen?

Nach Massgabe von Art, Umfang und Intensitat der Reflexion und selbst-verstandlich auch der Beteiligten an einem kommunikativen Austausch von Schlussfolgerungen ist es denkbar, dass nicht nur Untemehmen sondem auch Markte eine Dimensionserweiterung erfahren ... die Akteure beschlieBen neue

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138 Reinhard Paulesich

[alte] Formen des Tausches von Waren und Leistungen mit Wirkung auf sozio-kulturelle Verhaltensmuster.

Es wird ein Markt von den NA Projekten angesprochen, der iiber die Ver-wendung tiblicher Tauschmittel und Orte hinausgeht. Auch das wird im NA Konzept nicht angesprochen. NA Projekte sind also im mehrfacher Weise ein Experimentierfeld: (1) zum Fiillen der Konzeptliicken - das erforderte eigent-lich (2) einen starkeren Austausch mit Wissenschaft und Forschung sowie mit Stakeholdem ahnlicher Absichten und Praxis; und (3) das Feld des offentlichen Diskurses darf nicht einigen wenigen oder einem einzigen Exponenten des NA Konzepts iiberlassen werden.

4.4 Zieldimension nachhaltiger Entwicklung

Nachhaltige Entwicklung ist ein normativer gesellschaftlicher Prozess. Der Mensch und die Gesellschaft sind die Subjekte nachhaltiger Entwicklung. Sie entscheiden iiber mogliche Zukiinfte, Erwtinschtes und Unerwiinschtes, indem sie Begriffe wie soziale Verantwortlichkeit oder Umweltvertraglichkeit mit Inhalten fiillen. Die Formulierung und nachfolgende Priorisierung von Nachhal-tigkeitszielen entstehen in einem laufenden gesellschaftlichen Diskurs, in dem im Zeitablauf unterschiedlich gewichtet wird und wechselnde Zusammenhange bzw. auch Widerspriichlichkeiten hergestellt werden.

In unserer demokratisch marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaft konnen Ziele aus EU Politikprogrammen bzw. intemationalen Vereinbarungen (vgl. Grunwald et al., 2001) abgeleitet werden. Der Zielfmdungsprozess zur Nachhal-tigkeit ist daher bereits vorgeformt. Die hier angewendete Zieldimension stellt eine solche Ableitung (Kopfmiiller et al., 2001) dar.

Das 3 Saulenmodell nachhaltiger Entwicklung impliziert eine gleichwertige Behandlung okologischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Bedarfslagen. Dies fiihrt jedoch zu erheblichen Problemen in der Operationalisierung. In der Kommunikation iiber Nachhaltigkeit fiihrt es zu Konflikten iiber Zielbestim-mungen. Die Auflosung des 3 Saulenmodells in ein vielfach differenziertes Angebot an Zielkategorien soil diese Mangel beheben.

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Neue Arbeit. Impuls fur eine nachhaltige Entwicklung? 139

c 0) O) 0)

Ziele

Sicherung der menschlichen

Existenz

Schutz der menschli­chen Gesundheit

Gewahrleistung der Grundversorgung

Selbstandige Existenzsicherung

Gerechte Verteilung der Umweltnutzungs-moglichkeiten

Ausgleich extremer Einkonnmens- und Vermogensunter-schiede

Erhaltung des gesellschaftlichen Produktivkapitals

Nachhaltige Nutzung erneuerbarer Ressour-cen

Nachhaltige Nutzung nicht-erneuerbarer Ressourcen

Nachhaltige Nutzung der Umwelt als Senke

Vermeidung unvertret-barer technischer Risiken

Nachhaltige Entwick­lung des Sach-, Hu­man- und Wissenska-pitals

Bewahrung der Ent-wicklungs- und Hand-lungsmoglichkeiten

Chancengleichheit im Hinblick auf Bildung, Beruf und Information

Partizipation an gesell­schaftlichen Entschei-dungsprozessen

Erhaltung des kulturel-len Erbes und der kultu-rellen Vielfalt

Erhaltung der kulturellen Funktionen der Natur

Erhaltung der sozialen Ressourcen

Abbildung 16: Nachhaltigkeits-Dimensionen Quelle: Kopfmuller et al. 2001, 172

Diese Zielkategorien ersetzen selbstverstandlich nicht die projekteigenen Ziele und Strategien. Doch innerhalb welcher Zielkategorien sind die Ziele der NA Projekte bzw. des Konzepts anzusiedeln? Unter Bezug auf die Aussagen in der Prozess- und Stakeholderdimension kann folgendes gesagt werden.

Das Projekt ist offen fiir neue Initiativen von aussen und ist strategisch aus-gerichtet auf die Entwicklung von zivilgesellschaftlichen Handlungskompeten-zen, die zu einer selbstbestimmten Gestaltung von Arbeit ftihren soil. Die Mittel dazu sind Eigen- und Gemeinschaftsarbeit mit dem Femziel die Abhangigkeit auch gegentiber dem Markt zu reduzieren (,Arbeiten ohne Waren und Geld').

Selbstbestimmung bedeutet auch Managementaufgaben zu iibemehmen je-doch nach Massgabe der Selbstverpflichtung. In den weiter fortgeschrittenen Teilprojekten wird zu Verlauf und Ergebnis der Aufgabenbewaltigung auch miindliche Berichterstattung eingefordert. Die Finanzierung bewegt sich in einem Spektrum von systematischer Suche nach Sponsoring bis zur systemati-schen Arbeit an der Entkoppelung zwischen Arbeit und Warenwelt. Damit macht die Mehrzahl der Teilprojekte den an einem Engagement Interessierten

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140 Reinhard Paulesich

klar, dass Projekttatigkeiten in einem anderen Wertzusammenhang - einem transmarktlichen - erfolgen als iiblicherweise.

Die Dienstleitungsseite dominiert die Projektaktivitaten in Umfang und In-tensitat. Die Mehrzahl der Teilprojekte bietet einen bereits grob standardisierten Einstieg in die Neue Arbeit mittels Beratung, Seminaren und einem gemeinsa-men Grundlagenverstandnis in Problemansprache und -losungssuche.

Damit wird klar, dass Umweltbelastung und Ressourcenverbrauch (noch) keine besondere Bedeutung in den Projekten haben. Kein spezieller Zugang fiir NA Projekte vorhanden, weil eine Entwicklung abseits von Waren und Geld angestrebt wird. Mit dem Ansatz gegenseitiger Hilfe und Gemeinschaftsarbeit bekundet man den Weg zu einer bedarfsdeckenden Produktion.

Der Blick richtet sich vor allem auf die Entwicklung der Personlichkeit in-nerhalb einer Gemeinschaft, die in Zukunft produzieren will, um unabhangiger und selbstbestimmter zu werden. Gleichzeitig ist ein hohes AusmaB an Beteili-gung gefordert.

Aus den vorliegenden Zielkategorien (vgl. Kopfmiiller et al. 2001, 196ff) sind deshalb hervorzuheben und in eine Reihung zu bringen:

1. Nachhaltige Entwicklung von Human- und Wissenskapital, das hier noch um das Intellektuelle Kapital als jenes, das auf den Bestand und die Forde-rung von Kreativitat und Innovationsgeist hinweist, erganzt werden muss.

2. Gewahrleistung der Grundversorgung und selbstandige Existenzsicherung. 3. Beteiligung an Entscheidungsprozessen und Erhaltung der sozialen Res-

sourcen:

Ad 1) Kapital muss hier als Bestand an Wissen und Kompetenzen aufgefasst werden. Die wirtschaftliche Leistungsfahigkeit soil verbessert werden. Kennt-nisse und Fahigkeiten werden mit dem Ziel vermittelt, Gestaltungskompetenzen zu entwickeln. Zur Bestimmung des Grades der Zielerreichung muss hier auf die Selbsteinschatzung des Projektes zurtickgegriffen werden. Man verweist auf zwei Merkmale: einmal die Bestandsdauer, die inzwischen bei 7 Jahren liegt, und das andere mal auf die stetig wachsende Zahl von Aktiven und Nutzerln-nen.

Ad 2) NA Projekte befmden sich auf dem Weg, ausreichende Moglichkeiten einer Existenzsicherung durch frei iibemommene Tatigkeiten zu bieten. Einige Teilaspekte der Grundversorgung (siehe Tabelle oben ,Tatigkeitsfelder': Emah-rung, Kleidung usw.) werden bereits abgedeckt. Plurale Arbeitsstrukturen wer­den geniitzt, um in gegenseitiger Unterstiitzung alltagliche Bedarfe zu decken. Fiir die Absicherung gegen zentrale Lebensrisiken (Krankheit, Invaliditat) gibt es jedoch keine Angebote.

Ad 3) „Um den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu gewahrleisten, sind Rechts- und Gerechtigkeitssinn, Toleranz, Solidaritat und Gemeinwohlori-

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Neue Arbeit. Impuls fiir eine nachhaltige Entwicklung? 141

entierung sowie Potenziale der gewaltfreien Konfliktregelung zu starken." (vgl. Kopfmuller et al. 2001, 196fr Was tragen nun NA Projekte zu einem solcher-maBen verstandenen sozialen Zusammenhalt bei?

Intern hat man sich Ordnungsstrukturen gegeben und einen formalen Rah-men zur Kommunikation und den Umgang mit Konflikten geschaffen, dies um die Fahigkeit zur Selbstorganisation auBerhalb staatlicher Versorgungsstruktu-ren zu starken. Uber die AuBenwirkung konnen nur Vermutungen angestellt werden. Benicksichtigt man die Vision bzw. das strategische Ziel des NA Kon-zepts namlich die Reduktion der Erwerbsarbeitszeit auf 1/3 der gesamten ,aktiv' verbrachten Zeit, dann starkt dies Werte und soziale Regeln ausserhalb des Marktes.

Die Frage nach der Integrationskraft, die das NA Konzept entwickeln kann, muss offen bleiben. Gegenwartig agieren die Projekte vermutlich - manchmal wird das in der Selbsteinschatzung (Lokale Okonomie Hamburg) auch so aus-gedrtickt - in einer Parallelwelt. Fiir die Erwerbsarbeit und die ,gegenseitige Hilfe' gelten z.B. unterschiedliche Regelsysteme.

4.5 Schlussfolgerungen und Ausblick

Die Umsetzung des NA Konzepts in Projekten erweist die praktische Bedeu-tung des Erkennens der eignen Berufung (,wirklich wirklich wollen') und die Schwierigkeiten auf dem Weg dorthin. Zu ihrer Bewaltigung hat sich das Pro-jekt Ordnungsstrukturen und ,Spielregeln' gegeben. Damit wurde auch eine Liicke im Konzept geschlossen, das zwar von Zentren Neuer Arbeit als Verbrei-tungsinstitutionen schreibt, aber keine Hinweise enthalt auf mogliche Struktu-rierungsmerkmale.

In Bezug auf Stakeholderbeziehungen bleiben einige Fragen offen. Fast ist man versucht das Projekt mit einem konventionellen Untemehmen zu verglei-chen, weil die Sicht auf Nutzerlnnen (mit ,KundInnen' zu vergleichen), die ,Aktive' (mit ,StammkundInnen' zu vergleichen) dominiert. Nach eigener Ein-schatzung befmdet man sich erst am Weg zur Gemeinschaftsarbeit. Unklar sind die Kriterien der Einschatzung. Sie fmden sich auch nicht im Konzept selber. Inwieweit das Projekt zivilgesellschaftliche Strahlkraft entwickelt, muss unbe-antwortet bleiben, weil keine Daten dazu verfligbar sind.

Zur Realisierung der HighTech Komponente der Gemeinschaftsproduktion bedarf es Kooperationen mit Untemehmen, die uber Technologien und Produk-te sowie iiber das Know How fiir den Umgang damit verfiigen. Im Mischar-beitskonzept wird dies als ein Erganzungsverhaltnis der Untemehmen zur neuen Arbeitsformen bezeichnet. Dazu gibt es auf der Prozessebene nur sehr schwache Ansatze, damit keine Ergebnisse und auch keine Einordnung in eine Nachhal-tigkeitszieldimension.

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142 Reinhard Paulesich

Unbeantwortet bleiben sowohl im Konzept wie auch in der Umsetzung Fra-gen zu den zukunftigen Aufgaben, die aus einem immer umfangreicher werden-den Selbstfindungsprozess entstehen werden. In einer Anordnung aus Versuch und Irrtum muss nicht nur die Ressource Zeit ausreichend zur Verfugung ste-hen, will man eine kritische GroBenschwelle erreichen, sondem auch weitere materielle Ausstattung. Zur Entwicklung nennenswerter Beitrage zur Selbstver-sorgung braucht es mehr als ein paar Raume und ein wenig Werkzeug. Das ist ein weiteres Argument ftir eine Verstarkung in Richtung Untemehmenskoope-rationen. Konzept und Projekt sprechen dies nicht an.

NA Modelle konnen nur durch die experimentelle Praxis entstehen. Doch bedarf auch diese einer Strukturierung und Planung. Das bedeutet, es ist eine Statusbestimmung erforderlich. Das Reflexionsniveau ist jedoch von Teilprojekt zu Teilprojekt sehr unterschiedlich ausgepragt soweit dies durch Vorliegen schriftlicher Dokumentation erschlieBbar ist.

Ein Systematisieren des Informationsaustausches und der Erfahrungen der in den Quellen zum Web angefuhrten Projekte geschieht bereits im Ansatz. Doch das mogliche und das reale Entwicklungstempo muss per NA Definition - oder zumindest aufgrund der normativen Kraft der Projektpraxis - auseinanderklaf-fen. Die nachste groBe Aufgabe des NA Netzwerkes ist daher folgerichtig, die Gratsche zu bewaltigen zwischen Zeit lassen zum Lemen und Entwickeln der eigenen Berufung gegentiber einem Managementparadigma und Vorschlagen zur Professionalisierung aus der Hochtechnologiewelt.

5 Zusammenfassung

Das NA Konzept griindet sich auf ein Selbstverstandnis als eine zivilgesell-schaftliche von staatlicher Intervention unabhangige Institution. Die Menschen werden angesprochen als politische in alien ihren sozialen (Beruf und Privat) Zusammenhangen zu selbststandigen Entscheidungen fahigen Wesen.

Ausgehend von der Pathologic des Lohnarbeitssystems wird ein Vision von selbstbestimmter Eigen- und Gemeinschaftsarbeit entworfen, die in Zukunft in einem hohen AusmaB den Alltagsbedarf deckt sodass nur mehr V3 der Zeit der Erwerbsarbeit gewidmet werden muss. In dem von Brandl / Hildebrandt vorge-legten Mischarbeitskonzept ist das NA Konzept in der Struktur aus Eigen-, Gemeinschafts- und Erwerbsarbeit plural angelegt, doch strategisch beabsichtigt ist eine egalitare (selbstbestimmte) Organisation von Arbeit. Hinter dieser Kate-gorisierung des Arbeitsbegriffes steckt eine NA spezifische Erweiterung tiber das Verstandnis im Mischarbeitskonzept hinaus. Diese von der NA intendierte Begriffserweiterung ist jedoch konzeptionell und projektpraktisch noch nicht deutlich gefasst.

Die vorliegenden Daten zum Stand der Umsetzung des Konzepts in NA Pro-jekten wurden uber die Web Sites der Projekte und einige Telefoninterviews

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Neue Arbeit. Impuls fiir eine nachhaltige Entwicklung? 143

und ein Workshop generiert. Sie zeigen durch die Anzahl der Angebote fur den ersten Schritt am Weg zum Erkennen der eigenen Berufung die Bedeutung der Bildungskomponente. Die Entwicklung zur Konsolidierung des Eigenarbeits-raumes steht bei gegenwartigem Projektbestand von 7 Jahren erst am Anfang. Hier weist das NA Konzept eine methodische Liicke auf, die in der Projektpra-xis nur fragmentarische gefiillt werden konnte.

Zur politischen Wirksamkeit iiber zivilgesellschaftliche Strukturen geben die Daten vergleichsweise weniger Auskunft. Das NA Konzept hat NA Projekte angestoBen, die ihrerseits zwar lokal beschrankt aber immerhin einen Diskurs iiber die gesellschaftliche Organisation von Arbeit jenseits eingefahrener politi-scher Verhandlungsmuster begonnen haben. Der ist gekoppelt an eine Projekt-praxis zur Reorganisation von Arbeit und Lebenswelt, die Selbstbestimmung iiber das Erkennen der eigenen Berufung als den Hebel fiir eine zielfiihrende Organisation von Eigen-, Versorgungs- und Gemeinschaftsarbeit betrachtet. Damit bietet NA Konzept und Praxis eine wenn auch anspruchsvolle Alternati­ve zu den gangigen staatlich vorgetragenen Losungswegen aus der ,Krise'.

Die Relevanz fiir nachhaltige Entwicklung ergibt sich aus der Wirkung des NA Projekts als ein noch ausbaufahiger Beitrag zur Sicherung der Existenz. Selbstbestimmung und Beteiligung erfordem individuelle Fahigkeiten, die zu-erst projektintem im sozialen Experiment ausgelotet werden miissen, bevor sie in einem nennenswerten Umfang in das gesellschaftliche Umfeld hinausgetra-gen werden konnen.

Das NA Projekt entwickelt seinen Weg groBteils unabhangig von offentli-cher Unterstiitzung und Marktwirtschaft. Leistungserstellung und Austausch gehorchen einem eigenen Regelsystem dabei aber erfolgt die Bearbeitung des Problems der Richtungssicherheit durch reflektiertes Experimentieren. Die in Zukunft erwiinschte High Tech Gemeinschaftsproduktion erfordert eine Neude-fmition der Rolle von Untemehmen, namlich in einem im Mischarbeitskonzept angesprochenen Erganzungsverhaltnis. Voraussetzung dafiir ist die Erarbeitung einer konzeptionellen und methodischen Perspektive fur Kooperationen. Das erfordert neuerlich Experimentieren. Welche Untemehmen werden sich darauf einlassen? Wie gefestigt muss dazu das NA Selbstverstandnis der Projektakti-ven dann sein?

Die hier vorliegende Analyse weist eine beschrankte Reichweite auf, well zusatzlich zu Gesellschaft und Projekt noch eine dritte Ebene beriicksichtigt werden muss, um dem Anspruch aus dem NA Konzept, der Berufung folgen, gerecht zu werden - die individuelle. Das Individuum ist hier nicht wie in einer Beziehung zwischen Untemehmen Markt reduziert auf seine Funktion als Mit-arbeiterln oder Verbraucherln. Will man die Wirkung durch die Praxis erfassen, geniigt es nicht, den iiblichen Grad der Zufriedenheit zu messen. Der Beitrag der Aktiven im Projekt muss iiber jenen im Untemehmen weit hinausgehen.

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144 Reinhard Paulesich

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Page 160: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Neue Arbeit. Impuls fiir eine nachhaltige Entwicklung? 145

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Nachhaltige Regionale Innovationssysteme: -Anforderungen an die Institutionen- und Wissensgenese

Wolfgang Gerstlherger

Nachhaltige Regionale Innovationssysteme: Eine wissenschaftliche und politische Erfolgsgeschichte mit vielen Leerstellen

1.1 Nachhaltigkeit als neues Leitbildfur Innovationen in Wirtschaft und Gesellschaft

Folgt man dem nach der Rio-Konferenz im Jahr 1992 weltweit politisch breit diskutierten Leitbild der nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development / SD), sind bei betriebswirtschaftlichen Entscheidungen okologische und soziale Anforderungen zu benicksichtigen. Die dafur erforderlichen Innovationen betreffen neben den Akteursgruppen in der Wirtschaft das langerfristige Zu-sammenspiel mit Politik, Verwaltung und Wissenschaft. Dieses erfolgt seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend durch Regionale bzw. Nationale Innovati­onssysteme (RIS/NIS; vgl. Braczyk et al. 1998). Wissenschaftliche und politi­sche Verkntipftmgen mit dem normativen Leitbild der Nachhaltigkeit werden jedoch erst seit wenigen Jahren und bisher noch vereinzelt hergestellt.

Freeman (bereits 1987, S. 1) hat in einer systemischen Perspektive NIS wie folgt defmiert, wobei diese Definition in Form eines Analogieschlusses mit einiger zeitlicher Verzogerung auch auf Regionale und Lokale (Kommunale) Innovationssysteme iibertragen worden ist:

„The network of institutions in the public and private sectors whose activities and interactions initiate, import, modify and diffuse new technologies may be described as [...]•"

Das „Netzwerk von Institutionen", „Aktivitaten" und „Interaktionen" im Rah-men von RIS wird in diesem Beitrag zusammenfassend als Funktionsfahigkeit bezeichnet. Damit ist die Gesamtheit der moglichen Aufgaben und Instrumente, Verantwortlichkeiten sowie technischen Ausstattungen zusammengefasst, die das AusmaB und die spezifische Auspragung des (Nicht-)Funktionierens eines RIS beeinflussen. Diese Konzeption und empirische Beschreibung der Funkti­onsfahigkeit von RIS ist notwendig, um den nachhaltigen Erfolg einzuschatzen.

RIS konnen fiir eine akteurs- und wissensorientierte Vertiefimg dieser insti-tutionellen Sichtweise, die im letzten Teil dieses tiberwiegend empirisch-

Page 162: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

148 Wolfgang Gerstlberger

explorativ ausgerichteten Beitrags angedeutet ist, dariiber hinaus definiert wer-den als:

„[...]places where close interfirm communications, social structures, and institutional environ­ment may stimulate socially and territorally embedded collective learning and continuous inno­vation." (Asheim/Isaksen, 2003, S. 83).

Generelles Ziel von RIS/NIS ist es, die Innovationsfahigkeit der Untemehmen zu sichem und zu untersttitzen. Inwieweit bisherige Innovationssysteme dariiber hinaus auch geeignet sind, Untemehmen auf dem Innovationspfad zur Nachhal-tigkeit zu fordem, wurde durch acht empirische Fallstudien untersucht, die vom Autor fur verschiedene europaische Staaten sowie die USA erarbeitet worden sind (vgl. Gerstlberger 2004).

1.2 Genese des Konzeptes nachhaltige Innovationssysteme

In den 1980er und 1990er Jahren sind in der Innovationspraxis ohne systemi-sche Abstimmung eine ganze Reihe einzelner Forderprogramme, Institutionen und Instrumente geschaffen worden. Von diesen soll(t)en zusatzliche, vorrangig okonomische, Innovationsanreize im regionalen Umfeld privater Untemehmen ausgehen. Diese EinzelmaBnahmen werden seit Beginn der 1990er Jahre, zu Beginn vor allem im Rahmen von EU~Forderprogrammen, verstarkt als Kom-ponenten von Innovationssystemen zusammengefasst (vgl. Lundvall 1992, Cooke 1998, Braczyk/Heidenreich 1998, Dybe/Rogall 2000).

Seit Ende der 1990er Jahre gibt es dariiber hinaus erste breiter angelegte Versuche, ebenfalls haufig ausgelost durch neue bzw. veranderte EU-Programme, die offentliche Fordemng von NIS und RIS an dem normativen Leitbild SD auszurichten. Dybe/Rogall (2000, S. 15) zogen hinsichtlich der Reichweite derartiger Bemuhungen folgende bis heute giiltige Bilanz,

„[...] daB zwar in den letzten Jahren die regionale Wirtschaftspolitik modeme Untemehmens-netzwerke in ihrem Beitrag fur das Wachstum und die okonomische Stabilisierung von Regio-nen entdeckt hat, daB aber in den entsprechenden Forderkonzepten [...] Nachhaltigkeit im Sinne einer gleichrangigen Berucksichtigung von okonomischen, okologischen und sozialen Aspekten kaum auftaucht (Hv. im Original)."

2 Ziele, Aufbau und Methodik

Anliegen dieses Papiers ist es, einen Beitrag zur Verringemng der zuvor kurz dargestellten Forschungs- und Gestaltungsliicken zu leisten. Die wissenschaftli-chen und praktischen Ziele lassen sich demnach wie folgt zusammenfassen:

•=> Der erste Schritt (1) betrifft die Entwicklung explorativer Beurteilungskrite-rien fur die Beschreibung des nachhaltigen (Miss-)Erfolgs von RIS,

Page 163: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Nachhaltige Regionale Innovationssysteme 149

•=> der zweite Schritt (2) bezieht sich auf die Erklarung wesentlicher Einflusse der Funktionsfahigkeit von RIS und auf den Grad ihrer (nachhaltigen) Er-fullung aus verschiedenen Management-Perspektiven heraus,

"=> im Rahmen des dritten Schrittes (3) wird schlieBlich versucht, diese explo-rativen Ergebnisse in einen erweiterten wirtschaftswissenschaftlichen Theo-rierahmen einzubetten, mit dessen Hilfe sich die Entstehung und Entwick-lung - am Leitbild „Nachhaltigkeit" orientierter - RIS als Prozesse der Wissens- und Institutionengenese fassen lassen (vgl. Beckenbach u.a. 2004).^

Diese drei Schritte sind die Voraussetzung, um daraus SD-orientierte Empfeh-lungen fur die Innovationspraxis abzuleiten. Im Sinne der Zielsetzung des Ban-des bilden dabei SD-forderliche institutionelle Arrangements den Fokus. Im Speziellen konzentriert sich der Beitrag auf das Zusammenspiel marktHcher (wettbewerbsorientierter), staatlicher (hierarchischer) und gesellschaftlicher („dritter Sektor") Governance-Modi in RIS. Unter dieser Eingrenzung ist zu verstehen, dass im Rahmen der vorwiegend empirisch-qualitativen Fallstudien vor allem die Wechselwirkungen sehr unterschiedlicher institutioneller Formen der (Selbst-)Steuerung bzw. gezielten Beeinflussung des Verhaltens der RIS-Akteure untersucht wurden.

Analysiert man derartige Steuerungs-Modi als „Schalen" oder „Schichten", die bi- und multilaterale betriebliche Innovationsprozesse als „RIS-Kem" ein-betten, sind fiir die Auswahl der Fallstudien zwei Kriterien relevant: (1) Alle drei Modi sind in irgendeiner Form feststellbar; (2) Die „Dicke" dieser Schalen bzw. Schichten soil jeweils in jeder Fallstudie deutlich unterschiedlich sein. Das einbezogene Spektrum reicht daher vom „klassischen" RIS Silicon Valley mit sehr dicken wettbewerbsortierten Schichten bin hin zum deutschen RIS Rhon. Dieses zeichnet sich durch dicke offentliche und gesellschaftliche Schichten sowie eine vergleichsweise dtinne private Schale aus. Die weiteren Fallstudien decken das derart aufgespannte Spektrum relativ gleichmaBig ab (Abbildung 17).

In die Formuliemng dieses Fazits (Kapitel 4) sind konzeptionelle Impulse eingegangen, die sich aufgrund der Mitarbeit des Autors an den im Friihjahr des Jahres 2005 begonnenen Forschungs-projekten „2nd order innovations? An Actor-oriented Analysis of the Genesis of Knowledge and Institutions in Regional Innovation Systems" (gefordert von der Volkswagen Stiftung; Lei-tung Prof. Dr. Frank Beckenbach) und „Innovation und Partizipation" (gefordert von der Hans-Bockler-Stiftung; Leitung Prof. Dr. Hans Martin) ergeben haben.

Page 164: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

150 Wolfgang Gerstlberger

Anforderungen an die Gestaltung von RIS

Institutionelle Arrangements als Bindeglied

Anforderungen an eine nachhaltige Untemehmens- und

Regionalentwicklung

Abbildung 17: RIS als Institutionelle Arrangements

Gleichsam „quer" zu diesen funktionalen Kriterien fur die Auswahl der Fallstu-die^ wird die variierende institutionelle Intensitat der Orientierung an dem Leit-bild SD berucksichtigt:

•=> „Regionale Erfolgsgeschichten " liefem Beurteilungskriterien und Hypothe-sen fur die erfolgreiche regionale Unterstiitzung betrieblicher Innovations-prozesse durch RIS und

^ „Normalregionen" (Hellmer u.a. 1999) sind wesentlich weiter verbreitet; anhand derer konnen die Ausgangsbedingungen fiir „durchschnittliche" RIS-Ergebnisse deutlich gemacht werden.

"=> Was die deutschen Fallstudien im Speziellen angeht, wurde versucht, mog-lichst das gesamte sozio-okonomische Spektrum inlandischer Regionen ab-zudecken {Stadtstaat Bremen; Fldchenstaat Baden-Wurttemberg\ die Gren-zen von BunAQ^VknAQmuberschreitende Region Rh6n\ ehemalige „Zonen-Rand-Region " Kassel); diese Auswahl impliziert zugleich den Versuch, die wichtigsten, deutlich unterscheidbaren regionalen Nachhaltigkeitsstrategien in Deutschland zu berucksichtigen [eindimensional okonomisch wettbe-werbsorientiert (Bremen), dreidimensional (okonomisch, okologisch und sozial) und integriert nachhaltig orientiert (Rhon), Mischformen (Baden-Wiirtemberg; Stuttgart, Freiburg sowie Kassel)].

burch die Kombination der funktionalen (sozio-okonomischen) und inhaltli-chen (Nachhaltigkeitsstrategien) Auswahlkriterien ergibt sich die folgende Fall-studienmatrix (Tabelle 4).

Mogliche Erklarungsfaktoren (Schritt 2) fiir den erreichten Grad des nach-haltigen Erfolgs institutioneller RIS-Arrangements wurden durch sechs Arbeits-

^Durch vorbereitende Recherchen konnten jeweils zwischen zehn und fiinfzehn potentielle Partner ftir Experteninterviews ermittelt werden. Fur Ober- und Niederosterreich gilt dies zusammenge-nommen. Mafigebliches Kriterium fiir diese Auswahl war die Nennung in unterschiedlichen schriftlichen und Intemetquellen. Von den ermittelten Experten erklarten sich jeweils mindes-tens sechs Personen bereit, an einem mindestens ca. einstiindigen Experteninterview teilzuneh-men.

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Nachhaltige Regionale Innovationssysteme 151

hypothesen (Abbildung 18) konkretisiert. Diese Faktoren konnten aus „SD-erganzenden", komplementaren Management-Ansatzen abgeleitet werden. Da-bei handelt es sich um den sog. „St. Galler'\ „Munchener'\ „mikropoliti-schen" und „Karlsruher" Ansatz sowie unterschiedliche Spielarten von Netz-werkansdtzen. Der St. Galler Ansatz beschafligt sich vor allem mit den normativen Grundlagen von Managemententscheidungen, wobei fur die Analy­se von RIS explizite (schriftliche) Leitbilder als am ehesten operationalisierbare, mogliche Einflussfaktoren ausgewahlt wurden. Eine vergleichbare RoUe spielen im Miinchener Ansatz formalisierte und informelle Kommunikationsbeziehun-gen zwischen Akteuren verschiedener Hierarchieebenen und Untemehmensbe-reiche, hier als Formen und Inhalte von Diskursen zusammengefasst. Voraus-setzung fur derartige Diskurse sind einzelne, organisationsweit „sichtbare" Akteure („Promotoren"), die diese Kommunikationsbeziehungen tragen und ggf. verandem.

Tabelle 4: Zusammenstellung ausgewdhlter Regionen als empirische Basis fur die Untersuchung

Erfolgsgeschichten

Eindimensional okonomisch wettbewerbsorientiert

dreidimensional (okonomisch, okolo-gisch und sozial) und integriert nachhaltig orientiert

Mischformen

Normalregionen

Mischformen

Deutsche Regionen

• Bremen

• Rhon

(Biospharenreservat)

• Baden-Wiirttemberg

(Stuttgart, Freiburg)

• Wirtschaflsregion

Kassel

Internationale Regionen

• Silicon Valley (USA)

• Oberosterreich

• Randstad

(Niederlande)

• Danische

Dorfokonomie

• Niederosterreich

(Quelle: Eigene Auswahl auf der Basis von EC 2000, S. 70ff.)

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152 Wolfgang Gerstlberger

Neben diskursiven Formen des Informations- und Wissensaustausches fokus-siert der Karlsruher Ansatz auf den organisierten Technologietransfer innerhalb von Untemehmen sowie zwischen Untemehmen und Forschungseinrichtungen im engeren Sinne. Dieser stark empirisch bzw. praxisorientierte Ansatz themati-siert die verschiedenartigen Dimensionen des Austausches, der Messung und der Nutzung technisch und okonomisch verwertbaren Wissens als Grundlage fur Produktinnovationen. Als organisatorische Einbettungen, sowohl fiir den Technologietransfer als auch ftir (vorbereitende) informelle Diskurse, konnen in RIS unterschiedliche Spielarten intra- und interorganisatorischer Netzwerke dienen. Dabei kann es sich urn horizontal (Cluster, innovative Milieus) wie vertikale Netzwerke handeln, die sich entlang von Wertschopfungsketten grup-pieren. Neben selbstorganisierten Netzwerken, vor allem in Silicon Valley, spielen dabei in den europaischen Fallstudien von staatlichen Akteuren ange-stoBene und geforderte Vemetzungen eine wichtige Rolle.

Versucht man diese einander erganzenden, jeweils fur sich allein genommen bereits sehr komplexen Managementansatze in vereinfachter Form zu operatio-nalisieren, ergeben sich die folgenden sechs Arbeitshypothesen:

•=> (HI) Explizite Leitbilder fur die Untemehmens- und Regionalentwicklung, ^ (H2) Diskurse im Rahmen der RIS-Gestaltung, ^ (H3) private und offentliche Promotoren der RIS-Gestaltung mit ihren je-

weiligen Wertesystemen, •=> (H4) die Intensitat und Ausgestaltung des Technologietransfers zwischen

Forschung und Untemehmen, •=> (H5) die Starke und Ausgestaltung von Kooperationsnetzwerken zwischen

den unterschiedlichen RIS-Akteuren und -Promotoren und •=> (H6) das - gleichgerichtete - Zusammenspiel dieser funf Faktoren.

Die Hypothesen (Tabelle 5) konnen fur die notwendige Unterteilung in bewer-tende (abhangige) und erklarende (unabhangige) RlS-Untersuchungsdimensio-nen unterteilt werden.

Page 167: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Nachhaltige Regionale Innovationssysteme 153

Abbildung 18: SD-ergdnzende Managementansdtze

Die Hypothesen (Tabelle 5) beziehen sich auf die vier Erfolgskriterien:

O Bedeutung kleinraumlicher Stoffkreislaufe fiir die betriebliche und regiona­le Wertschopfung (qualitativ und quantitativ),

^ Ausgewogenheit der Beschaftigungssituation (einschlieBlich Qualifizierung / Weiterbildung),

1= Ausgewogene Entwicklung der Infrastrukturbereiche mit mittelbarem Inno-vationsbezug (Verkehr, Ver- und Entsorgung, Telekommunikation, Ausbil-dung etc.),

•=> Qualitat des regionalen Wissenstransfers aus Kunden- bzw. Nutzersicht (vor allem Untemehmen).

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154 Wolfgang Gerstlberger

Tahelle 5: Arbeitshypothesen fur eine nachhaltige RIS-Gestaltung

Zentrale Erfolgskriterien

Erfolgsfaktoren

Bindewirkung expliziter Leitbilder

Dichte von RIS-Diskursen

Engagement von RIS-Promotoren

Intensitat des RIS-Informations-austausches

Intensitat inter-organisatori-scher Kooperationen

Zusammenwir-ken (Einzel-hypothesen 1 bis 5)

(l)Bedeutung kleinraumlicher Stoffkreislaufe

(okologisch/ okonomisch)

(2) Ausgewogenheit der Beschaftigungs-situation

(okonomisch/sozial)

(3) Ausgewogene Entwicklung der Infrastruktur

(okonomisch/ okologisch/ sozial)

(4) Qualitat des regionalen Wissenstransfers

(Wis sens transfer: okonomisch/ okologisch/ sozial)

Positiver Zusammenhang zwischen Leitbild-Bindewirkung und mehrdimensional nachhaltiger RIS-Gestaltung

(Hypothese 1)

Positiver Zusammenhang zwischen der Dichte institutionalisierter Foren und mehrdimensional nachhaltiger RIS-Gestaltung

(Hypothese 2)

Positiver Zusammenhang zwischen der Intensitat der Promotorentatigkeit und mehrdimensional nachhaltiger RIS-Gestaltung

(Hypothese 3)

Positiver Zusammenhang zwischen der Intensitat des „klassischen" Technolo-gietransfers und mehrdimensional nachhaltiger RIS-Gestaltung

(Hypothese 4)

Positiver Zusammenhang zwischen der Intensitat inter-organisatorischer Kooperationsnetzwerke und mehrdimensional nachhaltiger RIS-Gestaltung

(Hypothese 5)

Die Erfolgsfaktoren fur eine nachhaltige RIS-Gestaltung, Leitbilder, Diskurse, Promotoren, Informationsaustausch und Vemetzung verstarken

sich gegenseitig positiv (Hypothese 6)

Ergebnisse der Fallstudien in aller Kiirze

3.1 Einheitlicher Aufbau und zentrale Ergebnisse der Fallstudien

Die folgenden Kurzdarstellungen der Ergebnisse der Fallstudien sind nach ei-nem einheitlichen Schema aufgebaut. Diese Gliederung basiert auf den sechs Arbeitshypothesen, die in Tabelle 5 zusammengefasst sind. Vorangestellt ist jeweils eine knappe, zusammenfassende Erfolgseinschatzung hinsichtlich der RIS-Entwicklung anhand der ebenfalls in Tabelle 5 gebiindelten zentralen Er-

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Nachhaltige Regionale Innovationssysteme 155

folgskriterien. Entsprechend der Arbeitshypothese 1 werden im Anschluss daran etwaige Leitbild-Bindewirkungen kurz erortert. Darauf folgen Einschatzungen der RoUe der jeweiligen RIS-Foren und -Promotoren (Arbeitshypothese 2), der Quantitat und Qualitat des regionalen Technologietransfers (Arbeitshypothese 3) sowie der Bedeutung von Kooperationsnetzwerken fiir das jeweilige RIS. Den Abschluss bilden - als „lesson learned" - jeweilige Schlussfolgerungen, die sich aus den einzelnen Fallstudien fiir die zukiinftige vergleichende RIS-Analyse und nachhaltige -Gestaltung ziehen lassen.

USA: Silicon Valley

Nachhaltige Erfolgseinschatzung Die hohe wirtschaftliche Leistungskraft und Innovationsfahigkeit ist auch ange-sichts des „Borsenknicks" Ende der 1990er Jahre weltweit einzigartig. Trotz faktischer Vollbeschaftigung und anhaltend hoher wirtschaftlicher Wachstums-raten mehren sich jedoch okologische und soziale Probleme. Was beispielswei-se die Probleme der Wohnraum- und Energieversorgung sowie des Transports und des primaren Bildungssystems angeht, haben diese bereits heute betriebs-wirtschaftliche Konsequenzen im engeren Sinne. Vermehrte Produktionsausfal-le und Engpasse bei Arbeitskraften mit mittlerer Qualifikation (z.B. IT-Serviceleistungen) zeigen dies.

Leitbild Ein explizites Leitbild existiert weder fiir die regionalokonomische noch fiir die Regionalentwicklung. Als sehr bedeutend fiir die betriebliche und regionale Innovationstatigkeit werden jedoch implizite Leitbilder eingeschatzt. Mit die-sem Begriff sind fest verankerte Normen- und Wertemuster zusammengefasst: „Flexibilitat", „Leistungsbereitschaft", „individuelle Verantwortung" u.a. mehr.

Foren und Promotoren Formalisierte regionale Foren oder Promotoren spielen eine sehr geringe Rolle fiir die Vorbereitung, Begleitung oder Planung von Innovationsaktivitaten. Zentrale innovationsrelevante Institutionen fiir den Erfahrungsaustausch sind selbstorganisierte Alumni-, Berufs- und Expertenvereinigungen. Die Initiatoren und Vorstande dieser Vereinigungen gelten zugleich als die wichtigsten RIS-Promotoren.

Technologietransfer Der regionale, okonomisch-technische Technologic- und Wissenstransfer ist als ein sehr effektives und effizientes Zusammenspiel hochspezialisierter privater und offentlich-privater Transfereinrichtungen organisiert. Besonders wichtig sind hier die spin offs der weltweit haufig in ihren Kemfachem fiihrenden regi-

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156 Wolfgang Gerstlberger

onalen Hochschulen. Hohe Personalmobilitat zwischen Forschungs- und Trans-fereinrichtungen sowie Untemehmen ist der Regelfall.

Kooperationsnetzwerke Hocheffektive offentlich-private und zwischenbetriebliche Innovationsnetzwer-ke sowie WertschopfUngsketten bilden nach ubereinstimmender Einschatzung das Riickgrat des RIS Silicon Valley. Trotz ihrer hochgradigen Wandlungsfa-higkeit und Flexibilitat sind sie im Allgemeinen bestandsfahiger als Einzelun-temehmen.

Lesson learned Das RIS Silicon Valley steht weltweit exemplarisch als herausragendes Fallbei-spiel fiir drei Schlussfolgerungen fur die weitere Forschung und Gestaltung: (1) Fine starke regionale Innovationskultur ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor; (2) Netzwerkartige Formen des Wissens- und Technologietransfers sind in Zusam-menhang damit ein zweiter wesentlicher Erfolgsfaktor; (3) die Entkopplung okonomisch-technischer sowie sozialer und kultureller Innovationsfahigkeit ist mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit nicht vereinbar.

ffDdnische Dorfbkonomie*'

Nachhaltige Erfolgseinschatzung Danische RIS entsprechen den Anforderungen, die sich aus dem Leitbild der Nachhaltigkeit ergeben, weltweit in vergleichsweise hohem MaBe. Die Grund-lage dafiir bilden (1) eine effektive regionale Clusterbildung mit Fokus auf hoherwertigen Technologien (z.B. hochwertige Agrarprodukte oder Mobel) sowie (2) konsequente und konsistente nationale Reformen im Bereich der Bil-dungs-, Sozial- und Steuerpolitik seit Beginn der 1980er Jahre.

Leitbild Danische RIS verfugen mehrheitlich iiber explizite regionale Leitbilder mit hoher Bindewirkung. Die wichtigste Quelle dafiir ist neben differenzierten regi-onalokonomischen und sozialpolitischen Analysen der Nationale Umweltplan als normativer Rahmen. Erganzt werden diese Leitbilder durch starke informelle Institutionen: beispielsweise eine intensiv ausgepragte, historisch gewachsene „Vertrauenskultur" innerhalb dichter Innovationsnetzwerke.

Foren und Promotoren Das in den skandinavischen Staaten historisch sehr stark ausgepragte Prinzip der kommunalen bzw. regionalen Selbstverwaltung und -verantwortung wird im Bereich der regionalen Innovationspolitik vergleichsweise effektiv und effizient durch spezialisierte gesellschaftliche Korperschaften reprasentiert (z.B. Vertre-tungen des danischen Technologieinstituts). Diese Korperschaften organisieren sowohl die regelmaBige strategische Abstimmung zwischen Wirtschaft, Wis-

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Nachhaltige Regionale Innovationssysteme 157

senschaft und Politik als auch die operative Unterstiitzung einzelner Untemeh-men und Wissenschaftler (z.B. Technologieberatung). In den Leitungsgremien und Geschaftsfuhrungen der Korperschaften sind die wichtigsten RIS-Promotoren angesiedelt.

Technologietransfer Der regionale Technologie- und Wissenstransfer wird sowohl durch formalisier-te regionale Selbstverwaltungs-Korperschaften als auch durch komplementare informelle und dezentrale Kooperationsnetzwerke getragen. Hervorzuheben ist dabei, dass auch und gerade kleine und mittlere Untemehmen verstarkt ein systematisches Weiterbildungs- und Wissensmanagement betreiben.

Kooperationsnetzwerke Aufgrund der traditionell engen sozialen und gesellschaftlichen Kontakte in danischen Regionen, der kleinbetrieblich gepragten Wirtschaftsstruktur und der starken Selbstverwaltungs-Traditionen spielen Kooperationsnetzwerke fur alle Formen von Innovations- und Wissenspartnerschaften eine zentrale Rolle. Seit Beginn der 1980er Jahre werden derartige Netzwerke durch die nationale Bil-dungs-, Sozial- und Steuerpolitik gezielt und systematisch gefordert.

Lesson learned In danischen RIS wird der „Spagat" zwischen normativer Rahmensetzung sowie dezentraler Selbstverwaltung und -organisation erfolgreich gestaltet. Die Basis dafiir bildet eine vergleichsweise stabile Wirtschaftsentwicklung mit weitge-hender faktischer VoUbeschaftigung und breiter, kontinuierlich weiterentwi-ckelter technologischer Basis.

Niederlande: Randstad

Nachhaltige Erfolgseinschatzung Die niederlandische Kemregion Randstad, in der sich fast alle groBeren Stadte befmden, ist traditionell sehr dicht bevolkert und hoch industrialisiert. Dadurch ergeben sich vielfaltige okonomische Verflechtungen und Kooperationschan-cen, jedoch auch okologische und soziale Problemlagen (besonders in den Be-reichen Naturschutz, Verkehr und Raumplanung). Durch gezieltes Regionalma-nagement mit Hilfe regionaler Entwicklungsagenturen konnten die Chancen bereits seit Mitte der 1980er Jahre systematischer als zuvor genutzt und die Problemlagen vermindert werden. Hervorzuheben ist hier beispielsweise eine systematisch koordinierte „Griinflachenpolitik".

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158 Wolfgang Gerstlberger

Leitbild Zwar existiert kein explizites Leitbild fur die gesamte Randstad, der nationale Umweltplan der Niederlande enthalt jedoch eine ganze Reihe spezieller Rah-menbedingungen fiir die Kemregion. Erganzt wird dieser nationalstaatliche normative Rahmen durch die Programmatiken der fachlich spezialisierten (z.B. Verkehr, Tourismus) regionalen Entwicklungsagenturen. Die in niederlandi-schen Regionen vergleichsweise stark ausgepragte „regionale Innovationskul-tur" erleichtert einen flexiblen Umgang mit den Programmatiken der unter-schiedlichen Entwicklungsagenturen.

Foren und Promotoren Aus der Konzeption der funktional spezialisierten regionalen Entwicklungs­agenturen als Gemeinschaftseinrichtungen der Gebietskorperschaften sowie Kammem und Untemehmensverbande, die in ihrer ursprtinglichen Form in den Niederlanden entwickelt wurde, ergeben sich die zentralen Foren und Promoto­ren fur die RIS-Gestaltung. Hier sind zum einen die offiziellen Gremien und zum anderen zeitlich befristete, projektbezogene Arbeitsgruppen zu unterschei-den.

Technologietransfer Der regionale Technologic- und Wissenstransfer wird federfiihrend und jeweils getrennt fur die unterschiedlichen Fachgebiete durch die spezialisierten Ent­wicklungsagenturen koordiniert. Die direkte organisatorische und personelle Anbindung der Entwicklungsagenturen an die nationalen Ministerien einerseits sowie die regionalen Gebietskorperschaften (Provinzen) und Forschungsein-richtungen andererseits erleichtert die Abstimmung nationaler und regionaler bzw. kommunaler Strategien, MaBnahmen und Instrumente ftir die regionale Innovations- und Forschungsforderung. Das Konzept der gezielten regionalen Clusterbildung ist in den Niederlanden wesentlich frtiher als in den weiteren Fallstudien umgesetzt worden.

Kooperationsnetzwerke Der groBere Teil der Kooperationsnetzwerke im RIS Randstad, die grundsatz-lich durch dieselben Faktoren begiinstigt werden wie diejenigen in danischen RIS, ist „clusterzentriert" und daher iiberwiegend entlang vertikaler Wertschop-fungsketten organisiert.

Lesson learned Das RIS Randstad zeigt, wie eher „angelsachsische" und eher „europaische" erfolgreich miteinander kombiniert werden konnen.

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Nachhaltige Regionale Innovationssysteme 159

Osterreich: Ober- und Niederosterreich

Nachhaltige Erfolgseinschatzung Ahnlich wie in Danemark und den Niederlanden ist es in Osterreich seit Mitte der 1980er vergleichsweise erfolgreich gelungen, die Konzepte RIS und Nach-haltigkeit im Rahmen eines Cluster- und Regionalmanagements mit Schwer-punkten in kleinbetrieblich strukturierten Sektoren wie Land- und Forstwirt-schaft sowie Tourismus miteinander zu verbinden. Programme wie „Sanfter Tourismus" (Naturraume und soziale lokale Netzwerke als wichtige Basis) oder „Wertschopfungskette Holz" (vom Anbau bis zur energetischen Verwertung und Mobelproduktion) lassen sich dafiir exemplarisch anfiihren. Das Verstand-nis von Nachhaltigkeit unterscheidet sich dabei insofem etwas von demjenigen in anderen Staaten wie z.B. Deutschland, als „Lebensqualitat" und weniger „Effizienz" das Leitmotiv darstellt. Obwohl sich die regionalokonomischen Strukturen Ober- und Niederosterreichs erheblich unterscheiden (Automobil-und Kunstoff-Cluster mit faktischer Vollbeschaftigung versus grenznaher Agrar- und Tourismus-Cluster mit relativ hoher Arbeitslosigkeit), gelten die im folgenden zusammengefassten Ergebnisse im Grundsatz fiir beide Bundeslan-der.

Leitbild Besonders in Oberosterreich wird das explizite RIS-Leitbild als entscheidender Erfolgsfaktor seit Mitte der 1990er Jahre eingeschatzt. Dabei spielen auch Im­pulse durch den Landesumweltplan (LUP) eine wichtige Rolle. Ein weiterer Unterschied gegeniiber dem expliziten Leitbild Niederosterreichs besteht darin, dass dieses eher „top down" durch Experten entwickelt wurde, wahrend in O-berosterreich dezentrale Leitbildaktivitaten („bottom up") in den spaten 1990er Jahren sehr intensiv betrieben wurden.

Foren und Promotoren Dieser graduelle Unterschied setzt sich bei der RIS-Organisation fort. Formali-sierte RIS-Foren und offizielle Promotoren („Regionalmanager") fiir die regio­nale Innovationsforderung wurden in Oberosterreich deutlich friiher als in Nie­derosterreich initiiert. Zu Beginn dieser Initiative war dies in Oberosterreich mit einem erheblich starkeren expliziten Nachhaltigkeitsbezug verbunden.

Technologietransfer Auch hinsichtlich dieses moglichen Einflussfaktors existieren starke Ahnlich-keiten mit dem niederlandischen RIS-Modell der regionalen Clusterorientie-rung, wobei Oberosterreich wiederum einen gewissen zeitlichen Vorsprung gegeniiber Niederosterreich aufweist. Bei diesem Vergleich sind jedoch auch zwei wichtige Unterschiede im Detail zu betonen: (1) Zum einen ist die syste-matische Verzahnung zwischen regionaler und nationaler Ebene der Innovati-

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160 Wolfgang Gerstlberger

ons- und Forschungsforderung erheblich geringer ausgepragt als in den Nieder-landen; (2) zum anderen ist der Spezialisierungsgrad der einzelnen Regional-manager deutlich geringer.

Kooperationsnetzwerke In Zusammenhang mit der starker „ganzheitlichen", weniger differenzierten Organisation des Technologietransfers sind die innovationsbezogenen Koopera­tionsnetzwerke sowohl in Ober- als auch in Niederosterreich insgesamt haufiger horizontal als vertikal ausgerichtet.

Lesson learned Aus deutscher Perspektive sind die beiden osterreichischen Fallstudien insofem besonders interessant, als sich zeigt, dass (1) die vorrangige Betonung von Effi-zienzkriterien weder in okonomischer noch in nachhaltiger Perspektive notwen-diger Weise vorteilhaft ist; (2) auch in einem foderalen System normative natio­n a l Rahmensetzungen als Orientierung fiir regionale Innovationsstrategien realisierbar sind.

Deutschland: Baden-Wurttemberg, Bremen^ Kassel undRhon

Nachhaltige Erfolgseinschatzung Die untersuchten inlandischen RIS-Fallbeispiele zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl hinsichtlich des rein okonomischen als auch des nachhaltigen Erfolgs das auBerst heterogene Bild der deutschen Entwicklung widerspiegeln. Neben einzelnen bereits vergleichsweise nachhaltigen regionalen „Leuchttiir-men" (z.B. das Biospharenreservat / BR Rhon) lassen sich sowohl einige Bei-spiele mit mehr oder weniger expliziten Nachhaltigkeitsansatzen (z.B. Baden-Wiirttemberg) als auch viele Regionen mit iiberwiegend okonomisch orientier-ten RIS-Konzepten fmden (z.B. Freie und Hansestadt Bremen, Wirtschaftsregi-on Kassel).

Leitbild Explizite RIS-Leitbilder bzw. Impulse dafiir existieren - jeweils nicht flachen-deckend - sowohl auf der Ebene einzelner Bundeslander (z.B. Landesumwelt-plan Baden-Wiirttemberg als normativer Rahmen) als auch fiir einzelne Regio­nen (z.B. Kasseler Wirtschaftsleitbild, Rahmenkonzept fur das BR Rhon). Viele Regionen bzw. RIS verfiigen noch nicht uber ein explizites Leitbild. Die we-nigsten Regionen weisen ein dreidimensional nachhaltiges und integriertes orientiertes Leitbild auf, wie z.B. das BR Rhon. Auf der nationalen Ebene ist bisher kein gemeinsamer normativer Rahmen vorhanden.

Foren und Promotoren Ahnlich heterogen wie im Bereich der Leitbildentwicklung stellt sich die deut-sche RIS-Situation dar, was die moglichen Einflussfaktoren Foren und Promo-

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Nachhaltige Regionale Innovationssysteme 161

toren angeht. Ein dominantes oder gar wegweisendes Modell ist hier bisher nicht erkennbar. Neben der Existenz unterschiedlicher Formen eines formali-sierten Regionalmanagements (z.B. Entwicklungsagenturen, Clusterstrategien, Regionalkonferenzen, Regionalverbande) wird derzeit mit verschiedensten eher informellen Spielarten regionaler Innovations- und Entwicklungsinitiativen experimentiert.

Technologietransfer Der regionale Technologie- und Wissenstransfer ist in deutschen RIS bisher im Regelfall nicht strategisch auf gesamtregionaler Ebene abgestimmt. Was diese Gesamteinschatzung angeht, sind die vielfaltigen Transfer-Aktivitaten von Hochschulen, Kammem, Wirtschaftsforderungsgesellschaften, Kommunen, Bundeslandem und sonstigen Tragem tiberwiegend weder professionell organi-siert noch strategisch und systematisch aufeinander abgestimmt. Moglicherwei-se Erfolg versprechende Versuche in dieser Richtung, wie z.B. die Technologie-Region Karlsruhe oder die Wissenschaftsstadt Ulm, stellen bisher den Ausnah-mefall dar. Dariiber hinaus sind sie aufgrund der noch relativ kurzen Bestands-dauer bisher relativ wenig aussagekraftig. In den wenigen dezidiert nachhaltig-keitsorientierten RIS-Beispielen (z.B. BR Rhon, Freiburg, Heidelberg) kommt dem regionalen Technologie- und Wissenstransfer bisher nur eine Randbedeu-tung zu.

Kooperationsnetzwerke Aufgrund der festgestellten relativen Schwache der formalen Institutionen in deutschen RIS werden mit der Forderung regionaler Innovations- und For-schungsnetze haufig hohe Erwartungen verbunden. Insgesamt starker als in den weiteren intemationalen Fallstudien ist die Tendenz feststellbar, dass Koopera­tionsnetzwerke „top down" initiiert werden. Qualitative oder gar quantitative Belege dafur, dass diese Erwartungen gerechtfertigt sind, liegen bisher erst in Einzelfallen und ersten Ansatzen vor (z.B. Biotechnologie-Cluster Martinsried bei Mtinchen, Solarenergie-Netzwerke in Freiburg).

Lesson learned Die deutschen RIS-Fallbeispiele stehen (1) dafur, dass es den institutionellen „one best way" der nachhaltigen RIS-Gestaltung in Deutschland nicht geben kann. Welche der vielfaltigen aktuellen Ansatze far die institutionelle Gestal-tung sich letztendlich als erfolgreich und bestandsfahig erweisen, ist aufgrund der bisherigen geringen Erfahrungen noch weitgehend offen. Festhalten lasst sich jedoch als zweite (2) vorlaufige Schlussfolgerung, dass die moglichen „weichen" RIS-Erfolgsfaktoren (vor allem implizite und explizite Leitbilder, Promotoren) in deutschen RIS insgesamt bisher eher vemachlassigt wurden und offenkundige Schwachen der formalen Institutionen zumindest teilweise darauf zurtickzufiihren sind.

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162 Wolfgang Gerstlberger

3.2 Zusammenfas sender Vergleich der Ergebnisse der Falls tudien

Tabelle 6: Internationaler RIS- Vergleich

Silicon Valley (USA)

Beurteilung des Erfoigs

Okonomisch

++

Okologisch

--

Sozio-

Kulturell

-

Funktionsfahigke it

(sechs Hypothesen: H1 -6)

1 5 ...

Q

++ ++

s H

1 H - +++

i

o «

+++

u 1

+++

Ausgewahlte europaische RIS

Randstad (Niederlande)

Danische

Kiistenregionen

Oberosterreich

(Steyr/Kirchdorf)

Rhon (Hessen /

Deutschland)

Baden-Wiirttem berg

(Stuttgart, Freiburg /

Deutschland)

Wirtschaftsregion

Kassel / Deutschland

(„Normalregion")

Bremen / Deutschland

(„Nonnalregion")

++

+++

++

+

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+

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+

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+

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+++

+++

+++

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Legende Ausprdgungfiir die Beurteilung des RIS-Erfolges: •H-+ = sehr fortgeschritten, ++ = fortgeschritten, + = wenig fortgeschritten, 0 = durchschnittlich, - = etwas unterdurchschnittlich, - = miterdurchschnittlich, — = sehr unterdurchschnittlich Auspragungenfiir die Funktionsfdhigkeit von RIS: +++ =^ sehr intensive Auspragung, ++ = intensive Auspragung, + = intensive bis mittlere Auspragung, 0 = mittlere Auspragung, - = mittlere bis schwache Auspragung, ~ = schwache Auspragung, — = sehr schwache Auspragung

Fasst man die Ergebnisse der Fallstudien zusammen (Tabelle 6), sind folgende Faktoren entscheidend in einer an SD orientierten Perspektive:

•=> ein explizites Leitbild als konzeptioneller Rahmen, •=> ein starkes offentliches und privates Innovationsklima,

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Nachhaltige Regionale Innovationssysteme 163

•=> institutionelle RIS-Arrangements, die den Bedingungen der jeweiligen regionalen Untemehmen im Rahmen normativer Standards moglichst weit-gehend entsprechen.

3.3 Die wichtigsten verallgemeinerbaren Ergebnisse

1. Erstes Ergebnis: Explizites Leitbild als normativer Rahmen Die Erfolgsgeschichten verdeutlichen, dass SD-orientierte explizite Leitbilder die Position im intemationalen Innovationswettbewerb mittel- bis langerfristig positiv beeinflussen konnen. Explizite Leitbilder haben sich tiberwiegend dann als besonders bindewirksam in den Fallstudien erwiesen, wenn sie an bereits vorhandene sozio-kulturelle Traditionen ankniipfen konnen. In Ausnahmefallen, wenn beispielsweise - wie in der Fallstudie Niederosterreich - Marktkonstellati-onen sich drastisch und kurzfristig andem (Osterweiterung der EU), konnen derartige Traditionen durch „top down" RIS-Strategien zumindest teilweise erfolgreich kompensiert werden.

Im Gegensatz zu Danemark, den Niederlanden und Osterreich ist in Deutschland derzeit kein nationaler Rahmen fur die RIS-Gestaltung vorhanden. Der fehlende Rahmen wird in den ansatzweise SD-orientierten Erfolgsgeschich­ten (Baden-Wtirttemberg, Rhon) durch regionale Leitbilder kompensiert. Eine derartige Kompensierung ist nur fur die kleinere Zahl deutscher RIS feststellbar. Die Mehrzahl der Normalregionen verfugt noch nicht iiber explizite Leitbilder mit Nachhaltigkeitsbezug.

1. Zweites Ergebnis: Starkes Innovationsklima und -kultur als „weiche" not-wendige Basis flir RIS

Die Parallelitat unterschiedlicher Leitbildansatze in einer groBen Anzahl deut­scher RIS und auf NIS-Ebene geht mit einem schwachen Innovationsklima sowie einer wenig ausgepragten regionalen Innovationskultur einher.

1. Drittes Ergebnis: Den regionalen Untemehmensbedarfen angemessene RIS-Funktionsfahigkeit

Die vergleichende Gegeniiberstellung der Fallstudien bestatigt die Bedeutung der RIS-Funktionsfahigkeit als „intervenierender Variable" flir die Entwicklung der Innovationsfahigkeit. Die Fallbeispiele zeigen, dass RIS ihre organisatori-schen Wirkungen sowohl bei Erfolgsgeschichten mit rein oder tiberwiegend okonomischen Zielsetzungen als auch bei solchen mit in Gesamtkonzepten integrierten okonomischen, okologischen und sozialen Ziele entfalten. RIS sind dementsprechend „anwendungsneutral". Ein fehlender nationaler und haufig regionaler normativer Rahmen, der federative Staatsaufbau mit teilweise unge-klarten Kompetenzen von Bund, Landem und Kommunen und eine insgesamt schwache „regionale Innovationskultur" bedingen allgemein den intemationalen Riickstand der deutschen RIS-Funktionsfahigkeit. Verglichen mit RIS-

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164 Wolfgang Gerstlberger

Beispielen in Danemark oder den Niederlanden wird deutschen regionalen Un-temehmensbedarfen iiberwiegend nicht optimal institutionell entsprochen.

Vergleichbare, RIS fordemde MaBnahmen wurden in der Randstad, dani-schen Regionen und mit geringer zeitlicher Verzogerung auch in Oberosterreich bereits in der ersten Halfte der 1980er Jahre eingeleitet. Die dargestellten deut­schen Erfolgsgeschichten stellen insofem Ausnahmefalle im Vergleich zur dominierenden deutschen RIS-Entwicklung dar, als „besondere" und eher un-gewohnliche Konstellationen genutzt wurden. Wenn eine zeitgleiche Entwick-lung aller notwendiger Komponenten der RIS-Funktionsfahigkeit nicht moglich ist, erweist sich folglich - als zusammenfassende Interpretation der Ergebnisse der RIS-Fallstudien und ex post betrachtet - ein schrittweises Vorgehen ange-messener als ein radikaler, flachendeckender Ansatz. Das zeitliche Hintereinan-derschalten verschiedener Komponenten der RIS-Funktionsfahigkeit ist in die-sem Fall effektiver als ihre gleichzeitige, jedoch unzureichende Durchfiihrung.

Der Technologie-Transfer zwischen Untemehmen, wissenschaftlichen Insti-tutionen und speziellen Transfer-Einrichtungen im Rahmen der RIS-Funktionsfahigkeit wurde in alien Fallstudien als wesentliche materielle Basis der RIS-Gestaltung bestatigt. Zugleich envies es sich jedoch auch, dass in Nor-malregionen bisher ein zu enges Verstandnis dieser materiellen Basis bei den RIS-Promotoren vorherrscht. Technologic wird im Regelfall mit Hoch- oder hoherwertiger Technologic gleichgesetzt, was zu selektiven Forderkonzeptionen fur eine Minderheit der Untemehmen beitragt. Die Erfolgsgeschichten danische Dorfokonomie, Oberosterreich und Biospharenreservat Rhon zeigen, dass der Transferbedarf vieler Untemehmen bei „einfachen" Technologien liegt.

1. Viertes Ergebnis: Zusammenspiel von normativem Rahmen, Innovations-klima und Organisationsformen

Die gmndlegende inhaltliche Gleichgerichtetheit von RIS-Leitbildem, Diskurs-foren und Promotorenaktivitaten ist der wesentliche Unterschied zwischen Er­folgsgeschichten und Normalregionen. Der weitgehende Verzicht auf einzelne Komponenten dieser RIS-Funktionsfahigkeit (Silicon Valley, Bremen) wirkt sich kurz- bis mittelfristig weniger negativ auf den RIS-Erfolg aus als ein nicht abgestimmtes Verhaltnis zwischen divergierenden okonomischen und okologi-schen Innovationszielen (Wirtschaftsregion Kassel). Abbildung 5 zeigt zusam-menfassend, dass das Zusammenspiel der normativen, kulturellen und organisa-torischen Faktoren der RIS-Gestaltung in den untersuchten kleineren EU-Nationalstaaten am weitesten fortgeschritten ist. Danemark, die Niederlande und Osterreich weisen iibereinstimmend NUP oder LUP als expliziten normati-

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Nachhaltige Regionale Innovationssysteme 165

ven RIS-Rahmen, ein insgesamt starkes regionales Innovationsklima und eine effektive Forderung innovativer KMU-Cluster durch RIS-Institutionen auf.

4 Fazit: Zukunftiger Forschungs- und Gestaltungsbedarf fiir nachhaltige Regionale Innovationssysteme als institutionelle Arrangements

Regionale Innovationssysteme lassen sich als - top down, bottom up oder in Mischformen - spezifisch konstruierte institutionelle Arrangements analysieren und gestalten. Dies muss - wie z.B. in der Fallstudie Silicon Valley sehr deutlich festgestellt - nicht notwendiger Weise bedeuten, dass einzelne Akteure sich und ihre regionalen Kooperationen explizit als Element eines RIS begreifen oder ein solches fiir eigene Aktivitaten als relevant erachten. Allerdings verwenden auch befragte Akteure, die jeglicher Form des Versuchs der bewussten regionalpoliti-schen Innovations-Steuerung sehr skeptisch gegenuberstehen, verwandte Beg-riffe wie regionales Innovationsklima oder regionale Kooperationsnetzwerke fiir die Charakterisierung ihres Beziehungsgeflechtes mit Bedeutung fiir Innovatio-nen.

Der Begriff des Arrangements soil ausdriicken, dass qualitativ unterschiedli-che Steuerungsformen, fiir RIS vor allem hierarchische und netzwerkartige, flexibel und zugleich langfi-istig ausgerichtet miteinander kombiniert werden. Derartige Arrangements erganzen sowohl volkswirtschaftliche bzw. regional-okonomische Marktbeziehungen als auch betriebswirtschaftliche Aktivitaten. Sie lassen sich in diesem Sinne als „vorwettbewerblich" und der eigentlichen Untemehmenstatigkeit im engeren Sinne vor- bzw. nachgelagert charakterisie-ren. Damit ist gemeint, dass durch RIS Funktionen wahrgenommen oder unter-sttitzt werden, die weder Markte noch einzelne Untemehmen (alleine) wahr-nehmen konnen bzw. wollen: (i) Die Produktion neuen Wissens in Untemehmen und Forschungseinrichtungen wird angeregt und unterstiitzt; (ii) Neues Wissen wird als offentliches Gut oder als Clubgut unterschiedlichen privaten und offentlichen Akteuren (leichter) zuganglich gemacht; (iii) die Neu-und Re-Kombination verschiedenartiger Wissensbestande in Form innovativer

Die Befunde der umfangreichen Literatur iiber die RIS-Entwicklung in groBen Nationalstaaten wie UK, Australien, Frankreich, Italien, Spanien, Japan, Kanada, Russland, Singapur u.a. kon­nen hier aus Platzgriinden nur angedeutet werden (vgl. bereits Braczyk et al. 1998 mit weiter-fuhrender Literatur). Stark zusammengefasst deuten die vorliegenden Forschungsergebnisse u-ber die RIS-Entwicklung in diesen OECD-Staaten jedoch darauf bin, dass Nachhaltigkeits-Aspekte bisher im Regelfall lediglich in einzelnen Branchen, F&E-Sektoren oder Infrastruktur-Bereichen eine relevante Rolle spielen. Dies lasst sich beispielsweise anhand von Ansatzen fur ein SD-orientiertes, multimodals regionales Mobilitatsmanagement in Bristol, Oxford und Schottland, Norditalien (Tourismus-Hochburgen), Montreal oder Singapur feststellen. Damit sind regionale Forschungsprogramme verkniipft (vgl. Gerstlberger et al. 2006).

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166 Wolfgang Gerstlberger

Produkte wird ermoglicht oder erleichtert und (iv) die Vermarktung neuer Pro-dukte wird begtinstigt. Die durch RIS gleichsam angestoCenen, transportierten oder beschleunigten Wissensstrome konnen dabei unterschiedliche Arten, Zu-stande und Trager von Wissen in verschiedenen Anteilen umfassen.

Was die Arten angeht, lassen sich mindestens technologisches, organisati-onsbezogenes, prozessbezogenes, instrumentelles und marktbezogenes Wissen unterscheiden. Hinsichtlich der Zustande reicht das Kontinuum von wissen-schaftlichen Erkenntnissen ohne jeglichen direkten Anwendungsbezug tiber anwendungsorientiert aufbereitetes Wissen bis hin zu Wissen, das beispielswei-se bereits in Prototypen flir neue Produkte inkorporiert ist. Bei den Wissenstra-gem schliefilich kann es sich sowohl um Personen (implizites Wissen) als auch um kiinstliche Datentrager jeglicher Form handeln (explizites Wissen). Die erstere Form von Wissenstragem impliziert, dass auch die Forderung der Mobi-litat von Personen mit bestimmten Erfahrungen und Qualifikationen und indivi-dueller Lemprozesse eine mogliche RIS-Funktion ist. Ausgehend von der Ge-samtheit dieser vorwettbewerblichen Wissensstrome in einer administrativ oder funktional abgrenzbaren Region konnen zum einen rechtlich formalisierte Insti-tutionen (Organisationen) untersucht und gestaltet werden. Diese RIS-Organisationen versuchen, die regionalen Wissensdynamiken gezielt zu beein-flussen. Dabei ist es flir das grundsatzliche Verstandnis von RIS nicht entschei-dend, ob diese Organisationen explizit fur die RIS-Forderung gegrundet wurden (z.B. regionale Entwicklungsagenturen) oder, ob sie diese Aufgabe als eine unter mehreren iibemehmen (z.B. Gebietskorperschaften).

Zum anderen beeinflussen „informelle Institutionen" die Gestaltung und Ausiibung von RIS-Funktionen in erheblichem MaBe. Dieser relativ offene und schillemde Sammelbegriff fasst vielfaltig mogliche und beobachtbare Formen inter-subjektiv geteilter Normen- und Wertemuster zusammen, die regionale Wissensdynamiken fordem und / oder hemmen konnen. Denzau/North (1994) beschreiben derartige Normen- und Wertemuster als „mental maps", die akteur-sunabhangige Orientierungsmoglichkeiten in komplexen Umfeldem bieten. Die Trennung zwischen formalisierten und informellen RIS-Institutionen ist nur als analytisch zu verstehen. Folgt man neueren organisationstheoretischen Ansat-zen, wie z.B. der institutionellen Theorie der Organisation, handelt es sich bei den beiden unterschiedenen Haupttypen von Institutionen um verschiedene Ebenen (haufig auch als Schalen oder Schichten bezeichnet) der Idngerfristigen Vergemeinschaftung individueller Akteure. Vergemeinschaftung im Sinn von Institutionalisierung bedeutet dabei:

„ ... sets of common habits, routines, established practices, rules or laws that regulate the rela­tions and interactions between individuals within as well as between and outside the organisa­tions" (Edquist/Johnson 1997, S. 41).

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Nachhaltige Regionale Innovationssysteme 167

Bin gewisser formal-organisatorischer „Kem", der individuellen und kooperati-ven (Untemehmen, Verwaltungen) Akteuren regelmaBige Abstimmungen (Ko-ordinationen) ihrer individuellen Interessen und Handlungen ermoglicht, wird als Basis fur die allmahliche Herausbildung und Veranderung gemeinsamer mental maps angenommen.

Derartige Prozesse der Institutionengenese und -veranderung sind insofem als dynamisch zu verstehen, als sich herausbildende oder verandemde mental maps ihrerseits auf die Gestaltung des organisatorischen Kerns zuruckwirken. Somit ergibt sich ein dynamisches Wechselverhaltnis zwischen formalisierten und informellen Institutionen. Bezogen auf RIS bedeutet dies, dass Versuche der gezielten, z.B. politischen, Beeinflussung auf den unterschiedlichen RIS-Ebenen moglichst parallel ansetzen sollten. In der Mikro-Perspektive der indi­viduellen, heterogenen RIS-Akteure aus Untemehmen, Forschungseinrichtun-gen und politischen Gremien ermoglicht das Zusammenspiel formalisierter und informeller Institutionen die allmahliche Herausbildung und Optimierung ge­meinsamer Handlungsroutinen bei akteursubergreifenden Prozessen der Wis-sensgenese, des -transfers oder der -verarbeitung. Derartige Handlungsroutinen bilden fiir Untemehmen und Wissenschaftler in einer Region die Basis, um aufgmnd einer effektiveren und effizienteren Ressourcenausnutzung und Such-strategie Wettbewerbsvorteile gegentiber nichtregionalen Konkurrenten zu generieren.

Der Beitrag dazu auf der Ebene abgrenzbarer RIS-Institutionen lasst sich entlang eines Kontinuums mit den Polen „unmittelbar" und „mittelbar" darstel-len. Unmittelbar bedeutet beispielsweise, dass Wissens- bzw. Innovationsko-operationen direkt materiell durch Infrastmkturleistungen, Forderprogramme oder die Bereitstellung von Risikokapital gefordert werden. Mittelbar meint, dass z.B. durch vertrauen-, kommunikations- oder kontaktfordemde MaBnah-men auf regionaler Ebene Hemmschwellen far Kooperationen verringert wer­den. Ein haufiges Beispiel dafar ist die Initiiemng thematischer oder funktiona-ler (Untemehmens-) Netzwerke. Eng mit diesem Konzept der gestuften institutionellen Innovationsfordemng ist die Frage verbunden, ob eine optimale institutionelle Dichte (vgl. Amin/Thrift 1994) fur RIS ermittelt werden kann. Abstrakt formuliert wurde dies bedeuten, dass (i) explizit und verbindlich for-mulierte RIS-Ziele und der zuordenbare offentliche und private Ressourcenein-satz moglichst deckungsgleich sind; (ii) weder eine „Ubersteuemng" noch eine „Untersteuemng" aus Sicht der Handlungsstrategien der einbezogenen indivi­duellen Akteure gegeben ist sowie (iii) auf Verandemngen der Unterstiitzungs-bedarfe der Akteure moglichst umfassend, flexibel und zeitnah reagiert wird.

Bezieht man derartige konzeptionelle (Vor-)Uberlegungen abschlieBend noch einmal auf das Leitthema dieses Tagungsbandes, die Bedeutung okonomi-scher und organisationaler Innovationen fur eine nachhaltige Entwicklung, ergibt sich die Idee einer „flexiblen Einbettung und Institutionalisiemng" als

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168 Wolfgang Gerstlberger

Kern nachhaltiger Innovationspolitik. Damit ist gemeint, dass nachhaltig orien-tierte Innovationsansatze - auf der Ebene neuer bzw. weiterentwickelter Produk-te, Dienstleistungen, Prozesse oder Organisationsformen - schrittweise, nickge-koppelt, reversibel und kontinuierlich durch den begleitenden Aufbau unterstiitzender informeller und formalisierter Institutionen begleitet werden. Auf diese Weise entstehen neue Moglichkeiten fur Ausprobieren, Fehlertole-ranz und damit letztendlich individuelle, betriebliche und regionale Lemprozes-se. Das folgende Zitat einer oberosterreichischen Regionalmanagerin (Gerstlberger 2003, S. 366) mag diese Idee veranschaulichen:

„Wir schaffen eine Atmosphare, die zu regionalen Projekttragerschaften ermutigt, die zu einer breiten Beteiligung der Bevolkerung einladt, in der innovative Projekte auch miBlingen diirfen, in der das Wohlbefinden der Bevolkerung im Mittelpunkt unserer Bemiihungen steht und in der Gliick nicht vom Zufall abhangt."

Literatur

Amin, A.; Thrift, N. (Hg.): Globalization, Institutions and Regional Development in Europe. Oxford: Oxford University Press 1994

Asheim, B. T.; Isaksen, A.: Regional Innovations Systems: The Integration of Local 'Sticky' and Global 'Ubiquitious'Knowledge'. In: The Journal of technological transfer. S. 77ff, 2002

Beckenbach, F.; Cantner, U.; Daskalakis, M.; Gaffard, J.-L.; Gerstlberger, W.; Graf, H.; Quere, M.: „2nd Order Innovations"? An Actor-oriented Analysis of the Genesis of Knowledge and Institu­tions in Regional Innovation Systems (RIS). Kassel/JenaA^albonne: Antrag auf Forschungsforde-rung bei der Volkswagen Stiftung 2004

Braczyk, H.-J. et al. (Hg.): Regional Innovation Systems. The Role of Governances in a Globalized World. London/Bristol (USA): UCL Press 1998

Cooke, P.: Introduction. Origins of the Concept. In: Braczyk, H.-J. et al. (Hg.): Regional Innovation Systems. The Role of Governances in a Globalized World. London/Bristol (USA): UCL Press , S.2ff., 1998

Denzau, A.; North, D. C: Shared Mental Models: Ideologies and Institutions. In: Kyklos. S. 3 ff, 1994

Dybe, G.; Rogall, H.: Die okonomische Saule der Nachhaltigkeit: Annaherungen aus gesamtwirt-schaftlicher, regionaler und betrieblicher Perspektive. Berlin: edition sigma 2000

EC (Hg.): Towards a Euopean Research Area, Science, Technology and Innovation - Key Figures 2000. Briissel: Europaische Kommission 2000

Edquist, C ; Johnson, B.: Institutions and Organizations in Systems of Innovation. In: Edquist, C. (Hg.): Systems of Innovation: Technologies, Institutions and Organizations. London: Pinter Pub­lishers 1997, S. 41 ff

Freeman, C : Technology Policy and Economic Performance: Lessons from Japan. London: Pinter Publishers 1987

Gerstlberger, W.: Regionale Innovationssysteme aus Betriebswirtschaftlicher Perspektive. Gestal-tungskonzepte zur Forderung einer Nachhaltigen Untemehmensentwicklung. Wiesbaden: Gabler Verlag 2003

Gerstlberger, W. et al.: Multimodals Mobilitatsmanagement und -marketing: Empirische Befunde aus europaischen Metropolen und GroBstadten (unveroffentlichtes Manuskript; eine Best Practi­ce- und Machbarkeitsstudie im Auftrag der Landeshauptstadt Munchen). Kassel/Munchen 2006

Page 183: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Nachhaltige Regionale Innovationssysteme 169

Hellmer, F. u.a.: Mythos Netzwerke - Regionale Innovationsprozesse zwischen Kontinuitat und Wandel. Berlin: edition sigma 1999

Lundvall, B. (Hg.): National Systems of Innovation. Towards a Theory of Innovation and Interactive Learning. London: Pinter Publishers 1992

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Beratungsprogramme fiir Nachhaltiges Wirtschaften Institutionelle Innovationen im Grenzbereich von Umweltokonomie und Umweltmanagement

Andre Martinuzzi

1 Hintergrund

1.1 Beratung in Umweltokonomie und Umweltmanagement

In der umweltokonomischen Fachliteratur werden Beratungsleistungen fast nie erwahnt.^ Eine Ausnahme stellen Wickes Werke zur Umweltokonomie dar, in denen geforderte Beratungsleistungen als Instrumente der Umweltpolitik mit offentlichen Ausgaben verortet werden (Wicke 1989, 343), die der Behebung von Informationsdefiziten dienen und aus strukturpolitischen Griinden gerade fur Klein- und Mittelbetriebe eingesetzt werden (Wicke 1992, 48 und 94). Auch in den meisten frlihen Werken zum Umweltmanagement wird Beratung auf diese Zielrichtung begrenzt (z.B. Hopfenbeck 1990, 89-93; Meffert/Kirchgeorg 1992, 188 und 274; Rieck 1990, Abschnitt 5.4.1). In den zahlreichen seit Mitte der 1990er Jahre veroffentlichen Studien zum Umweltmanagement wurden Berater entweder als Interviewpartner geniitzt oder als Kostenfaktor beim Auf-bau von Umweltmanagementsystemen berlicksichtigt (Freimann 1995, 100-105; Kanatschnig et al. 1996, 72-77; Bundesministerium fur Umwelt, Jugend und Familie 1999; Bundesumweltministerium/Umweltbundesamt 2000, 52; Dyl-lick/ Hammschmidt 2000, 90-94; Baumann et al. 2003,. 255, 257, 290-291). Die RoUe von Beratungsuntemehmen als eigenstandige Akteursgruppe, die einen autonomen Beitrag zur Umsetzung einer Nachhaltigen Wirtschaftsweise erbrin-gen konnte, wurde in Umweltokonomie und Umweltmanagement bisher kaum thematisiert (seltene Ausnahmen sind: Tischer 1994; Michelsen 1997; Stock-mann/Meyer 2001; Mohe/Pfriem 2003; Birke et al 2003).

Zeitgleich wurde zunehmend Kritik an den Praktiken von Untemehmensbe-ratem geauBert (Ashford 1998; Micklethwait/Wooldridge 1998; Pinault 2000) und die Verbreitung von Beratungskonzepten weniger als Angebot zur Prob-lemlosung angesehen, sondem einem Modezyklus unterliegend, in dem standig neuer Beratungsbedarf generiert wird (Kieser 1998, Kieser 1999, Nicolai 2000; Neuberger 2002). Es stellt sich daher die Frage, ob auch umweltorientierte Be-

'Beispielsweise wird in Bartmann 1996, Bringezu 1997; Leining 1998 uberhaupt nicht auf Beratung bzw. den Beratungssektor eingegangen.

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172 Andre Martinuzzi

ratung als „Mode" zu betrachten ist, deren Marktpotenzial sich parallel zur gesellschaftlichen Relevanz von Umweltfragen entwickelt.

1.2 Branchenstruktur und Marktentwicklung im Oko-Consulting

Oko-Consulting ist ein Spezialisierungsgebiet fiir Berater aus verschiedensten Bereichen und daher nicht auf eine einzelne Berufsgruppe beschrankt. Umwelt-orientierte Beratungsleistungen werden von Einzelberatem, Beratergruppen und -netzwerken, intemationalen „Consulting Factories", Verbanden, Universitaten, Banken, Wirtschaftsprlifungs- und Steuerberatungsgesellschaften, technischen Beratungsuntemehmen (z.B. Ingenieure, Architekten, technische Biiros, Labors) und Rechtsanwalten angeboten. Neben den Merkmalen des gesamten Bera-tungsmarktes^ weist die Branchensituation im Oko-Consulting einige Besonder-heiten auf:

1. Staatliche Impulse bestimmten uber lange Jahre die Beratungsnachfrage undfuhrten zu defensivem Klientenverhalten: So wie der gesamte Umwelt-markt (Ludwig 1997, 399; Ecotec 1997, 14) war auch der Oko-Consulting-Markt tiber lange Jahre von der Entwicklung der Umweltgesetzgebung ab-hangig. Die zunehmende Regelungsdichte lieBen neue Verpflichtungen und damit neue Entscheidungssituationen fur Untemehmen entstehen. Aus neu-en Anforderungen konnten Beratungsprodukte direkt abgeleitet und der Be-ratungsbedarf einer groBen Anzahl von Klienten rasch gedeckt werden. Die meisten Beratungsangebote unterstutzten die staatliche Umweltpolitik und erhohten die Effizienz ihrer Implementierung, sie verfolgten aber haufig ei-nen defensiv-reaktiven Zugang.

2. Die meisten Berater positionierten sich als Fachexperten, deren strategi-sche Ressource technisches und rechtliches Wissen ist: Beratung wurde vielfach zur raschen und kostengtinstigen ErfuUung gesetzlicher Vorgaben eingesetzt. Aufgrund dieser engen Kopplung an gesetzliche Verpflichtun­gen der Klienten standen Standardisierung und geringe Beratungskosten im Vordergrund. Da Umweltschutz von vielen Klienten als kurzfristige Prob-lemlosung gesehen wurde, entstanden jedoch keine langfristigen und inno-vationsorientierten Berater-Klienten-Beziehungen. Prozessorientierte Fer-tigkeiten wurden im Oko-Consulting kaum als strategische Ressourcen eingesetzt, chancen- und nutzenorientierte Konzepte konnten sich kaum verbreiten.

3. Wissen kann nicht geschiitzt werden, so dass ein rascher Transfer zu den Klienten stattfmdet und die Beratungsnachfrage mangels neuer Impulse von

2 Intransparenz, hohe Marktdynamik, geringe Markteintrittsschranken, monopolistische Konkur-renz, Beratung als Kontraktgut fuhrt zu hohen Unsicherheiten der Klienten, etc. detailliertere Darstellung und Quellenangaben siehe Martinuzzi 2005

Page 186: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beratungsprogramme fiir Nachhaltiges Wirtschaften 173

auBen stagniert. Die Lebensdauer der meisten auf die Ressource Wissen aufbauenden Beratungsprodukte betrug nur wenige Jahre, da der Know-how-Transfer vom Beratungsuntemehmen in die Klientenbetriebe rasch vonstatten ging." Seit Mitte der 1990er Jahre fiihrte ein Wechsel im um-weltpolitischen Instmmenten-Set - von Ge- und Verboten hin zu marktori-entierten Instrumenten - zum Wegfall der treibenden Kraft der Beratungs-nachfrage. Dies fiihrte nach kurzer Zeit zu einer Stagnation des Oko-Consulting- Sektors.

4. Der Beratungssektor wird von der politischen Ebene bisher kaum als Mul-tiplikator einer nachhaltigen Wirtschaftsweise genutzt: Die Entwicklung von Beratungsprodukten findet bis heute in einer von Intransparenz und monopolistischer Konkurrenz gepragten Marktsituation statt. Die Folge sind eine Vielzahl von „bottom-up" entwickelten Beratungsansatzen, die in Konkurrenz zueinander stehen, bisher nur lose mit der Umsetzung nationa-ler und intemationaler Nachhahigkeitsziele gekoppelt sind und deren Quali-tat nicht gesichert ist.

5. Chancenorientierte Beratungsprodukte konnten sich bisher nicht dauerhaft etablieren: Fiir die Entwicklung und Positionierung chancenorientierter Be­ratungsprodukte fehlt bis heute eine Gruppe von Key-Players, die durch ih-re GroBe, Marktmacht und Offentlichkeitsarbeit Standards setzen, klar pro-filierte Produkte etablierten oder Moden pragen konnten. Die im Management-Consulting tatigen intemationalen Beratungsfirmen bieten zwar vereinzelt auch umweltorientierte Beratungsleistungen als Elemente ihrer Strategieberatungen an. Fiir den Oko-Consulting-Markt haben sie je-doch bis heute keine marktbestimmende Rolle erreicht.

Die aktuellen Herausforderungen im Oko-Consulting bestehen daher in der Entwicklung chancenorientierter Beratungsprodukte, in der Qualitatssicherung von Beratungsleistungen, in der Steigerung der Markttransparenz sowie in der Einbindung und Nutzung des Beratungssektors beim Aufbau von Netzwerken und Govemance-Strukturen. Dazu konnen (aus offentlichen Mitteln unterstiitz-te) Beratungsprogramme einen wichtigen Beitrag leisten.

Ein Beispiel dafur bietet die im Osterreichischen Abfallwirtschaftsgesetz vorgeschriebene Verpflichtung, fiir Untemehmen mit mehr als 100 Mitarbeitem ein betriebliches Abfallwirt-schaftskonzept zu erstellen. Dieses Beratungsprodukt befand sich Mitte der 1990er Jahre unter den am haufigsten durchgeflihrten Oko-Consulting-Projekten, um schon nach drei Jahren wie-derum in relativer Bedeutungslosigkeit fiir den gesamten Oko-Consulting-Sektor zu versinken. Die Nachfrageimpulse von EM AS und ISO 14001 fur den Beratungssektor sind vergleichsweise gering.

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174 Andre Martinuzzi

1.3 Verbreitung von Beratungsprogrammen

In vielen Landem Europas werden Beratungsprogramme fiir nachhaltiges Wirt-schaften von der offentlichen Hand oder von Intermediaren initiiert, finanziert bzw. umgesetzt.^ Sie kombinieren offentlich geforderte Beratungsleistungen mit kostenloser Erstinformation, Unterstiitzung von Akteursnetzwerken, Weiterbil-dung und Kapazitatsaufbau in Betrieben und inkludieren in einigen Fallen auch die offentlichkeitswirksame Auszeichnung freiwilliger Umweltschutzleistungen. Folgende Tabelle zeigt ausgewahlte Meilensteine der Verbreitung und Weiter-entwicklung von Beratungsprogrammen in Deutschland und Osterreich:^

Tabelle 7: Die Verbreitung von Beratungsprogrammen in Deutschland und Osterreich

Zeit

1985-

1992

Region

Mittel-

franken (D)

Programm / Merkmale

Modellversuch in der Region Mittelfranken

• Finanzierung und Trager: Industrie- und Handelskammer

• Ziele: Bereitschaft der Betriebe zur Durch-fiihrung freiwilliger UmweltschutzmaBnah-men erheben, Implementierungsprobleme ermitteln, Beitrag extemer Umweltberatung abschatzen

• Aktivitaten: 660 kostenlose Orientierungs-beratungen von Klein- und Mittelbetrieben

Quellen

Beer 1992

Beispiele dafiir sind: Miljofyrtam - „Umweltleuchttunn" (Norwegen), The Natural Step (Schweden), Envirowise (GroBbritannien), Green Network (Danemark), Bretagne Environment Plus (Frankreich), Ecostep Hessen (Deutschland), Okoprofit (Osterreich, Deutschland u.a.) Eine detaillierte Darstellung der Beratungsprogramme anderer europaischer Lander wiirde den Rahmen dieses Beitrags tibersteigen. Weiterfuhrende Beispiele: Bradbury/Clair 1999; Ammen-berg/Hjelm 2003; Petek/Glavic 2000; Malmborg, 2003; Friedman/Mills 2002

Page 188: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beratungsprogramme fiir Nachhaltiges Wirtschaften 175

1991-1996

1991 bis

heute

1999 bis

heute

Neue deutsche Bundes-

lander (D)

Ausge-hend von Graz (A) in ganz Europa, Afrika,

Asien und Latein-

amerika^

Wien, Nieder-

osterreich, Steier-mark, Ober-

osterreich, Salzburg,

Tirol, Vorarl-

berg (A)

Umweltberatung in den neuen deutschen Bundeslandern

• Finanzierung: Deutsche Bundesstiftung Umwelt

• Trager: 10 Tragerorganisationen • Ziele: KMUs an die westdeutschen und

europaischen Umweltstandards heranfuhren. Impulse zur Entwicklung eines eigenstandi-gen Umweltmarkts in den neuen deutschen Bundeslandern

• Aktivitaten: 10.000 zu 85% geforderte Ori-entierungsberatungen, institutionelle Forde-rung von zehn Tragerorganisationen

Okoprofit

• Finanzierung und Trager: Kommunen und Regionen

• Ziele: Verbreitung von Cleaner Production, Vorarbeiten zum Aufbau von Umweltma-nagementsystemen, Bewusstseinsbildung fiir nachhaltiges Wirtschaften

• Aktivitaten: Workshop-Reihe fur mehrere Betriebe gemeinsam, Einzelberatung, Aus-zeichnung als Okoprofit-Betrieb

Regionale Beratungsprogramme fiir nachhaltiges Wirtschaften

• Finanzierung und Trager: Bundeslander, Co-Finanzierung durch das osterreichische Umweltministerium

• Ziele: Bewusstseinsbildung fur nachhaltiges Wirtschaften, Steigerung der Oko-Effizienz, Image-Vorteile fur ausgezeichnete Betriebe

• Aktivitaten: unterschiedliche Programm-konzepte; haufige Elemente: geforderte in-dividuelle Beratung, standardisierte Wis-sensvermittlung, kooperative Elemente (Workshops, Firmenbesuche), Image-Effekte fiir die teilnehmenden Betriebe

Stockmann/ Meyer 2001

Fresner 1998; Huchler/ Martinuzzi 1997; Sage 2000; Martinuzzi et al 2000; Hammer 2001

Schmidt-Stejskal et al 2000

Martinuzzi/ Galla2006

http://www.cpc.at/cpnetzwerk/cp_Allgemeines_d.htm, Abfrage am 30.8.2005

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176 Andre Martinuzzi

Seit Mitte der

1990er Jahre

Seit 1995

Deutsch-land

Osterreich

Deutsch-land

Forderprogramme fiir Umweltmanage-mentsysteme

• Finanzierung und Trager: Bund, Regionen • Ziele: Untersttitzung der Verbreitung von

Umweltmanagementsystemen • Aktivitaten: monetaren Forderung individu-

eller Beratungen, ohne dass zusatzliche E-lemente wie Workshops oder Offentlich-keitsarbeit

• Beispiele: Initiative „50 Oko-Audits fiir Frankfurt am Main"; Trierer EG-Oko-Audit-Modell; Initiative „Okocamping"

Umweltpakte / Umweltallianzen

• Finanzierung und Trager: Regionen • Ziele: freiwillige Vereinbarung zwischen

Staatsregierungen (Selbstverpflichtung zur Deregulierung) und Wirtschaft (Selbstver­pflichtung zu freiwilligen Umweltschutz-leistungen)

• Aktivitaten: Forderung von Individualbera-tungen

• Beispiele: Umweltpakt Bayem, Umweltalli­anzen Hessen, Berlin, Sachsen und Meck­lenburg-Vorpommem, Umweltpartnerschaft Brandenburg, Hamburg und Bremen

Bundes-ministerium fur Umwelt, Jugend und Familie 1999; Bun-desumwelt-ministerium/ Umwelt-bundesamt 2000; Palan 2005

Castellaz/ Widerin 2000

Wie diese Beispiele zeigen, kann ein Trend von der geforderten Einzelberatung mit dem Ziel der Informationsvermittlung zu breiteren Nutzenbtindeln und dem Aufbau von Akteursnetzwerken identifiziert werden (weitere Uberlegungen dazu siehe Kapitel 4.1.). Nach rund 15 Jahren einer vielschichtigen und erfolg-reichen Praxis ist der Stand der wissenschaftlichen Bearbeitung von Beratungs-programmen zum Nachhaltigen Wirtschaften bisher erstaunlich gering.^

1.4 Forschungsfragen des Fallbeispiels OkoBusinessPlan Wien

Das in Kapitel 3 prasentierte Fallbeispiel wurde von einem Evaluationsteam unter der Leitung des Autors des vorliegenden Beitrags von 1999 bis 2006 be-gleitend und laufend evaluiert. Dabei wurden Forschungsfragen behandelt, die

^ Seltene Ausnahmen sind: Fromhold-Eisebith 2002; Stormer 2001; Geelhaar/Muntwyler 1998, Minsch et al. 1996, Tischer 2001

Page 190: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beratungsprogramme fur Nachhaltiges Wirtschaften 177

auch in einem breiteren Kontext von Interesse sind und die auch fur die Analyse anderer Beratungsprogramme relevant sind:

•=> Welche Akteurskonstellationen stehen hinter einem Beratungsprogramm und durch welche Motivlagen werden diese zusammengehalten?

^ Welche Zielgruppen konnen durch Beratungsprogramme als freiwillige umweltokonomische Instrumente unter den gegebenen Rahmenbedingun-gen erreichen?

^ Welche okologischen, okonomischen und sozialen Effekte konnen kurz-, mittel- und langfristig bei den Klientenbetrieben ausgelost werden?

•=> Wie sind Effizienz und Effektivitat zu beurteilen und welche methodischen Probleme stellen sich dabei?

•=> Welche Innovationswirkungen werden in den einzelnen Untemehmen aus­gelost?

^ Sind Beratungsprogramme als institutionelle Innovationen anzusehen und welchen Nutzen erbringen sie?

Um diese Forschungsfragen in strukturierter Form zu bearbeiten und mit den weit verstreuten Erfahrungen, Praxisberichte und Studien zu vergleichen ist eine entsprechende Methodik erforderlich, die nachfolgend vorgestellt wird.

2 Methodik

Um eine fundierte wissenschaftliche Analyse von Beratungsprogrammen zu ermoglichen, ist eine Methodik erforderlich, die folgende Kriterien erfuUt:

•=> Vergleichbare Darstellung der Beratungsprogramme, um die Vielfalt der Kontextfaktoren und Spezialbegriffe zu iiberbrucken

•=> Analyse der Funktions- und Wirkungsweise der Beratungsprogramme, um situative Gegebenheiten und allgemeingtiltige Aussagen unterscheiden zu konnen

>=> Ableitung allgemeiner Erkenntnisse aus Einzelfaktoren, um den kumulati-ven Aufbau eines Wissensbestands zu ermoglichen und Meta-Analysen zu unterstiitzen

Dazu wird im vorliegenden Beitrag auf Ansatze der Theory Based Evaluation^^ zuriickgegriffen, in denen Logic Models eine zentrale Funktion erfiillen.

In der US-amerikanischen Literatur werden die Begriffe „Theory Based Evaluation", „Theory Driven Evaluation", „Program Theory Evaluation" synonym verwendet

Page 191: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

178 Andre Martinuzzi

2.1 Logic Models zur Darstellung von Wirkungsketten

Bisher bietet die deutschsprachige Betriebswirtschaftslehre kein etabliertes Methoden-Set fiir die wissenschaftliche Analyse und das praktische Manage­ment von Beratungsprogrammen. Im englischsprachigen Raum haben Manage­ment und Evaluation von Programmen hingegen eine deutlich langere Traditi­on. ^ Seit den 1970er Jahren wird ausgehend von den USA^^ eine Gruppe von Evaluationsansatzen (Suchman 1967; Weiss 1972; Argyris/Schon 1978; Bickman 1987; Chen 1990; Schon 1997, Hacsi 2000, Petrosino 2000) disku-tiert und verfeinert, die dazu dienen, die einem Programm zugrunde liegende Logik bzw. Theorie darzustellen. Ein zentrales Element dieser Evaluationsan-satze sind so genannte „Logic Models", die von Evaluationsteams meist in Zu-sammenarbeit mit den Programmverantwortlichen erstellt werden (Wholey 1987; K. Kellogg Foundation 2001). Sie enthalten nicht nur die expliziten bzw. dokumentierten Programmziele, sondem berucksichtigen auch implizite Ziele und ermoglichen Einblicke in die Wirkungsweisen des evaluierten Programms. Dabei werden folgende Kategorien betrachtet und miteinander verkntipft:

1. Welche Ressourcen sind erforderlich, um ein Programm durchzufiihren? 2. Welche Aktivitdten werden im Rahmen eines Programms durchgefiihrt? 3. Welche Ergebnisse (Outputs) werden in welchem Umfang und welcher

Qualitat erzielt? 4. Welche kurzfristigen Verdnderungen (Outcomes) werden bei den Zielgrup-

pen bewirkt? 5. Welche mittelfristigen Wirkungen hat das Programm bei den Zielgruppen? 6. Welche langfristigen Effekte (Impacts) werden durch Programm erzielt?

Mittels dieser Kategorien werden die (angenommenen) kausalen Wirkungsket­ten eines Programms dargestellt, einer Konsistenzpriifung unterzogen und durch empirische Arbeiten uberprtift. Dabei konnen auch Umfeldfaktoren und nicht intendierte Wirkungen berticksichtigt werden. Um die Besonderheiten eines Programms abzubilden, kann von der oben dargestellten formalen Struktur auch abgewichen werden.'^ So konnen beispielsweise Riickkopplungen dargestellt.

So erscheint vom Journal „Evaluation and Program Planning" derzeit der 28. Jahrgang. Ansatze der Theory Based Evaluation wurden in Europa bisher nur im Kontext der Entwick-lungszusammenarbeit bei der Evaluation einzelner Projekte (European Commission 2004; Swedish Agency for International Development Cooperation 2004; Finish Ministry for Foreign Affairs Development Cooperation, Onlinepublikation: http://global.fmland.fi/julkaisut/yleis/pdme/index.html, Abfrage am 31. August 2005) und in den Strukturfondsprogrammen zur Untersttitzung der Programmplanung verbreitet (European Commission 1999). Beispiele dafur siehe: Douthwaite et al. 2003; McLaughlin/Jordan 1999; Torvatn 1999; Zammit et al. 2000

Page 192: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beratungsprogramme fur Nachhaltiges Wirtschaften 179

Zielgruppen beriicksichtigt und Wirkungsketten mehr oder weniger detailliert untersucht werden.

2.2 Empirische Erhebungen im Rahmen des OkoBusinessPlan Wien

Logic Models sind selbst noch keine Erhebungs- oder Auswertungsmethode, sondem bieten einen Orientierungsrahmen fiir einzelne empirische oder analyti-sche Schritte, unabhangig davon, ob es sich um quantitative oder qualitative Forschungsdesigns handelt. Im Rahmen der begleitenden Evaluation des Oko­BusinessPlan Wien wurden zwischen 1999 und 2004 folgende empirische Ar-beiten durchgefuhrt:

•=> schriftliche Befragung der Betriebe unmittelbar nach ihrer Teilnahmeent-scheidung, um ihre Rahmendaten, Erwartungen, Problemlagen und die ge-planten Zeit- und Geldressourcen zu erheben (Rucklaufquote 46%, 192 Be­triebe);

•=> telefonische Befragung der ausgezeichneten Betriebe, um Nutzen, Erfolgs-faktoren, Schwachstellen und tatsachlich investierte Ressourcen zu erfahren (Teilnahmequote 78%, 326 Betriebe);

O Aufbau und Pflege einer intemet-basierten MaBnahmendatenbank^" , in der mehr als 8.000 UmweltschutzmaBnahmen dokumentiert sind (inkl. Kosten, Einsparungen, Umweltentlastungen);

•=> zusatzliche telefonische Interviews mit 53 Betrieben zwei bis funf Jahre nach ihrer ersten Auszeichnung, um die langfristigen Effekte abschatzen zu konnen;

•=> telefonische Interviews mit einer KontroUgruppe von mehr als 100 weiteren Betrieben, um die AuBensicht des Programms zu erheben;

•=> wiederholte personliche Interviews mit den beteiligten Beratem und dem Programm-Management (insgesamt 80 qualitative Interviews), um Aufga-benteilung, Rollen und Verbesserungsmoglichkeiten zu erheben.

Die Ergebnisse dieser umfangreichen empirischen Arbeiten wurden in bisher sieben Berichten veroffentlicht (Martinuzzi/Huchler 1999; Martinuzzi et al. 2000; Martinuzzi/Egger-Steiner 2000, Martinuzzi et al 2001; Martinuzzi et al. 2002; Martinuzzi et al. 2004; Martinuzzi et al. 2005), um zur kontinuierlichen Verbesserung des Programmkonzepts und seiner Umsetzung beizutragen. Die wichtigsten Erkenntnisse werden im nachsten Abschnitt zusammengefasst.

Diese Mafinahmendatenbank wird mittlerweile zur Wirkungsdokumentation in fiinf osterreichi-schen Beratungsprogrammen eingesetzt und derzeit auf englisch iibersetzt, um auch von intema-tionalen Partnem der Stadt Wien eingesetzt zu werden.

Page 193: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

180 Andre Martinuzzi

3 Fallbeispiel OkoBusinessPlan Wien

Der OkoBusinessPlan Wien ist europaweit eines der erfolgreichsten kommuna-len Beratungsprogramme flir Nachhaltiges Wirtschaften. Seit seinem Beginn im Jahr 1999 haben mehr als 500 Betriebe teilgenommen und mehr als 8.000 Um-weltschutzmaBnahmen mit einem Investitionsvolumen von mehr als 40 Mio Euro umgesetzt. Seine grundsatzliche Wirkungsweise zeigt Abbildung 18.

Ressourcen Aktivitaten Ergebnisse/

Outputs kurzfrjstige

VerSfiderungen | mitteifristige

1 Wlrkungen | langfrlstige

1 Eftekte

Zelt und finanzielle

Ressoufcen der flff. Hand'

Beratungsffirdefung Wr Teilprogrammen

Beratungen, Workshops

I QIaubwQrdigkeit und Image « I

MaBnahmen-fdrdertmg

d^

[Ba&lebe haben bes^ren inlbrmationssfand (Iber 'ihr9 Umwemwiastung. |

ENispspotenziate, tmM. Sttuafjon, etc

Offentlichkelts-artett ,

.Be^be .i^chsufUmsetzuiH)

frelwaHger ( £ 2 ) Umwettmaftnahmen

Ctub-Angeboturtd Vemetzung ^

Nachfrage nach

V6rt)e8sentnsder

WetSieweitsffihi^H, StandortCFUiyHat

Betriebe haben etn besserea Image

Be&iebe erzleien SInsparungen

Set^beengagieren _ N afch dauerhafi,

flfvt^rtieneWliteefl, slod f*f(»iiotofen

El = Messung der Zufriedanheit mIt den Beratungslerstungen E2 = Dokumentation der erzlelten akonomischen und dkotogischen Effekte E3 = Langfrist-Befragung

Abbildung 19: Vereinfachtes Logic Model des OkoBusinessPlans Wien

3.1 Rahmenbedingungen

Der OkoBusinessPlan Wien wurde im Jahr 1998 als kommunales Beratungs-programm konzipiert, das dazu beitragen sollte, die Klimaschutzziele der Stadt Wien zu erreichen/^ Wien als Umwelt-Musterstadt zu profilieren, die Umwelt-qualitat zu verbessem und die Qualitat des Wirtschaftsstandorts Wien zu si-chem. Er wurde daher nicht initiiert, um ein konkretes umweltpolitisches Prob-

Im Gegensatz zu systemischen Evaluationsansatzen (Hummelbrunner et al 2002, Williams 2006) werden in Logic Models keine Riickkopplungsschleifen dargestellt. In der Praxis beste-hen zwar Riickwirkungen der erzielten Effekte auf die einem Programm zur Verfiigung stehen-den Ressourcen (z.B. indem das Budget fur eine weitere Programmperiode zur Verfiigung ge-stellt wird) oder auf die im Rahmen eines Programm gesetzten Aktivitaten (z.B. indem die Umsetzungsschwerpunkte eines Programms angepasst werden). Diese Ruckwirkungen werden zumeist von Evaluationsergebnissen gestutzt und stellen jedoch eine Meta-Ebene dar, die in Lo­gic Models nicht abgebildet werden. http://www.eva.ac.at/klip, Abfrage am 30.8.2005

Page 194: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beratungsprogramme fiir Nachhaltiges Wirtschaften 181

lem zu losen, sondem um ein Instrument zu etablieren, das gleichzeitig einer Vielzahl von Zielen dienen konnte. Durch die in den Gemeinderatsunterlagen relativ vage formulierten politischen Zielvorgaben entstand ein groBer Freiraum fiir das Programm-Management, das die Ziele des Programms in einem Pro-grammhandbuch, Forderrichtlinien, Ausschreibungsunterlagen und Foldem konkretisierte (Martinuzzi/Huchler 1999, 12).

3.2 Akteure

Die am Programm beteiligten Akteure sind in Abbildung 20 dargestellt. Die empirischen Arbeiten haben auf der Ebene der Akteure folgende Er-

kenntnisse erbracht:

^ Die im OkoBusinessPlan Wien tatigen Berater fuhren die teilprogrammspe-zifischen Beratungen in und mit den Untemehmen durch. Mittels Auswahl, Information und Weiterbildung der Berater konnte durch das Programm-Management tiber die Jahre eine dauerhaft hohe Beratungsqualitdt gesi-chert werden. Die befragten Betriebe sind mit den Beratungsleistungen und den Qualifikationen der Berater durchwegs zufrieden.

^ Durch die langjahrige Kooperation im Programm-Beirat ist ein Akteurs-netzwerk entstanden, das komplementare Ressourcen in das Programm ein-gebracht und eine Gesprachsbasis zwischen den Beteiligten geschaffen hat, die auch fur andere Vorhaben genutzt wird (z.B. OkoKauf Wien - Okologi-sierung der offentlichen Beschaffung).

•=> Die erfolgreiche Umsetzung des OkoBusinessPlan Wien hat eine Stdrkung der Position aller Beteiligten zur Folge: Die Stadtverwaltung konnte sich als kooperative Verwaltung profilieren und als Umweltschutzabteilung Kontakte zur Wiener Wirtschaft aufbauen. Die Berater konnten ein mit of-fentlicher Glaubwiirdigkeit ausgestattetes Beratungsprodukt anbieten. Die Umweltverantwortlichen in den Betrieben konnten Einsparpotenziale auf-zeigen und damit ihre Position legitimieren. Die Betriebe konnten sich durch UmweltschutzmaBnahmen in der Offentlichkeit profilieren.

Page 195: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

182 Andre Martinuzzi

Politische Ebene

Stadt Wien (Gemeinderat) Bundesministerium fiir Land- und Forstwirtschaft Umwelt und Wasserwirtschaft (BMLFUW)

Andere Projekte der Stadt Wien

Entscheidung ijber Finanzierung des Programms Zielvorgaben und Entscheidung tiber Programmkonzept

Reprasentanz des Programms in der dffentlichl^eit

Beratung + Information

C EU-Projekte

Programme anderer Regionen

Programm-Mariagement:

2^M^PeHBon«i ^ms^stecteit ki (ier Magisfirats-abteiNing 22 {Umwettschutz)

Aifftou was Pfi^te des Bomiftrpocds

Erfahnin^giaaustsHitefi und Vemetxung

Ausschreibungen und Information

Programm-Beirat: Bundesministerium filr Land- und Forstwirtschaft,

Umweit und Wasserwirtschaft (BMLFUW); Wiftschaftslcammer Wien;

Wirtsdiaftsffirderungsinstitut Wien; Atteiterltammer Wien;

Osterretehischer Gewerl^schaftstHind; Magtsiratische BezirtcsSmter (VoHzug),

Magtstratsabtejlung 36 (Sachverst^indige), Magistratsabteiiung 22 <Umweltsdiutz)

Wiener WirtschaftsfOrderungsfonds

Berabtng Programm-Management QualitStssicherung vor der Ausxeichnung

Teiinahme an Workshops (Info fiir Betriebe)

Beraterpool Derzelt 78 Personen aus 24 Beratungsuntemehmen

Akquisition von interessierten Betrieben Individualberatung und Workshops Qe nach Teilprogramm)

Umsetzungsbegleitung Vorbereitung zur Oberprtifung und Auszeichnung

n Betriebe

Abbildung 20: Das Akteursnetzwerk im OkoBusinessPlan Wien

3.3 Ressourcen

Seit seinem Start wurden fiir den OkoBusinessPlan rund 7,6 Mio Euro an offentlichen Mitteln aufgewendet, von den Betrieben wurden 1,4 Mio Euro an Teilnahmegebiihren entrichtet. Die finanziellen Ressourcen wurden fiir teilpro-grammspezifische Aktivitaten (geforderte Individualberatung, Workshops, Club-Angebote), fiir teilprogrammiibergreifende Aufgaben (Offentlichkeitsar-

Die in Abbildung 2 dargestellten Pfeile stellen Schwerpunkte von Aktivitaten und Entscheidun-gen, die unmittelbare Auswirkungen auf andere Akteursgruppen haben. Feedbacks finden zwar iiber informelle Kontakte (z.B. von den Beratem zum Programm-Management) und tiber die be-gleitende Evaluation (z.B. von den Betrieben an das .Programm-Management und den Pro-gramm-Beirat) statt, diese Kommunikationsbeziehungen wurden in der Abbildung jedoch be-wusst sind dargestellt, um das Augenmerk auf die wesentlichen formellen Ablaufe zu lenken.

Page 196: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beratungsprogramme fur Nachhaltiges Wirtschaften 183

beit, Programm-Management, Evaluation, konzeptionelle Weiterentwicklung) und fur die direkte Forderung von UmweltschutzmaBnahmen eingesetzt.

Seitens der Betriebe wurden Investitionen von 31,8 Mio Euro in UmweltmaBnahmen getatigt und Zeitressourcen im Gegenwert von 7,6 Mio Euro aufgewendet. Daraus ergibt sich ein Multiplikator-Effekt der offentlichen Aufwendungen von 1:5 bzw. eine aquivalente Forderquote von 18%. Investitio­nen in Infrastruktur und Kemgeschaft umfassen weitere 44 Mio Euro. Bei die-ser erweiterten Betrachtung verbessert sich der Multiplikator auf 1:11.

Tahelle 8: Die Effizienz des OkoBusinessPlans Wien

Beratungsforderung teilprogrammubergreifender Aufwand Personalaufwand (Stadt Wien und Programm-Beirat) Massnahmenforderung (Wiener Wirtschaftsforderung und Unnweltforderung des Bundes)

Teilnahmegebuhren bewertete Arbeitszeit umgesetzte Umwelt-Madnahmen umgesetzte Investitionen in lnfrastrul<tur und Kerngescliaft Summe (ohne Infrastruktur und Kerngeschaft) Summe (inkl. Infrastruktur und Kerngeschaft)

offentliche Mittel 2.510.494 2.195.608

640.193

2.250.000

7.596.295 7.596.295

betriebliche Mttel

1.360.614 7.569.488

31.808.704 44.324.235 40.738.807 85.063.042

Multiplikator (1:n) 5,36 11,20

Forderquote (in %) 18,65 8,93

3.4 Aktivitdten

Die zentralen Elemente des OkoBusinessPlans Wien sind

•=> Umwelt-Checks, die eine rasche erste Analyse der betrieblichen Umweltsi-tuation ermoglichen und Forderberatungen, die den Betrieben einen Uber-blick iiber die Fordermoglichkeiten von Umweltprojekten und -maBnahmen bieten;

•=> die Beratung von Betrieben, wobei eine vertiefte Ist-Analyse, die Suche und Nutzung von Einsparpotenzialen und die Erstellung von MaBnahmen-planen im Vordergrund stehen. Dazu werden Workshops und/oder Indivi-dualberatungen durchgefuhrt;

^ die von der Stadt Wien organisierte und fmanzierte Offentlichkeitsarbeit fur den OkoBusinessPlan Wien und seine Betriebe (z.B. durch eine Firmenbro-schiire, eine Gala-Veranstaltung, Presse-Clippings, etc.);

^ die Weiterbetreuung der Betriebe durch Wiederauszeichnungen und ein Club-Angebot.

Die Teilprogramme des OkoBusinessPlans Wien sind unterschiedlich gestaltet und wenden sich an verschiedene Zielgruppen. Durch diese thematische Breite konnte der OkoBusinessPlan Wien flexibel an neue Anforderungen angepasst werden.

Page 197: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

184 Andre Martinuzzi

Tabelle 9: Die Teilprogramme im OkoBusinessPlan Wien

Laufeeit Teilprogramm Angebot Grundlage der Auszeichnung

Zielgruppen

^ntungsprogramme fClr Kleiii«tti0tilel>0 |

1999-2002

2002-2003

seit 2004

"Betriebe im Klimabundnis"

"Klimaschutz in Kleinbetrieben" und "Abfallvermeidung in

Kleinbetrieben"

"OkoBonus"

kostenlose Individualberatung im Umfang von drei Tagen; zusStziiche Seminare

zwei halbtagige Workshops an denen mehrere Betriebe teilnehmen; drei Tage

gefOrderte individuelle Beratung

zwei halbtagige Worksliops an denen mehrere Betriebe teilnehmen; drei Tage

geforderte individuelle Beratung

Selbstverpflichung zum Klimaschutz

Teilnahme an WS und umgesetzte Projekte

Teilnahme an WS und umgesetzte Projekte

Kleinstbetriebe, Non-Profit-Organisationen,

energieintensive Betriebe

Kleinstbetriebe mit hohem Abfallaufkommen oder

hohem Energieverbrauch

Kleinstbetriebe

iBemttiitgsprograiiitiidkoproflt

seit 1999 "OkoProfit" acht ganztagige Workshops an denen

mehrere Betriebe teilnehmen; vier Tage geforderte individuelle Beratung

Teilnahme an WS und umgesetzte Projekte

Mittelbetriebe aus besonders umweltrelevanten Branchen

iBemtungen fdr Uitiwettmanagetii^tsysteiTie |

seit 1999

seit 2000

"EMAS"

"ISO14001"

Forderung individueller Beratung mit 6000-7000 Euro pro Betrieb Offentlichkeitsarbeit

durch das Programm

Forderung individueller Beratung mit 6000-7000 Euro pro Betrieb Offentlichkeitsarbeit

durch das Programm

Zertifiziertes UMS und erste umgesetzte

Projekte

Zertifiziertes UMS und erste umgesetzte

Projekte

GroUbetriebe mit Interesse 1 an umweltbezogener Offentlichkeitsarbeit (Umwelterklarung)

Grolibetriebe mit Anschlulistellen zum

Qualitatsmanagement

Beralungen fl}r itrmAreitfreticlnHche TotirlsmustotHebe

seit 2000 "Umweltzeichen

Tourismus"

Forderung individueller Beratung bis zu 5 Tage Offentlichkeitsarbeit durch das

Programm

Erfullung von Mindestkriterien

(Checkliste) Hotellerie und Gastgewerbe

3.5 Zielgruppen

Das Konzept sieht vor, dass der OkoBusinessPlan Wien alien Wiener Betrieben offen steht. In der Praxis ergibt sich die Zielgruppenfokussierung aus den Schwerpunkten der Teilprogramme und den Akquisitionsbemtihungen der Bera-ter. Ex-post betrachtet zeigen sich dabei folgende Schwerpunkte:

•=> Die Betriebe im OkoBusinessPlan Wien sind uberdurchschnittlich wirt-schaftlich erfolgreich - ein Befund, der ein kritisches Licht auf die Reich-weite von Beratungsprogrammen als freiwillige umweltokonomische In-strumente wirft.

•=> Der Anteil von Betrieben ohne Beratungserfahrung liegt bei tiber 80%. Dies deutet darauf hin, dass es mit Beratungsprogrammen gelingt, Klientengrup-pen zu erreichen, die sonst keine umweltorientierten Beratungsleistungen in Anspruch genommen batten.

^ Der Anteil an Vorreiterbetrieben ist von anfanglich tiber 50% auf mittler-weile 30% gesunken. Hier zeigt sich ein Dilemma umweltorientierter Bera-tungsprogramme: nehmen viele Vorreiter teil, so konnen hervorragende Be-

Page 198: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beratungsprogramme fiir Nachhaltiges Wirtschaften 185

triebe in der Offentlichkeitsarbeit prasentiert werden, die durch das Pro-gramm ausgelosten Umweltverbesserungen sind hingegen gering. Nehmen nur wenige Vorreiter teil, so konnen zwar beachtliche Umweltentlastungen durch das Programm erzielt werden, die ausgezeichneten Untemehmen konnen jedoch kaum als Musterbetriebe beworben werden.

^ Auch die Verteilung der Grofi-, Mittel- und Kleinbetriebe weist auf ein Dilemma umweltorientierter Beratungsprogramme bin: Einerseits entfallen die bedeutendsten okologischen und okonomischen Effekte auf GroBbetrie-be (Windsperger/Steinlechner 2005, 44), andererseits sollen offentlich ge-forderte Beratungsleistungen auch einen strukturpolitischen Effekt erzielen und daher vor allem Klein- und Mittelbetrieben zur Verfiigung stehen (Wi-cke 1992, 48 und 94).

3.6 Unmittelbare Ergebnisse

Unmittelbare Ergebnisse sind die durchgefiihrten Beratungsfalle und die Anzahl der ausgezeichneten Betriebe. Waren die ersten drei Jahre des OkoBusinessPlan Wien von einer standig steigenden Zahl neu teilnehmender Untemehmen ge-pragt, liegt der Schwerpunkt in den letzten Jahren immer mehr auf Wiederaus-zeichnungen. In alien Jahren ist die Anzahl beratener aber nicht ausgezeichneter Betriebe sehr gering (weniger als 10 Betriebe).

I e

sOkoprofit Wiederauszeichnungen

E]Umweltzeichen Tourismus Wiederauszeichnungen

MUmweltzeichen Tourismus Erstauszeichnungen

SISO14001

• EMAS

• Okoprofit Erstauszeichnungen

• OkoBonus Erstauszeichnungen

HAbfallvernneidung in Kleinbetrieben

DKIimaschutz in Kleinbetrieben

D Betriebe im Klimabundnis

2000 2001 2002 2003

Abbildung 21: Die Einwicklung der im OkoBusinessPlan Wien ausgezeichneten Betriebe

AUe bisher im OkoBusinessPlan Wien ausgezeichneten Betriebe beschaftigen zusammen rund 137.000 Personen. Damit erreichte der OkoBusinessPlan Wien

Page 199: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

186 Andre Martinuzzi

nach sechs Jahren 16% der werktatigen Bevolkerung Wiens. Nachfolgende Tabelle zeigt, in welchen Branchen und GroBenklassen bisher die groBte Marktdurchdringung erzielt werden konnte.

Tabelle 10: Die Marktdurchdringung des OkoBusinessPlan Wien

K24 ONACE-Abschnitt Sachgutererzeugung <D> Bauwesen <F> Beherbergungs- und Gaststattenwesen <H> Realitatenwesen, Untemehmensdienstl. <K> Verkehr und Nachrichtenubermittlung <l> Handel Kredit- und Versicherungswesen <J> Energie- und Wasserversorgung <E> Bergbau und Gewinnung von Steinen u.Erden<C> Unterrichtswesen <M> Gesundheits-, Veterinar- und Sozialwesen <N> Erbring.v.sonst. offentl.u.pers. Dienstl.<0> Summe

Anz. Wiener Betriebe It. Betriebsstattenzahlung 2001

gesamt 4.170 3.696 5.994

19.838 3.331

17.310 1.211

29 10

680 6.204 6.604

69.077

unter 10 Besch.

3.251 2.724 5.407

18.013 2.876

15.388 959

15 8

612 6.037 6.262

61.552

10 -49 Besch.

674 835 496

1.491 367

1.545 153 4 1

60 146 276

6.048

50 -99 Besch.

92 69 46 172 30 180 39 3 0 6 7

28 672

100 Besch.

und mehr 153 68 45 162 58 197 60 7 1 2 14 38

805

aktuelle Zielgruppe des QSPW potenzielle weitere Zielgruppen des O B P W keine Zielgruppe des O B P W

Marktdurchdringung i n %

10 -49 Besch.

6 1 7 0 0 1 0 0 0 10 1 5 2

50 -99 Besch.

16 1

15 2 0 8 0 0

100 14 7 8

100 Besch.

und mehr

25 4 7 5 9 2 3 14 0

100 57 16 10

3.7 Kurzfristige Wirkungen

Um die kurzfristigen Wirkungen zu erheben, wurden die Betriebe unmittelbar nach ihrer Auszeichnung telefonisch befragt. Sie sahen ihre Teilnahme am OkoBusinessPlan Wien durchwegs als Erfolg, wobei sich nur geringfiigige Unterschiede zwischen den Teilprogrammen und Auszeichnungsjahrgangen zeigten.

Befriedigend 14%

Nicht Genugend

Genugend QO/ 4%

Gut 50%

Sehr gut 32%

n=300 Betriebe

Abbildung 22: Die Zufriedenheit der Teilnehmer am OkoBusinessPlan Wien

Page 200: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beratungsprogramme fiir Nachhaltiges Wirtschaften 187

Aus der Sicht der ausgezeichneten Betriebe sind sechs Zielbereiche als Erfolgs-faktoren zu bezeichnen (siehe Abbildung 23). Diese Ziele werden von ihnen ex-ante als sehr wichtig und gut erreichbar eingeschatzt und ex-post sehen sie in diesen Bereichen auch gute Erfolge. In acht weiteren Zielbereichen entsprechen die Erfahrungen der Betriebe ihren Erwartungen (Starken des OkoBusiness-Plans Wien), die Befragten schatzen die Wichtigkeit dieser Ziele jedoch noch hoher ein, so dass hier Verbesserungspotenziale angenommen werden konnen. In vier Zielbereichen wurden die anfanglichen Erwartungen der Betriebe nicht erfflllt, so dass hier Schwachstellen des Programmkonzepts bzw. seiner Umset-zung identifiziert wurden. ^

Eine Faktorenanalyse nach der Methode der Hauptkomponentenanalyse er-brachte folgende funf Typen von Betrieben im OkoBusinessPlan (die zusam-men 55% der Varianz der Zielerreichungen erklaren):

•=> „Ganzheitlicher Rechtsabsicherer": Im Vordergrund steht die Rechtssi-cherheit, gepaart mit verbesserten Behordenkontakten und der Etablierung von Rechtssicherheit durch organisatorische Verbesserungen, die KontroUe iiber Vorgange durch Erhebung von Umweltauswirkungen.

•=> „ Mitarbeiterorienierter Umweltschoner": Mitarbeitermotivation steht im Vordergrund, daneben Rohstoffeinsparungen, Umweltbewusstsein, Ge-sundheitsschutz und Energieeinsparung (C02-Reduktion).

•=> „Kostenbewusster Technikverbesserer": Hauptziele sind das Niitzen von Fordermitteln und Energieeinsparung (C02-Reduktion). Nebenziele sind Kostenvorteile und technische Verbesserungen.

•=> „ Strategischer Umweltinnovator ": Umweltorientierte Produkte und Dienst-leistungen werden entwickelt und dadurch ein wettbewerbsstrategischer Know-How-Vorsprung angestrebt.

•=> „Best Practice-Umsetzer'': Erfahrungsaustausch und dadurch Realisierung von Kostenvorteilen.

Detailanalysen haben betrachtliche Unterschiede zwischen den Teilprogrammen und Jahrgan-gen gezeigt, so dass die hier dargestellten Ergebnisse nur einen groben Uberblick bieten.

Page 201: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

188 Andre Martinuzzi

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1 um 3 Notengrade ubererfullt

1 urn 2 Ncftengrade ijbererfullt

i um 11^Jotengrad ubererfullt

Dgenauerfullt

• um 4 Notengrad untererfullt

1 um 3 Notengrade unta'erfullt

• um 2 Notengrade untererfullt

D um 1 Notengrad untererfullt

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MttelweftBnschatzingder Erreichbafkeit (Anfangsbeftagung)

^ M t t e l w e r t der Bnschatzung derZeJenneichung (Bxlebefragung)

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Page 202: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beratungsprogramme fur Nachhaltiges Wirtschaften 189

3.8 Mittelfristige Wirkungen

Die erzielten okologischen und okonomischen Wirkungen des OkoBusinessPlan Wien wurden mit Hilfe einer intemet-basierten MaBnahmendatenbank erhoben (Breuer/Martinuzzi 2002)/^ In dieser wurden von den Beratem alle von den Betrieben umgesetzten und geplanten MaBnahmen erfasst und im Zuge der Weiterbetreuung laufend aktualisiert. Die so erfassten MaBnahmen wurden vom Evaluationsteam einer Plausibilitatspriifung unterzogen und ausgewertet.

VyriaiigBncteriiTiyBMHLtoilVMr'BhTEii

eraelte BnEpanrgen (in Mo BLTO)

R]hsldfe(int)

Hlfestoffep]

nicrt-gelalTliche/«alle(int)

geliahr1iche/«alle(int)

Trink- md Barhftasser (1000 nre)

SbxiTtHTemA&rrB+sciBtige Bierge (Q/\li)

Fbssile&Hgetrager(QAh)

\MElT-U<W(Motknt Vfertehr-R<W(MoPkm)

0Q2(t)

1. Rojariiyaiocfe (20003002)

2000

1,5 469

750

14.436

348

5

4

5

0

0

2953

20O1

^3

1.267

83

36433

47

91

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6

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2D02

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2003

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33

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10

1

4

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2D05

25

717

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469

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265

476 36

8

35

2

14.397

je weiterem

Jahr

68

63W

561

• 1.508

221

25t

17

4

13

1

6749

Ahbildung 24: Umweltentlastungen durch den OkoBusinessPlan Wien

Bei insgesamt 753 umgesetzten MaBnahmen Uegen detaillierte Daten vor, die eine Amortisationsrechnung ermoglichen. Gesamten Investitionen von 57,9 Mio Euro stehen jahrliche Einsparungen von rund 7,4 Mio Euro gegeniiber (durch-schnittHche Amortisationszeit 7,8 Jahre). Werden Investitionen in Infrastruktur und Kemgeschaft isoliert, so verbleiben 512 UmweltmaBnahmen mit einem Investitionsvolumen von 17,6 Mio Euro und Einsparungen von 4,8 Mio Euro (durchschnittliche Amortisationszeit 3,7 Jahre). Detailanalysen haben gezeigt, dass die erzielten Einsparungen stark mit der Hohe der Investitionen und schwach mit der Anzahl der Mitarbeiter am Standort korrelieren. Beide Ein-flussfaktoren zusammen konnen bei technischen MaBnahmen 62% der Varianz, bei organisatorischen sogar 79% der Varianz der erzielten Einsparungen erkla-ren.

die MaBnahmendatenbank findet sich unter http://www.wien.gv.at/ma22/oekobusiness/frame/datenbank.html

Page 203: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

190 Andre Martinuzzi

mehr als 5 Jahre 37%

4-5 Jahre^^^ 4%

3-•4 Jahre J 2 6%

- 3 Jahre 8%

unter 1 Jahr 34%

V.1 -2 Jahre 11%

Abhildung 25: Amortisationszeiten der umgesetzten Mafinahmen im OkoBusinessPlan Wien n=753 umgesetzte Mafinahmen

Insgesamt sind 55 der iiber 450 ausgezeichneten Betriebe fur rund 75% der okonomischen und okologischen Effekte des OkoBusinessPlans Wien verant-wortlich. Auf nur fiunf Betriebe entfallt rund ein Drittel der Effekte. Es handelt sich dabei durchwegs um GroBbetriebe mit einem hohen Jahresumsatz und einer groBen Anzahl von Beschaftigen. Dieser hohe Konzentrationsgrad auf wenige Falle hat zur Folge, dass trotz des enorm breiten Datenbestandes keine Vorher-sagen fiir neu teilnehmende Betriebe getatigt werden konnen und die Bildung von Kennzahlen aufgrund der hohen Varianz zwischen den Betrieben rasch an methodische Grenzen stoBt.

Die Innovationswirkungen der Programmteilnahme sind hoch. So wurden mehr als die Halfte der umgesetzten MaBnahmen im Zuge der Beratungen neu erarbeitet, 25% waren vor der Teilnahme als vage Idee vorhanden und wurden gemeinsam mit den Beratem konkretisiert und nur 25% lagen waren vor der Teilnahme bereits konkret geplant (und sind als Mitnahmeeffekte zu klassifizie-ren).

Die sozialen Effekte des OkoBusinessPlans Wien sind nur schwer messbar und konnen nur aufgrund subjektiver Einschatzungen der Teilnehmer darge-steUt werden: Die unmittelbaren Arbeitsplatzeffekte sind sowohl bei den ausge­zeichneten Betrieben als auch bei den beteiligten Beratungsuntemehmen gering. Durch die Investitionen in UmweltschutzmaBnahmen wurde zwar Nachfrage

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Beratungsprogramme fiir Nachhaltiges Wirtschaften 191

generiert, uber die dadurch ausgelosten Arbeitsplatzeffekte liegen jedoch keine Daten vor. Fiir die teilnehmenden Umweltbeauftragten haben sich zwar Weiter-bildungsmoglichkeiten und eine Starkung ihrer innerbetrieblichen Position und ergeben, Karrierespriinge wurden dadurch jedoch nicht ausgelost.

3.9 Langfristige Wirkungen

Um die langfristigen Wirkungen zu erheben wurde im Friihjahr 2005 insgesamt 53 Betrieben befragt, die (a) wiederholt im Rahmen des OkoBusinessPlan Wien ausgezeichnet wurden oder die (b) nach einer einmaligen Auszeichnung schon seit langerer Zeit nicht mehr am OkoBusinessPlan Wien teilgenommen haben (Martinuzzi et al 2005, 25-28). Der Vergleich dieser beiden Gruppen erbrachte folgende Ergebnisse:

«=> Die wichtigsten Motive fur wiederholte Teilnahme sind die Firmenpolitik (z.B. der Wunsch sich als umweltbewusstes Untemehmen zu positionieren, Vorgaben der Konzemleitung ein Umweltmanagementsystem aufzubauen), hohes personliches Umweltengagement der Geschaftsfuhrung und bisherige positive Erfahrungen mit dem Programm.

^ Das langfristige Engagement ist auch bei Betrieben, die nicht mehr am Programm teilnehmen herausragend hoch. So wurden rund 60% der geplan-ten MaBnahmen, 58% der geplanten Investitionen und 50%) der geplanten Einsparungen auch ohne weitere Betreuung umgesetzt. Die wahrend der ersten Teilnahme erstellten MaBnahmenplane zeigen offensichtlich iiber mehrere Jahre hinweg ihre Wirkungen.

^ Als wichtigste Hemmnisse einer Wiederauszeichnung wurden eine ungiins-tige Kosten-Nutzen-Relation oder keine weiteren Verbesserungspotenziale genannt. Es zeigte sich, dass mit einem Personalwechsel der Umsetzungs-verantwortlichen zwar das Wissen um die Teilnahme und die Umsetzungs-geschichte der Mafinahmen verloren geht, das Fachwissen und das Enga­gement der Untemehmen davon aber nicht verringert wird. Zu gravierenden Riickschlagen kam es hingegen in jenen Fallen, wo untemehmensinteme Umstrukturierungen stattfanden oder die Untersttitzung des Umweltenga-gements von der obersten Leistungsebene nicht mehr gegeben war.

•=> Nach Auskunft der Interviewpartner wurden Erkenntnisse aus dem OkoBu­sinessPlan Wien in vielen Fallen auf andere Standorte Ubertragen, auch wenn diese nicht selbst an einem der Teilprogramme teilgenommen haben. Von rund einem Drittel der Befragten wurden auch andere Untemehmen zur Teilnahme am OkoBusinessPlan Wien motiviert. Quantitativ betrachtet sind die Diffusionseffekte daher beachtlich. Qualitativ betrachtet beschran-ken sie sich zumeist auf informelle Gesprache und sind kaum dokumentiert.

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192 Andre Martinuzzi

Eine Abschatzung der okonomischen und okologischen Indirektwirkungen ist daher nicht moglich.

•=> Der Aufbau von Netzwerken zwischen den Betrieben kann in Teilprogram-men mit Workshops prinzipiell gut erreicht werden. Rund 40% der befrag-ten Betriebe hielten diese Kontakte iiber die Jahre hinweg aufrecht. Dabei handelt es sich primar um informelle Kontakte zum Erfahrungsaustausch und nur in wenigen Fallen um neu entstandene Geschaftsbeziehungen.

4 Schlussfolgerungen

4.1 Beratungsprogramme als innovative umweltokonomische Instrumente

Fasst man die in Kapitel 1.3. dargestellten Beratungsprogramme zum Nachhal-tigen Wirtschaften und die Erfahrungen des OkoBusinessPlans Wien zusam-men, so konnen folgende Trends festgestellt werden:

•=> Von der Einzelberatung zu Akteursnetzwerken: Die ersten Beratungspro­gramme wurden von einer kleinen Anzahl von Akteuren initiiert und be-standen aus geforderten Einzelberatungen. Spatere Beratungsprogramme binden eine Vielzahl von Akteuren ein und schaffen fiir Betriebe einen „0-ne-Stop-Shop" in Fragen nachhaltigen Wirtschaftens'. Damit werden nicht nur die Transaktionskosten der Betriebe deutlich reduziert, es bieten sich auch den anderen am Programm beteiligten Akteuren vielfache Nutzenpo-tenziale.

•=> Von der Informationsvermittlung zu breiten Nutzenbilndeln: Stand zu Be-ginn die eigentliche Beratungsleistung im Mittelpunkt, so gewinnen in neu-eren Programmen zusatzliche Nutzenpotenziale an Bedeutung (z.B. Vemet-zung, Image-Effekte, Deregulierung). Damit verliert die Beratung ihren defensiven Charakter und kann einen breiteren Kreis von Betrieben anspre-chen.

•=> Von der Einzelinitiative zum eigenstdndigen Beratungsprodukt: Waren die ersten Beratungsprogramme stark an die jeweilige Region gebunden, so konnten sich neuere Programme unabhangig von ihren Initiatoren verbrei-ten und haben den Charakter eigenstandiger Beratungsprodukte mit Trade-mark-Charakter erlangt. Damit gewinnen markenpolitische Fragestellungen zunehmend an Bedeutung (z.B. Qualitatssicherung, Kommunikations- und Marktdurchdringungsstrategien).

^ Von der reinen Forderung zu einem breiteren Aufgabenfeld der offentlichen Hand: In den ersten Beratungsprogrammen hatte die offentliche Hand pri­mar eine Finanzierungsaufgabe. Als die Teilnehmer spaterer Beratungspro­gramme offentlichkeitswirksame Auszeichnungen erhielten, iibemahm die offentliche Hand auch Qualitatssicherung und Offentlichkeitsarbeit. Mit

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Beratungsprogramme fur Nachhaltiges Wirtschaften 193

dem Umweltpakt Bayem und den daran angelehnten Allianzen und Partner-schaften ist auch das umweltokonomische Instrument der freiwilligen Ver-einbarungen in Beratungsprogramme integriert worden. Damit erfullt die offentliche Hand nun eine Vielzahl von Aufgaben und das Management von Beratungsprogrammen hat deutlich an Komplexitat gewonnen.

Beratungsprogramme lassen eine dreifache Flexibilitat erkennen, die es ermog-licht ein breites Spektrum umweltpolitischer Problemstellungen und regionaler Akteurskonstellationen zu berticksichtigen:

^ inhaltliche Flexibilitat: Bei der Programmgestaltung konnen bestimmte Themen in den Vordergrund gestellt werden (z.B. Klimaschutz, Aufbau von Umweltmanagementsystemen, Oko-Tourismus, Mobilitatsmanagement).

•=> institutionelle Flexibilitat. In die Umsetzung der Beratungsprogramme konnen Akteure eingebunden werden, die zusatzliche Ressourcen, Know-how, Kontakte oder Akzeptanz bei den Programmadressaten einbringen.

O instrumentelle Flexibilitat: Im Unterschied zur rein monetaren Forderung werden in Beratungsprogrammen umweltpolitische Instrumente kombiniert, um eine optimale Anreizstruktur fur die Programmadressaten zu schaffen.

Wahrend sie in anderen Politikfeldem schon langer angewendet werden, ^ stel-len Beratungsprogramme fiir den tiber lange Zeit von Ge- und Verboten geprag-ten Sektor der Umweltpolitik ein relativ neues Instrument dar:

•=> Mit Beratungsprogrammen geht die staatliche oder von Intermediaren ge-tragene Umweltpolitik neue Wege der Politikdurchsetzung, indem sie ver-sucht Untemehmensinteressen mit den eigenen Politikzielsetzungen in Ein-klang zu bringen und Win-Win-Situationen herzustellen.^^

^ Durch Beratungsprogramme kann die offentliche Hand Strukturen schaffen, um den Oko-Consulting-Sektor als Schnittstelle zwischen staatlicher Um­weltpolitik und der von ihr betroffenen Betriebe einzusetzen und damit in die Umsetzung nationaler Nachhaltigkeitsstrategien einzubinden (Martinuz-zi 2003).

•=> Mit Beratungsprogrammen kann die offentliche Hand einen strukturieren-den Einfluss aufden Oko-Consulting-Sektor ausiiben. Sie unterstiitzt damit die Entwicklung nutzenorientierter Beratungsprodukte, macht diese poten-ziellen Klienten bekannt, stattet sie mit Glaubwtirdigkeit aus und sichert durch Pflege von Beraterpools und begleitende Evaluationen die Qualitat der Beratungsleistungen.

z.B. Wirtschaftsfbrderung (Messner 1996), Innovationspolitik (Kaufmann/Todtling 2000), Entwicklung landlicher Raume (Tischer 2001) Holbach-Gromig bezeichnet diese Herangehensweise „6kologisch orientierte Wirtschaftspoli-tik" (Holbach-Gromig 1999)

Page 207: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

194 Andre Martinuzzi

4.2 Beratungsprogramme als Dienstleistungsinnovationen im Umweltmanagement

Beratungsprogramme stellen Dienstleistungsinnovationen dar, die

•=> das Nutzenportfolio von Umweltmanagementsystemen erweitem (z.B. um Erfahrungsaustausch, bessere Beziehungen zu Behorden),

•=> den Kontext der erzielten Umweltleistungen kommunizieren (z.B. durch regionale Markenbildung und durch regionale Akteure finanzierte Offent-lichkeitsarbeit),

•=> die Beratungskosten fiir die beratenen Untemehmen reduzieren (z.B. durch Gruppenberatungen, Workshops) und

•=> die beteiligten Akteure starken (z.B. indem die beteiligten Berater auf einen groBeren Pool von Referenzprojekten zugreifen konnen; die offentliche Hand sich durch kooperatives Verwaltungshandeln als Partner einer nach-haltigen Wirtschaft profiliert; die teilnehmenden Untemehmen sich durch freiwilliges Engagement gegeniiber ihren Stakeholdem profilieren konnen).

Durch geforderte Beratungsprogramme wird Umweltengagement chancenorien-tiert und niederschwellig vermittelt: Fiir Entscheidungstrager in den Untemeh­men stehen zumeist die (niedrig gestalteten) Teilnahmegebiihren im Vorder-gmnd, die fur die Teilnahme erforderlichen Arbeitszeiten werden zumeist nur grob geschatzt und praktisch nie monetarisiert. Der erwartete Nutzen ist zumeist unspezifisch und umfasst ein breites Spektmm von Moglichkeiten. Damit ent-steht ein zeitlich begrenzter Freiraum fur Engagement, das sich nach einigen Monaten durch herzeigbare Erfolge beweisen muss. Mit der Unterstutzung extemer Berater gelingt dies in vielen Fallen, so dass die Sinnhaftigkeit freiwil-ligen Umweltengagements belegt und ein langerfristiges Engagement ermog-licht wird. Damit werden Elemente einer innovationsfreundlichen Kultur ge-schaffen.

Beratungsprogramme tragen zur Verbreitung technischer Innovationen und nicht-technischer Innovationen bei. ^ Aus einer Analyse der MaBnahmendaten-bank des OkoBusinessPlan Wien konnten SchliisselmaBnahmen abgeleitet wer­den, die von besonders hohen Umwelteffekten, kurzen Amortisationszeiten, rascher Umsetzbarkeit und groBer Relevanz fiir umweltintensive Branchen gekennzeichnet sind. Auf Basis von MaBnahmengmppen konnten folgende Verbreitungsstrategien abgeleitet werden (Windsperger et al. 2004):

Eine Analyse ausgewahlter Innovationen, ihrer Ausloser und ihrer Umfeldbedingungen konnte im Rahmen der empirischen Arbeiten bisher nicht geleistet werden. Basierend auf anderen Stu-dien (Schrama/Sedlacek 2003) kann jedoch von einer grofien Bedeutung des institutionellen Kontextes und von Innovationsnetzwerken ausgegangen werden, die durch Beratungsprogram­me geschaffen werden konnen.

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Beratungsprogramme fur Nachhaltiges Wirtschaften 195

1. Fiir am Markt befindliche Technologien (z.B. Isolierung von Apparaten und Leitungen, dem Einbau von Thermostaten, Zeitschaltem, Bewegungsschal-tem und Wasserperlatoren, Optimierung von Beleuchtung) bieten sich Checklisten und Kurzberatungen an, die Einsparpotenziale aufzeigen und einen raschen Marktiiberblick bieten. Die Umsetzung ist technisch einfach und kann dem einzelnen Betrieb iiberlassen werden. MaBnahmenforderun-gen sind nicht erforderlich.

2. Der Einsatz von Cleaner Production, bei Investitionen in die Infrastruktur (z.B. Warmedammung von Gebauden, Leitungssanierungen) und beim Aufbau von Umweltmanagementsystemen sind individuelle Tiefenberatun-gen (ev. unter Einbindung von Untemehmen des Anlagenbaus) sinnvoll, da hochspezialisiertes Wissen erforderlich ist. Die erzielbaren okonomischen und okologischen Effekte hangen stark von der individuellen Situation des einzelnen Betriebs ab und konnen nur untemehmensindividuell im Vorfeld der Beratung abgeschatzt werden.

3. In Bereichen in denen groBe Umwelt-, Sicherheits- oder Gesundheitseffekte erzielbar sind, es aber zu keiner absehbaren Amortisation der MaBnahmen kommt, gentigt ein Beratungsprogramm zur Erreichung umweltpolitischer Ziele nicht. Hier ist gesetzlicher Druck erforderlich, der durch MaBnahmen-fbrderungen, freiwillige Vereinbarungen und Beratungsprogramme unter-stiitzt werden kann.

4. Eine weitere Gruppe von MaBnahmen setzt die Kooperation mehrerer Ak-teure voraus (z.B. Abwarmenutzung, iiberbetriebliches Recycling, Fahrge-meinschaften, Optimierung der Transportlogistik). Hier haben Beratungs­programme primar eine moderierende und vemetzende Funktion, die bis zu Cluster-Initiativen fiihren kann.

5. Bei MaBnahmen die sich an Konsumenten wenden (z.B. Nachhaltigkeitsbe-richte) oder die ein geandertes Konsumentenverhalten erfordem (z.B. Oko-design), erfiillen Beratungsprogramme primar eine kommunikative Funkti­on.

4.3 Forschungsausblick

Wie gezeigt wurde, ist der Stand der wissenschaftlichen Aufbereitung von Bera-tungsprogrammen fiir Nachhaltiges Wirtschaften noch gering und beschrankt sich derzeit noch auf die Darstellung von Fallbeispielen. In kiinftigen umwelt-okonomisch orientierten Forschungsprojekten ware nicht nur zu untersuchen, ob Beratungsprogramme den Charakter eines eigenstandigen umweltpolitischen Instruments aufweisen, sondem auch zu klaren, welche Reichweite und Wir-kungsstarke sie unter gegebenen umweltpolitischen Rahmenbedingungen erzie-len konnen. Dazu ware ein intemationaler Vergleich von Beratungsprogrammen

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196 Andre Martinuzzi

unter Beriicksichtigung des jeweiligen nationalen umweltpolitischen Systems erforderlich.

Fur die Beratungsforschung bieten Beratungsprogramme eine weitere Off-nung der Forschungsperspektive: Standen in den letzten 20 Jahren einzelne Projekte, die Beziehungen zwischen Beratem und Klienten, das daraus resultie-rende Beratungssystem, die Strategien von Beratungsuntemehmen und die Ana­lyse des Beratungsmarkts im Mittelpunkt des Interesses, so erfordem Bera­tungsprogramme nun ein differenzierte(re)s Bild von Marktnischen und Akteursnetzwerken, in denen mehrere Berater und Klienten interagieren und in die eine Vielzahl von Stakeholdem involviert ist. Dazu bieten sich systemische Forschungsansatze, eine Akteurs- und Organisationsentwicklungsperspektive an.

Da Programm-Management als Spezialbereich der deutschsprachigen Be-triebswirtschaftslehre bisher nicht erkennbar ist und die im Themenfeld Pro-jektmanagement entwickelten Instrumente nicht unmittelbar auf das Manage­ment von (Beratungs)Programmen iibertragbar sind^^ ist nach Ansicht des Autors des vorliegenden Beitrags noch viel Grundlagenarbeit erforderlich. Die-se konnte auf die Gemeinsamkeiten von Betriebswirtschaftslehre und Evaluati-onsforschung (Habersam 1997; Stockmann 2002) aufbauen, die nicht nur den klassischen Fragestellungen der Betriebswirtschaft folgend in der Steigerung von Effizienz und Effektivitat bestehen, sondem auch dem Ansatz der Organi-sationsentwicklung folgend in der zielorientierten Weiterentwicklung komple-xer sozialer Systeme.

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Instrumente des Projektmanagements werden von Programm-Managem zwar vereinzelt einge-setzt, weisen im Kontext von Forderprogrammen jedoch erhebliche Mangel auf: Programme sind in einen politischen Kontext eingebettet, der von den Instrumenten des Pro­jektmanagements nur unzureichend abgebildet werden kann. Programme haben vieldimensionale Zielsysteme, die bei einer Beschrankung auf die im Pro-jektmanagement verbreiteten drei Zielkriterien (Qualitat, Kosten, Zeit) verkurzt dargestellt wur-den. Programme versuchen Entscheidungen und Aktivitaten von Programmadressaten zu initiieren, auf die sie keinen direkten Einfluss haben, wohingegen Projekte uber klarere Steuerungsstruktu-ren verfugen. Programme stellen somit Verhaltensangebote dar, wohingegen Projekte komplexe, aber prinzi-piell steuerbare Aufgabenstellungen sind.

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Entscheidungsdefekte als Barrieren bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitsinnovationen

Anne Gerlach

1 Bedeutung der deskriptiven Entscheidungstheorie fur Nachhaltigkeitsinnovationen

Jungere Ansatze zur Beschreibung und Erklarung von Innovationsprozessen zeigen weitgehende Ubereinstimmung beztiglich der Abwendung von linear en Phasenmodellen. Anstelle der Betonung einer linearen Abfolge einzelner Inno-vationsphasen weisen diese Ansatze „der Interaktion respektive der Rtickkopp-lung zwischen den einzelnen Innovationsphasen eine zunehmende Bedeutung" (Konrad und Nill 2001, 16) zu. Dass jungere Modelle eine weniger determinis-tische Sicht des Innovationsprozesses einnehmen, geht auch aus folgender Aus-sage hervor (Fichter und Paech 2003, 20; ebenso Fichter 2002, 21):

„Innovationsprozesse sind selten eine lineare Folge von Phasen und Unterphasen. Ausgangs-ideen entwickeln sich oft zu Biindeln von Innovationsideen oder zerteilen sich in divergierende Pfade von Aktivitaten unterschiedlicher Abteilungen oder Gruppen im Untemehmen."

Vor diesem Hintergrund konzeptionalisiert Fichter (2002) Innovation als dyna-mischen, nichtlinearen und interaktiven Prozess. Diese Auffassung wird im vorliegenden Artikel aufgegriffen und erweitert. Im weiteren Verlauf wird der Innovationsprozess als dynamischer, nichtlinearer und interaktiver Entschei-dungsprozess verstanden, der wesentlich aus Aktivitaten der Informationssuche und -verarbeitung besteht. Diese Aktivitaten zielen auf die Reduzierung von Ungewissheit uber die Vor- und Nachteile der Innovation (Rogers 2003).

Versteht man Innovationsprozesse als nichtlineare Entscheidungsprozesse, die durch Riickschlage und Lemvorgange gepragt sind (Fichter 2002), so scheint fur die Untersuchung von Ansatzen zur Identifikation und Erklarung von Barrieren in Prozessen von Nachhaltigkeitsinnovationen die deskriptive Entscheidungstheorie eine geeignete Forschungsperspektive zu sein. Sie geht der Frage nach, wie Entscheidungen in der Realitdt zustande kommen und wa-rum sie so und nicht anders getroffen werden (Bamberg und Coenenberg 2004; Martin und Bartscher 1995). Im Mittelpunkt der Betrachtungen dieses Artikels stehen Innovations barrieren. Innerhalb der deskriptiven Entscheidungstheorie wird der Blick deshalb auf eine Forschungsrichtung gelenkt, die Defekte des Entscheidungsverhaltens untersucht (vgl. hierzu und zu den folgenden Ausfiih-rungen Martin und Bartscher 1995). Der Ausgangspunkt dieser Forschungsrich-

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tung liegt in den Verhaltensannahmen der normativen Entscheidungstheorie (Beriicksichtigung aller Altemativen entsprechend eines widerspruchsfreien Zielsystems; Zuordnung der Konsequenzen zu den Handlungsaltemativen sowie hohe Informationsverarbeitungskapazitat). Widerspruche zwischen diesen An-nahmen und empirischen Beobachtungen werden als Defekte des Entschei-dungsverhaltens identifiziert und die Modelle entsprechend erweitert (Bamberg und Coenenberg 2004).

Vorrangiges Ziel der Untersuchung von Entscheidungsdefekten ist es nicht, die Fehlerhaftigkeit von Entscheidungsprozessen nachzuweisen. Aus Sicht der deskriptiven Entscheidungstheorie geht es stattdessen darum, Mechanismen aufzudecken, die erklaren, wie diese Defekte entstehen und wie sie sich auf den Entscheidungsprozess auswirken.

2 Kriterien zur Beurteilung der Nachhaltigkeit von Innovationsprozessen

Im vorangehenden Abschnitt wurde das Untersuchungsobjekt von Innovations-barrieren im Allgemeinen auf Entscheidungsdefekte im Besonderen eingegrenzt. Die Forschungsfrage, warum welche Barrieren Nachhaltigkeitsinnovationen storen, legt eine weitere Fokussierung nahe. Der Definition von Innovationen als nichtlineare Entscheidungsprozesse folgend sind Nachhaltigkeits­innovationen als nachhaltige, nichtlineare Entscheidungsprozesse zu verstehen. Es sind somit speziell solche Entscheidungsdefekte zu identifizieren, die der Nachhaltigkeit von Innovationsprozessen im Wege stehen. In diesem Abschnitt werden Kriterien vorgestellt, die dazu geeignet sind, Innovationsprozesse be-zuglich ihrer Nachhaltigkeit einzuschatzen. Dazu werden Nachhaltigkeitskon-zepte und das Prinzip der Risikominderung als iibergeordnetes Nachhaltigkeits-prinzip (Paech und Pfriem 2004; Paech und Pfriem 2002) auf ihre Relevanz fur Nachhaltigkeitsinnovationen gepriift. Partizipation, Transdisziplinaritat und Anpassungsflexibilitat werden als drei prozessbezogene Nachhaltigkeitskrite-rien herausgearbeitet.

Die meisten Studien zu Nachhaltigkeitsinnovationen gehen vom Nachhal-tigkeitsverstandnis des Dreisaulenmodells aus (Konrad und Nill 2001). Kemge-danke des Dreisaulenmodells ist, dass die drei Saulen Okologie, Okonomie und Soziales Interessensbereiche markieren, die zur Erreichung des Ziels einer nachhaltigen Entwicklung gleichrangig zu beriicksichtigen sind (Schaltegger und Burritt 2005; Deutscher Bundestag 1998; WoUny 1999). Die vielstimmige Kritik am Dreisaulenmodell (Paech und Pfriem 2004; Fichter und Arnold 2003) setzt an den Punkten der Auswahl konkreter Indikatoren innerhalb der einzelnen Dimensionen und der Prioritdtenverteilung zwischen den drei Saulen an. Es gibt jedoch noch einen weiteren Grund, weshalb dieses Nachhaltigkeitsver-standnis fiir die vorliegende Untersuchung nicht ausreichend scheint. Da Inno-

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vationen als nichtlineare Entscheidungsprozesse definiert wurden, sind prozess-orientierte Kriterien erforderlich. Zwar ist das Dreisaulenmodell insofem pro-zessorientiert, als die Prioritaten zwischen den Dimensionen in einem Abwa-gungsprozess auszuhandeln sind (Feindt 2002). Die Bewertung von Nachhaltigkeit anhand der in diesen Prozessen ausgehandelten Ziele bezieht sich jedoch nicht auf den Prozess sondem den Inhalt bzw. das Objekt einer MaBnahme.

Ahnlich verhalt es sich mit dem Nachhaltigkeitsverstandnis der zeitlichen und rdumlichen Ubertragbarkeit. Will man dieses Kriterium anwenden, so stehen die (okologischen, sozialen oder okonomischen) Auswirkungen der Innovation im Fokus. Diese beziehen sich jedoch eher auf das Entscheidungsob-jekt als auf den Entscheidungsprozess. Basierend auf dem Nachhaltigkeitsver­standnis der zeitlichen und raumlichen Ubertragbarkeit leiten Paech und Pfriem (2004) zwei Ziele ab: (1) Senkung der Durchlaufmenge an Material und Energie auf ein dauerhaft iibertragbares Niveau und (2) Ausrichtung anthropogener Aktivitaten an okologischen Erfordemissen im Sinne einer hohen Lebensquali-tat

Diese Ziele sind nach Paech und Pfriem (2004) tiber die sechs Nachhaltig-keitsprinzipien Umverteilung, Suffizienz, Effizienz, Konsistenz, Vermeidung und Risikominderung zu erreichen. Das Nachhaltigkeitsprinzip der Risikomin-derung wird als ubergeordnetes Nachhaltigkeitsprinzip bezeichnet (Paech und Pfriem 2002). Dieses Prinzip wird fur die Generierung von Nachhaltigkeitskri-terien fur Innovationsprozesse noch eingehender betrachtet. Zunachst werden jedoch zwei prozessorientierte Nachhaltigkeitskriterien vorgestellt. Die Fokus-sierung auf den Innovationsprozess bedeutet nicht, dass inhaltliche Kriterien zur Einschatzung der Nachhaltigkeit des Innovationsobjekts (z.B. Okoeffizienz, Okoeffektivitat, Sozialeffizienz oder Sozialeffektivitat; vgl. Schaltegger und Burritt 2005; Dyllick und Hockerts 2002) fur irrelevant gehalten werden. Viel-mehr ist davon auszugehen, dass inhaltliche und formale Kriterien sich gegen-seitig erganzen. Um zu einer zufrieden stellenden Bewertung der Nachhaltigkeit von Innovationen insgesamt zu gelangen, erscheint es somit notwendig, sowohl inhaltliche als auch formale Kriterien zu berlicksichtigen. Da der Innovations­prozess und mogliche Barrieren im Mittelpunkt der Betrachtungen dieses Bei-trags stehen, werden im Folgenden Kriterien diskutiert, die geeignet sind, Nachhaltigkeitsaspekte aus der Prozessperspektive zu bewerten.

Nach einem weitgehend geteilten prozessorientierten NachhaUigkeitskon-zept, das auf der Agenda 21 basiert, ist Nachhaltigkeit als partizipativer Prozess zu verstehen. Die umfassende Partizipation aller gesellschaftlichen Gruppen an Entscheidungen, sowie deren Zugang zu relevanten Informationen wird als Grundvoraussetzung fur die Umsetzung des Konzepts Nachhaltigkeit angesehen (BMU 1992). Die Beteiligung moglichst vieler Stakeholder soil dazu dienen, differierende Interessenlagen zu integrieren (Tremmel 2003). Eine konkretere

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Vorstellung dessen, was Nachhaltigkeit ist und wie das Konzept umgesetzt werden soil, lasst sich aus dieser Perspektive „nur im Rahmen eines dialogi-schen Verfahrens auf breiter partizipativer Basis" (Brand 2001, 27) entwickeln. Partizipation ist ein erstes wichtiges Kriterium fiir die Beurteilung der Nachhal­tigkeit eines Innovationsprozesses.

Es gentigt jedoch nicht, dass unterschiedliche Akteure an einem Prozess be-teiligt sind. Zusatzlich gilt es, zwischen den Akteuren relevantes Fach- und Alltagswissen auszutauschen und sich auf ein gemeinsam getragenes Ergebnis zu verstandigen. Ein Konzept, das sich mit Fragen der Wissensproduktion und des Wissensaustauschs im Beziehungsgeflecht zwischen Wissenschaft, Offent-lichkeit und Praxis auseinandersetzt, ist die Transdisziplinaritdt (Dubielzig und Schaltegger 2004; Brand 2000). Wissenschaftstheoretische Uberlegungen zur Nachhaltigkeitsforschung heben die Bedeutung transdisziplinarer Zusammenar-beit hervor. Transdisziplinare Forschung bezieht sich auf wissenschaftsexteme, gesellschaftlich diskutierte Problemfelder zu deren Losung die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlem und Praxisakteuren erforderlich ist (Brand 2000; Godemann 2005). Grundlegende Voraussetzungen fiir das Gelingen einer Ver-standigung zwischen Experten unterschiedlicher Fachrichtungen sowie Laien sind der bewusste Umgang mit Wissensasymmetrien, die Schaffung einer ge-meinsamen Wissensbasis und der Wissensaustausch (Godemann 2005). Trans-disziplinaritat ist ein zweites wichtiges Kriterium, um die Nachhaltigkeit von Innovationsprozessen zu beurteilen.

Das iibergeordnete Nachhaltigkeitsprinzip der Risikominderung lasst sich anhand der vier Kriterien (1) verringerte Eingriffstiefe und Wirkmachtigkeit, (2) okologische Reversibilitat, (3) Anpassungsflexibilitat und (4) Umkehrbarkeit des Prozesses bestimmen (Paech und Pfriem 2004; Fichter und Paech 2003). Die beiden erstgenannten Kriterien beziehen sich auf unerwtinschte Auswir-kungen des Innovationsobjektes bzw. -ergebnisses. Sie sind somit als objektbe-zogene Kriterien zu betrachten. Fur die hier angestrebte Untersuchung des In­novationsprozesses und potenzieller Barrieren scheinen die beiden letztgenannten Kriterien von hoherer Relevanz. Risikominderung liegt dann vor, wenn die Anpassungsflexibilitat hoch und Umkehrbarkeit gegeben ist. Bei der Anpassungsflexibilitat geht es um die Frage, inwiefem die Richtung, die durch die Umsetzung einer Innovation eingeschlagen wird, korrigierbar ist. Partizipative Elemente in der Gestaltung von Innovationsprozessen eignen sich erstens als Friihwamsysteme, die dazu dienen, die Notwendigkeit zur Rich-tungskorrektur zu erkennen, und konnen zweitens Informationen iiber Anpas-sungsmoglichkeiten liefem. Die Umkehrbarkeit eines Innovationsprozesses lasst sich dadurch steigem, dass auf der Angebotsseite „Investitionen in immo-biles und produktspezifisches, also irreversibles Kapital vermieden werden" (Fichter und Paech 2003, 102) und dass auf der Seite der Nachfrage „die neue Leistung bzw. das neue Produkt keine neuen Bedarfe weckt, sondem bisherige

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Instrumente zur Befriedigung vorhandener Bedarfe substituiert" (Paech und Pfriem 2004, 56). Bei der Umkehr in einem Innovationsprozess handelt es sich um eine Richtungsanpassung. Zudem ist „eine solche Fahigkeit zur Anpassung an Uberraschungen [...] nur durch weitgehende Revidierbarkeit von Entschei-dungen" (Gleich und Rubik 1996, 113) zu erzielen. Anpassungsflexibilitat und Umkehrbarkeit liegen somit nah beieinander. Im Folgenden werden die beiden Kriterien zusammengefasst und als Anpassungsflexibilitat bezeichnet. Anpas­sungsflexibilitat stellt nicht nur eine Voraussetzung fur die Risikominderung im Innovationsprozess dar, sondem ist auch flir das Erkennen und Ergreifen neuer Chancen erforderlich.

3 Drei Entscheidungsdefekte und ihre Relevanz fiir Nachhaltigkeitsinnovationen

Die drei Kriterien zur Bewertung der Nachhaltigkeit von Innovationsprozessen, die im vorangehenden Abschnitt vorgestellt wurden, dienen in diesem Abschnitt dazu, die Relevanz dreier Entscheidungsdefekte als Barrieren von Nachhaltig­keitsinnovationen zu priifen. Die drei Defekte, die anhand der Kriterien unter-sucht werden, sind Konflikteskalation, Kontrollillusion und Hidden Profile. Die Relevanz dieser Phanomene fiir die Nachhaltigkeit von Innovationsprozessen wird anhand ihrer Auswirkungen auf die formalen Nachhaltigkeitskriterien untersucht (vgl. Tabelle 11).

Tabelle 11: Auswirkungen der Entscheidungsdefekte aufformale Nachhaltigkeitskriterien

Defekt

Auswirkung auf Partizipation

Auswirkung auf Transdisziplinaritat

Auswirkung auf Anpassungsflexi-biUtat

Konflikteskalation

Nur vordergriindige Zunahme der Parti­zipation

Eingeschrankte Fahigkeit, andere Perspektiven einzu-nehmen

Eigendynamik der Eskalation verhin-dert Richtungs­anpassung

Kontrollillusion

Notwendigkeit der Partizipation wird unterschatzt

Notwendigkeit eines Wissensaustauschs wird gering einge-schatzt

Notwendigkeit von Richtungskorrektu-ren wird nicht er-kannt

Hidden Profile

Keine relevante Auswirkung

Wissensaustausch geUngt nicht

Notwendigkeit von Kurskorrekturen wird nicht rechtzei-tig erkannt

Zudem wird die Relevanz der Defekte als Barrieren fur Nachhaltigkeitsinnova­tionen aus Sicht des Dreisaulenmodells gepriift. Dazu wird die Wahrscheinlich-

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keit betrachtet, mit der aus Perspektive des Dreisaulenmodells der jeweilige Defekt auftritt.

3.1 Konflikteskalation

Die Bandbreite dessen, was in der Fachliteratur als Konflikt bezeichnet wird, ist groB. Die folgenden Uberlegungen zur Konflikteskalation als mogliche Barriere in Nachhaltigkeitsinnovationen basieren weitgehend auf den Ausfuhrungen von Glasl (1999). Insofem erscheint es sinnvoll, auch die dort vorgeschlagene Defi­nition zu iibemehmen (Glasl 1999, 14f.):

„Sozialer Konflikt ist eine Interaktion zwischen Aktoren (Individuen, Gruppen, Organisationen usw.), wobei wenigstens ein Aktor Unvereinbarkeiten im Denken/ Vorstellen/ Wahmehmen und/ Oder Fiihlen und/ oder WoUen mit dem anderen Aktor (anderen Aktoren) in der Art erlebt, dass im Realisieren eine Beeintrachtigung durch einen anderen Aktor (die anderen Aktoren) er-folge."

In Konflikten kommt es haufig vor, dass die Konfliktparteien andere Sachver-halte, Ursachen und Ziele als die tatsachlichen vorgeben oder die Situation widerspruchlich, undurchsichtig oder wenig greifbar darstellen, urn den Kon-fliktverlauf zu ihren Gunsten zu beeinflussen (vgl. hierzu und im Folgenden Glasl 1999). Zudem konnen Konfliktursachen durch unterschiedliche Auspra-gungen der Situation und der inneren Struktur der Parteien stark verformt wer-den. Dies sind zwei Grlinde, weshalb kein geradliniger Zusammenhang zwi­schen Ursachen und Erscheinungsformen von Konflikten besteht. Vor dem Hintergrund, dass sich die Ursachen eines Konfliktes haufig nicht ermitteln lassen, ist es sinnvoll, anstelle von Konfliktursachen von Konfliktpotenzial zu sprechen. Die Mechanismen, die dazu fiihren, dass aus einem Konfliktpotenzial ein Konflikt erwachst und eskaliert, sind vielfaltig und haufig widerspruchlich. Glasl (1999) unterscheidet fixnf Basismechanismen, die die Eskalation voran-treiben. Der Eskalationsprozess verlauft stufenweise, wobei von Stufe zu Stufe ein Wendepunkt tiberschritten wird, der erstens eine Schwelle zu harterem Kon-fliktverhalten markiert und zweitens die Rtickkehr zum vorherigen Konfliktni-veau erschwert.

Aus Sicht des Dreisaulenmodells ist davon auszugehen, dass unterschiedli­che Interessen beztiglich der Prioritatenverteilung zwischen okologischen, oko-nomischen und sozialen Belangen haufig zu Zielkonflikten fiihren konnen. Die Uberprlifung anhand der prozessorientierten Kriterien zeigt, dass eine Konflikt­eskalation sowohl die Partizipation als auch Transdisziplinaritat und Anpas-sungsfahigkeit im Prozess beeintrachtigt. Vordergrtindig scheint die Partizipati­on bei einer Konflikteskalation zuzunehmen, da die Konfliktparteien versuchen, AuBenstehende far ihre Ziele zu gewinnen. Die Zahl der Personen, die tatsach-lich Einfluss auf Entscheidungen haben, wird jedoch geringer. Somit ist davon auszugehen, dass die Partizipation beim Auftreten einer Konflikteskalation

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abnimmt. Eine wichtige Voraussetzung fiir die Schaffung einer gemeinsamen Wissensbasis und fur den Wissensaustausch ist die Fahigkeit, die Perspektive der anderen Beteiligten einnehmen und verstehen zu konnen (Godemann 2005). Diese Fahigkeit nimmt jedoch im Verlauf der Konflikteskalation ab. Eine er-folgreiche, transdisziplinare Zusammenarbeit erscheint vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich. Zudem tritt eine Eskalation „mehr oder weniger ungewollt auf. Sobald der Eskalationsprozess ein- oder zweistufig begonnen worden ist, entwickelt er eine innere Dynamik, die ihn stets weiter und weiter treibt und zu einer Erhohung der Spannung flihrt. Konfliktsteigerung ist demnach ein patho-logisches Geschehen, das nur zum Teil bewusst gesteuert werden kann." (Glasl 1999, 183) In einer solchen Situation bestehen kaum Moglichkeiten fur Rich-tungskorrekturen. Aufgrund der Eigendynamik des Eskalationsprozesses ist nicht davon auszugehen, dass eine der Konfliktparteien die notige Distanz er-reicht, um die Notwendigkeit einer Richtungskorrektur zu erkennen. Da die beteiligten Akteure den Prozess einer Konflikteskalation nur begrenzt steuem konnen, ist zudem nicht zu erwarten, dass eine als notwendig erkannte Rich-tungsanpassung auch erfolgreich umgesetzt wird. Die Anpassungsflexibilitat bei Vorliegen einer Konflikteskalation ist somit als gering einzustufen. Zusammen-fassend ist die Konflikteskalation sowohl aus Sicht des Dreisaulenmodells als auch nach den prozessorientierten Kriterien eine relevante Barriere fiir Nachhal-tigkeitsinnovationen.

3.2 Kontrollillusion

Das Phanomen der Kontrollillusion (Langer 1975) ist durch ein unrealistisch hohes MaB an wahrgenommener Kontrolle gekennzeichnet (Frey und Jonas 2002). Langer (1975, 313) defmiert Kontrollillusion als „an expectancy of a personal success probability inappropriately higher than the objective probabil­ity would warrant". Diese iibertriebene Erfolgserwartung beruht auf einer Ober-schatzung der eigenen Kontrolle, die vor allem dann auftritt, wenn das Indivi-duum stark involviert ist und sich aktiv mit einer Aufgabe beschaftigt sowie wenn vertraute Elemente auftreten. Thompson et al. (1998) fuhren die Kontroll­illusion darauf zurtick, dass die Entscheidungstrager den Grad ihrer Kontrolle iiber einen Gegenstand tiber eine Kontrollheuristik einschatzen. Unter einer Heuristik verstehen sie „a shortcut or simple rule that can be used to reach a judgment, in this case, an estimate of one's control over achieving an outcome" (Thompson et al. 1998, 149). Individuen benutzen eine solche Kontrollheuris­tik, um einzuschatzen, welchen Einfluss sie auf ein Ereignis haben. Die Kon­trollheuristik besteht aus zwei Elementen: der Intention einer Person, das Er-gebnis zu erzielen, und der wahrgenommenen Verbindung zwischen der eigenen Handlung und dem gewtinschten Ergebnis. Eine Kontrollillusion liegt dann vor, wenn die Kontrolle hoch eingeschatzt wird in einer Situation, in der

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die objektive Kontrolle gering ist. Nach dem Erklarungsansatz der Kontrollheu-ristik ist die Kontrollillusion somit als tJberschatzung der personlichen Kontrol­le zu verstehen, die auf fehlerhafter Informationsverarbeitung beruht.

Die Kontrollillusion ist ebenso wie die Konflikteskalation sowohl aus Sicht des Dreisaulenmodells als auch nach den prozessbezogenen Kriterien als rele-vante Barriere fiir Nachhaltigkeitsinnovationen einzuschatzen. Bestehende Problemlosungen, die sich einer der Dimensionen des Dreisaulenmodells zu-ordnen lassen, konnen zu vertrauten Elementen werden. Zudem ist anzunehmen, dass sich die jeweiligen Interessengruppen innerhalb der Saulen, die ja Interes-sensbereiche markieren, aktiv mit der jeweiligen Thematik befassen und stark in die Problemlosungsprozesse auf dieser Ebene involviert sind. Beispielsweise ist zu vermuten, dass der Aufbau und die Pflege eines Umweltmanagementsystems nach EMAS sowohl mit einer aktiven Beschaftigung mit relevanten Nachhaltig-keitsaspekten als auch mit dem Auftreten vertrauter Elemente einhergehen. Dieser tJberlegung zufolge ist die Annahme, dass Umweltmanagementsysteme Umwelt- bzw. Nachhaltigkeitsinnovationen fordem, kritisch zu hinterfragen. Wer ein hohes MaB an Kontrolle durch das gegenwartige Team oder die eigene Person empfmdet, wird kaum eine Notwendigkeit sehen, weitere Personen in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Insofem scheint die Kontrollillusion der Partizipation entgegenzuwirken. Auch das Bestreben, einen gelungenen Wissensaustausch und eine gemeinsame Wissensbasis und somit Transdiszipli-naritat herbeizufiihren, ist bei einer Kontrollillusion eher gering einzuschatzen. Weiterhin ist zu vermuten, dass Richtungskorrekturen in Innovationsprozessen, die von Kontrollillusionen begleitet werden, unwahrscheinlich sind, da Akteure, die ihre Kontrolle iiberschatzen, die Notwendigkeit von Kurskorrekturen kaum erkennen werden. Auch die Anpassungsflexibilitat ist somit bei Vorliegen einer Kontrollillusion gering einzuschatzen.

3.3 Hidden Profile

Dadurch dass wichtige soziale, politische oder wirtschaftliche Entscheidungen Gruppen anstelle von Einzelpersonen iibertragen werden, erhofft man sich ei-nerseits eine hohere Akzeptanz und eine hohere Bereitschaft, die Entscheidung umzusetzen, und andererseits qualitativ bessere Entscheidungen aufgrund einer breiteren Wissensbasis (vgl. hierzu und im Folgenden Kerschreiter et al. 2003; Schulz-Hardt et al. 2002; Greitemeyer 2000; Schulz-Hardt et al. 2000). Zwar ist in Gruppen zumeist mehr Wissen verftigbar als auf individueller Ebene. For-schungsarbeiten zum Informationsaustausch in Kleingruppen haben jedoch ergeben, dass Gruppen den Wissensvorteil, den sie gegenuber Einzel-entscheidem haben, oft nicht ausschopfen. Dies ist auch dann der Fall, wenn der Austausch von ungeteihen Informationen, die nur jeweils einzelnen Gruppen-mitgliedem vorliegen, notwendig ware, um die beste Alternative zu identifizie-

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ren. Eine solche Situation wird als Hidden Profile (Stasser 1992; Stasser 1988; Stasser und Titus 1985) bezeichnet. Bei einem Hidden Profile sind die Informa-tionen so verteilt, dass keines der einzelnen Gruppenmitglieder aufgrund seiner Informationsbasis die beste Alternative vorab erkennen kann. Es gelingt Grup-pen in dieser Situation meist nicht, die beste Alternative aufzudecken. Dies kann als Scheitern an Hidden Profiles bezeichnet werden.

Eine Erklarung fiir dieses Phanomen basiert auf der Beobachtung, dass in Gruppendiskussionen wesentlich mehr geteilte als ungeteilte Informationen thematisiert werden (Kerschreiter et al. 2003; Schulz-Hardt 2002), was darauf zuriickgefuhrt wird, dass geteilte Informationen mit groBerer Wahrscheinlich-keit genannt werden als ungeteilte. Ein anderer Erklarungsansatz geht davon aus, dass Entscheidungen in einer Gruppendiskussion nicht aufgrund eines unvoreingenommenen Informationsaustausches getroffen werden, sondem auf Basis der individuellen Praferenzen ausgehandelt werden. Aufgrund der Infor-mationsverteilung in Hidden Profile Situationen kann keines der Gruppenmit­glieder die beste Alternative als individuelle Praferenz in diesen Aushandlungs-prozess einbringen, da vorab niemand iiber eine entsprechende Informationsbasis verfligt (Schulz-Hardt 2002). Ein dritter Erklarungsansatz flihrt das Scheitern an Hidden Profiles auf den Effekt der „praferenzkonsisten-ten Informationsbewertung" (Schulz-Hardt 2002, 236) zuriick. Informationen, die der eigenen Praferenz entgegenstehen, werden im Vergleich zu Informatio­nen, die die eigene Praferenz unterstiitzen, als weniger stark, glaubwiirdig und wichtig bewertet. Dies fuhrt dazu, dass die Gruppenmitglieder ihre Wissensba-sis nicht erweitem, da sie die zusatzlichen Informationen, die zum Aufdecken der besten Alternative fiihren konnten, als irrelevant betrachten.

Aus Sicht des Dreisaulenmodells erscheint es wahrscheinlich, dass Vertreter einer der drei Interessensbereiche mit einer stark ausgepragten Praferenz fiir diese Dimension in die Diskussion eintreten. Sowohl aus Sicht des Aushand-lungsansatzes als auch nach dem Ansatz praferenzkonsistenter Informationsver-arbeitung erhoht dies die Wahrscheinlichkeit, dass die beste Alternative in Hid­den Profile Situationen iibersehen wird. Von den prozessorientierten Kriterien werden vor allem die Transdisziplinaritat und die Anpassungsflexibilitat durch ein Scheitern an Hidden Profiles beeintrachfigt. Dieses Scheitern hangt mit unvollkommenem Informationsaustausch zusammen. Voraussetzung fiir Trans­disziplinaritat ist jedoch gerade der Aufbau einer gemeinsamen Wissensbasis und ein gelungener Wissensaustausch. Somit ist die Transdisziplinaritat beim Scheitern an Hidden Profiles gering einzuschatzen. Der Anpassungsflexibilitat stehen im Zusammenhang mit Hidden Profiles vor allem die Uberlegungen des Ansatzes praferenzkonsistenter Informationsverarbeitung entgegen. Individuen, die neue, praferenzinkonsistente Informationen als unwichtig einstufen, werden die Notwendigkeit zur Richtungskorrektur nicht rechtzeitig wahmehmen. Somit ist auch das Scheitern an Hidden Profiles sowohl aus Perspektive des Dreisau-

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lenmodells als auch anhand der prozessorientierten Kriterien als relevante Bar-riere fur Nachhaltigkeitsinnovationen einzuschatzen.

4 Operationalisierung der Kriterien und Defekte - Entwurf von Interviewfragen

Um die Erkenntnisse der vorangehenden Abschnitte fur reale Entscheidungs-prozesse nutzbar zu machen, ist es notwendig, sowohl die Kriterien als auch die Entscheidungsdefekte und deren Einflussfaktoren zu operationalisieren. Nach­haltigkeitsinnovationen sind von hoher Komplexitat gekennzeichnet. Diesem Forschungsgegenstand werden Methoden der qualitativen Forschung gerecht, mit denen Gegenstande „in ihrer Komplexitat und Ganzheit in ihrem alltagli-chen Kontext untersucht" (Flick 2002, 17) werden. In diesem Abschnitt werden Fragen fiir einen Interviewleitfaden vorgeschlagen, der zur Untersuchung der Prozesse von Nachhaltigkeitsinnovationen dienen soil.

Zu jedem in Abschnitt zwei vorgestellten Kriterium und zu jedem in Ab­schnitt drei beschriebenen Defekt werden im Folgenden mehrere Fragen vorge­schlagen. Da sich die gleiche Frage sowohl auf ein Kriterium als auch auf einen Defekt beziehen kann, sind LFberschneidungen moglich. Die Fragen sind aus Gninden der LFbersicht nach den Kriterien und Defekten geordnet. Fur den Interviewleitfaden ist eine andere Reihenfolge vorgesehen.

Partizipation 1. Wer war an dem gesamten Prozess von der ersten Idee bis jetzt beteiligt

(andere Untemehmen oder Organisationen/ Abteilungen/ Personen)? 2. Gab es Beteiligte, die erst zu einem spateren Zeitpunkt in den Prozess ein-

bezogen wurden, oder die aus dem Prozess ausgeschieden sind? 3. Wurden alle Besprechungen mit alien Beteiligten gefuhrt oder wurden

Untergruppen gebildet, beispielsweise nach Fachgebieten?

Trans disziplinaritdt 1. Wie wurden Sie die gemeinsame Informations basis beschreiben - war sie

eher ein Puzzle, zu dem jeder Beteiligte Informationen aus seinem Fachge-biet beigetragen hat, oder gab es eher einen einheitlichen Wissensstand bei alien Beteiligten?

2. Wie stark wurde die Informationsaufbereitung einzelnen Spezialisten iiber-lassen?

3. Wie hoch schatzen Sie im Nachhinein das fachliche Niveau der Diskussio-nen ein?

4. Konnen Sie sich an eine oder mehrere Situationen erinnem, in denen das Alltagswissen der Beteiligten wichtig war? Welche Situationen waren das?

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Entscheidungsdefekte als Barrieren 211

A npassungsflexibilitdt 1. Wurden am Anfang unterschiedliche Ideen erwogen und welche waren dies

(welche davon wurden welter verfolgt)? 2. Gab es irgendwann wahrend des Prozesses eine oder mehrere Situationen,

in denen Zweifel daran aufkamen, auf dem richtigen Weg zum Ziel zu sein? 3. Konnen Sie sich an wichtige Wendepunkte erinnem, an denen der Prozess

eine andere Richtung genommen hat? (Kamen z.B. neue Personen hinzu, die den Prozess in eine andere Richtung lenkten, oder gab es neue Informa-tionen, die zu weiteren Altemativen fuhrten?)

Konfliktes halation 1. Gab es irgendwann wahrend des Prozesses unterschiedliche Meinungen zu

einem Thema, oder gab es andere Differenzen? 2. Wie intensiv waren die Auseinandersetzungen? 3. Wie wurde das Problem schlieBlich gelost?

Kontrollillusion 1. Gab es irgendwann wahrend des Prozesses eine oder mehrere Situationen,

in denen Zweifel daran aufkamen, auf dem richtigen Weg zum Ziel zu sein? 2. Wie schatzen Sie im Nachhinein das Gruppengefiihl wahrend des Prozesses

ein - herrschte in der Gruppe die Uberzeugung, dass das Team dem Projekt vollauf gewachsen sei, oder gab es auch mal Zweifel daran?

3. Wie stark waren die beteiligten Personen in den Prozess eingebunden (z.B. wie haufig gab es Besprechungen, bei denen alle Beteiligten dabei waren)?

4. Wurde im Zusammenhang mit dem Projekt ein Auftrag vergeben - oder mehrere?

5. Inwiefem konnten Sie sich an einem Pilotprojekt oder Vorgangerprojekt orientieren?

Hidden Profile 1. Gab es irgendwann wahrend des Prozesses unterschiedliche Meinungen zu

einem Thema? 2. Wie stark wurde die Informationsaufbereitung einzelnen Spezialisten tiber-

lassen? 3. Wurden am Anfang unterschiedliche Ideen erwogen und welche waren dies

(welche davon wurden weiter verfolgt/ wie wurde die zu verfolgende Alter­native ausgewahlt)?

4. War alien Beteiligten klar, wer die wichtigsten Experten fiir einzelne Berei-che im Projekt waren?

5. Wie liefen Besprechungen ab (wurden z.B. Moderationstechniken einge-setzt)?

6. Gab es einen oder mehrere „Querdenker"? In welchen Situationen traten diese Personen auf?

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212 Anne Gerlach

5 Implikationen fiir die weitere Forschung zu Barrieren von Nachhaltigkeitsinnovationen

In den vorangehenden Abschnitten wurden drei Entscheidungsdefekte anhand von Nachhaltigkeitskriterien im Hinblick auf ihre Relevanz als Barrieren fiir Nachhaltigkeitsinnovationen untersucht. Konflikteskalation, Kontrollillusion und Scheitem an Hidden Profiles wurden als relevante Barrieren identifiziert. Fiir die zuktinftige Forschung zu Nachhaltigkeitsinnovationen stellt sich die Frage, welche weiteren Entscheidungsdefekte moglicherweise ebenfalls als Barrieren fur Nachhaltigkeitsinnovationen relevant sind. Dies kann anhand der Kriterien (1) Relevanz aus Sicht des Dreisaulenmodells, (2) Partizipation, (3) Transdisziplinaritat und (4) Anpassungsflexibilitat uberprtift werden. Beispiele fiir weitere Defekte sind kontrafaktisches Denken (Was-ware-wenn-Denken) Oder der Hindsight Bias (ein Ruckschaufehler, der darauf beruht, dass riickbli-ckend die Ergebnisaltemative, die tatsachlich eingetreten ist, eine unausweichli-che Logik gewinnt; Schwarz 2002). Zudem scheint es erstrebenswert, anhand von Fallstudien zu untersuchen, welche Entscheidungsdefekte als Barrieren in realen Innovationsprozessen auftreten, wie es dazu kommt und wie sie tiber-wunden werden. Die in Abschnitt vier vorgeschlagenen Fragen konnen als Ansatzpunkt fiir die Datenerhebung im Rahmen von Fallstudien dienen.

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Page 228: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Corporate Citizenship - Eine Innovation?

UlfSchrader

1 Problemstellung

Die aktuelle Beschaftigung mit gesellschaftlicher Verantwortung von Unter-nehmen findet in betriebswirtschaftlicher Wissenschaft und Praxis unter ver-schiedenen Bezeichnungen statt. Corporate Citizenship ist dabei der jtingste Begriff, der international Verbreitung gefiinden hat. Ein erster Blick auf die Bedeutungsinhalte, die unter Corporate Citizenship behandelt werden, lasst die Vermutung aufkommen, dass es sich hier eher um einen Sieger im Wettbewerb der „Business-Buzzwords" handelt, als um ein substanziell neues Konzept (Matten et al. 2003; Matten/Crane 2005). Die Mehrheit der Autoren, die iiber Corporate Citizenship schreiben, grenzt den Begriff kaum oder gar nicht von den verwandten Bezeichnungen Corporate Social Responsibility (CSR) oder Sustainable Management ab. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es sich bei Corporate Citizenship lediglich um eine Wortinnovation bzw. Begriffs-variation handelt, oder ob es Bedingungen gibt, unter denen es doch als konzep-tionelle Innovation und Impulsgeber fur Wissenschaft und Praxis betrachtet werden kann.

Um diese Frage zu beantworten, wird zunachst ein strukturierter Uberblick iiber die in der Literatur vorherrschenden Begriffsverstandnisse gegeben und ein Mangel an Neuigkeit und Differenzierungskraft herausgearbeitet. Eine Be-grtindung fiir diesen Mangel liegt in der unzureichenden Beschaftigung mit der politischen Kategorie des Burgers. Uber die diesbeztigliche Begriffsgeschichte wird hier ein knapper Uberblick gegeben, der dann als Grundlage fiir die Ablei-tung von Bedingungen einer legitimen Anwendung der Btirgerschaftsmetapher auf Untemehmen dient. Diese Bedingungen sind letztlich die zentralen Elemen-te einer Neudefmition bzw. Konkretisierung von Corporate Citizenship. Fazit und Ausblick beenden den Beitrag.

2 Corporate Citizenship-Verstandnisse und ihr Innovationsgehalt

2.1 CC im engeren Sinne: an der Schnittstelle zur Zivilgesellschaft

Im deutschen Sprachraum wird unter Corporate Citizenship mehrheitlich die tjbemahme gesellschaftlicher Verantwortung von Untemehmen an der Schnitt­stelle zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft verstanden (vgl.Abbildung 26).

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216 UlfSchrader

Wirtschaft Corporate Citizenship

im weiteren Sinn

Zivilgesellschaft Staat

Abbildung 26: Objektbereich des Corporate Citizenship im engeren Sinne (Quelle: Schroder 2003, S. 40)

Ausdruck findet dieses enge Verstandnis von Corporate Citizenship etwa in der Definition der deutschen Bundesregierung (2005, S. 127):

,„Corporate Citizenship' ist ein Teilaspekt von CSR und beschreibt das Engagement von Unter-nehmen zur Losung sozialer Probleme im lokalen Umfeld des Untemehmens und seiner Stand-orte."

Ein ahnliches Begriffsverstandnis zeigt sich explizit oder implizit auch z.B. bei Mutz (2000, 2001, 2002), Schroder (2001), MaaB/Clemens (2002), Backhaus-Maul (2003, 2005) oder Loew et al. (2004) sowie im Abschlussbericht der En-quete-Kommission „Zukunft des burgerschaftlichen Engagements" (2002). Dabei zeichnen sich diese Begriffsabgrenzungen durch eine weitgehende Ver-nachlassigung der intemationalen Corporate Citizenship-Literatur aus.

Konkrete Form nimmt Corporate Citizenship im engeren Sinne vor allem in unterschiedlichen Formen des Corporate Giving (Spenden, Sponsoring) sowie des Corporate Volunteering („Days of Service", Abordnungen, Mentorenpro-gramme) an. Auf besondere Aufmerksamkeit trifft dabei in Deutschland das Corporate Volunteering, da diese in den USA relativ verbreitete Kombination aus Zeitspende und Personalentwicklung hierzulande erst in jungerer Zeit an

Vgl. flir eine Vielzahl praktischer Beispiele zum Corporate Citizenship im engeren Sinne Jan-ning/Bartjes (2000), Damm/Lang (2001), Schoffmann (2001), SPD-Bundestagsfraktion (2001), Braun/Kromminga (2002) oder Habisch (2003, S. 91ft).

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Corporate Citizenship - Eine Innovation? 217

Bekanntheit gewinnt (z.B. Schoffmann 2001; Enquete-Kommission 2002, S. 220f.; Backhaus-Maul 2005).

Der Objektbereich Zivilgesellschaft wird bei diesem Begriffsverstandnis weit ausgelegt und umfasst auch Non-Profit-Organisationen wie beispielsweise Kindergarten, Schulen, Hochschulen oder Krankenhauser, die sich zwar in staatlicher Tragerschaft befinden, jedoch keine hoheitlichen Aufgaben im enge-ren Sinne wahmehmen.

2.2 CC im weiteren Sinne: auch an der Schnittstelle zum Staat

Bezieht das gesellschaftliche Engagement der Untemehmen neben der Schnitt­stelle zur Zivilgesellschaft auch die gesamte Schnittstelle zum Staat mit ein, lasst sich von Corporate Citizenship im weiteren Sinne sprechen (vgl. Abbildung 27).

Wirtschaft Corporate Citizenship

im engeren Sinne

Zivilgesellschaft Staat

Abbildung 27: Objektbereich des Corporate Citizenship im weiteren Sinne (Quelle: Schrader 2003, S 53)

Ein derart abgegrenztes Verstandnis von Corporate Citizenship ist in der Litera-tur selten, wird aber im deutschsprachigen Raum sehr prominent von Ande Habisch vertreten, dem Gninder und Direktor des Center for Corporate Citi­zenship an der Katholischen Universitat Eichstatt-Ingolstadt. Habisch (2003, S. 58) defmiert wie folgt:

„Als untemehmerisches Burgerengagement (Corporate Citizenship) bezeichnet man Aktivitaten, mit deren Hilfe Untemehmen selbst in ihr gesellschaftliches Umfeld investieren und ordnungs-politische Mitverantwortung ubemehmen."

Page 231: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

218 UlfSchrader

Corporate Citizens iibemehmen demnach also nicht nur „Spielverantwortung" im Rahmen gegebener Regeln, sondem auch „Regelverantwortung" (Habisch 2001, S. 5). In der Praxis beteiligen sich Untemehmen ohnehin seit jeher an Forderungen zur Durchsetzung oder Ablehnung veranderter Regeln (Matten et al. 2003, S. 117). Im Sinne eines Good Corporate Citizenship sind diese Aktivi-taten jedoch nicht nur zum Wohl der eigenen Untemehmung, sondem gezielt zur Forderung des Gemeinwohls durchzufuhren. Derartige Formen ordnungspo-litischer Mitverantwortung sind etwa gesellschaftsorientiertes Lobbying zur Weiterentwicklung des rechtlichen Rahmens oder Aktivitaten kollektiver Selbstregulierung der Untemehmen.^ Beispiele fiir politische Mitverantwortung von Untemehmen sind vor allem im intemationalen Kontext relevant, wo auf-gmnd begrenzter Gestaltungsmacht oder -bereitschaft des staatlichen Sektors ein Reguliemngsdefizit entstanden ist (z.B. Scherer/Smid 2000; Matten/Crane 2005). Besonders haufig genannt werden in diesem Zusammenhang die Beteili-gung von Untemehmen an der Global Reporting Initiative zur Fordemng und Standardisiemng des Non-Financial Reporting, bei Transparency International - Globale Koalition gegen Korruption, sowie im Global Compact, der UN-Initiative zur freiwilligen Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards (z.B. Habisch 2003, S. ISlff.; Mcintosh u.a. 2003, S. 106ff.; Schrader 2003, S. 54ff.). Es ist zu betonen, dass in den Bereich des Corporate Citizenship im wei-teren Sinne nur die Mitarbeit bei oben genannten und ahnlichen Initiativen fallt; die Erreichung der dabei aufgestellten Standards durch die Untemehmen ist demgegeniiber in den Bereich des nachfolgend zu beschreibenden Corporate Citizenship im weitesten Sinne einzuordnen.

2.3 CC im weitesten Sinne: auch im Kerngeschdft

Corporate Citizenship im weitesten Sinne betrifft die bewusste Gestaltung samt-licher gesellschaftlich relevanter Auswirkungen der Aktivitaten von Untemeh­men, auch und vor allem im Bereich des Kemgeschafts (vgl. Abbildung 28).

Damit ergeben sich Uberschneidungen zwischen der ordnungspolitischen Mitverantwortung im Rahmen des Corporate Citizenship und den Konzepten der „Untemehmung als strukturpoHti-scher Akteur" (Schneidewind 1998) sowie des „transformativen Marketing" (Belz 2001).

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Corporate Citizenship - Eine Innovation? 219

Wirtschaft

Corporate Citizenship im weitesten Sinne

Zivilgesellschaft Staat

Abbildung 28: Objektbereich des Corporate Citizenship im weitesten Sinne (Quelle: Schrader 2003, S. 60)

Dieses dem Objektbereich nach umfassendste Corporate Citizenship-Verstandnis hat sich in der anglo-amerikanischen Literatur weitgehend durchge-setzt und auch zahlreiche GroBuntemehmen geben an, sich daran zu orientie-ren." Betont wird dabei, dass Untemehmen „are both public and private entities" (Mcintosh u.a. 2003, S. 16). Unter dem Begriff Corporate Citizenship vollzieht die Internationale Debatte damit nach, was der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich bereits 1977 in seiner Dissertation iiber die „GroBuntemehmung als quasi-offentliche Institution" postuliert hat und was er heute in Bezug auf Corporate Citizenship vertritt (Ulrich 2002). Als quasi-offentliche Institution besitzt eine Untemehmung demnach nicht nur Verantwortung fiir ihren wirtschaftlichen

Ein derart weit gehendes Corporate Citizenship-Verstandnis wird z.B. vertreten von Hart (1997), Logan (1998), Marsden/Andriof (1998), Marsden (2000), Maignan/Ferrell (2001), And-riof/McIntosh (2001), Warhurst (2001) oder Mcintosh u.a. (2003). Dabei ist jedoch zu beachten, dass die explizite Auseinandersetzung mit dem Aspekt der ordnungspolitischen Mitverantwor-tung in der englischsprachigen Corporate Citizenship-Literatur oft vemachlassigt wird (Matten etal.2003, S. 113ff.). Vgl. z.B. BP (Browne 2000, S. 23) oder Ford (Kriiger 2003, S. 3ff.). Auch die von den CEOs vieler renommierter GroBuntemehmen getragene Erklarung des World Economic Forum zum Corporate Citizenship betont, dass „a responsible business must move beyond philanthropy and be integrated into core business strategy and practice" (World Economic Forum 2002, S. 2).

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220 UlfSchrader

Erfolg, sondem auch fur die Erzeugung positiver und die Vermeidung negativer extemer Effekte im Hinblick auf Gesellschaft und Okologie.

2.4 Der Innovationsgehalt der beschriebenen CC- Verstdndnisse

Eine Zusammenschau der verschiedenen Begriffsverstandnisse zeigt, dass der Innovationsgehalt der bisherigen Corporate Citizenship-Debatte begrenzt ist (Matten et al. 2003; Matten/Crane 2005). Wahrend es sich beim international vorherrschenden weiten Corporate Citizenship-Begriff weitestgehend um ein Synonym fur CSR bzw. fiir allgemeine gesellschaftliche Verantwortungstiber-nahme von Untemehmen handelt, beschrankt sich das in Deutschland vorherr-schende Verstandnis auf einen abgegrenzten Teil davon (Corporate Giving und Corporate Volunteering). Die synonyme Verwendung von Corporate Citizens­hip und CSR wird von manchen Autoren explizit gemacht (z.B. Pinkston/Carroll 1994, S. 158f.; Andriof/Mclntosh 2001, S. 14f.), andere publi-zieren gleiche Konzepte unkommentiert mal unter dem einen und mal unter dem anderen Begriff (z.B. Maignan/Ferrell 2001, Maignan/Ferrell 2004). Besonders eklatant ist dies bei Archie B. Carroll, bei dem aus den vier Verantwortungsdi-mension („economic", „legar', „ethicar', „discretionary") seines weit verbreite-ten CSR-Konzepts (Carroll 1979) knapp 20 Jahre spater die „four faces of cor­porate citizenship" („be profitable", „obey the law", „engage in social behaviour", „give back through philantropy") werden (Carroll 1998). Auch das z.T. vorfmdbare Argument, Corporate Citizenship unterscheide sich von CSR weniger durch die Breite des Objektbereichs als vielmehr durch eine starkere Ausrichtung an den Geschaftsinteressen im Sinne strategischer Philanthropic (z.B. Fombrun 1997; Windsor 2001; Wieland 2002; Waddock 2004), vermag nicht zu iiberzeugen, da auch in der aktuellen CSR-Diskussion eine Orientie-rung am sog. Business Case vielfach im Zentrum steht (Dyllick/Hockerts 2002; Hansen/Schrader 2005).

Die Beliebigkeit der Begriffsverwendung ergibt sich bei einem engen Cor­porate Citizenship- Verstandnis und einer klaren Unterordnung unter den CSR-Begriff nicht. Allerdings wird auch hier das Innovationspotenzial, das in der Metapher von der Untemehmung als Burgerin steckt, nur unzureichend genutzt. Die Realisierung dieses Potenzials setzt die Beschaftigung mit dem Begriff des Btirgers voraus, die in den meisten Publikationen zum Corporate Citizenship unterbleibt.^

Zu den Ausnahmen gehoren Wood/Logsdon (2001), WeiB (2002) und Moon et al. (2005), deren Uberlegungen weiterfuhrend sind, jedoch kein eindeutiges Corporate Citizenship-Verstandnis beinhalten, sowie Matten/Crane, die aus der liberalen Biirgerschaftstradition ihre spezielle Defi­nition von Corporate Citizenship als „the role of the corporation in administering citizenship rights for individuals" (Matten/Crane 2005, S. 173) ableiten.

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Corporate Citizenship - Eine Innovation? 221

3 Politische Theorie des Burgers als Bezugspunkt von Corporate Citizenship

Die Beschaftigung mit Biirgerschaft und der Kategorie des Burgers hat in der politischen Theorie lange Tradition. Idealtypisch lasst sich die Ideengeschichte in diesem Bereich unterteilen in Republikanismus und Liberalismus. Die in Tabelle 12 zusammengefiihrten zentralen Elemente beider Traditionslinien werden im Folgenden kurz erlautert.^

Tabelle 12: Republikanische und liber ale Burgers chaftstradition in der Ubersicht

Ursprung

Zentrale Theoretiker

Schwerpunkt

Zeichen guter Biirgerschaft

Burgerschaft durch

Republikanismus

Athener PoHs

Aristoteles Rousseau Kommunitaristen (z.B. Etzioni, Putnam, Walzer)

(freiwilHge) Pflichten

Beitrag zum Gemeinwohl

Aktivitat: Teilhabe „am Herrschen und am Beherrschtwerden" (Aristoteles)

Liberalismus

Romische RepubUk

Locke Hobbes Marshall

Rechte

Einhaltung von Gesetzen

Status

3.1 Republikanismus

Die republikanische Tradition hat ihre Wurzeln im antiken Griechenland, insbe-sondere in der demokratisch verfassten Athener Polls der Jahre 462-322 v. Chr. (Arblaster 1994, S. 13ff.). Das damals herrschende Verstandnis des Biirgers (polites) spiegeh sich vor allem in der politischen Philosophic Aristoteles'(3S4-322 V. Chr.) wider. Nach Aristoteles (1989, S. 185 = 1283b) ist ein Btirger „all-gemein der, der Anteil hat am Herrschen und am Beherrschtwerden". Da die Burger sich gegenseitig regieren, wird diese Herrschaft iiber Freie und Gleiche ausgetibt. Ftir Aristoteles (1989, S. 162 = 1277a) ist es die zentrale Tugend (arete) eines jeden Biirgers, „sowohl gut zu herrschen als auch beherrscht wer­den zu konnen" und damit das Gemeinwohl zu mehren. Da „der Mensch von Natur aus ein staatsbezogenes Lebewesen" (Aristoteles 1989, S. 78 = 1252b) sei, bedeute es fiir ihn auch kein Opfer, sondem vielmehr die Verwirklichung

Zu einer ausfiihrlichen Darstellung dieser biirgerschaftlichen Theorietraditionen im Rahmen der Corporate Citizenship-Diskussion vgl. Schrader (2003, S. 7ff.).

Page 235: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

222 UlfSchrader

der Freiheit, seine Schaffenskraft in den Dienst der Polis zu stellen (Aristoteles 1989, S. 300= 1317b).

Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) als zweiter zentraler Theoretiker des Republikanismus stimmt mit Aristoteles darin iiberein, dass die Ausiibung der Btirgerpflichten bzw. -tugenden (vertu) nicht ein Zwang, sondem ein Ausdruck von Freiheit sei (Rousseau 2000 [1762], S. 19). Generell geht Rousseau jedoch von einem dualistischen Menschenbild aus: Als geistig-sittliches Wesen betei-ligt sich der politische Burger (citoyen^) an der Aufstellung von Regeln, die am Gemeinwohl (volonte generale) orientiert sind; als sinnliches Alltagswesen unterwirft er sich dann diesen Regeln, die durch die Regierung durchgesetzt werden (Fetscher 1985, S. 485ff.).

In der Gegenwart wird die republikanische Begriindungstradition des Biir-gertums vor allem von den sog. Kommunitaristen bzw. Kommunitariem vertre-ten (z.B. Heater 1999, S. 70ff.). Das Programm der Kommunitarier formuliert einer ihrer Wortfiihrer, Amitai Etzioni, wie folgt: „Die Kommunitarier fordem die Riickbesinnung auf die staatsbiirgerlichen Tugenden. Statt nur auf ihre Recht zu pochen, sollten sich die Menschen wieder auf ihre Pflichten besinnen" (Etzioni 1996, S. 42). Die kommunitaristische Bewegung versteht sich dabei als Gegengewicht zu der in westlichen Demokratien in den letzten 200 Jahren vor-herrschenden liberalen Tradition (Heater 1999, S. 4). Ihr geht es darum, das Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten wieder neu zu justieren, was nach ihrer Meinung in westlichen Gesellschaften durch Uberbetonung der Rechte zerstort worden sei. Kennzeichnend fur den Kommunitarismus ist, dass er weniger das Verhaltnis der Biirger zum Staat, sondem vielmehr das Verhalt-nis der Biirger untereinander in den Mittelpunkt stellt. Durch biirgerschaftliches Engagement sollen temporare oder systematische Mangel der Sicherung des Gemeinwohls durch den Staat kompensiert werden (Stokes 2002, S. 34ff.).

Zusammenfassend lasst sich also sagen, dass im Zentrum des republikani-schen Verstandnisses des Biirgers dessen Pflichten bzw. dessen innere Ver-pflichtungen gegeniiber seinem Gemeinwesen stehen. Diesem aktiv zu dienen und damit das Gemeinwohl zu mehren, wird als zentrale staatsbtirgerliche Tu-gend angesehen. Wer seine Mitwirkungsrechte nicht durch Aktivitdt im Sinne eines good citizenship praktiziert, ist letztlich auch kein voUwertiges Mitglied des Gemeinwesens (Oldfield 1990; Baubock 1999, S. 8).

^ Rousseau unterscheidet zwischen dem citoyen, der die politische Biirgerschaft als Tugend lebt, und dem bourgeois, der seine Biirgerschaft nur als Rechtszustand betrachtet (Rousseau 2000 [1762], S. 191f.).

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Coq3orate Citizenship - Eine Innovation? 223

3.2 Liberalismus

Als Ausgangspunkt der liberalen Tradition gilt das Burgerschaftsverstandnis der romischen Republik im 1. Jahrhundert n. Chr., wo erstmalig eine umfassende Formalisierung von Rechten und Pflichten vorgenommen wurde. Gute Biirger-schaft driickte sich dabei in erster Linie in der Einhaltung von Gesetzen aus (Stokes 1999, S. 8). Der Burger wurde primar als Rechtssubjekt {homo legalis) statt als Sozialwesen {zoon politikon) wie bei Aritoteles betrachtet (Pocock 1992, S. 40ff.; Delanty 2000, 1 If.).

Trotz dieser frtihen Wurzeln gelten als eigentliche Begrtinder der bis heute einflussreichen liberalen Burgerschaftstheorie erst Thomas Hobbes (1588-1679) und John Locke (1632-1704). Beide argumentieren, dass es gerechtfertigt sei, Menschen ihre Freiheit durch die Errichtung einer Regierung zu beschranken, da dies der einzige Weg sei, urn ihnen Biirgerrechte zu gewahren. Da jeder Mensch physisch in der Lage sei, einen anderen zu toten, waren die Menschen laut Hobbes (1998 [1651], S. 115) ohne starke Regierung einander in einem „Krieg aller gegen alle" schutzlos ausgeliefert. Fiir Locke (1983 [1689], S. 97 = § 127) ist die Sicherung der Triade Leben, Freiheit und Eigentum „das ur-spriingliche Recht und der Ursprung" des Staates. Um tiberhaupt frei leben zu konnen, sei es notwendig, einen Teil der personlichen Freiheit an den Staat abzutreten. Liberale Biirgerrechte implizieren gemaB Hobbes und Locke aber nicht nur, dass die Regierung ihre Bevolkerung vor Gewalt durch andere schiitzt, sondem insbesondere auch, dass sie selbst sich bei der Einflussnahme auf das Leben der Menschen zurtickhalt. Von daher stehen traditionell die sog. negativen Rechte im Mittelpunkt des liberalen Burgerbegriffes, also Rechte auf Nicht-Eingriff in die Freiheit der Biirger.

AUerdings hat insbesondere Thomas H. Marshall die liberale Tradition um positive Rechte erweitert. In seinem intensiv rezipierten Essay „Citizenship and social class" (Marshall 1994 [1949]) zeigt er, dass zumindest in England die traditionellen, seit dem 18. Jahrhundert etablierten zivilen Biirgerrechte (insb. Recht auf Eigentum, Meinungsfreiheit und Organisationsfreiheit) im 19. Jahr­hundert erganzt wurden um politische Biirgerrechte (insb. aktives und passives Wahlrecht) und im 20. Jahrhundert um sozial-okonomische Burgerrechte (insb. Gesundheitsschutz, Bildung und Armutsabsicherung). Er folgt damit der Auf-fassung, dass zur Freiheit des Biirgers nicht nur die Freiheit vor Ubergriffen des Staates, sondem auch die Freiheit zur Mitgestaltung des Staates und die Befrei-ung von materiellen Notlagen gehort. Heute wird allerdings z.T. die Frage ge-steUt, inwieweit sozial-okonomische Biirgerrechte tatsachlich die individuelle Freiheit erhohen, oder ob sie nicht zu einem Wohlfahrtstaat gefiihrt haben, der als „nanny state" Abhangigkeit und Fremdbestimmtheit erhoht (Heater 1999, S. 24ff.).

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224 UlfSchrader

Fasst man die genannten Ideen zusammen, dann betont die liberale Tradition insbesondere die Rechte der Burger. Ziel ist vor allem eine moglichst weitge-hende Freiheit des Einzelnen. Das Staatswesen ist nur deshalb zu unterstiitzen, weil es dazu dient, die individuelle Freiheit zu sichem (Stokes 1999, S. 9). Die Biirgerpflichten beschranken sich weitgehend auf die Beachtung der herrschen-den Regeln. Die Zuweisung der Biirgerschaft bedarf deshalb keines daruber hinaus gehenden spezifisch guten burgerschaftlichen Verhaltens {good citizens­hip) (Baubock 1999, S. 3), sondem erfolgt qua Status (Oldfield 1990).

4 Ableitung einer Corporate Citizenship-Definition aus der Biirgerschaftstheorie^

Eine Konstante in beiden biirgerschaftlichen Begrtindungstraditionen ist, dass sich die Kategorie des Bixrgers bisher immer nur auf natiirliche Personen bezog. Zwar wurden im Laufe der Zeit Beschrankungen des Btirgerstatus aufgrund von Stand, Vermogen, Geschlecht und Alter im Zuge eines sich verallgemeinemden Demokratieverstandnisses nach und nach gelockert oder aufgegeben (Oli­ver/Heater 1994, S. 17; Enquete-Kommission 2002, S. 33). Die Anwendung des Btirgerbegriffs auf Organisation wurde jedoch erstmals in Bezug auf Corporate Citizenship diskutiert. Deshalb transportiert auch die Metapher von der Unter-nehmung als Burger das Bild einer handelnden Person (Moon et al. 2005). Die Nutzung eines solchen Bildes ist aber nur dann legitim, wenn die betreffende Untemehmung tatsachlich erfolgreich um eine konsistente Unternehmensidenti-tdt bemuht ist. Insbesondere fiir GroBuntemehmen, die oft mehrere tausend natiirliche und viele juristische Personen umfassen und in denen gleichzeitig an verschiedenen Standorten weltweit gehandelt und unterlassen wird, stellt dies eine betrachtliche Herausforderung dar (z.B. Nkomo/Cox 1996; Matten et al. 2003, S. 115f). Wenn die konsistente Untemehmensidentitat Voraussetzung fiir die legitime Verwendung des Corporate Citizenship Begriffs ist, bedeutet dies auch, dass sich Corporate Citizenship nicht auf erganzende Wohltatigkeit an der Schnittstelle zur Zivilgesellschaft beschranken darf, sondem das Kemgeschaft mit all seinen sozialen und okologischen Neben- und Folgewirkungen umfassen muss (Logan 1998, S. 68). Gleichzeitig hat dies auch Konsequenzen fiir das Corporate Citizenship im engeren Sinne, also auf Spenden, Sponsoring und Volunteering, die im Sinne einer konsistenten Untemehmensidentitat ebenfalls einen Bezug zum Kemgeschaft haben soUten (Habisch 2003, S. 95f). Demnach ware bspw. fiir einen Automobilhersteller die fmanzielle Fordemng von For-schung zur Zukunft der Mobilitat angemessener als etwa eine Spende fiir Tier-schutz.

Zu einer ausfuhrlicheren Fassung der hier prasentierten Ableitung einer Corporate Citizenship Definition vgl. Schrader/Sandstrom (2005).

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Corporate Citizenship - Eine Innovation? 225

Die Ableitung weiterer Bedingungen einer legitimen Verwendung der Cor­porate Citizenship- Metapher ist an die Theorietradition gekniipft, auf die Bezug genommen wird. Nimmt man die offentlichen Verlautbarungen der Untemeh-men, die sich selbst als Corporate Citizens verstehen, emst (Beschomer 2005, S. 41), so geht es ihnen in ihrer groBen Mehrheit um freiwillige Aktivitaten, mit denen ein Beitrag zum Gemeinwohl geleistet werden soil. Das Einfordem eines neuen Status und damit verkniipfter Rechte findet sich allenfalls in Ausnahme-fallen. Damit stellt der Republikanismus den angemessenen Bezugspunkt fur die weitere Betrachtung dar.

Zentrales Ziel republikanisch btirgerschaftlicher Aktivitat ist eine Mehrung des Gemeinwohls. Ubertragen auf Untemehmen kann damit nicht die Vorstel-lung von Corporate Citizens als karitative Organisationen verbunden sein, wohl aber die Forderung nach einer Gemeinwohlorientierung als Ziel an sich und nicht nur als Mittel zur Erreichung betriebswirtschaftlicher Zwecke (Ulrich 2002, S. 274ff.). In der Praxis bedeutet dies, das gesellschaftliche Engagement nicht nur auf sichere, offensichtliche und kurzfristig zu erreichende Win-Win-Situationen zu beschranken, sondem die Schnittmenge zwischen betrieblichen und gesellschaftlichen Zielen durch gezielte und auch langfristig ausgerichtete Handlungen bestandig zu erweitem. Dies erfordert entsprechende Kompetenzen im Management und die Fahigkeit und Bereitschaft zur Kooperation mit ande-ren Akteuren.

MaBnahmen zur Forderung des Gemeinwohls fmden nicht nur innerhalb ei­nes gegebenen Rahmens statt, sondem konnen auch dessen Anderung selbst betreffen. Gute Burger haben - wie oben beschrieben - teil „am Herrschen und am Beherrschtwerden". Fiir Corporate Citizens kann dies nicht durch Ausiibung des aktiven und passiven Wahlrechts erfolgen, wohl aber durch die im Rahmen des Corporate Citizenship im weiteren Sinne beschriebene politische Mitver-antwortung, also die Beteiligung an der gemeinwohlorientierten Weiterentwick-lung des Regulierungsrahmens durch Lobbying und Selbstregulierung.

Wenn Untemehmen als Corporate Citizens politische Mitverantwortung und damit Aufgaben iibemehmen, die traditionell staatlichen Institutionen zukom-men, dann lasst sich daraus auch die Fordemng nach einem erweiterten MaB an Rechenschaftspflichtigkeit ableiten, das heute fur Regiemngen in demokratisch verfassten Gesellschaften selbstverstandlich ist (Matten et al. 2003, S. 118; Matten/Crane 2005, S. 175f). Wahrend zur Zeit von Aristoteles die fur ihn zentrale Transparenz btirgerschaftlicher Aktivitat schon durch die Begrenztheit des Stadtstaates sichergesteUt war (Aristoteles 1989, S. 332 - 1326b), bedeutet dies fiir modeme Corporate Citizens eine umfassende und aktive Informations-offenheit etwa durch entsprechendes Non-Financial-Reporting, Stakeholder-Dialoge und die Teilnahme an CSR-Tests und -Ratings (Schoenheit 2005). Derartige MaBnahmen sind gleichzeitig sowohl integraler Bestandteil von Cor-

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226 UlfSchrader

porate Citizenship als auch Kommunikationsinstrumente zur Forderung des betriebswirtschaftlichen Erfolgs des gesellschaftlichen Engagements.

Abbildung 29 gibt noch einmal einen LFberblick iiber die aus der Btirger-schaftstheorie ableitbaren Bedingungen einer legitimen Obertragung des Biir-gerbegriffs auf Untemehmen.

Elemente des republikanischen Bedingungen einer legitimen Citizen-Begriffs Corporate Citizenship-IVIetapher

Burger = Mensch Konsistente Unternehmensidentitat Bezug zum Kerngeschaft

Mehrung des Gemeinwohls ^ Gemeinwohlorientierung als hochstes Ziel nicht nur als Mittel zum Zweck

Teilhabe „am Herrschen und ^ o i*- u KA*. * ^ _ . . . . „ ^x: • Politische Mitverantwortung

am Beherrschtwerden \ ^ ^

Umfassende Rechenschaftspflichtigkeit

Abbildung 29: Ableitung von Bedingungen einer legitimen Corporate Citizenship-Metapher

Uberfiihrt man die beschriebenen Bedingungen in eine Definition, dann be-zeichnet Good Corporate Citizenship eine untemehmerische Praxis, die

•=> mit einer konsistenten Unternehmensidentitat verknupft ist und von daher auch im Kerngeschaft zum Ausdruck kommt,

^ eine Mehrung des Gemeinwohls als Ziel an sich verfolgt und aktiv nach Entdeckung und Schaffung von Win-Win-Sitationen zwischen offentlichen und privaten Zielen strebt,

•=> Mitverantwortung flir die politische Rahmenordnung beinhaltet, und •=> sich in umfassender Rechenschaftslegung ausdruckt und diese beinhaltet.

Nur Untemehmen, die diese vier Bedingungen erfiillen, diirften sich demnach Good Corporate Citizens nennen.

5 Fazit und Ausblick

In diesem Artikel wurde eine Corporate Citizenship Definition entwickelt, die sich aus der politischen Theorie des Burgers ableitet. Diese Definition beinhal­tet anspruchsvolle Bedingungen fiir eine legitime Anwendung des Biirgerbeg-riffs auf .Untemehmen. Vermutlich ist die Zahl der Untemehmen, die diese

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Corporate Citizenship - Eine Innovation? 227

Bedingungen gegenwartig erfuUen und die deshalb als Good Corporate Citizens bezeichnet werden konnen, relativ gering. Dieser Beitrag ist jedoch nicht zu verstehen als normative Forderung, Untemehmen mogen doch bitte die oben beschriebene Rolle als Corporate Citizen iibemehmen. Ausgangspunkt war vielmehr das empirisch feststellbare Bekenntnis zu diesem Begriff, aus dem sich erst die Frage nach Bedingungen einer legitimen Anwendung ergab. Allerdings lasst sich sehr wohl diskutieren, ob Untemehmen Corporate Citizenship gemaB der hier vorgeschlagenen Definition praktizieren wollen, konnen und sollen. Zumindest der Wille zur offenen Ubemahme politischer Mitverantwortung fur die Weiterentwicklung der Rahmenordnung wird von einigen Untemehmen offen bestritten (z.B. Idahosa 2002, S. 235) und auch die Bereitschaft zu einer breiten Rechenschaftslegung ist - durchaus aus guten GrUnden - begrenzt (Schrader et al. 2005). Was die Fahigkeit zur Ausiibung des oben definierten Corporate Citizenship angeht, so bestehen Zweifel etwa hinsichtlich der Kom-petenz von Untemehmen zur Identifikation und Fordemng von Gemeinwohlin-teressen (z.B. Wieland 2002, S. 15). Daran kniipfen auch Bedenken im Hinblick auf die Wiinschbarkeit eines starkeren untemehmerischen Engagements von Corporate Citizens an. Es kann weder aus gesellschaftlicher noch aus betriebs-wirtschaftlicher Sicht das Ziel sein, die Charakteristika der Sektoren Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Staat zu nivellieren und Untemehmen Allzustandigkeit zukommen zu lassen (z.B. Enquete-Kommission 2002, S. 222f.). Es bedarf also der weiteren Diskussion, wo hier Grenzen und Chancen sind.

Aktuell ist zudem zu fragen, ob die Begriffskarriere eines weit definierten Corporate Citizenship nicht ohnehin vor dem Aus steht. Noch sind es nur erste weiche Signale: So berichtet etwa Siemens, einer der Protagonisten der Corpo­rate Citizenship Debatte in Deutschland, iiber seine umfassenden gesellschafts-orientierten Aktivitaten seit 2003 nicht mehr in einem „Corporate Citizenship Report", sondem in einem „Corporate Responsibility Report". Wie oben gese-hen betrachtet auch die deutsche Bundesregiemng Corporate Citizenship nur als einen untergeordneten Aspekt von CSR. Und auf EU-Ebene wird fur ein umfas-sendes Verstandnis des gesellschaftlichen Engagements von Untemehmen e-benfalls ausschlieBlich der Begriff CSR verwendet (z.B. EU-Commission 2002). Es ist von daher durchaus* denkbar, dass sich das verktirzte deutsche Corporate Citizenship-Verstandnis langfristig auch intemational durchsetzen und der Begriff folglich auf Corporate Giving und Corporate Volunteering begrenzt werden wird. Damit ware zwar die Beliebigkeit in der Verwendung der Begriffe Corporate Citizenship und CSR beendet, aber die Chance auf neue Impulse durch eine bewusste und legitime Ubertragung des Biirgerbegriffs auf Untemehmen vertan. Denn der Rtickgriff auf die btirgerschaftliche Theorietra-dition dient nicht nur der akademischen Begriffsklamng, sondem beinhaltet auch Innovationspotenzial. Corporate Citizenship emst genommen bedeutet, nicht nur neue Worte zu verwenden, sondem sich auch Handlungen zuzuwen-

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228 UlfSchrader

den, die bisher in betriebswirtschaftlicher Wissenschaft und Praxis kaum offen diskutiert wurden. Es bedeutet, die Untemehmung nicht nur als wirtschaftli-chen, sondem auch als politischen Akteur ganzheitlich ins Blickfeld zu nehmen. Themen wie gesellschaftsorientierte Transparenz und ordnungspolitische Mit-verantwortung sind im Zeitalter der Globalisierung zentral und verdienen es, in den Mainstream betriebswirtschaftlichen Denkens aufgenommen zu werden. Die Debatte um Corporate Citizenship konnte fiir diese Entwicklung ein Kataly-sator sein.

Aber selbst wenn Corporate Citizenship auf das in Deutschland vorherr-schende enge Begriffsverstandnis von Corporate Giving und Corporate Volun­teering beschrankt bliebe, konnen von den beriicksichtigten MaBnahmen inno­vative Impulse ausgehen. Wie verschiedene Analysen zeigen, fflhrt der verstarkte Austausch zwischen Untemehmen und zivilgesellschaftlichen Akteu-ren oftmals zu wertvoUen Lem- und Entwicklungsprozessen auf beiden Seiten (Backhaus-Maul 2003; Damm/Lang 2001; Mutz 2001; Schoffmann 2001). Corporate Volunteering an sich kann bereits als innovatives Instrument der Personalentwicklung gesehen werden. Im Idealfall konnen die gemachten Er-fahrungen darliber hinaus in den beteiligten Institutionen auch konkrete Pro-zess- Oder Produktinnovationen anstoBen. Inwieweit dabei Beitrage zu mehr Nachhaltigkeit geleistet werden, hangt von den jeweiligen Tatigkeitsfeldem und MaBnahmen ab. Zwar fmdet sich in der Literatur zu Corporate Citizenship im-mer wieder der Verweis auf Nachhaltigkeit als zentrales Ziel (z.B. Fombrun 1997; Hart 1997; Marsden/Andriof 1998, S. 331f; Marsden 2000; Warhurst 2001, S. 60ff; Kriiger 2003, S. 3). Inwieweit dieser Anspruch in der Praxis verwirklicht wird, ist jedoch von Fall zu Fall sehr unterschiedlich einzuschat-zen.

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Beitrage des okonomischen (Alt-)Institutionalismus fiir ein Management und eine Theorie des Managements nachhaltiger Innovationen

Ralf Antes

1 Einleitung

Der okonomische (Alt-)Institutionalismus ist in der Betriebswirtschafts- und Managementlehre im Allgemeinen und der Lehre des Innovationsmanagements im Besonderen nach Wissen des Verfassers kaum bzw. nicht rezipiert. Gleich-wohl liefert der okonomische Institutionalismus Erkenntnisse, die fiir ein Mana­gement von Innovationen und insbesondere fiir ein Management nachhaltiger Innovationen finchtbar gemacht werden konnen.

Neben dem allgemeinen Beitrag einer starkeren theoretischen Fundierung zahlt dazu konkret erstens die Ausarbeitung einer in Bezug auf technische Ver-anderungen (Innovationen) widerstreitenden Wirkung von Institutionen („cere-monial-instrumental dichotomy"; Kap. 2). Ein zweiter potenziell wesentlicher Beitrag des okonomischen Institutionalismus besteht in der inhaltlich-materiellen Reflexion von Innovationsfolgen auf Basis einer institutionalisti-schen Werttheorie („Theory of instrumental Value"; Kap. 3).

2 Von widerstreitenden Innovationswirliungen von Institutionen zu einem Institutionenmanagement fiir naclilialtige Innovationen

2.1 Begriffskldrungen: Institution und Innovation

Institution: Der Institutionenbegriff wird in der Literatur ausgesprochen facet-tenreich definiert. Dabei sind sowohl Gemeinsamkeiten iiber unterschiedliche Institutionentheorien hinweg als auch Unterschiede innerhalb gemeinsamer Theoriestrange erkennbar. Bei aller Unterschiedlichkeit der Definitionen im Detail wird aber doch als gemeinsame Basis die Erkenntnis sichtbar, dass Insti­tutionen Verhalten pragen: Sie orientieren, sanktionieren und legitimieren. Sie tun dies als Verhaltenserwartungen, deren (von anderen wahrgenommene) Er-fiillung wie Nicht-Erfiillung (positiv, negativ) sanktionierbar ist. Eine wesentli-che Form von Institutionen sind somit die von der Neuen Institutionenokono-mik ins Zentrum geriickten - formalen wie informalen - Regeln in Verbindung mit Mitteln zu ihrer Durchsetzung. North (1992: 4) oder Richter/Furubotn (2003: 7) sprechen daher knapp von „Spielregeln", Dietl von „sanktionierbaren

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Verhaltenserwartungen" (Dietl 1993: 38; ahnlich Picot/Dietl/Franck 1999: 11). Verhaltenserwartungen kann der okonomische Akteur in Form von Selbstbin-dungen aber auch an sich selbst richten. Sanktionswahrung ist dann die Selbst-achtung.^ SchlieBlich konnen auch - darauf stellen vor allem der organisations-soziologische Neo-Institutionalismus und der hier zu untersuchende okono­mische Institutionalismus ab - unhinterfragte Routinen und Traditionen (verfestigte, weil erfolgreiche Verhaltensmuster), Ideale oder Grundiiberzeu-gungen Institutionen darstellen, wenn Sie als Verhaltenserwartung an andere oder von anderen (Transaktionspartner, Stakeholder, Natur^) adressiert werden. Sanktionswahrung hier ist die Gewahrung oder die Nicht-Gewahrung bzw. der Entzug existenziell notwendiger Ressourcen (z. B. Produktionsfaktoren, Kapi-tal, Legitimitat, Naturleistungen).

Innovation: Mit Schumpeter sei unter Innovation umfassend die „Durchset-zung neuer Kombinationen" (1987/1911: 100) verstanden. Schumpeter hat dabei Produktionsmittel im Blick, verengt aber nicht - wie haufig in der Innova-tionsokonomik und im Innovationsmanagement beobachtbar - auf Technik, sondem bezieht explizit auch sozial-organisatorische, institutionelle Innovatio-nen mit ein.

2.2 Innovationsmanagementlehre: Betonung der Verdnderungsresistenz von Institutionen

„...institutions affect innovations ... This perspective is not very common in institutionalist the­ory. ... It is not a common perspective in innovation theory either." (Edquist/Johnson 1997: 51)

Die Innovationswirkung von Institutionen ist kein explizites oder gar vorrangi-ges Erkenntnisobjekt der Innovationsmanagementlehre. Zum einen kann dies -von einzelnen Themen, wie der Patentierung und Lizenzvergabe, abgesehen -auf eine weitgehende Enthahsamkeit des Innovationsmanagements von institu-tionentheoretischen Fundierungen zurtickgefuhrt werden.^ Zum andem aber wird Institutionen als Verkorperung von Wissen, Erfahrungen, Normen und Werten der Vergangenheit eher eine gewisse Resistenz, mindestens Tragheit ge-geniiber Veranderung attestiert. Wenn die Wirkung von Institutionen aufgegrif-fen wird, dann uberwiegend als Innovationshemmnis, wobei die ambivalente Wirkung von Institutionen durchaus bewusst ist. So fragte Harhoff in einem Plenarvortrag auf der diesjahrigen Jahrestagung des Verbandes der Hochschul-lehrer fur Betriebswirtschaft: „Patente - Segen oder Fluch fiir Innovationen?"

Vgl. dazu die verschiedenen Inhaltstheorien der Motivation. ^Zur Natur als Institution wirtschaftlicher Aktivitaten vgl. Antes 2005: 69-74; 2006: Kap. 2.3. ^Die diesjahrige Jahrestagung des Verbandes der Hochschullehrer fur Betriebswirtschaft hatte

deshalb als Tagungsthema „Innovation und Institution", als institutionentheoretischen Beitrag vgl. Franck 2005, der auf die Neue Institutionenokonomik abstellt. Zur Verbindung Innovati­onsmanagement - NIO vgl. auch den Uberblick bei Burr 2004.

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Beitrage ... fiir eine Theorie des Managements nachhaltiger Innovationen 235

Ein anschauliches Beispiel bietet auch die Forschung zu einem prominenten Konzept, der Pfadentwicklung. Ein klarer Schwerpunkt liegt auf der - passiven - Pfadabhangigkeit von Innovationen. Dabei geht es um die technische-institutionelle Markt-Verriegelung fflr tiberlegene, z. B. effizientere, Inventio-nen (vgl. Ackermann 2001), etwa - um nur die prominentesten in der Literatur behandelten Beispiele anzufiihren - um Altemativen zur Qwerty-Tastatur und zum VHS-Videosystem. Eine verschwindend geringe Literatur fmdet sich da-gegen zur - aktiven - Pfadbrechung und -gestaltung (als Ausnahme Garud/ Kam0e2OOl).

„Anders als die Erforschung der Pfadabhangigkeit befindet sich die Forschung zur Brechung von Pfaden und zur Pfadkreation noch ganz am Anfang." (Schreyogg/Sydow/Koch 2003: 287)

Schreyogg/Sydow/Koch zeigen dagegen, dass die Durchsetzung des VHS-Videosystems nicht nur als Verriegelung fiir die konkurrierenden Systeme Beta und Video 2000 interpretiert werden kann, sondem vor allem auch als Pfadkrea­tion, d. h. als Institutionenmanagement fur die Durchsetzung des VHS-Systems (2003: 283f). Ein drittes Beispiel schlieBlich bietet das wohl einschlagigste Lehrbuch zum Innovationsmanagement. In Abschnitt 4.4 „Verstarkung des [personalen, R.A.] Widerstandes durch Eigendynamik der Administration" formuliert Hauschildt kraftvoll:

„Innovationen haben ein Geflecht von Geboten und Verboten zu iiberwinden, die innerbe-trieblich als Organisations- und Controllingsysteme konstituiert sind. Hierarchien und Cont­roller sind latent innovationsfeindlich - so jedenfalls die Ansicht vieler Innovatoren. In der Tat sprechen die folgenden Uberlegungen dafur, dass eine wohlgeordnete Administration in ihrem sachgerechten Funktionieren Innovationen nicht fordert, sondem sogar behindert." (Hauschildt 2004. 181; i. Original z. T. fett, R.A.)

Der Begriff der Institution wird zwar nicht explizit gebraucht, aber implizit tiber die angesprochenen - innovationsfeindlichen - Spielregeln der Organisation. Dann aber - wiederum implizit - sieht Hauschildt in der Institutionalisierung auch eine Stiitze des Innovationsmanagements, wenn er defmiert:

„Innovationsmanagement ist .. dispositive Gestaltung von Innovationsprozessen." (Hauschildt 2004: 30)

Zur dispositiven Gestaltung gehort zweifellos das Setzen von „Regeln (Nor-men) einschlieBlich der Vorkehrungen zu deren Durchsetzung"; das ist die oben bereits vorgebrachte Institutionendefinition von Richter/Furubotn (2003: 7).

' Inzwischen wurde unter maBgeblicher Beteiligung der Autoren an der FU Berlin ein DFG-GraduiertenkoUeg „„Pfade organisatorischer Prozesse" gestartet; vgl. http://www.pfadkolleg.de.

Hauschildt verwendet den Begriff Institution in Verbindung mit Innovationsmanagement auch explizit, allerdings in einem organisationsstrukturellen Sinne als „Trager der betrieblichen

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236 Ralf Antes

Entsprechend widmet Hauschildt der „Steuerung" und der „Evaluierung von Innovationsprozessen" zwei umfangliche Kapitel (2004: 439-543). Und weiter-hin spricht er bei der Diskussion der klassischen Dichotomie ,or-ganische/mechanistische Struktur' von Bums/Stalker ausdriicklich von der „Unterschatzung der Flexibilitat mechanistischer Strukturen" (2004: 106):

„Auch mechanistische Strukturen konnen innovativ sein. Offenbar finden sich auch in me-chanistischen Strukturen Wege und Moglichkeiten, uber neuartige Ideen zu entscheiden und diese durchzusetzen. Es ist dabei nicht ausgeschlossen, dass die mechanistische Struktur der In­novation grofieren Widerstand entgegensetzt als eine organische. Aber sie entwickeh vielleicht auch spezifische Techniken, um die Widerstande zu iiberwinden." (Hauschildt 2004: 106)

Wer sich mit Innovationen befasst, landet zwangslaufig und relativ schnell beim Thema der Innovationswiderstande. Dies mag die entstandene nach wie vor uberwiegende Sicht auf - haufig nicht als solche explizit bezeichnete - Institu-tionen als Innovationsbremse erklaren. Die angefuhrten Beispiele machen ande-rerseits deutlich, dass die Innovationsmanagementlehre sich der dichotomen Innovationswirkung von Institutionen sehr wohl und zunehmend bewusst wird. Diese dichotome Wirkung wird noch weiter plausibel, wenn man einer Auffas-sung folgt, die Organisationen als Biindel von Institutionen - etwa, wie in der Neuen Institutionenokonomik, als Biindel von Vertragen - auffasst, als institu-tionelle Arrangements: Wenn Organisationen, Untemehmen z. B., Innovationen hervorbringen konnen, dann konnen das somit auch institutionelle Arrange­ments. Hayek (1969) bezeichnet Marktwirtschaft und Wettbewerb als Entde-ckungsverfahren; in der Studie „Institutionelle Reformen fur eine Politik der Nachhaltigkeit" wird auch die Demokratie als Entdeckungsverfahren bezeichnet (Minsch u. a. 1998: 102). Beides, Marktwirtschaft/Wettbewerb und Demokratie sind aber institutionelle Ordnungen, deren Besonderheit offenbar gerade in der Hervorbringung von Innovationen besteht! Woran es noch mangelt, ist eine Analyse- und Gestaltungs-Heuristik, die diese Januskopfigkeit von Institutionen konzeptionell einzufangen in der Lage ist. Der zeitgenossische okonomische Institutionalismus halt mit der intra-institutionellen Dichotomie eine solche Heuristik moglicherweise parat, wenn man sie noch etwas weiter iiber den ge-genwartigen Stand hinaus entwickelt.

2.3 Okonomischer Institutionalismus

Der okonomische Institutionalismus ist auch deshalb lehrreich, weil er keines-falls von Anbeginn an eine solche dichotome Innovationswirkung von Instituti­onen vertreten hat. Vielmehr hat er zunachst eine Gegensatzlichkeit zwischen Innovation und Institution aufgebaut (Technik-Institutionen-Dichotomie) - ein

Macht" (2004: 29) und unterscheidet zwischen dieser Institution des (Innovations-)Manage-ments und dessen Funktion, der dispositiven Gestaltung.

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Beitrage ... fiir eine Theorie des Managements nachhaltiger Innovationen 237

Verstandnis, wie wir es heute noch haufig in der Volks- und Betriebswirt-schaftslehre vorfinden. Und er hat diese zwischenzeitlich sogar noch einmal radikalisiert. Die Einsicht in die begrenzte Erklarungskraft solcher Einseitigkeit fur zahlreiche beobachtete Phanomene hat dann aber einer Auffassung zum Durchbruch verholfen, die widerstreitende Innovationswirkungen und -funktionen als inharentes Element von Institutionen versteht. Dies sei im Fol-genden auch als intra-institutionelle Dichotomie oder als Januskopfigkeit be-zeichnet. Auf beide Konzeptionierungen, die Technik-Institutionen-Dichotomie (2.3.1) und die intra-institutionelle Dichotomie (2.3.2), wird nachfolgend einge-gangen^, und die Ertrage der Letzteren fur ein nachhaltiges Innovationsmana-gement werden aufgezeigt (2.3.3).

2.3.1 Technik-Institutionen-Dichotomie: Institutionen als Innovationsbremse

Die kulturelle Hoherentwicklung von Gesellschaft ist das zentrale Erkenntnis-objekt des Institutionalismus. Fiir dessen Forschungsprogramm resultier(t)en daraus zwei folgerichtige Schwerpunktsetzungen. Erstens setzt das Erkennen von „hoher" eine Wertung und diese wiederum einen WertmaBstab voraus. Ein zentrales Anliegen war und ist deshalb die Entwicklung einer institutionalisti-schen Werttheorie (s. Kap. 3). Zweitens interessieren die Krafte zentral, die eine gesellschaftliche Hoherentwicklung befordem oder ihr entgegenstehen. Seit Veblen, also seit der ersten Generation des US-amerikanischen Institutionalis­mus, wurden der Technik und den Institutionen diese Krafte zuerkannt. Die Zuweisung erfolgte zunachst ausgesprochen einseitig und mlindete in der Di­chotomie Technik versus Institutionen. Gesellschaftliche Wohlfahrt und Hoher­entwicklung ist in der Auffassung von Veblen eine Funktion technischen Fort-schritts („advance in technical methods"; Veblen 1994/1899: 195), also technischer Innovationen. Ihnen entgegen stehen Institutionen: das sind „in erster Linie weitverbreitete Denkgewohnheiten" (Veblen 2000/1958: 186). Denn sie

„sind ... Ergebnisse eines vergangenen Prozesses, sie sind angepaBt an vergangene Umstande und konnen daher niemals voUig mit den Erfordemissen der Gegenwart iibereinstimmen." (Veblen 2000/1958: 186)

Verbunden mit den Mtihen und Risiken von Veranderung resultiert daraus eine auf die Fortschreibung bestehender Verhaltnisse gerichtete konservative Grund-haltung („gesellschaftliche und psychologische Tragheit"; Veblen 2000/1958: 187). Institutionen bleiben demnach tendenziell hinter dem bereits erreichten

Vgl. auch die Ubersichten und Zusammenfassungen bei Waller 1982; Reuter 1996: v.a. 256-269.

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238 Ralf Antes

Stand technischer Zivilisation zuriick^ und konnen, da sie sich nicht aus sich selbst heraus andem, auch sinnentleert weiterbestehen (vgl. Reuter 1996: 218-220). Impulse fiir den Wandel tiberkommener Institutionen gehen nach Veblen maBgeblich vom technischen Fortschritt aus, d. h. der entmystifizierenden Wir-kung der Verbreitung technisch-rationalen-, Ursache-Wirkungs-Denkens.

Die im zeitgenossischen Innovationsmanagement noch vorherrschende skeptische Grundhaltung gegentiber Institutionen und die Konzentration auf technische Innovationen findet sich demnach bereits bei dem Institutionalisten Veblen. Sie ist hier zum ersten Mai in der Okonomik grundlegend ausgearbei-tet.

Im Gegensatz zu seinem Schiller Ayres sieht Veblen allerdings weder in In­stitutionen etwas ausschlieBlich Negatives - er schreibt ihnen eine Entlastungs-funktion zu^ - noch sieht er in technischem Fortschritt etwas ausschlieBlich Positives - wenn dieser namlich von partikularen Interessen missbraucht wird. Reuter interpretiert die Institutionenkritik von Veblen deshalb dahingehend, dass Institutionen, sollen sie zum Nutzen einer Gesellschaft sein, aufgrund der Dynamik technischer Entwicklung kontinuierlich zu iiberprtifen und gegebe-nenfalls anzupassen sind (vgl. Reuter 1986: 223). Ayres dagegen radikalisierte die bei Veblen angelegte Technik-Institutionen-Dichotomie. Technische Ent­wicklung („technological process") bedeutet erstens immer Fortschritt. Fort­schritt ist zweitens ausschlieBlich durch technischen Fortschritt gespeist. Denn drittens wird die technische Entwicklung permanent aus sich selbst heraus, autonom, angetrieben:^

„But the analysis of technological process ... is already sufficient to indicate the existence in all culture of a dynamic force, a phase of culture which is in itself and of its own character in-novational, one in which change is continuous and cumulative and always in the same direction, that of more numerous and more complex technological devices." (Ayres 1978/1944: 123)

Es brauche also weder Erfmderpersonlichkeiten noch besondere institutionelle Arrangements. Ganz im Gegenteil: Institutionen - „the myths, ceremonies, mores, and status systems" (Ayres 1967: 11) - wird nun ausschlieBlich eine

^Ogbum beschreibt dieses Phanomen spater als „cultural" bzw. „social lag" und legt es seiner Theo-rie der kulturellen Phasenverschiebung zugrunde (1969/1922: 135).

^Sie sind „Mittel.., mit deren Hilfe gewohnheitsmal3ig auf Reize reagiert wird" (Veblen 2000/1958: 186).

^Ayres (1978/1944) beschreibt dies in seiner „Theory of economic progress" als Zweck-Mittel-Kontinuum: Erkenntnisse und Werkzeuge (Technologien) werden (als Mittel) zu neuen Er-kenntnissen und Werkzeugen (Zwecken) kombiniert, die dann in der nachsten Abfolge selbst zu Mitteln fur neue Zwecke werden. ,Autonom' meint, dass besondere Erfmderpersonlichkeiten zwar (mitunter) ausschlaggebend far den Zeitpunkt einer Erfmdung seien, nicht aber fur die Er-fmdung an sich. Sind - im Sprachgebrauch des Innovationsmanagements - Vor- und Komple-mentartechnologien erst einmal entwickelt, z. B. Rad und Motor, sei die Produkttechnologie, z. B. das Auto, nur noch eine Frage der Zeit; dazu auch Reuter 1996: 23 6f.

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Beitrage ... fiir eine Theorie des Managements nachhaltiger Innovationen 239

gegen den technischen Prozess und damit gegen technischen Fortschritt gerich-tete, statische Wirkung zugeschrieben. Das Ideal ware ein institutionenfreier technischer Prozess:

„...the institutional function is essentially static. In the process of social change, institutional function plays a negative part. It resists change." (Ayres 1952: 42f)

„In that process the ceremonial behavior system is opposed to technological activity in this sense, that whereas technology is of its own character developmental the ceremonial function is static, resistant to and inhibitory of change." (Ayres 1978/1944: 174)

Mit „zeremonieller Funktion" spezifiziert und substituiert Ayres den Begriff der Institution (vgl. Waller 1982: 763). Er wird einer der wenigen Briicken bleiben zu der von Foster, einem seiner Schiiler, eingeleiteten Neuformulierung der Dichotomie.

2.3.2 Intra-institutionelle Dichotomie: Januskopfigkeit von Institution

„It is important to keep in mind the distinction between the instrumental and the ceremonial functions of institutions. Otherwise, we shall be unable to see very clearly the part technology plays in social problems." (Foster 1981: 908)

Ayres' Radikalisierung der Veblenschen Dichotomie envies sich als Sackgasse ftir die Erklarung zahlreicher Phanome (vgl. Waller 1982: 764f.). Als Defizit wurde insbesondere die einseitig negativ modellierte Wirkung von Institutionen auf technischen Wandel gesehen. Die Neuformulierung von Foster und dessen Schtilem Bush und Junker weist weiter Briicken zur Konzeption von Ayres auf, greift in einer Rekursionsschleife aber mafigeblich zwei Einsichten auf, die von der ersten Generation der amerikanischen Institutionalisten bereits formuliert wurden und verbindet diese zu einer qualitativ neuen Konzeption: der „ceremo-nial-instrumental dichotomy" (Junker 1982) bzw. der „intra-institutionellen Dichotomie" (Renter 1996: 256). Beibehalten wird als erstes die von Veblen ausgearbeitete, aber auch fur Ayres konstitutive Einsicht zweier um die gesell-schaftliche Hoherentwicklung widerstreitender Krafte. Auch Veblen hatte Insti­tutionen hier zwar den negativen, verhindemden Part aber zugleich auch eine positive Funktion zugewiesen. Commons, ein zweiter Vertreter der ersten Gene­ration und Mitbegrunder des US-amerikanischen Institutionalismus, hatte diese Wirkung von Institutionen noch wesentlich weiter herausgearbeitet. Institu­tionen sind:

„collective action in restraint, liberation, and expansion of individual action" (Commons 1990/1934:73).'^

Dass die Industrielle Revolution in Europa stattfand erklart er z. B. mit einer im Vergleich zu den Hochkulturen in Indien und China sehr viel schwacheren Institutionalisierung; vgl. Ayres 1978/1944: Kap. 7.

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240 Ralf Antes

Commons' Erkenntnis bildet, wenn auch nicht explizit zitiert, die zweite Saule der neuformulierten Dichotomic. „Intra-institutioncH" vcrwcist dabci auf den grundlegcndcn Pcrspcktivcnwcchscl. Kcmgcdanke ist nicht mehr Jnstitutionen versus technische Entwicklung', sondem dass Institutionen selbst diese beiden Krafte inharent sind. Institutionen wohnen sowohl retardierende, gesellschaftli-che Entwicklung und technischen Wandel begrenzende, zeremonielle Krafte inne als auch instrumentelle, Innovationen befordemde Krafte. Diese Modellie-rung erlaubt es, (vorhandene) Institutionen bzw. institutionelle Arrangements nicht nur als Barriere jedweder Entwicklung aufzufassen und zu modellieren, sondem auch und iiberhaupt als Voraussetzung flir technische oder, weiter ge-fasst, flir nachhaltige Innovationen.

2.3.3 Ertrage fiir ein nachhaltiges Innovationsmanagement

a) Fiir das Innovationsmanagement ist damit dreierlei gewonnen: erstens und zunachst eine Heuristik, die es nunmehr auch auf der betriebswirtschaftlichen Ebene erlaubt, die offenkundige Januskopfigkeit von Institutionen flir den Inno-vationsprozess zu erfassen und zu erklaren. Stellt man Krafte und Wirkungen in einer Matrix gegeniiber (Tab. 13), zeigt sich allerdings, dass instrumentelle Krafte flir den Innovationsprozess ausschlicBlich positiv und zeremonielle Kraf­te ausschlieBlich negativ bewertet werden. Die Positiv-ZNegativwertung der beiden Krafte an sich ist also auch in neueren Ansatzen des okonomischen Insti-tutionalismus unverandert. Das spiegelt nur eine seit der Aufklarung in moder-nen Industriegesellschaften tief verwurzelte kulturelle Pragung wider: „Neue-rung [wurde; R.A.] zu etwas Positivem, zu ,Fortschritt'." (Weik 1998: 44) Innovativitat wurde damit - paradoxerweise - selbst zu einer machtigen zere-moniellen Institution, d. h. zu einer Erwartungshaltung an den okonomischen Akteur, der er in irgendeiner Form „antworten" muss, will er nicht unter Legi-timationsdruck geraten. ^ Es verwundert nicht so sehr, dass die Innovationsma-nagementlehre diese Pragung weitgehend unreflektiert ubemommen hat, ist sie doch eine machtige Legitimationsbasis innerhalb der Wissenschaften und ge­geniiber Praxis. Gerade der Nachhaltigkeitsdiskurs um potenzielle soziale und okologische Wirkmachtigkeiten (Eingriffstiefen) technischer Innovationen

^ Erlautemd fiihrt Commons aus: „Collective Action is more than control of individual action-it is, by the very act of control ... a liberation of individual action from coercion, duress, discrimi­nation, or unfair competition, by means of restraints placed on other individuals. And Collective Action is more than restraint and liberation of individual action - it is expansion of the will of the individual far beyond what he can do by his own puny acts." (1990/1934: 73)

^ Strategische Verhaltensoptionen auf institutionalisierte Erwartungen konnen hier nicht weiter vertieft werden. Sie bestehen etwa in der isomorphen und potemkinschen Institutionalisierung, der Verknupfung abweichender Strategic mit einer anderen, legitimierten Logik oder der akti-ven Einflussnahme auf das institutionelle Umfeld; vgl. Antes 2006: Kap. 2.4.

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Beitrage ... fur eine Theorie des Managements nachhaltiger Innovationen 241

einerseits und um die MinderungA^ermeidung darauf zurtickzufiihrender sozia-ler und okologischer Knappheiten andererseits vermag jedoch deutlich zu ma-chen, dass hier weiter zu differenzieren ist. Instrumentelle Krafte konnen nam-lich auch, wie zahlreiche Beispiele wirkmachtiger Techniken belegen, Innovationen hervorbringen, die okologische und soziale Knappheiten (negative exteme Effekte) iiberhaupt erst verursachen. Daher und umgekehrt konnen zeremoniellen Kraften nicht ausnahmslos negative Wirkungen zugeordnet wer-den. Zeremonielle Krafte, welche nicht nachhaltige Innovationen vermeiden, sind aus Nachhaltigkeitsperspektive positiv zu werten. Zu denken ware hier an die innerbetriebhche Institutionalisierung zum Beispiel der Okobilanzierung Oder der Technikfolgenabschatzung im Rahmen der Steuerung und Evaluierung von Innovationsprozessen (vgl. Htibner 2002: 292-299; allgemein Hauschildt 2004: ll./12.Kap.).

Tabelle 13: Innovationswirkungen instrumenteller undzeremonieller Krafte von Institu-tionen - Erweiterung der intra-institutionellen Dichotomie des okonomischen Institutionalismus ah Ergebnis des Nachhaltigkeitsdiskurses

Kraft

Wirkung

positiv (Nutzen) negativ (Kosten)

instrumentell (Anwendung und kumulative Weiterentwicklung des in einer Gesellschaft vorhande-nen Wissens)

gesellschaftliche Problem-losungen durch Beforde-rung technischer Innovati­onen

Wirkmdchtigkeit (Eingriffs-tiefe) technischer Innovati­onen (Verursachung sozia-ler, okologischer Knappheiten)

zeremoniell (Vorschriflen, Mythen, Emotionen, Riten, Statussysteme usw.)

Minderung/Vermeidung sozialer und okologischer Knappheiten von techni-schen Innovationen

Behinderung gesellschaft-licher Problemlosungen durch Einkapselung techni­scher Innovationen

Erweiterungen als Ergebnis des Nachhaltigkeitsdiskurses = kursiv Quelle: eigene

Solche zeremonielle Institutionalisierung kann das Ergebnis eines klugen, anti-zipierenden betriebswirtschaftlichen Kalktils sein, wenn namlich bei nicht nachhaltigen Innovationen die Rtickliberwalzung der Folgen durch nachhaltig-keitsorientierte Stakeholder droht (Intemalisierung extemer Kosten, Entzug wettbewerbsnotwendiger Ressourcen).^^ Trotzdem besteht hier noch ein erheb-

Die dann nachtraglich anfallenden Anpassungskosten oder auch sunk costs sind in der Regel erheblich hoher als antizipative Praventionskosten (vgl. Antes 1996). Aus dem Qualitatsmana-

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242 Ralf Antes

licher Institutionalisierungsbedarf sowohl in der Praxis als auch in der Lehre des Innovationsmanagements/^ Nachhaltigkeitsorientierte zeremonielle Institutiona-lisiemng kann darliber hinaus ethisch geboten sein. ^ Wissenschaftstheoretisch verlangt dies eine eigenstandige Fundierung der ethisch-normativen Pramissen. Eine solche bietet der Institutionalismus mit seiner Werttheorie an (s. Kap. 3.).

b) Es ist weiterhin eine Heuristik gewonnen, die generell als Ausgangspunkt der Erforschung der Innovationsfunktionen von Institutionen dienen kann. Die instrumenteilen und zeremoniellen Krafte konnen in einer ersten Annaherung auch als institutionelle Funktionen interpretiert werden. Hier ist aber weitere Arbeit notwendig (vgl. Edquist/Johnson 1997: 51-55), zum Beispiel auch in Bezug auf die verschiedenen Formen von Institutionen.^^

c) SchlieBlich riickt die instra-institutionelle Dichotomic die Frage in das Zent-rum eines Institutionenmanagements fur Innovationen, inwieweit instrumentel-le, auf Veranderung gerichtete Krafte durch zeremonielle Krafte eingekapselt werden (konnen). Das „ceremonial gap" (Junker 1983: 349f) bezeichnet dabei das AusmaB zwischen dem, was aufgrund des verfiigbaren Wissens moglich ware und der Realitat, also beispielsweise brach liegende Potenziale fiir nach-haltige Entwicklung.^^ Fur die weitere Analyse entwickelten Bush (1986, 1987, 1989) und Junker (1982, 1983) - mit unterschiedlichen Begriffen, aber uberein-stimmender Konstruktion - das Konzept der zeremoniellen Einkapselung („ce-

gement ist vergleichsweise bekannt, dass Fehlleistungskosten progressiv steigen, je spater ein Fehler entdeckt ist (vgl. Seibert 1998: 21; implizit Specht/Beckmann/Amelingmeyer 2002: 5). Bezeichnend ist die Begriffsumwidmung in „technology arrestment". Aber auch die gangigen Lehrbiicher des Innovationsmanagements greifen mit wenigen Ausnahmen - und dann eher kur-sorischen Verweisen - das Thema soziale und okologische Folgenbewertung noch nicht auf, obwohl die Diskurse dariiber ja nicht erst neueren Datums sind. Briickenbildend konnten hier die in neuerer Zeit vorgelegten, ahnlichen Instrumente der „innovationsorientierten Technikfol-genabschatzung" (vgl. Fuchs-Fronhofen/Henning 1999: 70f.; Steinmiiller/Tacke/Tschiedel 1999) und der „Innovations- und Technikanalyse" (vgl. Baron u. a. 2003; Albertshau-ser/Malanowski 2004) sein. Beide verfolgen explizit den Zweck, mogliche Nachhaltigkeitsrisi-ken und -chancen von Innovationen zu bewerten. Fur eine Einordnung vgl. die Aufgabentypologie des Umweltmanagements von Zabel (2004), die neben dem Schnittmengenmanagement die (eigene) Umweltverantwortung und die Normie-rungsverantwortung (gegenuber Stakeholdem) enthalt. Beispielsweise bezogen auf die in der Begriffsdefmition genannten Formen (formale/informale Regeln und Mittel ihrer Durchsetzung, Selbstbindung, nicht mehr hinterfragte Routi-nen/Traditionen) oder auf die in der Neuen Institutionenokonomik gebrauchliche Unterschei-dung in fundamental und sekundare Institutionen (vgl. Picot/Dietl/Franck 2002: 21). So hatten 35% bis 44% des Energieverbrauchs des Jahres 1987 allein dadurch eingespart wer­den konnen, dass die damals bereits verfugbaren effizienteren Techniken umfassend genutzt worden waren (vgl. Deutscher Bundestag 1990: 162f).

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Beitrage ... fur eine Theorie des Managements nachhaltiger Innovationen 243

remonial encapsulation"). Bush (1986: 33-37; 1987: 1094-1099) unterscheidet den

1. past-binding Type: Festhalten einer sozialen Ordnung am Status quo. Inno­vationen kommen nur zum Zuge, wenn sie in das bestehende institutionelle Arrangement bruchlos zu integrieren sind;

2. future-binding Type: Festigung von Machtpositionen. Innovationen kom­men nur insoweit zum Zuge, als sie etablierte Machtstrukturen nicht veran-dem Oder festigen;

3. Lysenko Type: Ideologischer Ausschluss jedweder instrumentellen Veran-derung (vgl. auch Renter 1996: 263-266).^^

Die unterschiedenen Einkapselungstypen sind direkt anschlussfahig an die In-novationsforschung, die in verschiedensten Bereichen von sozial-organisatorischem Konservatismus gegeniiber Innovationen berichtet. So spre-chen Ortmann u. a. fur die Einfiihrung von EDV-Systemen von einer „mikropo-litisch motivierten Forderung nach einer 1:1 -Abbildung der alten Praxis auf das neue System in vielen unserer Falle" (1990: 456). ^ Ahnliches kann im Nachhal-tigkeitsmanagement beobachtet werden, so fiir den strukturverandemden, Inno­vationen erfordemden Wandel von reparativen zu praventiven Strategien (vgl. Antes 1996: 232-259, 310-313) und - eine Darunterposition - flir den Wandel von einer Durchfluss- zu einer Kreislaufwirtschaft:

„Wir begeben uns mit dem Wissen um kreislaufgerechte Institutionen und Regimes nicht in ei-nen institutionenfreien und beliebig gestaltbaren Raum. Institutionelle Arrangements sind im-mer schon vor uns da. Die Implementation neuer Institutionen vollzieht sich immer aus be-stehenden Institutionengeflechten heraus." (Antes 2002: 184)

Das Konzept der zeremoniellen Einkapselung ist daher nicht nur fiir das Erken-nen zeremonieller Liicken an sich wertvoU, sondem weil es den veranderungs-willigen Blick iiber einzelne Institutionen hinaus lenkt auf die zentrale Bedeu-tung, die der Gesamtheit der bereits bestehenden Institutionen und vor allem deren Zusammenwirken fiir Veranderungen zukommt. Nicht nachhaltige Ge-genwart ist in der Regel nicht durch das Wirken einzelner Institutionen verur-sacht, sondem durch das Wirken eines ganzen Arrangements intendierter wie nicht intendierter, fundamentaler und sekundarer Institutionen. Fiir die Beforde-rung nachhaltiger Innovationen ist es daher zwar notwendig, einzelne Institutio­nen zu verandem, tendenziell aber nicht hinreichend. Denn die Wahrscheinlich-keit, dass sich eine einzelne, nachhaltigkeitswirksame Institution gegen das etablierte nicht-nachhaltigkeitswirksame Gesamtarrangement durchsetzt ist

' Bei Junker (1983: 347f.) sind die Typen als „latent", „manifest" und „malignant" bezeichnet. ' Vgl. weiterhin Kieser/Kubicek (1992: 325-348) fur die Einfiihrung von Fertigungstechnik oder

Naschold (1989, 1993) fur eine praventive Arbeitsorganisation in der Automobilindustrie.

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244 Ralf Antes

gering. Viel eher wird das Gesamtarrangement eine einzelne veranderte oder neue Institution assimilieren, zeremoniell einkapseln. Dieses Zusammenwirken von Institutionen in Arrangements zu erkennen ist daher von herausragendem Interesse fiir die Realisierung nachhaltiger Innovationen und - iiber die einzelne Innovation hinaus - fur ein Institutionenmanagement nachhaltiger Innovations-systeme. Ganz im Gegensatz dazu stehen Verstandnis und Forschung des „insti-tutional interplay" (Young 2002: 23) ganz am Anfang. ^ Und auch die Konzep-tion des Innovationssystems

INSTITUTIONAL ADJUSTMENT

PHASE I: CEREMONIAL

ENCAPSULATION [no change in the value

structure]

growth in the

knowledge fund

PHASE II: "PROGRESSIVE" INSTITUTIONAL

CHANGE [change in the value

structure]

a)

b)

elaboration of ceremonial practices to encapsulate new knowledge

encapsulated technological innovation

Learning processes give rise to the displacement of ceremonial values by

instrumental values, permit­ting further technological

changes based on the existing knowledge fund.

leads to fijrther growth in the knowledge fund

Abbildung 30: Allgemeines Modellprogressiver institutioneller Anpassung

Quelle: Bush 1987: 1104

ist noch eher eine Domane der volks- und regionalwirtschaftlichen-, denn der betriebswirtschaftlichen Forschung.^^ Der okonomische Institutionalismus kann hier moglicherweise wichtige Beitrage fiir die Innovationsmanagementlehre

Zu relevanten Fragestellungen vgl. Antes 2002: 182-184. Es gibt erste Ansatze, allerdings noch ohne institutionentheoretische Fundierung; insbes. Grei-ling (1998), Hauschildt (2004: 3. Kap ) und Hiibner (2002: 160-167, 290-294). Weiterhin neh-men Pleschak/Sabisch (1996: 35-43) und Burr (2004: 15-17) die Konzeption nationaler Innova-tionssysteme in ihre Innovationsmanagement-Lehrbiicher auf, brechen die Konzeption allerdings noch nicht auf die betriebswirtschaftliche Ebene herunter.

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Beitrage ... fiir eine Theorie des Managements nachhaltiger Innovationen 245

leisten. Wie die instrumentellen und zeremoniellen Funktionen von Institutio-nen fiir einen „progressive institutional change" (Bush 1987: 1104) ^ zusam-menwirken, dazu hat Bush ein erstes, noch recht allgemein gehaltenes Modell vorgelegt (Abb. 30). Die statische, auf bestehende Institutionen und auf einen vergleichsweise engen Zeitraum begrenzte Perspektive in Tabelle 13 wird damit in eine dynamische Perspektive uberfuhrt, die es erlaubt, auch institutionelle Innovationen (z. B. das Aufbrechen zeremonieller Arrangements) und instituti-onellen Wandel schlechthin (z. B. die Metamorphose einer ursprunglich instru­mentellen zu einer zeremoniellen Kraft) aufzunehmen.

3 Ethik des Innovationsmanagements

Eine Ethik des Innovationsmanagements steht noch weitgehend aus (vgl. Bauer-Harz 1995; Manner 2000). Wesentlich ist das die Folge eines wissenschaftsthe-oretischen Defizits der Innovationsmanagementlehre, welches darin besteht, dass sie i.d.R. weder die (potenziellen) Wirkungen von Innovationen umfassend und kritisch reflektiert (s.o.) noch ihre normativen Grundlagen und Basisan-nahmen, sondem (vermutete) Normen der Untemehmenspraxis ungepruft iiber-nimmt. Sie steht damit in der Tradition der sich als wertfrei verstehenden prak-tisch-normativen Betriebswirtschaftslehre.^^ Im Gegensatz dazu fuhrt der okonomische Institutionalismus eine normative Reflexionsebene ein, was fur eine andere Bewertung von Technikfolgen - namlich nachhaltiger oder nicht-nachhaltiger Wirkungen - von eminenter Bedeutung ist bzw. ware. Denn konsi-stent mit dem normativen Reflexions-Vakuum ergibt eine Sichtung der aktuel-len, den „Stand der (Management-)Technik" verkorpemden Lehrbuchliteratur, dass die - mittlerweile ja etablierten und ausdifferenzierten - Diskurse und Forschungsprogramme um Technikfolgen und -bewertung sowie um Nachhal-tigkeit darin kaum Eingang gefunden haben. In diesem Kapitel soil zunachst die Werttheorie des okonomischen Institutionalismus dargestellt (3.1) und anschlie-Bend deren Brauchbarkeit fiir eine Ethik nachhaltigen Innovationsmanagements diskutiert werden (3.2).

Bush unterscheidet davon einen „regressive institutional change" (1987: 1101), den er mit dem Lysenko Typ zeremonieller Einkapselung verbindet (s.o.). Er verweist weiterhin auf Veblen der bereits die Moglichkeit des Weiterbestehens sinnentleerter Institutionen („imbecile institutions") beschrieben hat (s. o.). Die methodologische Unhaltbarkeit dieses Verstandnisses wurde vergleichsweise friih nachge-wiesen. Fur die Okonomik generell bereits der Okonomik-Nobelpreistrager Myrdal 1933 und der Wissenschaftstheoretiker und kritische Rationalist Albert 1990/1966: 220f. Die Argumenta­tion fur die Betriebswirtschaftslehre ubemehmend u. a. Schanz 1973: 592-594; Fischer-Winkelmann 1974: 55; Kroger 1981: 7.

Page 258: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

246 Ralf Antes

3.1 Die Werttheorie des okonomischen Institutionalismus

Fiir den Institutionalismus zentral ist der bereits von Veblen formulierte und bis heute fortentwickelte Gedanke, individuelles wirtschaftliches Verhalten im Hinblick auf die gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen zu bewerten. In der intra-institutionellen Dichotomie schlagt sich dies nieder in der Notwendigkeit zu bewerten, welches instrumentelle Wissen zu einer Hoher-Entwicklung bei-tragen mag und welches nicht. Die Konstitution der Bewertung und die Bewer-tungsmafistabe des Institutionalismus haben einige Metamorphosen durchlau-fen. Wahrend Veblen dafur noch eine autokratische Instanz vorsah, nehmen bei Commons Vorstellungen Gestalt an, die sich bis in die Werttheorie der Gegen-wart wiederfmden: erstens die Forderung nach demokratischen Prozessen und kontinuierlich sich erweitemden Partizipationsmoglichkeiten;^^ zweitens die Ablehnung absoluter Werte, das heifit universeller Wahrheiten, bei Commons zugunsten von „reasonable values" (Commons 1990/1934: 741-745).^^

Als bedeutendster Beitrag der Gegenwart zu einer institutionalistischen Werttheorie darf die von Tool vorgelegte Synthese zu einer „Theory of instru­mental Value" gelten, deren Kern das „Instrumental Social Value Principle" (auch „Criterion of Judgement") bildet. Das Prinzip sei im Folgenden kurz vor-gestellt. Dabei wird bereits eine Nahe zu Einsichten und Forderungen des Nachhaltigkeitsdiskurses deutlich werden. Tool fragt „Which way is forward?" (1979: 293) und antwortet darauf

„...that that direction is forward which provides for the continuity of human life and the nonin-vidious re-creation of community through the instrumental use of knowledge [im Original z. T. kursiv]." (Tool 1979: 293; nahezu identisch 1993: 121)

Das Instrumental Social Value Principle wird demnach anhand von vier Merk-malen definiert (ausfiihrlich Tool 1979: 293-314; 1993: 121-124; Reuter 1996: 322-324):

1. „ Continuity of Human Life" betont Kontinuitat und will Entwicklungen ausschliefien, die das Weiterbestehen und die Weiterentwicklung menschli-cher Lebensformen bedrohen. Tool versteht das Merkmal als Vorausset-zung far die anderen Merkmale (vgl. Tool 1993: 124) und bezieht es neben der sozialen Dimension explizit auf Zerstorung von Natur: „...a continu­ously relevant social value principle must include provision for 'the conti-

Der Unterschied zur ,neuen' Institutionenokonomik wird an der Bewertung der Entwicklung von Eigentumsrechten deutlich: Wahrend diese nach dem Kriterium der Effizienz bewertet, legt Commons ein Gerechtigkeitskriterium an, namlich einen „rightful access to opportunities", worunter er kontinuierlich sich erweitemde Partizipationsmoglichkeiten versteht (vgl. Reuter 1996: 38). Commons orientierte sich dabei stark am Konzept der Reasonableness des US-amerikanischen Rechtssystems, d. h. einer pragmatischen, an Beste-Praxis-Fallen orientierten ,Vemunftigkeit'.

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Beitrage ... fur eine Theorie des Managements nachhaltiger Innovationen 247

nuity of human life' in coevolutionary congruity with biotic continuity." (Tool 1993: 121)

2. „Re-Creating Community'' stellt auf die Notwendigkeit der Veranderung institutioneller Arrangements ab, die Ursache gesellschaftlicher Konflikte sind und den Erhalt von Gemeinwesen nicht mehr angemessen unterstutzen konnen.

3. „Noninvidiousness" beschreibt die Richtung des dabei erforderlichen insti-tutionellen Wandels. Unter Rtickgriff auf Veblen, der „individuous" als Diskriminierung von Menschen aufgrund auBerer Attribute bezeichnet, sind institutionelle Arrangements von Gemeinwesen, die solcherart dis-kriminierende Verhaltensweisen befordem, zuriickzudrangen. Denn sie be-hindem die Entwicklung kreativer Potentiale und produktiver Kapazitaten davon betroffener Individuen und Gruppen oder erodieren diese sogar, und sie schlieBen Diskriminierte von der Teilhabe am institutionellen Wandel und seinen Ergebnissen aus. Aufgrund von Interdependenzen fallt dies letztlich auch auf das Gemeinwesen negativ zuriick (vgl. Tool 1979: 295; 1993: 122f).

4. „ Instrumental Use of Knowledge'' stellt ab auf die konsequente, aber be-sonnene Nutzung von (Erklarungs-)Wissen zum Wandel institutioneller Ar­rangements. ,Besonnen' meint insbesondere auch gewahr zu sein, dass sol-ches Wissen zwar rational in Versuch-Irrtums-Prozessen gewonnen wurde, genau deshalb aber nur vorlaufige Wahrheiten reprasentieren kann (vgl. Tool 1979: 296f; 1993: 123f).

Dem letzten Merkmal kommt fur die ethische Fundierung des Instrumental Social Value Principle im Kontext von Nachhaltigkeit eine besondere, noch zu diskutierende Bedeutung zu. Mit ihm kniipft Tool an der fur den Institutiona-lismus zentralen zeremoniell-instrumentellen Dichotomic an. FUr die nahere inhaltliche Bestimmung des Erkenntnisobjektes sind drei Uberzeugungen ein-schlagig in der Denkstilgemeinschaft der Institutionalisten:

1. die prinzipielle Vorlaufigkeit alien Wissens und damit auch aller gegenwar-tigen instrumentellen Werte. Die Moglichkeit ewiger, universeller, absolu-ter Wahrheit und damit auch eines Wertabsolutismus wird bestritten. Aber auch ein Wertrelativismus oder ein Mittelweg werden abgelehnt; statt des-sen wird gefordert, Werte oder Kriterien, basierend auf der wissenschaftli-chen Methode im freien Diskurs zu etablieren. Als Bestandteil einer (in­strumentellen) Werttheorie werden konkrete inhaltliche Werte daher abgelehnt statt dessen eine Ergebnisoffenheit vertreten. An den Prozess selbst und dessen „Criterion of Judgement" werden allerdings Forderungen adressiert, von denen zwei besondere Bedeutung zuerkannt wird:

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248 RalfAntes

2. die kritische Reflexion der gesellschaftlichen - moglicherweise uner-wiinschten - Folgen individuellen Verhaltens;

3. ein Demokratie- und Partizipationsgebot, das heiBt auch die kontinuierliche Ausweitung der Moglichkeiten zu demokratischer Teilhabe fur die Mitglie-der eines Gemeinwesens.

Wenn auf Basis der instmmentellen Werttheorie keine konkreten Werte er-mittelt werden konnen, sondem deren Genese sozialen Prozessen iiberantwortet wird und wenn den dort generierten Werten immer ein vorlaufiger Status zuer-kannt wird, dann ist das Erkenntnisobjekt in formaler Hinsicht prozessual, das heiBt dynamisch, zu definieren. Das Kriterium der „instrumentellen Effizienz" stellt dann ab auf die Ablosung zeremonieller durch instrumentelle Werte oder die Aufrechterhaltung instrumenteller Werte.

3.2 Beitrdgefur eine Ethik nachhaltigen Innovationsmanagements

Nachhaltigkeit ist ein normatives Prinzip. Wissenschaftstheoretisch sind die normativen Pramissen eines nachhaltigkeitsorientierten Innovationsmanage­ments daher zu begriinden, z. B. mittels einer Ethik. ^

Wie ist hierzu das Instrumental Social Value Principle zu be werten? Offen-sichtlich, weil explizit vorgebracht, sind eine Reihe positiver Beziige: Das Merkmal der Continuity of Human Life deckt sich sogar mit Kemforderungen im Nachhaltigkeitsdiskurs und bildet wesentliche Elemente der sozialen und okologischen Dimension ab, die dem Nachhaltigkeitsprinzip gemeinhin attes-tiert werden. Leicht sind auch Beztige zum Merkmal der Noninvidiousness herstellbar bzw. Invidious-Zustande als Auftreten nicht nachhaltiger sozialer Knappheiten interpretierbar. SchlieBlich deckt sich die Forderung nach Re­creating Community mit der Einsicht, dass Probleme nicht behoben werden konnen, wenn deren Ursachen unverandert bleiben (vgl. Antes 1996; 2006). Der Grund, trotz solcher Ubereinstimmungen das Prinzip unter einer Nachhaltig-keitsperspektive auch kritisch zu sehen, liegt im vierten Merkmal, dem Instru­mental Use of Knowledge. Mit diesem Merkmal wird - ganz in der Tradition des Institutionalismus - eine konventionalistische Gewinnung von Werten ein-gefordert. Zum einen wird wirtschaftlichen Akteuren damit ein pro-aktiver Part flir eine nachhaltige Entwicklung zugewiesen. Zum andem aber konnen kon­ventionalistische Normen unerwiinschte Entwicklungen nicht mit Bestimmtheit ausschlieBen. Konventionalistische oder prozessuale Ethiken sind defmitions-gemaB grundsatzlich ergebnisoffen, was auch eine geringere okologische Ver-traglichkeit von Innovationen bedeuten kann.

^ Dies gilt im Ubrigen fiir jedwede Basisannahme und jedwedes Erkenntnisobjekt, also auch flir nicht-nachhaltiges Innovationsmanagement oder flir ein gegeniiber Nachhaltigkeit - aufgrund eines anderen Erkenntnisobjektes, z. B. Effizienz - indifferentes Innovationsmanagement.

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Beitrage ... ftir eine Theorie des Managements nachhaltiger Innovationen 249

Nun formulieren die ersten drei Merkmale - sogar eher mehr als minder konkret - unerwtinschte zeremonielle oder erwtinschte instrumentelle Werte. Bestimmte Ergebnisse sollen also sehr wohl ausgeschlossen werden. Damit wird die Ergebnisoffenheit eingeschrankt, aber auch ein innerer Widerspruch, zumindest eine Spannung im Prinzip selbst aufgebaut, als auch gegeniiber dem historisch gewachsenen Selbstverstandnis des Institutionalismus. Von Instituti-onalisten selbst wird daher Kritik vorgebracht (vgl. Gordon 1990). Andererseits ist im Institutionalismus diese Spannung bereits generell angelegt, wenn auch nicht ganz so zugespitzt wie bei dem von Tool vorgeschlagenen Prinzip: Das Erkenntnisobjekt des Institutionalismus lasst sich zum einen durch das Wertur-teil beschreiben, instrumentelle Werte seien in ergebnisoffenen gesellschaftli-chen Prozessen zu ermitteln. Zum andem wird diesen Prozessen vollige Offen-heit allerdings nicht zugestanden. Denn individuelle Interessen, die das Gemeinwohl schadigen, werden abgelehnt, und ebenso wird - als universelle Wahrheit und Werturteil iiber die Vorziehenswiirdigkeit einer bestimmten Or-ganisationsform ftir Gemeinwesen - ein Demokratie- und Partizipationsgebot unterstellt.

Dieser innere Widerspruch zwischen Dialog-ZProzessorientierung und in-haltlicher Objektivierung ist ein Kemproblem ftir die Konstitution jedweder auf Akteurshandeln abstellenden Nachhaltigkeitsethik (vgl. Antes 2006: Kap. 3.6). Auch der Institutionalismus hat ihn bislang nicht aufgelost. Das Instrumental Social Value Principle flihrt dies noch einmal deutlich vor Augen, woraus aber noch kein Scheitem des Integrationsversuchs abgeleitet werden kann (so Peu-kert 1998: 377). Abgeleitet werden kann dagegen ein Negativausschluss einsei-tig prozessualer Ansatze, wie der Homannsche von Nachhaltigkeit als rein regu-lativer Idee (1996). Im Nachhaltigkeitsdiskurs ist dieser Ansatz - wohl wegen der formalen Nahe zu dialogischen Ansatzen - weithin und dabei bemerkens-wert unkritisch iibemommen. Auch ftir die herkommliche, inhaltlich-ethisch abstinente Innovationsmanagementlehre ware er ein attraktiver Kandidat: Er belasst ihr namlich einen breiten Ausgang, ihr Design - und das heiBt hier: ihre weitgehende Ignoranz gegeniiber Technikft)lgen - beibehalten zu konnen. Wenn als Nachhaltigkeit nicht inhaltlich beliebige Ergebnisse zugelassen wer­den sollen - womit das Kriterium im Ubrigen auch wissenschaftlich wertlos wtirde - , dann birgt der innere Widerspruch des Instrumental Social Value Prin­ciple neben der Schwierigkeit, ihn zu tiberwinden, zunachst einmal einen Er-kenntnisgewinn: Eine Ethik nachhaltigen Innovationsmanagements bedarf eines inhaltlichenObjektivierungskriteriums.

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Teil III:

Markte, Netzwerke und Communities

Page 266: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Nachhaltigkeitsimpulse durch Griine Grunderlnnen

Jens Clausen

1 Unternehmertum und Werte: die absichtsvoUe Griindung

Fiir Grunderlnnen stehen Zweck und Nutzen ihrer oft hochinnovativen Produk-te manchmal mehr im Mittelpunkt als der mit der Umsetzung der Idee verbun-dene wirtschaftliche Erfolg. Sowohl von Weber, von Schumpeter, von Casson, aber auch von anderen Griindungsforschem, wird dem monetaren Erfolg daher eine zumindest nicht dominante Position innerhalb der Motive der Grtinderln-nen zugeschrieben. Auch Henry Ford sieht im monetaren Erfolg keinen echten Grund, etwas zu untemehmen: „Denn meine eigenen, geringen Erfahrungen hatten mir, verbunden mit dem, was ich liberal I um mich herum vorgehen sah, bewiesen, dafi das reine Geldverdienen des Nachdenkens nicht lohne und ganz entschieden keine Tdtigkeit fur einen Mann sei, der wirklich etwas zu leisten wunschte. Es schien mir auch nicht die richtige Art, ein Geschdft zu begriinden. Denn die einzige solide Art eines Geschdftes ist die Dienstleistung gegenuber dem Publikum " (Ford 1923: 47).

Mark Casson (1995: 135) fiihrt die Motivation zur Innovation - nicht nur im Rahmen des Entrepreneurship - auf zwei Arten von Ertragen zurlick: konventi-onelle materielle Ertrage, die ihren Ausdruck im Kauf von Waren am Markt finden, und emotionale Ertrage als Folge von Respekt in personlichen Bezie-hungen in Gruppen. Er geht davon aus, dass jedes Individuum die Summe mate-rieller und emotionaler Ertrage zu maximieren sucht. Den Rahmen fiir emotio­nale Ertrage spannt Casson unter Bezugnahme auf Weber (2000/1905) weit und fuhrt als wichtige EinflussgroBe die in kulturellen Gruppen jeweils bedeutends-ten Fiihrungspersonen auf, bezieht aber auch die Interessen kommender und vergangener Generationen mit ein, mit der Konsequenz, dass es sinnvoll scheint:

•=> Ziele, deren Erreichung innerhalb bestimmter Kulturen oder Subkulturen Respekt erzeugen konnen, als Griindungsmotivation mit in Betracht zu Zie­hen, sowie

•=> Ziele, Visionen und Ideale eben dieser Kulturen und Subkulturen in Bezie-hung zu den Zielen, Visionen und Idealen der Griindungen, die aus ihnen heraus erfolgen, zu setzen.

Die Forschung zu Grtinen Grtindem listet daher, im Gegensatz zur klassischen Grtindungsforschung, nicht mehr nur die Griindungen generell als solche auf.

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256 Jens Clausen

gruppiert sie bestenfalls nach Branchen, sondem wirft einen genauen Blick auf den Sinn und den Zweck der Produkte, die in einem Untemehmen hergestellt werden oder hergestellt werden sollen, und fragt, welchen speziellen Zweck die Griinderln dadurch verfolgt haben mag, dass sie gerade eben ein Untemehmen zur Herstellung dieses Produktes oder dieser Dienstleistung gegrtindet hat. Sie tritt damit heraus aus der Reduktion der Griindung auf ihren Beitrag zum volkswirtschaftlichen Wachstum und erweitert den Blick auf die Frage, welche negativen oder positiven Extemalitaten mit einer Griindung verbunden sein konnen. Sie fragt danach, ob nicht der Beitrag einer Griindung zu Innovation und Nachhaltigkeit Teil des auf den Respekt des eigenen Umfeldes hin orien-tierten Kalkiils der Griinderln gewesen sein konnte.

In diesem Beitrag sollen zunachst einige Positionen der Forschung zu Grii-nen Griindungen und Sustainable Entrepreneurship dargestellt werden. Der empirische Teil versucht den Nachweis zu erbringen, dass Motivation und Ein-gebundenheit in griine Netzwerke wesentliche Faktoren im Zustandekommen Griinder Griindungen darstellen und damit treiben de Kraft des Innovationsbei-trages dieser Griindungen sind.

2 Beitrage zu Griinen Griinderlnnen und Sustainable Entrepreneurship

In den Fokus der Entrepreneurshipforschung gerieten Griine Griindungen erst einige Zeit nach ihrem Entstehen. In der eher soziologischen Forschung der 80er Jahre wurden sie haufig als KoUektive und Projekte gesehen und nicht als Untemehmen. Liz Walley und David Taylor (2002: 37) fiihren das geringe Mal3 an Forschung auf ein letztlich feindliches Verhaltnis von Entrepreneurship (welches als individualistisch und konsumorientiert gilt) und Umweltschutz (welcher eher kollektiv und gemeinschaftlich orientiert scheint) zuriick. Die altesten Beitrage zum Thema stammen aus Sicht von Michael Schaper (2002: 28) aus den friihen 90er-Jahren und fiihrten nacheinander Begriffe wie „enviro-capitalist", „green-green-entrepreneur" und „ecopreneur" ein.

2.1 Erste Beitrage zu Grunen Griinderlnnen

Terry Anderson und Donald Leal (1997) konzentrieren sich in ihrer Untersu-chung zu „Enviro-Capitalists" auf „Naturschutz-Untemehmer", die weniger Griinder sind als Untemehmer, teils auch Intrapreneure, und die innerhalb ihrer Arbeiten und Projekte ganz konkret mit den Themen Natur, Naturschutz oder Schutzgebiete zu tun haben. Diese Enviro-Capitalists erkennen den Wert der Natur und setzen ihn im Gegensatz zu (politischen) Naturschiitzem nicht nur in moralische Konsequenzen, sondem auch in okonomischen Kategorien um. Durch integrierten Naturschutz verbessem sie die Wirtschaftlichkeit von Bau-projekten, Waldbewirtschaftung, Fliissen und anderem mehr. Ihr Problemlo-

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Nachhaltigkeitsimpulse durch Grune Griinderlnnen 257

sungsbeitrag ist eher lokal (was nicht heiBt, dass er unwichtig ist) und in einigen der von Anderson und Leal dokumentierten Beispielen iiberhaupt nur schwer erkennbar. Von „Naturschutz-Untemehmem" geht aber aufgrund des meist leicht erkennbaren und direkten Umwelteffektes eine besonders Faszination aus, die auch in der Beschreibung der von John Warmsley gegrundeten Earth Sanc­tuaries Ltd. (Tierry Volery 2002) deutlich wird^

Ganzlich anders gestaltet sich die Betrachtung von okologisch gefuhrten Untemehmen ohne expliziten Naturschutzbezug. Grtine bzw. nachhaltige Griindungen - Robert Isaak nennt sie green-green enterprises - sind dabei etwas fundamental anderes als Untemehmen mit Umweltmanagement: „In contrast, a green-green business is one that is designed to be green in its processes and products from scratch, as a start-up, and, furthermore, is intended to transform socially the industrial sector in which it is located towards a model of sustain­able development" (Isaak 2002: 82). Dabei spielen Einzelpersonen mit umwelt-bezogenen Werten eine wichtige RoUe . Die Griindung nachhaltiger Untemeh­men sieht er nicht als Zufall, sondem als Ergebnis eines gesellschaftlichen Lemprozesses. Dabei verfaUt er in einen starken Fokus auf den Aufbau offentli-cher Fordemngen bzw. Reguliemngen. „ Moral entrepreneurs hip can only grow to a critical mass if economic and political incentives clearly support the ethical free-rider and deter the free-rider tempted by the greater short-term rewards available for accumulating and exchanging destructive things" (Issak 1998: 112).

Ein Beitrag von Karel Samson (1999) zeigt ein stark vereinfachtes, weil letztlich auf Personlichkeitseigenschaften fokussierendes Bild des Entrepre-neurships, sowie ein gleichermaBen vereinfachtes Bild der Nachhaltigkeit^ Daraus entspringende Grlindungsaktivitaten halt er flir logisch und wahr-scheinlich. „For individuals, because choosing an adventure in sustainable entrepreneurs hip allows them to enrich the combination of personal values and achievements through their ventures if they can identify and pursue an opportu­nity which contributes both to venturing and environmental protection " (Sam­son 1999: 26). Letztlich mtscht er in eine enge Fokussiemng auf Umweltschutz-

Dies Untemehmen kauft in Australien groBere Landpartien auf, zaunt sie ein und entfemt alle nicht endemischen Tiere und Pflanzen, um so auf begrenzten Flachen eine echt australische Flo­ra und Fauna erhalten und zeigen zu konnen. Der Griinder Warmsley erwarb sich eine spezielle Reputation dadurch, dass er z. B. nicht-endemische Baume fallte (wofiir er ins Gefangnis kam), Hiite aus Katzenfellen trug (auch die Katze ist in Australien nicht endemisch) und offentlich be-hauptete, nur eine tote Katze sei eine gute Katze (Volery 2002: 112).

Er erwahnt z. B. „.... counter-culture entrepreneurs, who wanted their businesses to be envi­ronmentally responsible and to make a social statement, not just to make money" (Issak 2002: 82). Er fokussiert dabei ausschliel31ich auf Umwelt belastende Chemikalien und deren Wirkung zur Verursachung von Krebserkrankungen.

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258 Jens Clausen

technologien hinein und reduziert so den anspruchsvollen Nachhaltigkeitsansatz im Wesentlichen auf end-of-pipe Umweltschutz. Dabei bleibt offen, woher die nachhaltige Vision des Entrepreneurs kommen soil, zumal Samson (1999: 16) sie aus dem „ mainstream of culture or business thinking'' kommen sieht. Auch eine Verbindung zur Umweltbewegung scheint der eher in klassisch okonomi-schen Dimensionen denkende Samson nicht zu sehen, denn er sieht die Aufga-be, die Vision zu entwickeln, klar beim Entrepreneur. Die Moglichkeit, dass der Entrepreneur sich der Umsetzung der Visionen einer sozialen Bewegung ver-schreibt, zieht er nicht in Betracht.

2.2 Typologien gruner Grilnderlnnen

Insgesamt stellen die ersten Beitrage zu Grlinen Grtinderlnnen eher unverbun-dene Schlaglichter auf mehr oder weniger ungewohnliche Einzelentrepreneure dar. Sie basieren, wenn iiberhaupt, auf Empirien mit einer kleinen Zahl von Fallen. Zwei neuere Arbeiten, die in diesem Abschnitt vorgestellt werden, ver-suchen dagegen, auf Basis groBerer Fallzahlen Typologien zu entwickeln und die einzelnen Griinderlnnen sowie die von ihnen ins Leben gerufenen Unter-nehmen und deren Strategien in verschiedene okonomische Kontexte einzuord-nen.

Stefan Schaltegger und Holger Petersen entwickelten im Auftrag des R.I.O. Management Forums im Jahre 2001 eine vergleichsweise elaborierte Theorie des Ecopreneurships. Fiir Schaltegger und Petersen besteht der Ausgangspunkt in der Annahme, dass Innovationen zur nachhaltigen Entwicklung im betriebli-chen Alltag weder zufallig noch nebenbei entstehen, sondem von einzelnen Personlichkeiten gewoUt und in den Mittelpunkt ihres untemehmerischen Han-delns gestellt werden. Es geht Schaltegger und Petersen dabei weiter um die Wirkung im Markt: „Am effektivsten tragen Unternehmen zur Verbesserung der Umweltqualitdt und zur nachhaltigen Entwicklung bei, wenn sie umweltbezoge-ne Problemlosungen zum Kerngeschdft machen und ihre Innovationen auf dem Massenmarkt Platz greifen konnen'' (Schaltegger und Petersen 2001: 9). Unter strategischen Gesichtspunkten unterscheiden sie drei Typen von Marktakteuren.

Page 270: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Nachhaltigkeitsimpulse durch Griine Grunderlnnen 259

Tabelle 14: Marktorientierte Typologie okologieorientierter Unternehmungen

Unternehmenstypus

Markt

Angestrebter

Kundenkreis

Strategic

Alternativer Sze-

neanbieter

Altemativszene

Szenenpublikum

Identifikation mit

den Abnehmem

Bionier

Oko-Nische

Okologisch an-

spruchsvolle

Zielgruppen

Fokussierung auf

Nischenmarkt

Ecopreneur

Massenmarkt

Moglichst groBer

Kundenkreis

Marktdurchdrin-

gung und Markt-

entwicklung

Quelle: in Anlehnung an Schaltegger und Petersen 2001: 18

Den Anbieter in der Altemativszene sehen sie dabei eng verkniipft mit den sozial-okonomischen Idealen der Altemativbewegung: Eigenarbeit, Selbstver-waltung von Gruppenstrukturen, Tausch- und Leihwirtschaft, regionale und lokale Okonomie in engen Grenzen. Als hier nicht regelkonform nennen Schal­tegger und Petersen explizit die personliche Bereicherung jenseits der allgemein akzeptierten Lebenshaltungskosten. Daraus folgem sie, dass damit den Altema-tivszeneanbietem okonomische Anreize zur Ausweitung der Geschaftstatigkeit fehlen. An anderer Stelle stellt Petersen (2000: 4) die Umweltbewegung sogar als ausgesprochen untemehmensfeindlich, fatalistisch und inaktiv dar.

Den wesentlichen okonomischen Unterschied, der den Nischenanbieter von der Altemativszene differenziert, sehen sie in den Eigentumsstmkturen und damit verbunden in der Frage des „Geldverdienens". Mit dem Nischenanbieter betreten bei Schaltegger und Petersen erstmals Entrepreneure die Biihne der okologischen Produktion, die Schluss machen mit dem ideologischem Getue und der Kapitalismusfeindlichkeit. „Der ideelle Anspruch, an der Verwirkli-chung einer sozialen Utopie teilzuhaben, wird zur Privatsache erkldrt, relati-viert und aufgegeben" (Schaltegger und Petersen 2001: 20). Insgesamt vermit-teln sie ein Bild, als sei schon in der okologischen Nische die profitorientierte Vermarktung der „in der Szene kultivierten Asthetik und Umweltkompetenz'' abgeschlossen. Hier tiberwiegt das Bild des zwar okologisch aufgeschlossenen, aber letztlich rein marktorientiert und okonomisch rational handelnden Unter-nehmers, der meist mit seinem kleinen oder mittleren Untemehmen eine Markt-

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260 Jens Clausen

chance fur okologische Produkte erkennt" . Jenseits der Nische finden sich dann die eigentlich im Fokus der Publikation stehenden Ecopreneure, die sich der ErschHeBung des Massenmarktes fur okologische Produkte verschrieben ha-ben^ In der Beschreibung dieser Ecopreneure, die sowohl in Form wachsender Nischenanbieter als auch in der Form von okologisch innovativen Managerln-nen in GroBuntemehmen auftreten, fmden sich ebenfalls primar rational oko-nomische Motive.

Mark Clevey (2002) charakterisiert in einer Arbeit des US-amerikanischen Center for Small Businesses and the Environment erfolgreiche grtine Unter-nehmen als „Green Gazelles", die Ahnlichkeiten zu den Ecopreneuren von Schaltegger und Petersen aufweisen. „ First and formeost, green businesses are market leaders seeking to change customer behaviour'' (Clevey 2002: 10). Mit einem starken Schwerpunkt auf grunen Technologieuntemehmen fmdet Clevey bei „Green Gazelles" eine besonders hohe Innovationsrate, eine hohe Techno-logieintensitat der Produkte, eine extreme kurze „time to market" und eine hohe Zahl gleichzeitig bearbeiteter Markte.

2.3 Markterfolg und Innovationsbeitrag

In einer empirischen Untersuchung gruner Marktfiihrer stoBt Petersen (2003: 102) auf 64 Untemehmen, die sich selbst als flihrend in globalen (11), kontinen-talen (15), nationalen (34) oder regionalen (4) Markten sehen^. Die meist mittel-standischen Untemehmen, 51 Untemehmen haben weniger als 500 Beschaftig-te, erzeugen u. a. Produkte der Bediirfnisfelder Emahmng (14), Warme und Strom (13), Wohnen (11) und Mobilitat (6). Die meisten Untemehmen (41) gingen auf okologische Grunderlnnen zurlick, andere wurden abmpt umgestellt (8) oder ausgegrundet (3). Nur 12 Untemehmen haben sich allmahlich zu oko-logischen Untemehmen gewandelt.

Petersen ordnet die meisten okologischen Marktfiihrer der Nachhaltigkeits-strategie „Konsistenz" zu, die auf Harmonisiemng der Produkte mit dem natiir-lichen Stoffkreislauf setzt. Daneben sieht Petersen (2002: 19) noch die Nachhal-tigkeitsstrategien „Effizienz" (Reduktion des Material- und Energieeinsatzes) und „Suffizienz" (Geniigsamkeit), die aber fiir die griinen Marktfuhrer eine geringere RoUe spielen. Die Arbeit von Petersen ist flir die Untersuchung oko-logischer Grundungen deshalb besonders wichtig, weil sie die Bedeutung sol-

Ein differenziertes Bild haben Liz Walley und David Taylor (2002: 40), die zwischen den Orientierungen auf Nachhaltigkeit und auf okonomische Vorteile eher ein Kontinuum wahr-nehmen. Siehe hierzu auch: Villinger, Alex; Wustenhagen, Rolf; Meyer, Amt (2000): Jenseits der Oko-Nische. Birkhauser. Basel. 36 Befragte schatzten sich als uneingeschrankte Marktfuhrer ein. 28 gaben an, marktfahrend gleichauf mit ein oder zwei Wettbewerbem zu sein (Petersen 2003: 98).

Page 272: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Nachhaltigkeitsimpulse durch Grune Griinderlnnen 261

cher Grundungen fur okologische Nischenmarkte anschaulich belegt. Auch noch Jahrzehnte nach dem Entstehen solcher Nischenmarkte dominieren Griine Grundungen diese Markte und sind teilweise (26 von 64) international Markt-flihrer.

Zu einem ahnlichen Ergebnis fiihrt auch die von Marlen Arnold und Andre­as Aulinger (2002) durchgefiihrte Analyse von 70 umweltorientierten Unter-nehmen hinsichtlich der von ihnen umgesetzten Nachhaltigkeitsprinzipien^ Sie konnten zeigen, dass sich groBe und alte Untemehmen eher an den Nachhaltig-keitsprinzipien Effizienz, Vermeidung, Risikoreduzierung und gerechte Vertei-lung orientieren, kleine und junge Untemehmen dagegen Konsistenz und Suffi-zienz einen deutlich hoheren Stellenwert geben. Interessant ist auch die im selben Projektverbund durchgefiihrte Analyse von Nachhaltigkeitsinnovationen von Klaus Fichter und Marlen Arnold (2003: 38). Sie stellen bei den auf Kon­sistenz ausgerichteten Untemehmensbeispielen einen hohen Anteil an Produkt-innovationen fest, die haufig mit dem Verlassen existierender Technologiepfade und mit neuen institutionellen Arrangements, wie z. B. Untemehmensgriindun-gen, verbunden sind.

2.4 Griine Griinderlnnen in der Netzwerkperspektive

Die bis hierher aufgefiihrten Untersuchungen fokussieren jeweils auf einzelne Untemehmen, ihre Griinderlnnen, Wettbewerbsvorteile und Strategien. Zum Verstandnis der Dynamik Griiner Grundungen ist es jedoch weiter notwendig, einen Blick auf die Kooperations- und Netzwerkstmkturen dieser Grundungen zu werfen.

Zur Gnindung fiihrende Stmkturen und Prozesse beleuchten z. B. Petersen, der in seiner Untersuchung (s. o.) 46 marktfiihrende Untemehmen gefiinden hat, die nach seiner Ansicht als Folge der Okologiebewegung entstanden sind, und Sven Ripsas (1997), der den Gnindungsboom der 80er-Jahre im Naturkostsek-tor und in der biologischen Landwirtschaft ebenfalls als Folge der Umwelt-schutzbewegung beschreibt. Die Thematisiemng von Umweltschutz und, im Zusammenhang damit, vielfaltigen Ansprtichen an gesunde Emahmng lieB eine potenzielle Nachfrage deutlich werden und ergab damit vielfaltige auslosende Momente, „die Menschen mit entsprechenden Ideen vonpotentiellen zu tatsdch-lichen Griindern werden liefien. Ein oft iibersehener Faktor ist dabei die Bedeu-tung einer neu entstehenden, eine Generation verbindenden, Wertebasis. Oft sind die damit verbundenen Ziele kurzfristig nicht politisch durchsetzbar, wie z. B. der Verzicht auf Tierversuche in der Kosmetik oder der reduzierte Einsatz von Pflanzenschutzmitteln beim Anbau von Nahrungsmitteln. Unternehmeri-

Es wurden die Nachhaltigkeitsprinzipien Effizienz, Vermeidung, Konsistenz, Risikoreduzie­rung, Suffizienz und gerechte Verteilung unterschieden.

Page 273: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

262 Jens Clausen

sches Handeln bietet dann die Alternative, iiber den Markt Einflufi zu nehmen und neu entstehenden Konsumbedurfnissen gerecht zu werden. " (Ripsas 1997: 199) Ripsas rechnet als bekannte Griindungen „The Body Shop" und die „Tee-kampagne" dieser Griindungswelle zu.

Auch Giinter Faltin (1998) sieht einen Zusammenhang zwischen Okologie (-bewegung) und Entrepreneurship.^ In der Schaffung von Beschaftigung bei sinkendem Naturverbrauch bestehe eine Chance flir griines Entrepreneurship als Beitrag zur okologischen Modemisierung. Er ftihrt ein ganzes Feld schlum-memder Chancen auf, zu denen er auch den okologischen Landbau, nachwach-sende Rohstoffe und sanfte Bio-Technologie zahlt (Faltin 1998: 15 f.). Und er sieht bewusst die Bedeutung der Personen, die diese Ideen entwickelt haben und aktiv vertreten, fur den Innovationsprozess: „ Sweeping new ideas do not, as a rule, arise from workaday business life and within the context of rational eco­nomic thinking. Such ideas often draw vibrant inputs from proximity to uncon­ventional thinkers, socially involved people, ecologically engaged people, or artists'' {Y2i\im200\\ 129).

Genau hier wird der Gedanke der kulturellen Einbindung von Entrepreneu-ren, z. B. in einer sozialen Bewegung, anschlussfahig, denn hier liegt zumindest ein Faktor fur den Erfolg der Griindung. Und genau diese Einbindung erhoht einerseits die Wahrscheinlichkeit, dass der Entrepreneur die Bediirfnisse genau dieser Gruppe gut kennt, andererseits aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass eine - sich zumindest auf diese Gruppe erstreckende - Nachfrage wirklich ein-tritt.^ Die Suche nach Innovations- und Griindungspotenzialen in gesellschaftli-chen Bewegungen wiirde damit der Anregung Faltins entsprechen, vom Markt auszugehen. Ahnliche Chancen fur griine Markte sieht auch Peter Soderbaum (1998: 250): „The idea is simple. For example. Green consumers will prefer Green producers or companies. Green producers in turn will look for Green suppliers, and so on. Green lines will occur and Green networks will compete with those that are less green or non-green.'' Auf der Seite des Konsums ist der hier postulierte Zusammenhang zwischen Umweltbewegung und umweltorien-tiertem Einkaufsverhalten mehr als plausibel, auf der Anbieterseite soil er im Folgenden nachgewiesen werden.

Gtinter Faltin ist Professor an der Freien Universitat Berlin mit dem Arbeitsbereich Entrepre­neurship und personlich der Griinder der Teekampagne, die in ihren Produkten soziale und oko-logische Aspekte widerspiegelt (Faltin 1998: 10 f.). Astad Pastakia sieht daruber hinaus die Chance, dass die Beziehung zwischen Grunen Unter-nehmen und Konsumentlnnen auch Chancen zur Veranderung von Konsumstrukturen bietet: „Ecopreneurs can play an important role by educating the consumer and broadening the niche markets ..."{2002: 104).

Page 274: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Nachhaltigkeitsimpulse durch Griine Griinderlnnen 263

2.5 Forschungsansatz

In den 90er Jahren beleuchten die einschlagigen Arbeiten Einzelaspekte griinen Untemehmertums. In den Arbeiten von Schaltegger und Petersen (2001) wie auch von Clevey (2002) wird dann die Markt- und Erfolgsorientierung Griiner Griinderlnnen sehr stark betont, ihre okologische Motivation tritt in den Hinter-grund des wirtschaftlichen Erfolgs. Dieser ist aber, wie die Untersuchung von Petersen (2003) deutlich macht, unzweifelhaft vorhanden und wesentliche Ein-fliisse auf die Richtung von Innovationen werden von Arnold und Aulinger (2002) wie auch von Fichter und Arnold (2003) erkannt. Dabei scheint auch die Netzwerkeinbindung von hoher Bedeutung.

Die folgende empirische Untersuchung versucht, die sich hier implizit an-deutenden Zusammenhange von okologischer Motivation und Netzwerkeinbin­dung einerseits und Richtung der okologischen Innovation andererseits zu be­leuchten.

3 Arbeitsprogramm und Methode

Das Arbeitsprogramm der Untersuchung zielte darauf, die spezifische okologi­sche Motivation und auch die gesellschaftspolitische Netzwerkeinbindung Griinder Griinderlnnen als treibende Krafte ihres untemehmerischen Wirkens zu identifizieren. Auf der Basis des Nachweises von Petersen, dass okologisch ausgerichtete Untemehmen viele spezifisch okologisch fokussierte Innovationen und nachhaltige Zukunftsmarkte wesentlich mitentwickelt haben und in ihnen in der Marktfiihrerposition sind, wiirde damit die spezifisch okologische Motivati­on der Grunen Griinderlnnen als treibende Kraft von okologischen Nachhaltig-keitsinnovationen deutlich.

Basis der Untersuchung ist eine im Herbst 2002 durchgefiihrte Befi-agung von Griinderlnnen im okologischen Lebensmittelsektor. Die per Email durchge­fiihrte Befi-agung richtete sich an Griinderlnnen von Untemehmen der Verarbei-tung von und des Handels mit okologischen Lebensmitteln in drei Regionen: den USA, Nordeuropa und Deutschland. Der Fragebogen wurde an insgesamt 203 in der Vermarktung biologischer Lebensmittel aktive Untemehmen'^ ge-sandt, von denen 50 antworteten, was einer Riicklaufquote von 25% entspricht. 37 der 50 Untemehmerlnnen waren die personlichen Grunderlnnen ihrer Unter-nehmen. 13 Personen hatten durch einen radikalen Strategiewechsel ihr Unter-nehmen quasi „neugegriindet".

Davon wurden 157 Untemehmen als Teilnehmer der Messe Biofach 2002 dentifiziert. Weitere 25 Adressaten in Nordeuropa fanden sich auf der homepage „kurmakka" (www.kurmakka.fi/linksO.html). Die restlichen 21 Adressaten wurden der homepage „A11 Orga­nic links" (www.allorganiclinks.com) entnommen.

Page 275: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

264 Jens Clausen

4 Ergebnisse

Erfragt wurden vier wesentliche Gnindungsmotive, von denen drei aus anderen Untersuchungen bekannt sind: Griindung aus Notsituation, Griindung zur Nut-zung von wirtschaftlichen Chancen und Griindung zur Realisierung individuel-ler Selbstandigkeit innerhalb der eigenen Branche. Weiter wurde als Griin-dungsmotiv im Rahmen dieser Befragung erstmals das folgende Motiv in Erwagung gezogen: „Um zum Wachstum der okologischen Landwirtschaft und zur Verbreitung des Konsums okologischer Lebensmittel beizutragen, sah ich die Notwendigkeit zusatzlicher Produkte und Produktion".

Tabelle 15: Bedeutung der Grilndungsmotive

Sehr wichtig Wichtig Unklar Eher unwichtig Nicht wichtig Keine Angabe

Notsituation

0

3 1

2

43

1

Markt-chance

16

18 4

2

9

1

Selbstandigkeits-streben innerhalb

der Branche

7

4 2

0

36

1

Okologische Notwendigkeit

24

12 3

2

8

1

Es wird deutlich, dass fur die hier untersuchte Gruppe der Griinen Grlinderln-nen das Motiv, zum Wachstum der okologischen Landwirtschaft und zur Verbreitung des Konsums okologischer Lebensmittel beizutragen, neben - oder wahrscheinlich zutreffender im Kontext - der Nutzung der Marktchancen do-miniert. Wenig bedeutend ist die Griindung aus der Notsituation. Zu einem etwas anderen Ergebnis kommt Ripsas (2001: 18) bei der Befragung von nur sieben Umweltschutzgriindem: Es dominiert das Unabhangigkeitsstreben (5 von 7 Nennungen) vor dem okologischem und ideellem Anspruch (jeweils 4 von 7 Nennungen).

Besonders deutlich wird die Wertsetzung auch in den Antworten auf die fol-genden beiden Altemativen. Dabei wurden die Befragten gebeten, ein Kreuz auf diejenige von fiinf Positionen zu machen, die ihrer Einstellung - zwischen zwei Extremen - am nachsten kommt.

Page 276: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Nachhaltigkeitsimpulse durch Griine Griinderlnnen 265

Tahelle 16: Bedeutung des Profltmotivs

Einstufung auf 1 bis 5 Skala

Profit ist ftir die Weiter-entwicklung des Unter-nehmens notig.

Hohe Absatzzahlen meiner Produkte verandem die Gesellschaft, und ich sehe sie als wichtigsten Erfolg fiir mich.

Keine Angabe 1 2

1

19

22

2

12

9

3

13

14

4

1

0

5

3

3

Personlicher Profit ist eine wichtige Motivati­on fur mich.

Personlicher Profit ist mein wichtigster Er-folg.

Die eigene Idee und die (nachhaltige) Entwicklung der Gesellschaft scheint den Griinen Griinderlnnen mehrheitlich weit wichtiger als der Profitaspekt. Leider ist beztiglich dieser Frage kaum ein Vergleich mit anderen Untersuchungen moglich, da die Bedeutung des Profits als Erfolgskriterium fflr die Grunderin generell kaum in Frage gestellt wird^^

Auf die Frage „Sehen Sie Ihre Untemehmensgrundung als personlichen Bei-trag dazu, die Gesellschaft okologischer zu gestalten?" antwortete die Mehrheit der Griinderlnnen mit „Ja". AUe 14 US-Griinderlnnen, 14 von 17 nordeuropai-schen und 18 von 19 deutschen Griinderlnnen sehen ihre Griindung als gesell-schaftsverandemde Aktivitat. Dies wird auch in einigen der Kommentare in den Antworten deutlich. „Help heal the planet and the way we behave and relate to her while helping people" fasst US-Griinder 3 den Griindungsgrund zusammen. „ After working in various NGOs we wanted to do something in reality." berichtet der schwedische Griinder 20. „Die Biobauern unserer Region wollten besseren Absatz plus besseren Milchpreis. " sagt der Mitgriinder 24 einer deut­schen Biomolkerei. Am pointiertesten ordnet der danische Griinder 38 die Griindung politisch ein: „At the time we founded our company there were very few organic products and the trend of the young in 1970 (which I was) was to save the world: anti-atomic - biodynamic.''

Weiter wurde gefragt, ob bereits einmal ein anderes Untemehmen ein Pro-dukt kopiert hat. 35 von 50 Griinderlnnen beantworteten diese Frage mit ,ja", was sowohl auf Innovativitat als auch auf eine marktverandemde Wirkung der Aktivitaten hinweist.

Douthwaite und Dieffenbacher (1998) berichten in einer Befragung von Landwirten zu ihrer Motivation zum Aufbau von Erzeuger-Verbraucher Gemeinschaften allerdings ebenfalls von ei­ner extrem geringen Bedeutung des Profltmotivs.

Page 277: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

266 Jens Clausen

In das Bild der gesellschaftsverandemden Grundung passt auch, dass die Mehrheit der Griinen Grunderlnnen fruher in der Umweltbewegung aktiv war Oder dies immer noch ist.

Tabelle 17: Aktivitdt der Grunderlnnen in der Umweltbewegung

Waren oder sind Sie in der Umweltbewegung aktiv? Ja, fruher Ja, ich bin noch aktiv Nein '

Nord-europa

7 4 6

USA

5 5 4

Deutschland

8 5 6

Gesamt

20 14 16

Dabei verwundert es nicht, dass sich die Mehrheit der ehemals Aktiven aus der Arbeit zurlickgezogen hat, denn die Grundung und Leitung eines Untemehmens wird Griine Grunderlnnen genauso in Anspruch nehmen wie alle anderen Un-temehmerlnnen auch. Vor dem Hintergrund der bekannten Uberlastung dieser Personengruppe scheint eher iiberraschend, dass 28% der Befragten zum Zeit-punkt der Befragung immer noch aktiv sind. Auch Ripsas (2001: 18) fmdet, dass alle sieben von ihm befragten Umweltschutzgriinder vor der Griindung zumindest privat okologisch aktiv und politisch interessiert und engagiert wa­ren.

5 Fazit

Fiir die Griindungen der okologischen Lebensmittelbranche gelingt es damit plausibel die Bedeutung gesellschaftspolitischer Motive zu zeigen und ihre Auswirkungen auf die Entstehung dieses Zukunftsmarktes mit seinen innovati-ven Produkten deutlich zu machen. Weiter wird die Vemetzung Griiner Griin­dungen mit der Umweltbewegung deutlich, die sich im Detail besonders in der Produklinie, aber auch im Kontext von Forschung und Entwicklung auswirkt. Emotionale Ertrage als Folge von Respekt, wie sie Casson beschreibt, sind damit auch fiir Griine Grunder ein plausibel erscheinendes Motiv. Nicht be-wusst okologisch ausgerichtete Biotechnologiegriindungen im Lebensmittelsek-tor weisen dagegen vollig andere Motive und Netzwerkpartnerschaften auf (Sigle und Clausen 2005: 14).

Griindungen wird ein erheblicher Beitrag zur Innovationsaktivitat und damit zum Wachstum zugeschrieben. Von Griinen Griindungen geht ein solcher Ein-fluss besonders in Erfolgsfeldem der nachhaltigen Entwicklung aus. Neben den okologischen Lebensmitteln gilt dies fiir Windkraftwerke und andere regenera­tive Energien, aber z.B. auch fiir bionische Produkte und Technologien. In Kreisen, die ihre Ideen teilen, vemetzte Griine Griinderlnnen haben diese Felder gepragt und iiben weiter einen bedeutenden Einfluss aus. Ihr okonomischer

Page 278: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Nachhaltigkeitsimpulse durch Griine Griinderlnnen 267

Erfolg wird zusehends anerkannt. Ihre ideellen Zielsetzungen werden in den aktuellen Arbeiten zum Thema immer weniger als „grUnes Spinnertum" be-schrieben, vielmehr treten diese zunehmend als Triebfeder fur auf Nachhaltig-keit gerichtete Innovation in den Vordergrund.

Literatur

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Page 280: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Nachhaltige Innovationsnetzwerke in Theorie und Praxis: Ausgewahlte Forschungsergebnisse

Ufa Kirschten

1 Problemstellung

Die Entwicklung nachhaltiger Innovationen, d.h. Innovationen in der Schnitt-menge von okologischer und sozialer Vertraglichkeit sowie Wirtschaftlichkeit erfordert eine disziplin-, branchen- und wertschopfungsstufeniibergreifende Zusammenarbeit verschiedener Akteure mit vielfaltigen Kompetenzen. Netz-werke als institutionelle Form einer iiberbetrieblichen Zusammenarbeit bieten interessante Perspektiven zur Realisierung einer Zusammenarbeit im Bereich nachhaltiger Innovationen. Allerdings sind Innovationsnetzwerke, deren ge-meinsame Zielstellung in der Entwicklung und Durchsetzung nachhaltiger In­novationen besteht, bislang in Deutschland eher wenig verbreitet. Woran liegt das? Mogliche Erklarungsbeitrage flir die aufgeworfenen Fragen sowie zum Forschungsgegenstand „nachhaltige Innovationsnetzwerke" werden in diesem Beitrag aus konzeptioneller und empirischer Perspektive diskutiert. Grundlage hierfiir sind Ergebnisse des Forschungsprojektes „Nachhaltige Innovations­netzwerke", das ausgewahlte nachhaltige Innovationsnetzwerke in Deutschland qualitativ empirisch untersucht hat.

Der Beitrag gliedert sich in funf Kapitel: Ausgehend von dieser Problemstel­lung (Kapitel 1) werden im zweiten Kapitel Gegenstand und Anforderungen an nachhaltige Innovationen diskutiert. Diese bilden die argumentatorische Grund­lage flir das Konzept nachhaltiger Innovationsnetzwerke als Gegenstand des dritten Kapitels. Die Konzeption und ausgewahlte empirische Ergebnisse des Forschungsprojektes „Nachhaltige Innovationsnetzwerke" werden im vierten Kapitel vorgesteUt. AbschlieBend prasentiert das funfte Kapitel einige empirisch ermittelte zentrale Erfolgsfaktoren nachhaltiger Innovationsnetzwerke.

2 Nachhaltige Innovationen: Gegenstand und Anforderungen

Fiir die Entwicklung und Umsetzung nachhaltiger Wirtschafts- und Lebensstile konnen nachhaltige Innovationen wichtige Beitrage leisten. Unter nachhaltigen Innovationen wird hier die Entwicklung, Markteinflihrung bzw. erstmalige Anwendung und allgemeine Ausbreitung von etwas Neuem verstanden, das neben okonomischen auch okologische und soziale Verbesserungen beinhaltet. Das Spektrum moglicher nachhaltiger Innovationen ist breit: Dazu gehoren konnen okologisch und sozial vertragliche Produkte, Dienstleistungen oder

Page 281: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

270 UtaKirschten

Verfahren, aber auch z.B. soziale, organisationale (Nachhaltigkeitsmanage-ment), institutionelle (Netzwerke), systemorientierte (z. B. Aufbau einer regio-nalen Kreislaufwirtschaft) oder bediirfnisorientierte (neue Mobilitatskonzepte) Innovationen.

Uber die Forderung zur Beriicksichtigung aller drei Dimensionen der Nach-haltigkeit hinaus sollten konkrete Innovationen noch weitere Anforderungen erfiillen, um den Besonderheiten einer nachhaltigen Entwicklung gerecht zu werden. Dazu gehoren insbesondere die folgenden (vgl. Abbildung 31):

Anforderungen an nachhaltige Innovationen

•=> Verfolgung okonomischer, okologischer und sozialer Ziele bzw. Verbesserungen

•=> Inter- bzw. transdisziplinare Zusammenarbeit •=> aktuerstibergreifender Innovationsdialog •=> wertschopftingsstufen-tibergreifende Zusammenarbeit

Abbildung 31: Anforderungen an nachhaltige Innovationen

Fiir die Bearbeitung konkreter nachhaltigkeits-orientierter Innovationsprojekte bedarf es einer inter- bzw. transdisziplindren Zusammenarbeit, in der die je-weils notwendigen okonomischen, technologischen, okologischen und sozialen bzw. gesellschaftlichen Kompetenzen und Ressourcen gebiindelt und fur eine Problemlosung gemeinsam nutzbar gemacht werden^ Notig erscheint auch ein unternehmensubergreifender Innovationsdialog zwischen relevanten Akteuren und Stakeholdem (z.B. Untemehmen, Kunden, Lieferanten, Forschungsinstitu-ten, politischen Institutionen, NGO's, Biirgem). Ein solcher Dialog ermoglicht nicht nur die Beriicksichtigung akteurspezifischer Problemlagen und Bedtirfnis-se sondem ist auch eine wichtige Voraussetzung fiir die gesellschaftliche Ein-bettung und Akzeptanz einer nachhaltigen Neuerung. Weiterhin bedarf es einer wertschopfungsstufen-ubergreifenden Zusammenarbeit. Diese ist wichtig fiir die Realisierung integrierter Problemlosungen „von der Wiege bis zur Wiege" und fiir eine ganzheitliche Optimierung von Stoff- und Energiefliissen bei der Ent­wicklung und Durchsetzung nachhaltiger Produkte, Prozesse oder anderer z.B. systemorientierter Innovationen. Hierzu miissen Akteure aus der gesamten Wertschopfiingskette (F+E, Produktion, Nutzung und Verwertung) mit ihren spezifischen Interessen, Kompetenzen und Ressourcen in den Innovationspro-zess eingebunden werden. SchlieBlich miissen auch nachhaltige Innovationen in bestehende Systeme integrierbar sein und an vorhandene Strukturen ankniipfen konnen. Dies ist kein Widerspruch zur Suche nach neuen Entwicklungspfaden.

Halme,M.(2001)

Page 282: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Nachhaltige Innovationsnetzwerke in Theorie und Praxis 271

Vielmehr konnen Innovationen nur dann auch okonomisch erfolgreich sein, wenn sie als realistische Alternative zu bestehenden Losungen angesehen wer-den. Dazu miissen sie an vorhandene Strukturen und Systeme anschlussfahig sein. Offensichtlich ist dies bei technischen Systemen, wie z.B. bei neuen For-men der Energiegewinnung^. Diese Anschlussfahigkeit gilt aber auch fiir andere Entwicklungen, z.B. Querschnitttechnologien (z.B. neue Werkstoffe, Umwelt-und Biotechnologie, Optoelektronik) oder auch bedtirfnisorientierten Innovatio­nen (z.B. neue Mobilitatskonzepte), um sich am Markt durchsetzen zu konnen.

3 Nachhaltige Innovationsnetzwerke

Die vorgestellten Anforderungen verdeutlichen die Notwendigkeit einer Zu-sammenarbeit verschiedener Akteure an nachhaltigen Innovationen. Aus dem breiten Spektrum an Kooperationsmoglichkeiten zwischen Markt und Hierar­chic wird hier cine untemehmensiibergreifende Zusammenarbeit in nachhaltigen Innovationsnetzwerken vorgestellt. Dabei wird unter nachhaltigen Innovations-netzwerken eine tiberbetriebliche Zusammenarbeit zwischen mehr als zwei Akteuren (Untemehmen, Forschung, staatliche und kommunale Institutionen, gesellschaftliche Akteure) verstanden, deren gemeinsame Zielsetzung auf oko-nomische, okologische und soziale Neuerungen umfassende Innovationsprozes-se ausgerichtet ist und sich damit am Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung orientiert. In konkreten Innovationsprojekten wird eine wertschopfiingsstufen-iibergreifende und gering formalisierte Zusammenarbeit realisiert, die durch komplex-reziproke Austausch- und Lemprozesse sowie durch eher kooperative als konkurrierende Verhaltensmuster zwischen den Akteuren gekennzeichnet ist.^

3.1 Nachhaltige Innovationsnetzwerke als institutionelle Innovation

Innovationsnetzwerke bieten interessante Perspektiven und Potentiale fur die Entwicklung und Durchsetzung von Neuheiten, die okonomische, okologische und soziale Ziele bzw. Verbesserungen anstreben. Gleichzeitig scheinen sie gut geeignet, um den Besonderheiten nachhaltiger Innovationen gerecht zu werden, da sie eine akteurs- und wertschopfungsiibergreifende Zusammenarbeit ermog-lichen.

Empirisch sind jedoch zwei Beobachtungen bemerkenswert: Erstens gibt es in der Praxis noch nicht so viele Innovationen, die tatsachlich alle drei Dimen-sionen der Nachhaltigkeit beriicksichtigen. Zweitens gibt es zwar mittlerweile viele Netzwerkinitiativen, die an der Umsetzung nachhaltiger Entwicklungsper-spektiven arbeiten, jedoch sind konkrete nachhaltige Innovationsnetzwerke in

Heidenreich,M. (1997). Kirschten, U. (2002).

Page 283: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

272 Uta Kirschten

der Praxis bislang nicht sehr weit verbreitet. Wie kann dieser Befund erklart werden? Bin Mangel an tatsachlich nachhaltigen Innovationen kann u.U. gerade darauf zuriick gefiihrt werden, dass geeignete Netzwerke fehlen, um diese Inno­vationen zu generieren. D.h., es bedarf zunachst einer verstarkten Initiierung und Entwicklung von Innovationsnetzwerken als institutionelle Form der Zu-sammenarbeit, die okologische, okonomische und soziale Neuheiten fiir eine nachhaltige Entwicklung gemeinsam erarbeiten. Damit konnen nachhaltige Innovationsnetzwerke selbst als institutionelle Innovation betrachtet werden, die eine wichtige Voraussetzung fiir die Generierung nachhaltiger Innovationen darstellt.

3.2 Moglichkeiten der Institutionalisierung nachhaltiger Innovationsnetzwerke

Nun stellt sich die Frage, wie eine Institutionalisierung nachhaltiger Innovati­onsnetzwerke erreicht werden kann (vgl. Abbildung 32). Wichtige Gestaltungs-spielraume bestehen innerhalb des nationalen Innovationssystems, das die Ge-samtheit der innovationsdeterminierenden Akteure und institutionellen Rahmenbedingungen in einem Land reprasentiert. Freeman definiert ein nation­als Innovationssystem als „the network of institutions in the public and private sectors whose activities and interactions initiate, importe, modify and diffuse

4

new technologies" . Zu den wichtigsten Akteursgruppen des Innovationssys­tems zahlen der Staat, verschiedene Forschungsinstitutionen und die Wirt-schaft . Die innovationsdeterminierenden Akteure und institutionellen Rahmen­bedingungen des Innovationssystems haben groBen Einfluss auf die Moglichkeiten und Grenzen zur Entwicklung und Institutionalisierung nachhal­tiger Innovationsnetzwerke. So konnen geeignete Rahmenbedingungen insbe-sondere die Initiierung nachhaltiger Innovationsnetzwerke fordem und damit zu ihrer Ausbreitung und Institutionalisierung in der Praxis beitragen. Interessante Forschungsfragen sind in diesem Zusammenhang z.B., inwieweit das nationale Innovationssystem die Innovationsfahigkeit verschiedener Akteure (insb. Un-temehmen) aber auch die Netzwerkbildung im Bereich nachhaltiger Innovatio­nen untersttitzt. Hierzu bedarf es auch einer geeigneten Infrastruktur verschie­dener politischer und sozialer Organisationen und Institutionen, wie z.B. regionale und staatliche Institutionen, Untemehmensverbande und andere Inte-ressenverbande, aber auch offentliche und private Transfereinrichtungen zum Wissensaustausch (z.B. Hochschulen, Forschungsinstitutionen).

Gleichzeitig konnen bestehende (nachhaltige) Innovationsnetzwerke auf das Innovationssystem strukturierend einwirken und dadurch die Rahmenbedingun-

Freeman, 1987, S.l. vgl. fur Deutschland Nill/Hiibner/Rickert, 2000, 52

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Nachhaltige Innovationsnetzwerke in Theorie und Praxis 273

gen zu ihren Gunsten verandem bzw. entwickeln . Beispielsweise konnte eine zunehmende Verbreitung (nachhaltiger) Innovationsnetzwerke als neue Koope-rationsform einen Bedarf an veranderten staatlichen und kommunalen Forderpo-litiken und -instrumenten generieren, auf den das Innovationssystem z.B. durch eine zunehmende Forderung von Kooperationsverbiinden (anstatt einzelner Akteure) reagieren konnte. Eine Verbreitung von Netzwerkstrukturen bzw. Innovationsnetzwerken bedarf auch einer angepassten Innovations-Infrastruktur (z.B. andere offentliche oder private Institutionen, Transfereinrichtungen etc); entsprechende Forderungen seitens der Netzwerke konnten infrastrukturorien-tierte Veranderungen des Innovationssystems auslosen. Hierbei ist allerdings zu beriicksichtigen, dass die Einflussmoglichkeiten der Innovationsnetzwerke auf die Entwicklung des Innovationssystems um so groBer sein werden, je deutli-cher diese Innovationsnetzwerke vom Innovationssystem als wichtige innovati-onsgenerierende Institutionen wahrgenommen werden. Das wiederum setzt voraus, dass die Innovationsnetzwerke erfolgreich sind.

Erfolgreiche Netzwerke konnen somit auch selbst als innovationssystembil-dende bzw. -entwickelnde Akteure verstanden werden. Die Institutionalisierung nachhaltiger Innovationsnetzwerke lasst sich als strukturbildender rekursiver

7

Prozess abbilden , wobei einerseits das Innovationssystem fordemd auf die Netzwerkbildung einwirkt und andererseits konkrete Netzwerke wiederum strukturentwickelnd auf das Innovationssystem zurtickwirken (vgl. Abbildung 32). Ergebnis dieses Prozesses kann eine zunehmende Institutionalisierung nachhaltiger Innovationsnetzwerke sein. Diese Institutionalisierung wird als wichtige Voraussetzung fur die Generierung nachhahiger (produkt- und techno-logieorientierter) Innovationen angesehen.

vgl. Lundvall, 1992,8.14 Giddens, A. 1984, The constitution of society. Cambridge.

Page 285: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

274 Uta Kirschten

Akteure des nationalen Innovationssystems

Forschung Staat

Wirtschaft

Institutionalisierung der

Netzwerke

Institutionalisierung des

Innovationssystems

- •

Nachhaltiges Innovations-

netzwerk

Institutionelle Innovation

Nachhaltiges Innovations-

netzwerk

Nachhaltiges Innovations-

netzwerk

iiizriiziii Konkrete nachhaltige Innovationen

Q Q Q Q Q E Abbildung 32: Ansatzpunkte zur Institutionalisierung nachhaltiger

Innovationsnetzwerke

4 Empirische Ergebnisse des Forschungsprojektes „Nachhaltige Innovationsnetzwerke"

Vorgestellt werden hier ausgewahlte Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Nachhaltige Innovationsnetzwerke" , das sich aus theoretischer und empiri-

Das Forschungsprojekt wurde in der Zeit vom 7/2002 bis 12/2004 vom Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt finanziert und war an der Martin-Luther-Universitat Halle-Wittenberg am Lehrstuhl fiir betriebliches Umweltmanagement, Prof. Zabel, angesiedelt.

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Nachhaltige Innovationsnetzwerke in Theorie und Praxis 275

scher Perspektive mit nachhaltigen Innovationsnetzwerken beschaftigt. Theore-tisch interessierten Erklarungsbeitrage ausgewahlter (Netzwerk)Ansatze zum Forschungsgegenstand „nachhaltige Innovationsnetzwerke. Empirisch standen bisherige Erfahmngen sowie Entwicklungsmoglichkeiten existierender Netz-werke im Zentrum des Forschungsinteresses. Der empirische Forschungsteil weist ein vierstufiges Forschungsdesign auf (vgl. Abbildung 33):

Die erste Stufe bildete eine umfangreiche Dokumentenrecherche zu nachhal­tigen Innovationsnetzwerken in Deutschland, wobei ein Schwerpunkt auf Netz-werken in den neuen Bundeslandem lag. In der zweiten Stufe wurden mit neun ausgewahlten Netzwerken Vorgesprache in Form von leitfadengestiitzten Inten-sivinterviews gefiihrt, um genauere Informationen iiber diese Innovationsnetz­werke, ihre Zusammenarbeit und ihre verfolgten Ziele zu bekommen. Der Aus-wahlprozess, welche Netzwerke detailliert empirisch untersucht werden soUten, erfolgte in der dritten Stufe anhand der in der Abb. 1 aufgeflihrten Auswahlkrite-rien. Die empirische Untersuchung (4. Stufe) erfolgte aus Kapazitatsgriinden zweigeteilt: Die Netzwerke RIO und NinA wurden fiir eine intensive empirische Analyse ausgewahlt, die jeweils 8-9 Intensivinterviews mit unterschiedlichen Akteuren der beiden Netzwerke umfasst. Die ebenfalls sehr interessanten Netz­werke RIST, BenefiT und ZONU wurden anhand der bis dahin verfiigbaren Informationen (Dokumente, Recherchen und Vorgesprache) ausgewertet. Zent-rale Forschungsfragen betrafen den Aufbau dieser Netzwerke, ihre Zusammen­arbeit und Innovationen als Ergebnisse sowie die Bedeutung des Innovations-systems fiir Entwicklungsperspektiven dieser Netzwerke.

Die folgenden Ausfiihrungen konzentrieren sich auf ausgewahlte For-schungsergebnisse der beiden detailliert empirisch untersuchten Netzwerke Regionales Jnnovationsbtindnis Oberhavel e.V. (RIO) und Naturstoffmnovati-onsnetzwerk Altmark e.V. (NinA), da sie eine Besonderheit aufweisen: Beide Netzwerke beschaftigen sich inhaltlich mit einem sehr ahnlichen Thema, nam-lich mit der Entwicklung von Nutzungs- und Verarbeitungsmoglichkeiten fur nachhaltige Rohstoffe (insbesondere Hanf). Unterschiede bestehen jedoch in den potenziellen Anwendungsbereichen.

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276 Uta Kirschten

1. Stufe: Dokumentenanalyse

2. Stufe: Vorgesprdche mit neun Netzwerken:

Naturstoffinnovationsnetzwerk Altmark (NinA), Gardelegen, Sachsen-Anhalt Regionales Innovationsbundnis Oberhavel (RIO) in Henningsdorf, Brandenburg MAHREG Automotive - Automobilzulieferer in der Magdeburg-Anhalt / Alt-mark-Harz-Region Barrierefreie Modellregion fiir den integrativen Tourismus in Ohrdruf, Thiirin-gen Regionales Innovationsnetzwerk Stoffkreislaufe in Freiberg, Sachsen Demonstrationszentrum „Kreislauffahigkeit von Werkstoffen" in Merseburg, Sachsen-Anhalt Netzwerk COUP 21 in Niimberg, Bayem Zentrum fur Okologie, Natur- und Umweltschutz (ZONU) in Buch, Sachsen-Anhalt Bayrisches Entwicklungsnetz fiir innovative Technologien (BenefiT) in Erlan-gen, Bayem

3. Stufe: Auswahl

Kriterien: • untemehmens- bzw. akteur-ubergreifende Zusammenarbeit, • konkrete Zusammenarbeit an Innovationen • inhaltlicher Fokus der Innovationen: okologische, okonomische und soziale

Verbesserungen 4. Stufe: Empirische Untersuchung

Detaillierte empirische Untersuchung der Netzwerke

Naturstoff­innovationsnetzwerk Altmark e.V. (NINA)

Entwicklung von Nutzungs- und Verarbeitungsmoglichkeiten fiir nachwachsende Rohstoffe (insb. Hanf) fiir industrielle Massen-produkte, Hightech-Bereiche und diversen Direktanwendungen

9 Intensivinterviews

Regionales Innovati-onsbiindnis Oberhavel (RIO)

Entwicklungs- und Zuliefemetzwerk fiir alternative umweltver-tragliche Materialen (u.a. Hanf, Flachs) im Fahrzeugbau

8 Intensivinterviews

Auswertung der Netzwerke (vorhandenes Datenmaterial und Vorgesprache)

• Regionales Innovationsnetzwerk Stoffkreislaufe • Bayrisches Entwicklungsnetz fiir innovative Technologien, Zentrum fiir Okolo­

gie, Natur- und Umweltschutz (BEnefiT) • Zentrum fiir Okologie, Natur- und Umweltschutz

Abbildung 33: Design des empirischen Forschungsteils

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Nachhaltige Innovationsnetzwerke in Theorie und Praxis 277

Wahrend NinA den Einsatz nachwachsender Rohstoffe in verschiedenen An-wendungsbereiche verfolgt, konzentriert sich RIO auf den Fahrzeugbau. Dar-uber hinaus gehoren beide Netzwerke zu den 23 Innovationsnetzwerken in den neuen Bundeslandem, die im Rahmen des BMBF-Forderprogramms „InnoRe-

9 gio" im Zeitraum von 2000 bis 2006 gefordert werden . Ziel dieses Forderpro-gramms ist die Starkung der Innovationsfahigkeit von Untemehmen in den neuen Bundeslandem durch die Forderung der Netzwerkbildung und dauerhaf-ter Kooperationsbeziehungen zwischen verschiedenen regionalen Akteuren (z. B. F+E-Einrichtungen, Bildungsinstitutionen, Technologietransferstellen etc). Damit einher gehen sollen Impulse fur Wachstum und Beschaftigung in den Regionen. ' . Aufgrund dieser inhaltlichen Nahe beider Netzwerke sowie auch struktureller Parallelen durch ihre Zugehorigkeit zu den InnoRegio-Netzwerken ergab sich hier die recht seltene Moglichkeit, die beiden nachhalti-gen Innovationsnetzwerke hinsichtlich ihrer Zusammenarbeit, Erfolge aber auch Schwierigkeiten tatsachlich vergleichend untersuchen zu konnen.

4.1 Strukturen der nachhaltigen Innovationsnetzwerke

Die Innovationsnetzwerke weisen eine projektorientierte Struktur auf, die durch das InnoRegio-Forderprogramm in Grundzugen vorgegeben ist (vgl. Abb. 4). In jedem Netzwerk gibt es verschiedene sog. Verbundprojekte, die beim zustandi-gen Projekttrager beantragt werden miissen und in denen i.d.R. mehrere Akteure an einer Innovation zusammen arbeiten. Weiterhin sieht das InnoRegio-Programm fiir alle geforderten Netzwerke ein sog. Netzwerkmanagement vor, das die Akteure, die Netzwerkzusammenarbeit und die Projekteinreichung beim Projekttrager koordinieren und unterstutzen soil. Die Verbundprojekte und das Netzwerkmanagement bilden die innere Struktur der Netzwerke. Dariiber hin­aus existiert ein sog. Netzwerkpool (dargestellt als aufierer Netzwerkkreis in Abbildung 34), der unabhangig von konkreten Verbundprojekten einen groBe-ren Kreis von am Netzwerk interessierten Akteuren (iiberwiegend Untemeh­men, Forschungs- und Bildungseinrichtungen, etc) umfasst. Sie gehoren dem Netzwerk nur lose an, interessieren sich jedoch fiir seine inhaltliche Arbeit und wiirden auch geme enger mit Netzwerkakteuren des inneren Netzwerks zusam-menarbeiten. Dieser Netzwerkpool bietet ein groBes Potential an Akteuren, Wissen und Ressourcen, die fur gemeinsame Innovationsprojekte aktiviert und genutzt werden konnen.

Aktuelle Informationen zu dem Forderprogramm finden sich unter www.innoregio.de. DIW 34/2001, Sonderdruck, S. If. Adressaten dieses Forderprogramms sind regionale Kooperationsgemeinschaften, die sich zu Projektverbunden zusammenschheBen; hierbei stand den Bewerbem die Themen- und Gebiets-abgrenzung frei.

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278 Uta Kirschten

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Unternehmen

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Abbildung 34: Struktur der InnoRegio-Netzwerke

4.2 Die Zusammenarbeit in den Innovationsnetzwerken

Strukturbedingt ist die Zusammenarbeit in den Netzwerken gepragt durch die eng zusammen arbeitenden Projektverbiinde. Projektiibergreifende Zusammen-arbeiten sind nicht so haufig. Diese ergeben sich entweder durch personelle tjberschneidungen, d.h., dass einzelne Akteure in mehreren Projekten mitarbei-ten, Oder basieren auf individuellen Akteursinitiativen. Allerdings wird von vielen Akteuren eine projektiibergreifende Information und Kommunikation im Netzwerk als sehr wichtig angesehen.

Eine wertschopfungsstufen-ubergreifende Zusammenarbeit wird in diesen Innovationsnetzwerken in zweierlei Hinsicht angestrebt. Erstens erstreckt sich das Spektrum der bearbeiteten Innovationsvorhaben auf die verschiedenen Stu-fen der Wertschopfiingskette nachwachsender Rohstoffe (vgl. Abbildung 35). Zweitens erfolgt auch innerhalb einzelner Projektverbiinde eine wertschop-fungsstufen-iibergreifende Innovationszusammenarbeit, die aus der Mitarbeit von Akteuren verschiedener Stufen der Wertschopfiingskette am Innovations-prozess resultiert.

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Nachhaltige Innovationsnetzwerke in Theorie und Praxis 279

Im NinA-Netzwerk waren zu Beginn der Zusammenarbeit alle Stufen der Wertschopfungskette vom Anbau der Rohstoffe bis zur industriellen Veredlung und Produktherstellung integriert. Mit die Insolvenz eines wichtigen Akteurs der Verarbeitungsstufe fehlte plotzlich ein zentrales Glied der Wertschopfungs­kette, was sich auf verschiedene Innovationsprozesse des Netzwerkes nachteilig auswirkte. Bei RIO ist lediglich die Landwirtschaft als erste Wertschopfungs-stufe nicht im Netzwerk vertreten, um die Interessenvielfalt der am Netzwerk beteiligten Akteure nicht zu weit auszudehnen. Alle weiteren Glieder der Wert­schopfungskette scheinen gut in die Innovationsprozesse integriert zu sein.

Betrachtet man die Zusammenarbeit insgesamt, so fallt auf, dass die Vorteile der Netzwerkzusammenarbeit als wesentlich wichtiger angesehen werden als Risiken. Dies gilt nicht nur fiir potentielle Risiken, sondem auch fiir tatsachlich eingetretene Risiken, wie z.B. Wissensabfluss durch die Zusammenarbeit oder umfangreiche Nachteile (fmanziell, inhaltlich) durch Projektabbriiche aufgrund des Ausscheidens beteiligter Projektpartner. Hiervon konkret betroffene Akteu­re werteten diese Nachteile insgesamt als nicht so schwerwiegend, um auch selbst das Netzwerk zu verlassen oder andere Konsequenzen zu ziehen. Mogli-che Erklarungen konnten sein, dass einerseits die Entscheidung zur Netzwerk-teilnahme und damit verbundene Investitionen (inhaltlich, zeitlich, finanziell) nicht mehr so leicht revidiert werden. Dariiber hinaus scheint die Netzwerkzu­sammenarbeit als „Geben und Nehmen" von den Akteuren interpretiert zu wer­den, wobei zum „Geben" anscheinend auch Konsequenzen eingetretener Risi­ken bzw. erleideter Nachteile mit eingerechnet werden.

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280 Uta Kirschten

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Abbildung 35: In den Netzwerken NinA undRio integrierte Wertschopfungsstufen

4.3 Ergebnisse der Zusammenarbeit: nachhaltige Innovationen

Thematisch beschaftigen sich beide Netzwerke mit der Entwicklung von Nut-zungs- und Verarbeitungsmoglichkeiten im Bereich nachwachsender Rohstoffe, insbesondere mit Hanf. Dabei ist das Spektrum der in den Netzwerken konkret bearbeiteten Innovationen sehr breit. Es reicht von der Entwicklung konkreter Produkte und Dienstleistungen, tiber die Entwicklung neuartiger Technologien bis bin zu innovativen Forschungsdienstleistungen (vgl. Tabelle 18) Hervorzu-heben ist hierbei, dass sich die Innovationsprojekte auf die verschiedenen Stu-fen der Wertschopfungskette erstrecken, so dass die zentralen Stufen der Wert-schopfungskette in die Innovationsprozesse integriert sind (vgl. Abbildung 35).

Die bearbeiteten Innovationen weisen allerdings einen recht unterschiedli-chen Entwicklungsstand auf. Manche Innovationen liegen schon als Prototyp vor, andere befinden sich noch im Entwicklungsstadium. Das ist auf verschie-dene Ursachen zuriickzufuhren. Teilweise konnten Innovationsprojekte auf-

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Nachhaltige Innovationsnetzwerke in Theorie und Praxis 281

grund langer Projektgenehmigungsphasen erst mit erheblicher zeitlicher Verzo-gerung starten, so dass der Entwicklungsprozess noch andauert. Manche Inno-vationsverbtinde sind auch ins Stocken geraten, z.B. well einzelne Partner das Netzwerk verlassen haben, Insolvenz anmelden mussten oder die geplanten Projektverbtinde nicht in vollem Umfang realisiert werden konnten. Bin weite-rer Grund besteht darin, dass das InnoRegio-Programm Innovationen nur bis zur vorwettbewerblichen Entwicklung fordert. Eine Umsetzung z.B. von Proto-typen in die Produktion oder eine Markteinftihrung der Innovationen konnen (aus wettbewerbsrechtlichen Griinden) vom Programm nicht gefordert werden und sind von den jeweiligen Akteuren selbst zu leisten, was haufig die finan-ziellen Kapazitaten der Akteure - auch in den Projektverbiinden - tibersteigt. Auch sei darauf hingewiesen, dass zum Zeitpunkt der empirischen Untersu-chung die meisten Innovationsprojektverbunde noch nicht abgeschlossen waren, so dass Informationen liber „fertige Innovationen" kaum/ nicht erhoben werden konnten. Insofem konnen iiber den Erfolg der Innovationen am Markt hier noch keine Aussagen gemacht werden.

Dennoch bergen die Innovationen, an denen in den Netzwerken gearbeitet wird, sehr interessante Nachhaltigkeitspotentiale, die hier tiberblicksartig vorge-stellt werden. Okologische Verbesserungen werden i.w. erreicht durch den Ein-satz nachwachsender Rohstoffe in verschiedenen Produkt- bzw. Anwendungs-bereichen, die Entwicklung spezifischer Technologien zum Aufschluss und zur Verarbeitung nachwachsender Rohstoffe, die konsequente umweltvertragliche Weiterentwicklung von Produkten sowie das Angebot okologischer (For-schungs-)Dienstleistungen. Soziale Verbesserungen der Innovationen resultie-ren vor allem aus der groBeren Umwelt- und Gesundheitsvertraglichkeit der entwickelten Produkte bei Herstellung, Anwendung und Entsorgung bzw. Re-cyclingmoglichkeiten. Dariiber hinaus ergeben sich positive regionalwirtschaft-liche Effekte in erster Linie durch die Existenzsicherung bestehender Unter-nehmen, zum Teil auch durch die Ansiedlung neuer Untemehmen und Institutionen sowie den Aufbau diversifizierterer Wirtschaftsstrukturen. Damit verbunden ist eine Sicherung bzw. Ausdehnung von Beschaftigungsmoglichkei-ten, was insbesondere in den relativ strukturschwachen Regionen der Altmark und Teilen von Brandenburg ganz besonders wichtig ist. Zusatzlich werden durch die gemeinsamen Innovationsprozesse innovative Wissenspotentiale bei den Akteuren auf- und ausgebaut, die zur Herausbildung von produkt- und technologieorientierten Kemkompetenzen in den jeweiligen Themenfeldem fiihren und netzwerkspezifische Wettbewerbsvorteile darstellen.

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282 Uta Kirschten

Tabelle 18: Spektrum der in den Netzwerken bearbeiteten Innovationen 12

Netzwerk

NinA

RIO

Produkte / Dienstleistungen

iochleistungswerkstoffe aus tierischen Substanzen

Vorwand-Schallschutz-elemente fur das Ver-kehrswesen

Fahrbahnplatten aus extrudierten Materialmi-schungen

Entwicklung serienreifer Fasermatten aus Naturfa-sem fur den Fahrzeugbau

Naturfaserverstarkte duro-plastische Strukturbauteile fur den Schienenfahr-zeugbau

Spritzgussfahige naturfa­serverstarkte Composite fiir den Fahrzeugbau

„my-ensemble.net" In­formations- und Kom-munikationsplattform fur RIO

Technologien

Material- und Verfahrens-entwicklung fiir die Extrusion von Leichtbauprofilen aus naturfaserverstarkten Kunst-stoffen

Entwicklung einer Zerkleine-rungstechnologie fur Bast-fasem

Entwicklung von Faserauf-bereitungs- und Fertigungs-technologien fur hochwertige Naturfaser-Verbundbauteile

Pyrolyse-Vergasungsverfahren fiir Rohstoffe tierischen Ur-sprungs

Neues Grundkonzept fiir eine Faseraufbereitungsanlage mit Prallaufschluss

Forschungs-dienstleistungen

Bakterieller Aufschluss von Hanffasem,

Entwicklung von Quali-tatskategorien ftir Hanf-faserpartien

Entwicklung werkstoff-technischer Priifmetho-den und Charakterisie-rung von Struktur-Eigen-schaftsprofilen natur-faserverstarkter Kunst-stoffe

Untersuchung halogen-freier Flammschutzmittel fiir naturfaserverstarkte Duroplaste

Die Innovationen versprechen auch okonomische Verbesserungen, beispielswei-se durch das Angebot neuartiger bzw. qualitativ hoherwertiger Produkte bei ahnlichem Preisniveaus, die aufgrund ihres Naturfaseranteils sowohl im Verlauf als auch am Ende ihres Lebenszyklus vielfaltige Vorteile bieten konnen. So

Weitere Informationen zu den verschiedenen Innovationen finden sich bei www.rio-ev.de bzw. www.nina-innoregio.de.

Page 294: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Nachhaltige Innovationsnetzwerke in Theorie und Praxis 283

bergen z.B. Gewichtseinsparungen durch den Einsatz nachwachsender Rohstof-13

fe im Fahrzeugbau erhebliche okonomische Potentiale , aber auch eine um-weltvertragliche und damit kostengtinstige Verwertung bzw. Entsorgung von Produkten (z.B. Fahrzeugen) ist okonomisch auBerordentlich relevant. Auch die bereits angesprochenen positiven regionalwirtschaftlichen Effekte sind ein wichtiger Aspekt, da es sich bei vielen der Netzwerkakteure um kleine Unter-nehmen handelt, die mit Hilfe dieser Innovationen ihre Existenz sichem und zum Teil sogar wirtschaftlich expandieren konnen. Teilweise eroffnen sich auch neue Geschaftsfeldpotentiale fflr die Netzwerkmitglieder aus den gemeinsamen Innovationsprojekten, die als akteur-spezifische okonomische Vorteile zu wer-ten sind.

4.4 Unterstutzung durch das Innovationssystem

Befragt nach der Unterstutzung, die die nachhaltigen Innovationsnetzwerke durch das Innovationssystem erfahren, dominierten bei den befragten Akteuren Aussagen zum InnoRegio-Forderprogramm, das fiir diese Netzwerke eine zent-rale Funktion i.R. des Innovationssystems darsteUt.

Nach Einschatzung der befragten Akteure leistet das InnoRegio-Forderprogramm einen wichtigen Beitrag zur innovationsorientierten Netz-werkbildung in den neuen Bundeslandem^" . Das Forderprogramm zielt auf die Untersttitzung von Innovationsverbtinden (Innovationsnetzwerken) in den neu­en Bundeslandem, ohne inhaltliche Schwerpunktsetzungen. Insofem ist dies kein spezielles Forderprogramm zur Entwicklung nachhaltiger Innovations­netzwerke. Durch seine inhaltliche Offenheit sind hier jedoch u.a. zwei Netz­werke entstanden, die gemeinsam an nachhaltigen Innovationen arbeiten. Die Starke dieses Forderprogramms liegt insbesondere in der Initiierungsfunktion von Innovationsnetzwerken, d.h. darin, den Aufbau von Innovationsnetzwerken anzustoBen und zeitlich begrenzt durch die finanziellen Fordermoglichkeiten zu unterstiitzen.

Als Schwachpunkte dieses Programms wurden von vielen Akteuren insbe­sondere die (zu) lange Dauer und der groBe Aufwand der Projektbeantragung und -bewilligungen genannt, die manchmal bis zu einem Jahr dauerten. Gerade fur Innovationsvorhaben wurde diese lange Zeitspanne von vielen Akteuren in zweifacher Hinsicht als deutlicher Wettbewerbsnachteil gewertet. Erstens als zeitlicher Wettbewerbsnachteil, da die Innovationsidee fur den Projektantrag schon ausgearbeitet sein muss und damit als Idee verschiedenen Personen schon

^ Angermaier, B.; Fischhaber, G. (2002). ''* So bewarben sich auf das InnoRegio-Forderprogramm (Laufzeit 2001 bis 2006) in einer ersten

Qualifizierungsphase 1999 444 regionale Kooperationsgemeinschaften, von denen 25 Netzwer­ke zur Prazisierung ihrer Konzepte ausgewahlt wurden.

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284 UtaKirschten

bekannt ist, an der Umsetzung der Idee jedoch erst nach Projektbewilligung (also im Zweifelsfall erst nach mehreren Monaten bis zu einem Jahr) gearbeitet werden kann. Zweitens als finanzieller Wettbewerbsnachteil, da eine Projekt-forderung ja von der Projektbewilligung abhangt. Dies trifft vor allem kleine Untemehmen, die aus eigener finanzieller Kraft kaum umfangreichere Innovati-onsvorhaben realisieren konnen.

Auch die zeitliche Befi*istung des Forderprogramms wird von den befi'agten Akteuren als ambivalent eingeschatzt. Einerseits dient es dazu, die Netzwerke „auf eigene FiiBe" zu stellen und ihre inhaltliche und vor allem fmanzielle wei-tere Entwicklung selbst zu bewaltigen. Andererseits wird der Forderzeitraum mit 6 Jahren (faktisch teils nur 2-3 Jahre aufgrund langer Projektbewilligungen) von vielen Akteuren als zu kurz eingeschatzt, um Innovationsvorhaben so weit voran zu treiben, dass verwertbare Ergebnisse erzielt werden konnen, auf denen die Netzwerke bzw. auch die einzelnen Akteure nach Beendigung der Forde-rung selbst auft)auen konnten.

Die Untersttitzung von Seiten der Wirtschaft als wichtiger Akteur des Inno-vationssystems scheint im Hinblick auf nachhaltige Innovationsnetzwerke durchaus noch entwicklungsfahig. Auffallig ist z.B. das Fehlen von Risikokapi-talquellen in Deutschland, was von mehreren Akteuren als sehr nachteilig be-dauert wurde.

5 Erfolgsfaktoren nachhaltiger Innovationsnetzwerke

Basierend auf den empirischen Forschungsergebnissen konnten einige Faktoren identifiziert werden, die fiir eine erfolgreiche Entwicklung nachhaltiger Innova­tionsnetzwerke ganz besonders wichtig sind:

Entscheidend far eine erfolgreiche Innovationszusammenarbeit ist ein pro-fessionelles und engagiertes Management der Netzwerke. Dabei reicht es nicht aus, ein Netzwerkmanagement vorzugeben, wie es im InnoRegio-Programm vorgesehen ist. Es muss auch „mit Leben gefiillt" werden. Notig sind „Netz-werkmanager", die nicht nur uber fachliche, sondem vor allem tiber kommuni-kative und sog. Schltisselqualifikationen verfiigen, um die Netzwerkmitglieder in den verschiedensten Anliegen begleiten zu konnen sowie die flir das Netz-werk lebenswichtige Kommunikation im Netzwerk permanent aufrecht zu er-halten. Zu den Aufgaben, die ein Netzwerkmanagement leisten soUte, zahlen z.B. Moderation und Projektmanagement, Information und Kommunikation, Untersttitzung und Koordination der Zusammenarbeit, Akquisition von Forder-und Finanzierungsmoglichkeiten, Auswahl und Beratung der Mitglieder sowie Marketing und Offentlichkeitsarbeit. Insbesondere der Information und Kom­munikation kommt im nachhaltigen Innovationsnetzwerk eine besondere Be-deutung zu: Netzwerke „leben" durch Kommunikation. Die Identifikation netz-werkrelevanter Informationen und ihre gezielte Verbreitung im Netzwerk hat

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Nachhaltige Innovationsnetzwerke in Theorie und Praxis 285

eine ganz wichtige Dienstleistungsfiinktion fur die Netzwerkmitglieder. Dazu gehort auch die gezielte Ansprache einzelner NW-Mitglieder im Hinblick auf netzwerkinteme oder -exteme Kooperationsmoglichkeiten. Als hilfreich hat sich die Nutzung verschiedener Informations- und Kommunikationsinstrumen-ten erwiesen, wie z.B. Newsletter, Informationsbroschiiren, Kommunikationsfo-ren zum Erfahrungsaustausch zwischen den Mitgliedem (gemeinsame Veran-staltungen, Tagungen) aber auch personliche Beratungsdienstleistungen. Das RIO-Netzwerk hat dartiber hinaus die intemetbasierte Informations- und Kom-munikationsplattform „my-ensemble.net" ftir seine MitgHeder entwickelt, die Forschungsergebnisse und Informationen des Netzwerks prasentiert .

Als weiterer Erfolgsfaktor konnte die Integration von Akteuren aus alien fur die Innovationszusammenarbeit relevanten Stufen der Wertschopfungskette identifiziert werden. Erst eine wertschopfungsstufen-iibergreifende Zusammen-arbeit gewahrleistet die Generierung einer integrierten Problemlosung, die sich auch am Markt etablieren kann. Wie Beispiele aus den Netzwerken zeigen, kann ein Fehlen von Akteuren aus einer oder mehreren Stufen der Wertschop­fungskette den gesamten Innovationsprozess stark beeintrachtigen. So hat bei-spielsweise in einem der Netzwerke die Insolvenz eines Akteurs in einer zentra-len Wertschopfungsstufe zu einer erheblichen Beeintrachtigung des gesamten Innovationsnetzwerkes gefiihrt.

Fiir ein langerfristiges Uberleben der Innovationsnetzwerke ist der Aufbau einer Eigenstdndigkeit ganz entscheidend. Staatliche oder kommunale Innovati-onsforderprogramme konnen zwar fiir die Initiierung und den Aufbau nachhal-tiger Innovationsnetzwerke sehr hilfreich sein, wie gerade an den Beispielen RIO und NinA deutlich wird. Ftir eine langerfristige Entwicklung und Selbst-standigkeit dieser Netzwerke ist jedoch die Eigeninitiative der Netzwerkmit­glieder ganz entscheidend, die sowohl ein inhaltliches, aber auch ein fmanziel-les Engagement (unabhangig von staatlichen Forderungen) fiir die Innovationszusammenarbeit erfordert. Von dieser Eigeninitiative und dem En­gagement der Netzwerkmitglieder hangt in entscheidendem MaBe die tJberle-bensfahigkeit der nachhaltigen Innovationsnetzwerke ab.

www.rio-ev.de

Page 297: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

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Literaturverzeichnis

Angermaier, B.; Fischhaber, G.: Nachwachsende Rohstoffe in der Automobilindustrie. UmweltWirt-schaftsForum, lOJg., H.2, 2002., S. 26-28.

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Grenn, K.; Groenewegen, P.; Hofmann, P.S.: Ahead of the Curve, 2001, S. 143-163. Heidenreich, M.: Netzwerke - Grundlage fiir ein neues Innovationsmodell? In: Heidenreich (Hrsg.)

Innovationen in Baden-Wurttemberg, Akademie fiir Technikfolgenabschatzung in Baden-Wurttemberg, 1. Aufl. Baden-Baden: Nomos Verlag 1997, S. 229-235.

Kirschten, U.: Innovationsnetzwerke fur eine nachhaltige Entwicklung, UmweltWirtschaftsForum 10. Jg, Heft 2, Juni 2002, S. 60 - 65.

Lundvall, B.-A. (Hrsg.): National Systems of Innovation. Towards a Theory of Innovation and Interactive Learning, London: Pinter 1992.

Nill, J.; Hiibner, K; Rickert, C : Okologisierung des innovationssystems? In: Dybe, G.; Rogall, H. (Hrsg): Die okonomische Saule der Nachhaitigkeit, Berlin: edition sigma 2000, S. 45 - 72.

Page 298: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Innovation Communities: Die Rolle von Promotorennetzwerken bei Nachhaltigkeitsinnovationen

Klaus Fichter

1 Die Bedeutung von Kooperation und Netzwerken fur Nachhaltigkeitsinnovationen

Zahlreiche empirische Studien deuten darauf hin, dass die Bedeutung und An-zahl von Innovationskooperationen seit Anfang der 90er Jahre stark zugenom-men haben (Gerybadze 2004, 191). Zentrale Griinde dafur sind die gewachsene Spezialisierung und Arbeitsteiligkeit im Innovationsprozess sowie die Dynami-sierung von Technologie- und Marktprozessen (Fichter 2005, 109 ff.). Koopera-tionen soUen vor diesem Hintergrund zum Ausgleich von Ressourcendefiziten, zur Erzielung von Synergieeffekten, zur Beschleunigung von Entwicklungspro-zessen und zur Vermarktungs- und Diffusionsforderung durch Kundeneinbin-dung und Stakeholderintegration beitragen.^ Die Kooperationsforschung zeigt allerdings auch, dass die Bedeutung der Innovationszusammenarbeit je nach Innovationsgrad und Innovationsphase variieren kann und dass der Erfolgsbei-trag von Innovationskooperationen an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist. So spielen neben der Komplementaritat der Ressourcen und Kompetenzen, dem strategischen Fit und gemeinsamen Zielvorstellungen auch atmospharische Fragen wie bestehende Machtstrukturen, kompatible Untemehmenskulturen sowie gegenseitiges Vertrauen und flinktionierende personliche Beziehungen zwischen den Promotoren auf beiden Seiten eine zentrale Rolle. Gerade bei hochgradigen Innovationen kommt der Zusammenarbeit von Herstellem und Anwendem eine zentrale Bedeutung zu. Innovationsvorhaben, die auf grundle-gende Neuerungen abzielen, sind durch hohe technologische, marktliche und untemehmensspezifische Unsicherheiten gepragt (Lettl 2004, 20). Fiir die Be-waltigung dieser Unsicherheiten sind spezifische Formen der Akteurskooperati-on und -interaktion erforderlich: So kann z.B. die Zusammenarbeit mit trend-fiihrenden Nutzem und Extremanwendem die Generierung radikaler Innovationsideen maBgeblich untersttitzen (Lettl 2004, 310 ff.).

Kooperationen und leistungsfahige Akteursnetzwerke spielen in Innovati-onsprozessen generell eine bedeutsame Rolle, gewinnen aber gerade mit Blick

Fur eine Ubersicht verschiedener Motive der Kooperation vgl. Hauschildt 2004, 268 ff. Vgl. Kirchmann 1994, Gerybadze 2004, 194; Hauschildt 2004, 278 ff und Fichter 2005, 177 ff

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288 Klaus Fichter

auf die Initiierung und Durchsetzung von Nachhaltigkeitsinnovationen^ eine besondere Bedeutung. Dafur lassen sich drei zentrale Griinde nennen:

1. Life-cycle- und Systemldsungen\ In nachhaltigkeitsorientierten Innovations-vorhaben spielen der Gedanke der lebenszyklusweiten Verbesserung von Produkten (von der Wiege bis zur Wiege) und die Verbesserung gesamter Wertschopfungs- und Nutzungssysteme durch integrierte Produkt-Service-Systemlosungen eine zentrale Rolle. Diese sind ohne umfangreiche vertika-le und z.T. horizontale Kooperationen entlang von Wertschopfungsketten und Materialfliissen nicht realisierbar.

2. Neue institutionelle Arrangements'. Produkte und Dienstleistungen, die den Anspruch erheben, „umweltfreundlich", „fair gehandelt" oder „nachhaltig" zu sein, sind besonderen Qualitats-, Uberpriifungs- und Glaubwiirdigkeits-anforderungen unterworfen. Daher spielen Qualitatsstandards sowie Zertifi-zierungs- und Produktkennzeichnungsfragen hier eine zentrale Rolle. Sol-che marktlichen Regelungssysteme spielen gerade bei der Markteinfuhrung von Produkt- und Serviceinnovationen eine zentrale Rolle und erfordem ei­ne Abstimmung zwischen Herstellem, Handel und weiteren Marktpartnem und Stakeholdem.

3. Synchronisierung von angebots- und nachfrageseitigem Wandeh Nachhal-tigkeitslosungen erfordem gerade im endverbrauchemahen Bereich vielfach auch einen nachfrageseitigen Wandel (Einstellungen, Verhalten, Informati-onsstand etc.) und damit eine Zusammenarbeit von Herstellem einer Inno­vation mit Nutzem, Verbanden und staatlichen Einrichtungen (Multiak-teurskooperation).

Sowohl die Promotorenforschung'^ als auch die Entrepreneurshipforschung (Fichter 2005, 212 ff.) und Lead-User-Forschung^ zeigen, dass verschiedene Personen und Gmppen im Innovationsprozess von unterschiedlicher Bedeutung sind und sich Schliisselakteure identifizieren lassen, die die Initiiemng und Durchsetzung von Innovationen maBgeblich beeinflussen. Die Interaktion und die Netzwerkbeziehungen zwischen den Schliisselakteuren und Promotoren des Innovationsprozesses stellen damit eine zentrale Erklamngs- und Gestaltungs-groBe fur nachhaltige Produkt-, Service- und Systeminnovationen dar. Wahrend

„Nachhaltigkeitsinnovationen" werden hier verstanden als die Durchsetzung solcher techni-schen, organisationalen, nutzungssystembezogenen, institutionellen oder sozialen Neuerungen, die zum Erhalt kritischer Naturgtiter und zu global und langfristig ubertragbaren Wirtschafts-und Konsumstilen und -niveaus beitragen. Fur eine Ubersicht der Promotorenforschung vgl. Hauschildt/Gemiinden 1999. Die Lead-User-Forschung dient hier als Sammelbezeichnung fur Untersuchungen, welche die Nutzung besonderer Kunden zur Generierung innovativer Konzepte zum Inhalt haben. Vgl. Hippel 1987; Hippel 1988; Herstatt 1991; Liithje 2000; Morrison et al. 2001; Reichart 2002; Herstatt/Luthje/Lettl 2003; Emst/Soll/Spann 2004.

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Innovation Communities 289

die Bedeutung einzelner Macht-, Fach-, Prozess- und Beziehungspromotoren innerhalb einer innovierenden Untemehmung schon ausfiihrlich untersucht worden ist, liegen bis dato nur wenige Erkenntnisse iiber das Zusammenwirken von Innovationspromotoren uber Organisationsgrenzen hinweg vor. Vor diesem Hintergrund verspricht das Konzept der „Innovation Communities" eine Liicke in der bisherigen Innovationsforschung zu schlieBen und fruchtbare Einsichten iiber die Erfolgsbedingungen und Gestaltungsoptionen von Innovationskoopera-tionen zu ermoglichen.

2 ^Innovation Communities": Konzept und Begriff

Wahrend bei der Erforschung von Innovationsnetzwerken interorganisationale Beziehungen im Mittelpunkt stehen, fokussiert die noch vergleichsweise junge Debatte um „Innovation Communities" auf das Verhaltnis zwischen Personen und Gruppen unterschiedlicher Untemehmen und Institutionen im Innovations-prozess (interpersonal Beziehungen). Der Begriff „Innovation Community" wird in der Praxis und der Forschung unterschiedlich verwendet. Drei grundle-gende Bedeutungen konnen hier unterschieden werden:

O Innovation Community als Kontaktnetzwerk: Hierbei handelt es sich um -zumeist intemetgestiitzte - Kontaktplattformen und lose Netzwerke von Personen, die an einem bestimmten Innovationsthema oder Innovationsfeld interessiert sind und sich hierzu Informationen wiinschen und austauschen mochten oder Innovationspartner suchen.^

•=> Innovation Community als virtuelle Gemeinschaft zur Ideengenerierung und -bewertung: In diesem Begriffsverstandnis werden Innovation Communi­ties als virtuelle, durch elektronische Medien gestiitzte Gemeinschaften zur Generierung und Bewertung von Innovationsideen und Innovationskonzep-ten verstanden. Auf diese Art von Communities fokussiert das Konzept der Community Based Innovation (Fuller et al. 2005).

•=> Innovation Community als Promotorennetzwerk zur Untersttitzung konkre-ter Innovationsprojekte: Diese Begriffsauslegung fokussiert auf die Bezie­hungen und das Zusammenwirken einer Gruppe von Innovationspromoto­ren, die gemeinsam eine bestimmte Innovationsidee oder ein konkretes Innovationsvorhaben vorantreiben.

Kontaktnetzwerke und virtuelle Communities spielen fiir die Entstehung und Entwicklung von Innovationen eine wichtige RoUe. Das Wesen von Innovation besteht jedoch in der Durchsetzung einer neuen Losung („getting new things done" (Schumpeter 1991/1946, 413). Fur das Verstandnis dafiir, warum be-

Beispiele sind z.B. www.ideenreich.at oder www.standards.dfes.gov.uk/innovation-unit/communication/innovationcommunity/.

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stimmte Nachhaltigkeitslosungen erfolgreich sind und andere nicht, erscheint daher der Fokus auf Personen und Gruppen von besonderer Bedeutung, die ein konkretes Innovationsvorhaben initiieren und fur deren Durchsetzung sorgen. Im Weiteren soil daher dem oben skizzierten dritten Begriffsverstandnis von Innovation Communities gefolgt und der Begriff wie folgt defmiert werden:

Eine Innovation Community ist „eine Gemeinschaft von gleich gesinnten Akteuren, oft aus mehreren Untemehmen und verschiedenen Institutionen, die sich aufgabenbezogen zusammen-finden und ein bestimmtes Innovationsvorhaben vorantreiben." (Gerybadze 2003, 146)

Durch das erklarte und prioritare Ziel, einer Innovation auf technischem, wirt-schaftlichem oder sozialem Gebiet zum Durchbruch zu verhelfen, lassen sich Innovation Communities von Wissenschaftlergemeinschaften, die bestimmte Forschungsthemen verfolgen (R&D-Communities), oder Gemeinschaften, die bemfsstandische Interessen verfolgen, abgrenzen. Innovation Communities sind damit nicht gleichzusetzen mit „Communities of Practice"^, sondem eine spe-zielle, auf konkrete Innovationsvorhaben bezogene Form von Gemeinschaften.

Mit dem Community-Begriff nicken Fragen kollektiver Zielprioritaten, ge-meinsamer Verstehensleistungen und Auffassungen in den Mittelpunkt. Neben den bloBen Kontaktbeziehungen und den formalen Netzwerkstrukturen betont das Innovation Community-Konzept die Verstehensbeziehungen in personalen Netzwerken und die Bedeutung informeller Interaktionsprozesse.

3 Typen und Funktionen von Innovation Communities

Grundsatzlich lassen sich fiinf Typen von Innovation Communities unterschei-den, die sich um folgende Gravitationspunkte konzentrieren:

1. BQ\ forschungsbasierten Innovation Communities kommen die Impulse aus flihrenden Forschungslabors von Untemehmen ebenso wie aus Universita-ten und offentlichen Forschungseinrichtungen. Hier formieren sich Gruppen von Akteuren aus Forschung und Wirtschaft, die das von ihnen favorisierte Innovationskonzept vorantreiben und bis zur Anwendungsreife weiterent-wickeln.

2. Viele Innovationen werden durch das Markt- und Anwenderumfeld indu-ziert. Um Funktionalitaten auf Nutzerseite und latente Bedarfsmuster he-rauszufmden, formieren sich anwenderinduzierte Innovation Communities.

Der Begriff wurde bereits im Jahre 1991 von Lave und Wenger (1991) gepragt und seither weiterentwickelt (vgl. Wenger 1998). Eine Community of Practice kann verstanden werden als „eine Gruppe von Personen, die aufgrund eines gemeinsamen Interesses oder Aufgabengebietes innerhalb einer Organisation oder iiber Organisationsgrenzen hinweg miteinander interagieren und kommunizieren mit dem Ziel, Wissen eines fur das Untemehmen relevanten Themengebie-tes gemeinsam zu entwickeln, zu (ver-)teilen, anzuwenden und zu bewahren." (Zbo-ralski/Gemunden 2004, 280).

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Innovation Communities 291

Fur neue Bedarfe oder Praktiken werden geeignete Problemlosungen ge-sucht. Sie sind Wegbereiter fur technische Entwicklungen oder neue Pro-dukte und Dienstleistungen auf Anbieterseite.^ Anwenderinduzierte Innova­tion Communities umfassen Promotoren von Hersteller- und Nutzerseite.

3. Systemlosungsorientierte Innovation Communities zielen auf die Entwick-lung und Realisierung abgestimmter VerbesserungsmaBnahmen fur die ge-samte Wertschopfungskette bzw. den gesamten stofflichen Lebensweg ei-nes Produktes wie z.B. die Papierkette von der Waldwirtschaft und Fasergewinnung bis zum fertigen Printprodukt. Sie konnen sich auch auf kundengerechte Systemlosungen fokussieren wie z.B. schliisselfertige Pas-sivhauser oder Produkt-Service-Systeme wie z.B. Leasing-, Sharing- oder Pay-per-use-Modelle.

4. Multiakteurs-Innovation Communities sind Promotorennetzwerke, die so-wohl zentrale Marktakteure als auch staatliche oder zivilgesellschaftliche Stakeholder umfassen. Zum Beispiel ist die Initiierung und Griindung des Marine Stewardship Council das Resultat einer engen Kooperation zwi-schen Unilever und dem World Wide Fund for Nature (WWF). Diese insti-tutionelle Innovation wurde maBgeblich durch eine kleine Gruppe von Schltisselpersonen aus unterschiedlichen Untemehmen und Organisationen vorangetrieben (Fichter/Arnold 2004, 156 ff).

5. Bin weiterer wichtiger Schwerpunkt fiir die Generierung von Innovations-prozessen liegt schlieBlich auch im Bereich der Fertigungs- und Prozess-technik. Hier sind Innovation Communities, die sich im Bereich Fertigungs-technik und Logistik konstituieren, von zentraler Bedeutung (Balthasar 1998).

Im Weiteren soil am Beispiel einer Systemlosungsorientierten Innovation Com­munity gezeigt werden, welche Bedeutung die enge Zusammenarbeit zwischen Schlusselpersonen aus verschiedenen Untemehmen fiir die Durchsetzung von Nachhaltigkeitsinnovationen haben kann.

4 Entstehung und Funktionsweise am Beispiel der „Add-value-to-paper"-Community

Gemeinsam mit der Axel Springer AG, Berlin/Hamburg, und weiteren Koope-rationspartnem fiihrt die BASF seit 2003 verschiedene Innovationsprojekte zur Qualitats- und Effizienzsteigerung auf dem Gebiet der Papier- und Drucktech-nologie durch. Ein Innovationsprojekt ist die „Coated Coldsef'-Technologie. Beim Coated Coldset wird ein kostengiinstiges Rohpapier mit einem diinnen Pigmentstrich versehen, so dass es weiBer und besser bedruckbar ist. Im preis-

Hier wird zumeist auf das Lead-User-Konzept zuruckgegriffen. Vgl. Hippel 1987, Hippel 1988 sowieHippel 2001.

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werten Zeitungsdruckverfahren konnen damit hochwertige Wochenendbeilagen Oder sogar Magazine hergestellt werden, Wie Oko-Effizienz-Analysen zeigen, konnen durch die neue Technologie erhebliche Kosteneinsparungen erzielt und Klimabelastungen reduziert werden. AuBerdem wird es moglich, hochwertige Printprodukte auf Basis von 100% Ahpapier herzustellen. Die Kooperation mit kompetenten Partnem der Wertschopfungs- und Stoffkette und die Ausdehnung der Know-how-Basis auf den gesamten Prozess sind wichtige Bestandteile des BASF „Add-value-to-paper"-Konzeptes.

Mit „Coated Coldset" wurde von den vier Netzwerkpartnem BASF Ge-schaftseinheit PapierchemikaHen Europa, Ludwigshafen, XSYS Print Solutions (vorher BASF Drucksysteme GmbH), Stuttgart, Axel Springer AG, Hamburg, und dem Papierhersteller UPM Kymmene, Augsburg, gemeinsam ein erstes Innovationsprojekt vorangetrieben. An weiteren Verbesserungs- und Innovati-onsprojekten sind neben den vier genannten Partnem auch die Omya AG, einer der bedeutendsten Pigmenthersteller flir die Papierindustrie mit Sitz in der Schweiz, und die Voith Paper AG mit Sitz in Heidenheim als fiihrender Anbie-ter von Papiermaschinen und Spezialist fur die Prozesstechnologie beteiligt.

BASF Papier­

chemikaHen

XSYS Print Solutions (ehemals BASF)

UPIVI Kymmene

Voith

Abbildung 36: Mitglieder der „Add-value-to-paper''Innovation Community; Quelle: BASF 2005,

Auf Initiative des Leiters der Geschaftseinheit BASF PapierchemikaHen wurde durch Kooperationsvereinbarungen mit den oben genannten Firmen aus dem Wertschopfungsnetz 'Papier' ein Kompetenz- und Promotorennetzwerk aufge-baut, welches den Charakter einer Innovation Community hat. Grundlage dafur war die enge Zusammenarbeit zwischen dem Leiter der Geschaftseinheit BASF PapierchemikaHen auf Herstellerseite und dem Leiter Zentrales Beschaffungs-wesen der Axel Springer AG, verantwortlich flir den Papiereinkauf, auf der

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Innovation Communities 293

Kunden- und Nutzerseite. Vier der beteiligten Firmen sind wichtige Zulieferer fxir die Papierindustrie und investieren beachtliche Betrage in Forschungs- und Innovationsvorhaben in ihren jeweiligen Kompetenzbereichen. Ziel der Koope-ration ist es, mit Blick auf die Papierindustrie und die Papiermarkte Synergien zu erzielen und gleichzeitig die Marktchancen und die Effektivitat der einge-setzten F&E-Mittel zu erhohen. Der fiinfte Netzwerkpartner, die Axel Springer AG, ist in Bezug auf das Innovationsvorhaben „Coated Coldset" ein zentraler Pionierkunde, dessen Wissen und Erfahrungen als Hersteller von Druckerzeug-nissen gerade in der Erprobungsphase des neuen Druckverfahrens (z.B. durch „pilot runs") unabdingbar sind, der aber auch in der spateren Phase der Markt-einfuhrung und MarkterschHeBung eine wichtige Rolle spieh. Wichtigstes Mo-tiv fur die Griindung des Kompetenznetzwerks war fiir den Leiter der BASF-Geschaftseinheit Papierchemikalien, auf dem Markt der Papier- und Drucktech-nologie als Anbieter von kundenfokussierten Systemlosungen von der Faser bis zum Druckerzeugnis aufzutreten.

Schlusselpersonen der „Add-value-to-paper"-Innovation Community sind neben dem Leiter der Geschaftseinheit Papierchemikalien der BASF, Ludwigs-hafen, und dem Leiter Zentrales Beschaffungswesen der Axel Springer AG, Hamburg, der President der Newsprint Division beim Papierhersteller UPM Kymmene, Augsburg, der Leiter der wissenschaftlichen Zentraleinheit XSYS Print Solutions, Stuttgart (vorher BASF Drucksysteme GmbH) sowie ein exter-ner Innovationscoach, der als Prozess- und Beziehungspromotor sowie als Mo­derator von Innovations- und Strategieworkshops die Netzwerkentwicklung aktiv unterstiitzt. Neben den Kempersonen der Innovation Community spielt auch die „Ruckendeckung" der Innovationsprojekte durch eine Reihe von Machtpromotoren im Sinne des „management push" eine zentrale Rolle: Es sind dies bei BASF der Vorstandsvorsitzende, Dr. Jiirgen Hambrecht, und der Leiter der Functional Polymers Division Dr. Martin Brudermtiller, bei Axel Springer der CEO Dr. Mathias Dopfner und bei UPM der CEO Jussi Pesonen.

Die Beziehungen der beteiligten Untemehmen untereinander sind durch ent-sprechende Vereinbarungen klar geregelt. Dabei ist sichergestellt, dass die be-wahrte Zusammenarbeit mit Dritten nicht beeintrachtigt wird und Entwick-lungsergebnisse vertraulich behandelt werden. Die einzelnen Teilprojekte werden von untemehmenstibergreifenden Projektteams gesteuert und durchge-flihrt. Fiir spezifische Projektaufgaben werden bei den beteiligten Untemehmen weitere Personen oder Teams eingesetzt. Das untemehmerische Coaching und Controlling wird von den Leitem der beteiligten Untemehmen bzw. Untemeh-mensabteilungen wahrgenommen. Neben diesen formalen Kooperationsstmktu-ren spielen allerdings die informellen Aspekte und die personlichen Beziehun­gen zwischen den Innovationspartnem eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zu formalen Netzwerkbeziehungen sind Communities stark durch personliche Beziehungen und informelle Prozesse gepragt. Eine wesentliche Erkenntnis der

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294 Klaus Fichter

Innovation-Community-Forschung besteht nun darin, dass fiir die Kohasion von Gruppen sowie die Stabilitat und Durchsetzungsfahigkeit der jeweiligen Ge-meinschaften die bestandige Interaktion und ein enger Kommunikationsprozess eine fundamentale Rolle spielen. Zu den Erfolgsfaktoren von Innovation Com­munities gehort daher, dass die soziale Kommunikation und die Verstehens-Ebene in der Zusammenarbeit nicht vemachlassigt werden (Gerybadze 2003, 153).

Vor diesem Hintergrund lasst sich ein Drei-Ebenen-Modell der Interaktion in Innovation Communities entwickeln. Dabei werden eine materielle Ebene mit realem Leistungsaustausch (Prototypen, Materialproben, Modelle, Mock-ups^ etc.), eine Informationsebene (Austausch innovationsrelevanter Informationen und Transfer von Fachwissen wie z.B. papiertechnisches Spezialwissen) sowie eine Verstehens-Ebene unterschieden. Letztere bezieht sich auf den Austausch von Annahmen, Einschatzungen, Weltsichten und Bewertungen. Hier vollzieht sich die Entwicklung eines gemeinsamen Interpretationsrahmens und eines einheitlichen Verstehens. Im Falle der Add-value-to-paper Innovation Commu­nity spielte z.B. die gemeinsame Einschatzung, dass neben dem Ziel der Kos-tensenkung auch die Reduzierung von Umweltbelastungen zu den wichtigen Zielen der Zusammenarbeit zahlen eine wichtige Rolle.

Die drei Ebenen legen unterschiedliche Formen der Interaktion und Zusam­menarbeit nahe. So kann z.B. ein Teil des expliziten oder dokumentierbaren Wissens durch Informationsaustausch auf elektronischem Wege unterstiitzt werden. Gerade aber in frtihen Innovationsphasen kommt es fiir Innovation Communities darauf an, eine gemeinsame Verstandigungsgrundlage zu erarbei-ten und in Situationen der Ko-Prasenz komplexe Informationen und nicht-dokumentiertes Wissen auszutauschen. Dies erklart die hohe Bedeutung von Verstehen und Interpretation und erforderliche Simultanitat von materieller Innovationsleistung und Informationsiibertragung. Dies fiihrt dazu, dass

^ „die Beteiligten hochgradig interaktiv zusammenarbeiten miissen, •=> Face-to-Face-Kommunikation so gut wie nicht ersetzt werden kann durch

andere Formen der Informationsiibertragung und

Unter einem „Mock-up" (englisch fur Attrappe) versteht man in der Fertigung von Prototypen, speziell in der Luftfahrt, einen nicht funktionsfahigen (nicht flugfahigen) Prototyp Dabei han-deh es sich oft um Testobjekte fiir verschiedene Funktionstests, die Innenaustattung, oder auch Anschauungsmodelle ftir Messen, die den zukunftigen Kunden bereits einen Eindruck vom Aussehen des Fluggerats geben sollen. Ein Mockup in der Soflwareentwicklung bezeichnet ei­nen rudimentaren Prototyp der Benutzeroberflache. Mock-ups werden insbesondere in frtihen Entwicklungsphasen eingesetzt, um Anforderungen an die Benutzeroberflache in Zusammenar­beit mit Auftraggeber und Anwendem besser ermitteln zu konnen. Es handelt sich meist um ein reines Grundgertist der Bedienelemente ohne weitere FunktionaUtat.

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Innovation Communities 295

Ubereinktinfte moglichst schnell, am selben Ort und zur selben Zeit herbei-gefuhrt werden." (Gerybadze 2003, 155)

Materlelle Ebene

Realer Leistungsaustausch:

Prototypen, Modelle, Mock-ups etc.

I t Informations-Ebene

Austausch von Beschrelbungen und Erlauterungen

Transfer von Fachwissen

t t Verstehens-Ebene

Entwicklung gemeinsamer Interpretationsrahmen, einheitliches Verstehen

Austausch von Annahmen, Einschatzungen, Weltsichten und Bewertungen

Abbildung 37: Interaktionsebenen in Innovation Communities; Quelle: vom Verfasser auf Basis von Gerybadze 2003, 154.

Die Bedeutung der Geographic und der raumlich-zeitlichen Ko-Prasenz sind insbesondere dann zentral, wenn es sich um konfliktare Entscheidungssituatio-nen, komplexe Wissensgegenstande und unstrukturierte Innovationsprozesse handelt. Dies zeigt, dass Innovation Communities dann besonders effektiv sind, wenn eine direkte personale Kommunikation stattfmdet und die Beteiligten eine gemeinsame Verstehensgrundlage und Selbstidentifikation entwickeln.

5 Qualitat der Zusammenarbeit und Erfolgsbeitrag

Die Voraussetzungen fiir leistungsfahige Gemeinschaften konnen auf Basis der Intergroup-Relations-Forschung'^ und des Boundary-Spanning-Ansatzes (An-cona/Caldwell 1992). bestimmt werden. So zeigt sich, dass bei Intergroup-Bezichungen Widerspruchlichkeiten wie Loyalitatskonflikte und Abgrenzungs-fragen eine zentrale Rolle spielen. Fur die Qualitat und Stabilitat einer Innovati-

• Der Intergroup-Relations-Ansatz analysiert die Entstehung, Dynamik und Stabilitat von Identi-tatsgruppen bzw. organisatorischen Gruppen. Vgl. dazu Alderfer 1987 sowie Hogl/Gemunden 2001.

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296 Klaus Fichter

on Community kommt es also auf die Grenztransaktionen und damit auf die Kohasion der Gruppe, die fiinktionale Identitat der Gemeinschaft, die Klarheit der Gruppengrenzen und das organisatorische Klima an/^ Aus dem Boundary-Spanning-Ansatz ergibt sich, dass Innovation Communities dann ieistungsfahig sind, wenn sie eine echte Liicke im Innovationsprozess fullen, wenn die Grup-penmitglieder sich also wesentlich besser stellen, als wenn sie entsprechende Vorhaben eigenstandig verfolgen wiirden. AuBerdem muss darauf geachtet werden, dass Rivalitatsbeziehungen die Zusammenarbeit nicht beeintrachtigen und z.B. durch einen neutralen Moderator eingegrenzt werden. Auch zeigt sich, dass die Erwartungen auf gegenseitige Hilfestellung (Reziprozitat) erfiillt wer­den miissen und nur eine iiberschaubare Gruppe ausreichende Vertrauensbezie-hungen und informale Kontrolle zulasst. Auch hier spielen also Vertrauen, Fair­ness und Verlasslichkeit eine wesentliche Bedeutung. Dies zeigt sich am Beispiel der „Add-value-to-paper"-Innovation Community. Hier konnen vier Faktoren identifiziert werden, die die Leistungsfahigkeit und Stabilitat der Community positiv beeinflussen:

1. Die Schliisselpersonen miissen an die Technologic bzw. das Innovations-vorhaben „glauben" und erwarten, dass sie durch die Zusammenarbeit einen konkreten Vorteil fiir das eigene Untemehmen bzw. die eigene Abtei-lung/Division ziehen konnen bzw. sich besser stellen, als wenn sie nicht kooperieren wiirden.

2. Die Leistungsfahigkeit wird verbessert, wenn die Schliisselpersonen „gut miteinander konnen" (Sympathie, Vertrauen, gegenseitige Wertschatzung etc.) und eine personliche Verbundenheit aufweisen.

3. Die Innovationsprojekte brauchen die Riickendeckung durch das Top-Management (Machtpromotoren).

4. Die Leistungsfahigkeit und Konfliktregelung wird durch einen neutralen und kompetenten Innovations-Coach unterstiitzt. Dieser iibemimmt die Rol-le des Moderators und Aufgaben eines Prozess- und Beziehungspromotors.

Das Beispiel der „Add-value-to-paper"-Innovation Community zeigt weiterhin, dass Innovation Communities nicht isoliert als informelles Netzwerk besonders engagierter Innovationspromotoren betrachtet werden diirfen, sondem im Wechselspiel mit formalen Kooperationsstrukturen und als eng verkniipft mit formalen intra- und interorganisationalen Teamstrukturen. Wie tragi die IC zum Erfolg des Vorhahens hei?

Ohne eine konkrete und eng abgestimmte Zusammenarbeit waren die ange-strebten Systemlosungen nicht realisierbar. Die Initiierung des Projektes „Coa-ted Coldset", aber auch der iibrigen Projekte, die Sicherung der Riickendeckung durch das Top-Management der jeweiligen Netzwerkpartner, die Uberzeugung

Zur Operationalisierung dieser Merkmale vgl. Alderfer 1987 und Hogl/Gemiinden 2001.

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Innovation Communities 297

weiterer wichtiger Kooperationspartner (UPM Kymmene) zu einer verbindlich geregelten Zusammenarbeit sowie die Bewaltigung von „Hangepartien" und „Krisen" innerhalb der Kooperation waren ohne das personliche Engagement und die Interventionen der Community-Partner nicht moglich gewesen.

^ _ ^ / ProjektA p^^^

V teams J

Weitere Kooperationspartner:

Omya AG, Voith AG

Formale Kooperationsbeziehungen (Vertrage)

Formale Arbeitsbeziehungen

Informelle Beziehungen innerhalb der Innovation Community

•Schlijsselpersonen der Innovation Community

Ahhildung 38: Die „ Add-value-to-paper "-Innovation Community; Quelle: vom Verfasser.

6 Mehrwert der Konzeption gegenuber bisherigen Ansatzen

Die Innovationsforschung kann bei der Beschreibung und Erklarung verschie-dener Akteure im Innovationsprozess auf eine Reihe etabiierter Forschungs-und Erklarungsansatze zuriickgreifen. Ntitzliche Einsichten tiber die Bedeutung und Rolle von Schliisselakteuren liefem insbesondere die Promotorenforschung, die Entrepreneurshipforschung und die Teamforschung. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit das Konzept der Innovation Communities zusatzliche Einsich­ten liefem kann bzw. einen erkenntnisbezogenen Mehrwert gegeniiber den etablierten Ansatzen bietet.

Promotorenforschung: Die Promotorenforschung fokussiert auf Schliissel-personen innerhalb einer Untemehmung und deren Rolle bei der Uberwindung

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298 Klaus Fichter

von - in erster Linie - innerbetrieblichen Innovationsbarrieren.^^ Die Bedeutung untemehmensubergreifender Teams, die Relevanz personlicher Beziehungen zwischen Promotoren aus unterschiedlichen Organisationen, die Bedeutung gemeinsamer Verstehensleistungen und Ziele sowie die soziale Kohasion einer Gruppe von Innovationsforderem wird dort nicht erfasst, im Konzept der Inno­vation Community aber sehr wohl.

Teamforschung: Die Teamforschung konzentriert sich innerhalb der Innova-tionsforschung auf die Qualitat der Zusammenarbeit innerbetrieblicher Teams oder die Qualitat der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Teams einer Untemehmung (Multi-Team-Projekten).^^ Sie ist auBerdem auf formale Team-strukturen und Projektmanagementstrukturen fokussiert. Informell entstehende oder arbeitende Teams und deren Rolle fur die Initiierung und Entwicklung formaler interorganisationaler Kooperationsstrukturen werden hier ebenso we-nig erfasst wie die Zusammenarbeit in zwischenbetrieblichen Teams. Im Gegen-satz dazu erfasst die Innovation Community-Konzeption diese Aspekte.

Entrepreneurshipforschung: Die Entrepreneurshipforschung beschaftigt sich bis dato entweder mit Einzeluntemehmem^'^ (Untemehmensgriinder, inhaberge-fiihrte Untemehmen etc.), mit Griindungsteams (eines Untemehmens) oder mit untemehmerisch agierenden Personen innerhalb einer Untemehmung (Intrapre-neurship). Sie ist damit in starkem MaBe auf Einzelpersonen, innerbetriebliche Teams und das Griindungsgeschehen fixiert und modelliert Untemehmerakteure vorzugsweise voluntaristisch, mitunter sogar als losgelost von ihren Handlungs-kontexten („autistisch"). Die zwischenbetriebliche Vemetzung untemehmerisch agierender Personen und die gemeinsame Verfolgung eines Innovationsprojek-tes von Personen aus zumeist unterschiedlichen Untemehmen oder Organisatio­nen werden damit nicht oder nur am Rande erfasst. Erst jiingere Arbeiten entwi-ckeln eine Netzwerkperspektive auf Entrepreneurship (Aulinger 2005, Fichter 2005). So beschreibt die Theorie des Interpreneurship (Fichter 2005,313 ff.) die vemetzende Funktion untemehmerisch agierender Personen und ein Untemeh-mertum in Netzwerken. Das Innovation Community-Konzept erlaubt im Rah-men der Interpreneurship-Theorie ein fundiertes Verstandnis von untemehmeri-schen Gmppenprozessen.

7 Fazit: Potenziale und Grenzen der Innovation Community-Konzeption

Mit der Innovation Community-Konzeption wird die auf kollektive Akteure (Organisationen, Untemehmungen) fokussierte Debatte um Innovationsnetz-

^ Fiir eine Ubersicht vgl. Hauschildt/Gemiinden 1999. ^ Vgl. Gemunden/Hogl 2001; Weinkauf/Hogl/Gemiinden 2004 sowie Gebert 2004, 12 ff. '^ Fur eine Ubersicht vgl. Blum/Leibbrand 2001, 9 ff

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werke um eine verfeinerte Betrachtung informeller interpersonaler Gruppenbe-ziehungen erganzt. AuBerdem erlaubt sie die auf innerbetriebliche Schliisselak-teure und Teams fokussierte Promotoren-, Team- und Entrepreneurshipfor-schung durch eine Organisationsgrenzen tiberschreitende Sichtweise personaler Netzwerke von Schliisselakteuren zu erganzen. Innovation Communities kon-nen die Interessen und Krafte von Einzelpersonen btindeln und damit in be-stimmten Innovationssituationen die Rolle eines Schltisselakteurs iibemehmen. Sie lassen sich als kollektive Promotorennetzwerke charakterisieren.

Der besondere Wert der Konzeptualisierung von Gemeinschaften liegt in der Betonung kollektiver Verstehens- und Orientierungsprozesse, insbesondere in fiiihen und noch weitgehend unstrukturierten Innovationsphasen sowie in Situa-tionen, in den Innovationsbarrieren zu tiberwinden sind. Mit Blick auf Nachhal-tigkeitsinnovationen ist das Konzept der Innovation Communities insbesondere mit Blick auf die Erklarung und Gestaltung von Life-cycle- und Systemlosun-gen, fur die Etablierung neuer institutioneller Arrangements und die Synchroni-sierung eines angebots- und nachfrageseitigen Wandels von Bedeutung.

Zu den Defiziten der Innovation Community-Forschung zahlt, dass die Kon-zeption bis dato noch kaum in empirischen Untersuchungen Anwendung gefun-den hat und daher noch kaum empirische Daten iiber die Rolle und Bedeutung von Innovation Communities vorliegen. Vor diesem Hintergrund konnen fur die weitere Forschungsarbeit folgende Fragen formuliert werden:

•=> Ab wann soil von einer Innovation Community gesprochen werden (Inten-sitat und Dauer der Zusammenarbeit, Bedeutung der geleisteten Innovati-onsaufgaben etc.)?

•=> Wie kann die Interaktion bzw. die Qualitat der Zusammenarbeit in Innova­tion Communities erfasst und gemessen werden?

•=> Inwieweit hangt die Bedeutung von Innovation Communities von der Art, Komplexitat und dem Neuigkeitsgrad eines nachhaltigkeitsorientierten In-novationsvorhabens ab?

^ Unter welchen Voraussetzungen haben Innovation Communities einen signifikanten Einfluss auf den Erfolg und die Nachhahigkeit von Innovati-onsvorhaben?

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Innovative Produktpolitik durch virtuelle Communities? Empirische Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt

Martin Muller/Achim Spiller

1 Einleitung

Untersuchungen aus dem Investitionsgiiterbereich haben aufgezeigt, dass der Anteil der Innovationen, die auf Kundenanregungen zurtickgingen, sehr hoch ist und zudem eine hohere Erfolgsquote aufweist als untemehmensinteme Ideen (vgl. Biegel 1987, S. 58ff.; Schmutzer 1987, S. 72). Eine empirische Analyse von Schramm u.a. fur den okologischen Textil- und Lebensmittelbereich lasst entsprechende Potenziale auch fiir die okologische Produktentwicklung erwar-ten (vgl. Schramm u.a. 2000). Dies bedeutet, dass die Realisierung okologiebe-zogener Innovationen - und damit auch das Erreichen nachhaltiger Konsum-muster - erleichtert wiirde, wenn die Konsumenten ihre Ansprtiche und Bediirfnisse in einer Weise artikulieren konnten, dass diese von den Produzen-ten auch aufgenommen und darauf eingegangen werden kann.

Vor diesem Hintergrund soil der vorliegende Beitrag die Frage untersuchen, inwieweit sich virtuelle Communities fur eine innovative okologische Produkt­entwicklung, -vermarktung und -nutzung im Lebensmittelbereich einsetzen lassen. Hierzu werden in einem ersten Teil Grundlagen zur interaktiven Innova-tionsforschung aufgezeigt. Daraus lassen sich Voraussetzungen fur eine Beteili-gung von Konsumenten am Innovationsprozess ableiten. AnschlieBend werden „virtuelle Communities" als spezifische Form der Innovationskommunikation vorgestellt und analysiert, unter welchen Bedingungen sie eine Integration von Kunden in den Innovationsprozess ermoglichen. In einem letzten Schritt wird die bereits bestehende virtuelle Community von Naturkost.de (Bio-Verlags GmbH) als fuhrendes Portal im Segment okologische Lebensmittel auf ihr Po-tenzial zur Einbeziehung von Kunden untersucht. Mittels einer Kundenbefra-gung und vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der interaktiven Innovations-forschung werden Chancen und Grenzen einer innovativen okologischen Produktentwicklung, -vermarktung und -nutzung im Lebensmittelbereich beur-teih. AbschlieBend werden auf Basis der Ergebnisse der Befragungen Hand-lungsempfehlungen fiir die Gestaltung von Innovationsprozessen mittels virtuel-ler Communities abgeleitet.

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2 Interaktive Innovationsforschung

Interaktive Modelle des Innovationshandelns sind noch ein relativ junges Pha-nomen der Innovationsforschung (Barras 1986; Kline/Rosenberg 1986, Lund-vall 1988, Barras 1990). Erst seit den 80er Jahren haben sie an Bedeutung ge-wonnen und stellen bislang kein einheitliches Theoriegebaude dar (vgl. Slappendel 1996). Gemeinsam ist diesen Ansatzen eine starke Akteursbezogen-heit, so dass Dialoge und ein intensiver Austausch in Netzwerken in den Mittel-punkt des Interesses rticken. Nicht der einzelne Innovator oder eine kleine Gruppe in einer F&E-Abteilung sind Gegenstand der Uberlegungen, sondem die Einbeziehung von Akteuren auch auBerhalb des Untemehmens ist ein An-liegen dieser Ansatze. Eine konsequente Interaktionsperspektive und eine dy-namische Modellierung von Innovationsverlaufen sind weitere gemeinsame Merkmale. Im Wechselspiel von Bedarfen und Losungspotenzialen wird der Ursprung von Innovation gesehen (vgl. Fichter 2005).

Zu den interaktiven Modellen der Innovationsforschung zahlen so genannte Hersteller-Nutzer-Modelle, der Lead User Ansatz, Innovation Communities, Innovationsnetzwerke und das Beziehungspromotorenmodell (zu einer Klassifi-kation dieser Modelle siehe Fichter 2005). Da in diesem Beitrag die Einbezie­hung von Kunden eine bedeutende Rolle spielt, sollen nur die ersten drei Ansat­ze kurz vorgestellt werden.

2.1 Hersteller-Nutzer Modelle

Ausgangspunkt des von Hippel gepragten Ansatzes ist die Kritik an der bis dahin vorherrschenden Sichtweise eines herstellerorientierten Innovationspro-zesses. DemgemaB sind Kunden weder motiviert noch fahig, einen aktiven Beitrag zum Innovationsprozess zu leisten. Ihnen wird nur eine passive Rolle zugedacht und eine Einbindung in den Innovationsprozess fmdet ausschlieBlich im Rahmen der Marktforschung statt (vgl. Fichter 2005).

Auf Basis einer empirischen Studie (vgl. Hippel 1988, S. 44), die in ver-schiedenen Branchen Innovationsimpulse der Kunden nachweist, entwickelt Hippel das „Costumer-active-Paradigm". Der Ansatz geht davon aus, dass die Innovationsaktivitaten weitgehend von den Kunden geleistet werden. Hierzu zahlen die Bedarfserkennung, die Erfmdung, der Bau und Test eines Prototypen bis hin zur Verbreitung von Informationen tiber die Funktionsfahigkeit der Innovation (vgl. Hippel 1988, S. 19). Es wird in diesem Ansatz davon ausge-gangen, dass in den einzelnen Innovationsphasen der Kunde dominiert und die jeweiligen Aktivitaten selbstandig ausfuhrt.

Das skizzierte Modell mag fur den Investitionsgiiterbereich teilweise plausi-bel sein, im Konsumgiiterbereich muss eine dominierende Rolle des Kunden angezweifelt werden. In diesem Zusammenhang erarbeitete Ltithje (2000) ein

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Innovative Produktpolitik durch virtuelle Communities? 303

realitatsnaheres Modell. Hierbei iibemimmt der Hersteller die Prozesskompe-tenz uber Art, Zeitpunkt und Ort der Interaktion mit dem Kunden. Er hat die Rolle eines „Innovationsberaters" inne, der den Verbraucher einbindet.

Basis fiir den Ansatz ist die Annahme, dass sich Kunden in unterschiedli-chem MaBe fur eine Einbindung in den Innovationsprozess eignen und nur Anwender mit bestimmten Eigenschaften motiviert sind, sich am Innovations­prozess zu beteiligen. Liithje (2000, S. 27) begriindet dies damit, dass es den meisten Kunden schwer faUt, sich gedanklich von aktuellen Marktangeboten zu losen und Anforderungen fiir zukiinftige Produkte und/oder Dienstleistungen zu antizipieren. Er bezeichnet dieses Phanomen als „fiinctional fixedness" (Liithje 2000, 27 f). Vor diesem Hintergrund entwickelt er den Ansatz „fortschrittlicher Kunden". Hierzu identifiziert Liithje Kundenmerkmale wie „neue Bediirfnisse", „Unzufriedenheit", „Verwendungswissen", „Objektwissen", die potenziell dazu geeignet sein sollen, solche Kunden herauszufiltem, die zukiinftige Marktanfor-derungen friihzeitig erkennen und gewillt sind, sich aktiv in Innovationsprozes-se einzubringen. Beispielsweise sind unzufriedene Kunden nach diesem Modell motivierter, sich an der Gestaltung innovativer Problemlosungen fur diese Giiter zu beteiligen. Weiterhin konnen fortschrittliche Kunden auch anhand ihres Verwendungs- und Objektwissens von durchschnittlichen Kunden abgegrenzt werden. In diesem Zusammenhang geht es nicht so sehr um detailliertes Exper-tenwissen, sondem um eine Vertrautheit mit den existierenden Marktangeboten. Liithje (2000, S. 137) identifiziert zwei Voraussetzungen fiir die Beteiligung von Kunden am Innovationsprozess. Einmal miissen sich die Kundenanforde-rungen mit hoher Geschwindigkeit weiterentwickeln, zum zweiten sollte es sich um High-Involvement-Giiter handeln, bei denen sich Verbraucher von Verbes-serungen einen hohen Nutzen versprechen.

2.2 Das Lead User Modell

Das Modell stiitzt sich auf die Forschungen von Hippel (1988) und bezieht zusatzlich Erkenntnisse der Diffusionsforschung ein, wonach Kunden- und Nutzergruppen nicht homogen sind, sondem hinsichtlich der Ubemahme von Innovationen und dem Grad der Fortschrittlichkeit erhebliche Unterschiede aufweisen. Im Fokus des Lead User Ansatzes steht demnach die Einbindung engagierter Kunden in den Innovationsprozess (vgl. Fichter 2005).

Das Lead User Modell verfolgt zwei Ziele. Einerseits sollen Kunden identi­fiziert werden, die fur die Teilnahme an Innovationsprojekten motiviert und qualifiziert sind. Andererseits soil aktiv die Suche und Ausarbeitung von Inno-vationsideen durch die identifizierten Kunden gefordert werden. Somit kommt dem Anwender im Lead User Modell die Aufgabe des Bediirfnis- und Problem-formulierers, des Erfmders und Ideengebers zu. Lead User zeichnen sich durch mehrere Merkmale aus: Zum einen verspiiren sie Bediirfiiisse, die sich zukunf-

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3 04 Martin Muller/ Achim Spiller

tig auf dem Markt durchsetzen werden, und sie tun dies wesentlich friiher als die Masse der Kunden. Zum zweiten profitieren sie in starkem MaBe von Inno-vationen, die ihre Probleme losen bzw. ihre neuen Bediirfnisse befriedigen. Sie formulieren frtiher als andere Nutzer einen verallgemeinerungsfahigen Bedarf und sind mit existierenden Angeboten unzufrieden. Letztlich bringen sie eigene Losungsvorschlage ein und profitieren als Pioniemutzer in besonderem MaBe von einer Innovation (vgl. Hippel 1988).

Die Lead User Methodik gliedert sich in vier Phasen: Eine Startphase, eine Trendprognosephase, eine Lead User Identifikationsphase und schlieBlich eine Phase zur Entwicklung von Produktkonzepten.^ Ein wesentliches Kennzeichen der Lead User Methodik ist ein hoher Anteil an Kommunikation zwischen Her-steller und Kunde. Die Interaktion ist damit ein zentrales Bindeglied des Ansat-zes. Der Lead User Ansatz wird seit den 90er Jahren erfolgreich im Konsumgii-terbereich angewendet, wie zahlreiche Studien belegen (vgl. Liithje 2000; Franke/Shah 2002; Emst/Soll/Spann 2004).

2.3 Innovation Communities

Der noch junge Ansatz der „Innovation Communities" bezieht sich auf das Verhaltnis zwischen Personen und Gruppen unterschiedlicher Untemehmen und Institutionen im Innovationsprozess. Eine „Innovation Community" wird defi-niert als „eine Gemeinschaft von gleich gesinnten Akteuren, oft aus mehreren Untemehmen und verschiedenen Institutionen, die sich aufgabenbezogen zu-sammenfmden und ein bestimmtes Innovationsvorhaben vorantreiben." (Gery-badze 2003, S. 146) Es werden drei Gruppen von Innovation Communities unterschieden: Bei den so genannten forschungsbasierten Innovation Communi­ties formieren sich Gruppen von Akteuren aus Forschung und Wirtschaft, um das von ihnen favorisierte Innovationskonzept voranzutreiben. Die anwenderin-duzierten Innovation Communities suchen flir neue Bedarfe oder Praktiken geeignete Problemlosungen. In diesem Kontext wird wiederum haufig auf den Lead User Ansatz zuriickgegriffen. SchlieBlich gibt es Innovation Communities im Bereich Fertigungs- und Prozesstechnik. Hierbei handelt es sich um Com­munities, die sich im Bereich Fertigungstechnik und Supply Chain Management konstituieren (vgl. Balthasar 1998; Mtiller 2005). Die zentrale Erkenntnis der Innovation Community Forschung besteht darin, dass fur die Kohasion von Gruppen die bestandige Interaktion und ein enger Kommunikationsprozess eine fiindamentale Rolle spielen (vgl. Fichter 2005).

Zusammenfassend lasst sich aus den interaktionsbasierten Modellen ablei-ten, dass die aktive Einbindung von Kunden in den Innovationsprozess unter

Zu einer ausfuhrlichen Beschreibung der einzelnen Phasen siehe Herstatt, Liithje, Lettl (2001), S. 6-8.

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Innovative Produktpolitik durch virtuelle Communities? 305

bestimmten Voraussetzungen die Effizienz und den Erfolg von Entwicklungs-aktivitaten steigem kann. Bine wesentliche Voraussetzung ist dabei das Vor-handensein ausreichend motivierter und qualifizierter Kunden und die Moglich-keit zu einer hohen Interaktion mit diesen.

Bevor nun untersucht wird, ob diese Voraussetzungen fur den Bio-Lebensmittelbereich erflillt sind, soil zuvor noch ausfuhrlich auf die Funktion von virtuellen Communities eingegangen werden. Bereits oben wurden soge-nannte Innovation Communities defmiert und kurz beschrieben. AUerdings blieb dabei offen, ob es sich um rein virtuelle oder um reale Communities han-delt. Da sich der Fokus des Beitrages auf virtuelle Communities richtet, sollen diese nun im folgenden Abschnitt eingehend charakterisiert werden.

3 Virtuelle Communities

Virtuelle Communities konnen defmiert werden als „ein Zusammenschluss von Individuen oder Organisationen, die gemeinsame Werte miteinander teilen und liber langere Zeit mittels elektronischer Medien ort- und zeitungebunden in einem gemeinsamen Raum kommunizieren" (vgl. Schubert 1999). Das Interak-tionsmedium von virtuellen Beziehungen ist die computergestiitzte textbasierte Kommunikation und ist gekennzeichnet durch verschiedene Verbindungsfor-men, wie z.B. E-mail, Foren oder Internet Relay Chats.

Urspriinglich wurden virtuelle Gemeinschaften aus einer sozial-motivierten Leidenschaft betrieben, d.h. es fanden sich Menschen mit gemeinsamen Interes-sengebieten zusammen, die sich in news groups austauschten (vgl. Rheingold 1994.). Mit dem Aufkommen des E-Commerce und der Kommerzialisierung des Internets wurden diese interessenbasierten Gemeinschaften um weitere Organisationsformen von Gemeinschaften bereichert. Die Gemeinschaften werden uber das vereinende Interesse der Mitglieder und deren Motivation defmiert. Entsprechend dieser Sichtweise lassen sich virtuelle Gemeinschaften unterteilen in (vgl. Armstrong/Hagel 1997):

•=> Interessensgemeinschaften (Communities of Interest), O Geschaftsgemeinschaften (Business Communities) und •=> Phantasiegemeinschaften (Communities of Phantasy).

Der wesentliche Unterschied zu Untemehmensnetzwerken besteht in der Orga­nisation. Die Kommunikation und Interaktion der Mitglieder einer virtuellen Community vollzieht sich immer durch technische Module, die auf einer Platt-form zur Verfiigung gestellt werden. Sie ist damit zwar vom Ort unabhangig, das Zusammentreffen der Interaktion fmdet jedoch an einem klar defmierten und kiinstlich geschaffenen Ort im Internet statt. Nur iiber das Internet und diese Plattform ist der Zugang moglich. Die Interaktion kann damit auch zentral do-kumentiert werden. Bei Netzwerken ist dies in der Regel nicht der Fall, dort

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3 06 Martin Miiller/ Achim Spiller

spielt sich die Interaktion dezentral durch den Einsatz unterschiedlichster Me-dien ab (was nicht ausschliefien soil, dass eine virtuelle Community im Rahmen der Beziehungsbildung weitere Medien nutzt).

Ein wesentliches Element von virtuellen Communities sind Foren. Die dort dokumentierten Beitrage generieren ein komplexes und bedarfsnahes Wissen, welches die Nutzer dem Anbieter zur Verfiigung stellen. Im okonomischen Kontext wurde das Potenzial von virtuellen Gemeinschaften entsprechend er-kannt. Neben der Bildung eines Wissenspools liegt dieses im Vertrauensaufbau, der Kundenbindung und in Motivationsanreizen.

Die Charakteristika virtueller Communities (insbesondere die Interaktivitat) deuten darauf hin, dass dieses Instrument als Ausgangspunkt fur innovative Produktentwicklung, -vermarktung und -nutzung in oben beschriebenem Sinne dienen konnte. Der intensive Kontakt, die Moglichkeit zur dauerhaften Interak­tion mit dem Kunden ist in einer virtuellen Community im besonderen MaBe gegeben. Daher eignen sich virtuelle Communities prinzipiell, um fortschrittli-che Kunden oder Lead User zu identifizieren und deren Bediirfnisse und Prob-leme in Erfahrung zu bringen. Dies konnte daher auch fur einen Betreiber einer virtuellen Community im Bereich Bio-Lebensmittel gelten.

4 Die empirische Studie bei Naturkost.de

Es soil im Folgenden untersucht werden, ob Potentiale fiir eine innovative Pro-duktpolitik auf der virtuellen Community von Naturkost.de vorhanden sind. Allgemein formuliert wurde der Frage nachgegangen, ob sich ein interaktives Innovationsmanagement mittels virtueller Oko-Communities auch im Bio-Lebensmittelsektor einsetzen lasst.

Ausgehend von Luthje (2000) gibt es zwei zentrale Voraussetzungen fiir die Einbindung von fortschrittlichen Kunden in den Innovationsprozess. Einerseits muss es sich um eine Branche handeln, welche von sich schnell andemden Kundenanforderungen gepragt ist. Andererseits muss es sich um High-Involvement-Produkte handeln, um tiberhaupt die Chance fur ein Engagement von Kunden zu haben.

Diese beiden Grundvoraussetzungen sind fur die Bio-Lebensmittelbranche u.E. erfiiUt. Der Markt fur Oko-Lebensmittel wachst in Deutschland seit Jahren stetig an. Das Umsatzwachstum lag im Jahr 2002 bei 10 %, der Umsatzanteil der Oko-Lebensmittel am gesamten Lebensmittelmarkt betrug 2,3 % (Hamm et al. 2002). Nach einem vor allem durch Lebensmittelskandale im konventionel-len Bereich hervorgerufenen 30 prozentigen Umsatzanstieg im Jahr 2001, litt die Biobranche im Jahr 2002 unter Image- und Vertrauensverlusten. Diese wur-den vor allem durch den Nitrofenskandal hervorgerufen und wirkten sich insbe­sondere bei den neu gewonnenen Kunden und Gelegenheitskaufem aus (Wilier et al. 2003). Auch weiterflihrende Studien iiber den Bio-Lebensmittelmarkt

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Innovative Produktpolitik durch virtuelle Communities? 307

bestatigen, dass es sich um einen dynamischen, sich standig wandelnden Markt mit unterschiedlichsten Bedurfnissen und Anforderungen von Seiten der Kun-den handelt (vgl. Michels et al. 2003, Bruhn 2002, Alvensleben/Bruhn 2001, Fricke 1995, Kesseler 1994, Prummer 1994).

Bin hohes Involvement der Bio-Kaufer kann zunachst bezweifelt werden, da es sich bei Lebensmitteln vomehmlich um Low-Involvement-Erzeugnisse han­delt, die habitualisiert gekauft werden. Unter den Konsumenten okologischer Lebensmittel gibt es allerdings viele Verbraucher mit emahrungsbedingten Krankheiten, Familien mit kleinen Kindem, Nachfrager mit hohem wahrge-nommenen Kaufrisiko (z. B. bei Fleisch) und engagierte Umweltschtitzer (vgl. ZMP 2001, Jung 1998, Bruhn 2002) - kurz: die Ich-Beteiligung der Bio-Kaufer konnte selbst bei Giitem des taglichen Bedarfs hoher sein. Ob das Involvement allerdings ausreicht, um sich aktiv in Innovationsprozesse einzubringen, bleibt offen.

Vor diesem Hintergrund ist das Ziel der Studie weiter zu spezifizieren. Es geht um die Frage, ob die Nutzer einer Online-Community bei Bio-Lebensmitteln grundsatzlich als Lead User in Frage kommen. Hierzu wurde eine empirische Untersuchung in Form einer Online-Befragung von 393 Nut-zem der Seite www.naturkost.de im Marz 2003 durchgefuhrt. Um das Engage­ment und die Bediirfnisse der Nutzer der Plattform beurteilen zu konnen, wurde zuerst die individuelle Relevanz der einzelnen Angebote auf Naturkost.de fur jeden Nutzer abgefragt. Darauf erfolgte wurde zur Identifikation der Nutzungs-anspriiche eine explorative Faktorenanalys. AbschlieBend wurden dann mittels einer Clusteranalyse Gruppen unterschiedlichen Involvements gebildet.

4.1 Die Plattform Naturkost. de

Bei Naturkost.de handelt es sich um die Verlags-Homepage der Bio Verlags GmbH. Diese ist mit durchschnittlich 180.000 Besuchem pro Monat (Mediada-ten Naturkost.de 2002) eines der fiihrenden Intemet-Portale fiir die deutsche Naturkostfachwirtschaft (Bioladen, okologische Produzenten, Oko-GroBhandel). Die in Abbildung 1 dargestellte Website besteht aus folgenden Elementen:

•=> Nachrichten aus dem Oko-Bereich, welche dreimal pro Woche aktualisiert. ^ Redaktionelle Inhalte der Zeitschrift „Schrot&Kom", einem Kundenmaga-

zin der Bioladen mit einer Auflage von 450.000 pro Monat. O Suchfunktionen fiir Naturkostfachgeschafte, Online-Shops, Verbande und

Dienstleistungen (1.800 Adressen ^ r okologische Produkte und Dienstleis-tungen, 3.100 Handleradressen).

•=> Rezeptdatenbank mit mehr als 2.500 Eintragen und der Moglichkeit zum Austausch.

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308 Martin Muller/ Achim Spiller

^ Datenbanken fiir okologisch orientierte Seminar- und Urlaubsangebote.

Daneben bietet das Internet-Portal umfassende Community-Funktionalitaten. Unter der Uberschrift „Interaktiv" findet man folgende technische Module: Chat, Forum, Mailservice, Rezept-GruB, Newsletter, Tauschborse, Jobborse sowie zahlreiche Linkempfehlungen. Vor allem das Forum zeigt mit 251 The-men und 521 Beitragen (23.07.03) eine auBergewohnlich hohe Interaktion im Vergleich zu anderen Foren im Biobereich. www.naturkost.de ist somit eine Community fur den Bereich B2C und C2C mit einem umfassenden Nutzungs-angebot.

Qatel Beafbetten fipsicht Eavorlton Extras

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VMS«n<l»nSlft "RezeptgriiBe" an Hire

FrMindA!

Inspiration - Quinoa, Hirse, Mais, Dinkel ... Ein Blick in fremde KoclitOpfe bringt Urlaubsflalr In den KOchenalltag. Wie entsteht eIn Kochbuch mit Internationalen Oetreiderezepten? Die bekannte Kochbucli- Autorin Barbara Rias-Bucher fiat es uns verraten.

1^113 " " " ^ ^ W f B f i y t ^ Korner KiJclie - multikulti Unsere I ^ P l tt«zei>tciitt|i^«m Rezepte fur Sie: Polentakuchen m BKiilil I i '^ GemCise, Couscous-Salat mit f.M.iwKtjin-*.; o /» f t f t » Pfeirerminze, Dlnkelrisotto mit

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spezial: Schulie und Umwelt 160.000 Kilometer... welt tragen sie uns, ein Letaen lang: Unsere FtiHe sorgen fOrs Gleicfigewicht, haben Einfluss auf Korper und Seele. Trotzdem springen wir oft achtlos mit ihnen um, rwangen sie in falsche Schuhe und Strumpfe. Altemativen sind leicht gangbar, sie folgen dem Weg der Natur. Das Bests daran: Bequemllchkeit und naturliche Materialien verlrren sich nicht in der Sackgasse der Langeweile Modischer Chic und gute Qualltat sind vielmehr Trends, die auteinander zulaufen

Sprung ins Gluck

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Abbildung 39: Startseite www.naturkost.de Quelle: www.naturkost.de (2003)

Naturkost.de ist als Branchenplattform der mittelstandisch gepragten und auf Bio-Lebensmittel spezialisierten Supply Chain konzipiert. Die Bio-Branche hat sich in den letzten Jahren aus einer sozialen Bewegung zu einem zunehmend professionalisierten Marktsegment entwickelt, das fast voUstandig von der kon-ventionellen Lebensmittelwirtschaft getrennt ist. Da die einzelnen Bio-Handler und -Hersteller fiir eine eigenstandige Online-Community zu klein sind, wurde Naturkost.de als Branchenlosung implementiert.

Die Bio-Branche steht in jiingerer Zeit unter einem hohen Innovationsdruck. Imitatoren wie z. B. konventionelle Discounter (Plus, Aldi) sind in der Lage, Standard-Bio-Produkte erheblich preisgiinstiger anzubieten (Spiller 2004). Inzwischen haben alle konventionellen Handelsuntemehmen eigene Bio-

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Innovative Produktpolitik durch virtuelle Communities? 309

Sortimente aufgebaut, so dass der Marktanteil spezialisierter Bio-Fachhandler bestandig sinkt (vgl. Abbildung 40).

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Abbildung 40: Marktanteile der verschiedenen Absatzkandle bei Bio-Lebensmitteln in Deutschland 2003

Quelle: Michels et al (2004), S. 7

Die mittelstandischen Bio-Spezialisten werden dauerhaft am Markt nur tiberle-ben konnen, wenn sie die Weiterentwicklung des Oko-Angebotes vorantreiben (Spiller 2005). Sie mtissen ihren Glaubwiirdigkeitsvorsprung gegentiber den konventionellen Konkurrenten verteidigen, regionale Praferenzen ansprechen und neue Produkte, Verpackungen und Sortimentskonzepte hervorbringen. Angesichts geringer F+E-Budgets konnte hier der Kundenintegration eine hohe Relevanz zukommen. In der DiffUsionsphase mag die Einbindung in eine sozia-le Bewegung und die direkte Interaktion mit Verbrauchem und Stakeholdem ein hohes Innovationspotenzial freigesetzt haben. Mit steigender Professionali-sierung des Marktsegmentes gehen diese urspriinglichen Kontakte verloren. Online-Communities bieten ggf. einen Weg, eine effiziente Kundenintegration unter veranderten Bedingungen sicherzustellen.

4.2 Nutzerdaten und Nutzungsverhalten

Die folgende Untersuchung wurde in Form einer Online-Befragung von 393 Nutzem der Seite www.naturkost.de im Marz 2003 durchgefuhrt. Der Fragebo-

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310 Martin Mtiller/ Achim Spiller

gen erschien bei den Nutzem automatisch bei Aufruf der Seite in Form eines Pop-up-Fensters. Die Teilnahme erfolgte freiwillig, so dass die Ergebnisse auf-grund des nicht bekannten Selbstselektionsverhaltens nur als eingeschrankt reprasentativ gelten konnen.

Bei 72 % der Befragten handelt es sich um Frauen. Weiterhin weisen die Nutzer zu einem groBen Anteil ein hohes Bildungsniveau aus. Insgesamt haben tiber 60 % Abitur, gut ein Drittel (34,5 %) hat ein Hochschulstudium absolviert. Die Zahl der Hauptschiiler ist mit lediglich 4 % der Befragten sehr gering. Die Altersgruppe zwischen 30 und 39 Jahren ist besonders stark vertreten, sie macht mit 40 % nahezu die Halfte der Befragten aus. Auch in den Altersgruppen 20-29 Jahre und 40-49 Jahre liegen noch 21 bzw. 24 % der Befragten. In den Al­tersgruppen 50-59 Jahre und dariiber sowie unter 20 Jahren ist die Beteiligung an der Befragung sehr gering. AUe genannten Charakteristika entsprechen den heutigen Bio-Kauferstrukturen (Ltith/Spiller 2004).

Die Website Naturkost.de wird von einigen Nutzem (24 %) etwa einmal pro Woche genutzt. Jewells etwa 20 % nutzen die Seite 2-3 Mai pro Woche bzw. 2-3 Mai pro Monat. Taglich nutzt die Website kaum einer der Befragten

Die Angaben der Befragten, welche Seiten am haufigsten genutzt werden, spiegeln relativ genau die tatsachliche Nutzung der Angebote auf www.naturkost.de wider, wie sie durch interne Nutzungsstatistiken belegt sind. Die Befragten schatzen also ihre Prioritaten bei der Nutzung richtig ein. Fast die Halfte der Befragten (43 %) ruft am haufigsten die Rezepte auf. Auch die Nach-richten iiber Naturkost werden mit 21 % haufig aufgerufen. Das Forum ist mit nur 0,8 % die Seite, die nach Angaben der Befragten am wenigsten aufgerufen wird. Dies ist problematisch, da das Forum das zentrale interaktive Element ist.

4.3 Typologie der Online-Nutzung

Die Nutzer wurden gebeten, die Relevanz der einzelnen Angebote in Natur-kost.de zu benennen. Die Wichtigkeit wurde auf einer Ratingskala von 1 (sehr wichtig) bis 6 (unwichtig) bewertet. In der darauf folgenden Frage wurde die Qualitat des Angebotes beurteih. Es wurden Schulnoten von 1 (sehr gut) bis 6 (ungeniigend) vergeben. Abbildung 41 stellt durch einen Mittelwertvergleich dar, ob die einzelnen Elemente den Anforderungen der Nutzer gerecht werden. Die Abbildung zeigt, dass die untersuchten Wichtigkeiten der jeweiligen Ele­mente besser ausfallt als die Relevanzbeurteilung. Das bedeutet, dass die Nutzer im Durchschnitt mit der Qualitat der Elemente zufrieden sind. Die beiden Kur-ven nahem sich beim Forum jedoch stark aneinander an, hier bestehen offen-sichtlich noch Verbesserungspotenziale. Die Bewertung beim Forum ist sehr ausgeglichen, es gibt jedoch einige Nutzer, welche die Wichtigkeit mit sehr hoch bewerten und damit den ansonsten ausgeglichenen Schnitt anheben.

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Innovative Produktpolitik durch virtuelle Communities? 311

AUg. Informatio-nen zu Naturkost

Naturkost Nachrichten

Rezepte (Auswahl)

Rezepte (Qualitat)

Forum

Adressen (Laden/ Anbieter)

Adressen (Urlaub/ Seminare)

Mittelwerte der Wichtigkeit

Mittelwerte der Beurteilung

Abbildung 41: Kundenanforderungen und -zufriedenheit bei Naturkost.de Quelle: Eigene Erhebung, n^393

Aus dem Fragekomplex zur Wichtigkeit einzelner Themenbereiche in Natur­kost. de wurden mit Hilfe einer explorativen Faktorenanalyse (Hauptkomponen-tenanalyse mit Varimaxrotation) drei Hintergrundfaktoren identifiziert (Biihl/Zofel 2000, Backhaus et al. 1999). Diese sind mit ihren bestimmenden Variablen in Tabelle 19 dargestellt.

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312 Martin Muller/ Achim Spiller

Tabelle 19: Ergebnisse der Faktorenanalyse

Beschreibung desFaktors

Faktor 1 NUTZEN Unmittelbar nutzbare Informationen im Bereich Naturkost

Faktor 2 INFORMATIONEN Generelle Hintergrundinformationen zu Naturkost

Faktor 3 INTERAKTION UND UNTER-HALTUNG Unterhaltung und Interaktivitat rund um Naturkost

Faktorbestimmende Variablen

• Rezepte • Einkaufsadressen (Laden, An-

bieter) • Adressen von Urlaubs- und

Seminaranbietem • AUgemeine Informationen iiber

Naturkost • Naturkost-Nachrichten • Serviceangebot • Schrot und Kom

(Online Version) • Forum/Austausch mit anderen

Nutzem

Die Faktorenanalyse zeigt, dass die Anforderungen an das Online-Portal Natur-kost.de im Kern von drei zentralen Beweggrlinden determiniert werden:

^ Von dem unmittelbaren Nutzen, den der Nutzer sofort verwerten kann, •=> dem generellen Informationsgehalt im Bereich Naturkost und verwandter

Themenbereiche und •=> dem Interaktions- und Unterhaltungswert, den die Seite dem Nutzer bietet.

Um die befragten Nutzer differenzierter betrachten zu konnen, wurden anhand der Fragen zur Wichtigkeit der Elemente von Naturkost.de mittels einer Cluster-analyse Gruppen gebildet. Die drei ermittelten Faktoren wurden dabei als clusterbildende Variablen herangezogen. Auf Basis der Ward-Methode (Buhl/ Zofel 2000, Backhaus et al. 1999) konnten vier Cluster unterschiedlicher GroBe identifiziert werden. Die Gruppen unterscheiden sich wie folgt:^

Gruppe 1: Nachrichten- und Informations or ientierte (109 Probanden/42 %) Die insgesamt groBte Gruppe legt vorwiegend Wert auf Informationen zu Na-turkostthemen sowie auf die Kategorie „Service". Die Bedeutung der anderen Angebote liegt in dieser Gruppe niedriger als der Mittelwert. Insgesamt ist die Zufriedenheit mit den Elementen durchschnittlich.

^ Die Zahl der in die Clusteranalyse einbezogenen Probanden ist mit 262 durch eine Reihe von Missings geringer als die Gesamtzahl der Befragten (n=393).

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Innovative Produktpolitik durch virtuelle Communities? 313

Diese Gruppe diirfte sich flir einen Lead User Ansatz nur sehr eingeschrankt eignen. Die Gruppe ist eher als passiv zu charakterisieren und wenig gewillt sich interaktiv in der Community zu engagieren, was aber eine Voraussetzung flir einen Costumer-active-Innovationsprozess ist.

Gruppe 2: Nutzenorientierte (21 Probanden/8 %) Die kleine Gruppe der Nutzenorientierten bewertet nur diejenigen Funktionen als wichtig, die einen unmittelbaren Nutzen liefem, vor allem „Rezepte" und „Adressen von Laden/Anbietem". Diese Zielgruppe ist insgesamt unzufrieden mit der Qualitat des Angebotes.

Zwar konnte man hier aus der Unzufriedenheit der Kunden ein Potential fur „fortschrittliche Kunden" nach Liithje (2000) ableiten, Probanden dieses Clusters sind jedoch nur an passiven Informationen interessiert, so dass auch hier nicht damit gerechnet werden kann, dass sie sich aktiv an einem Innovati-onsprozess beteiligen.

Gruppe 3: Hoch-Involvierte (90 Probanden/34 %) Diese relativ groBe Gruppe zeichnet sich durch ein iiberdurchschnittliches Inte-resse aus. Eine solche Zielgruppe der hoch involvierten Nutzer, die iiber eine vertiefte Intemetaffmitat verfugt, fmdet sich auch in anderen Online-Typologisierungen (Kotzab/Madlberger 2002, S. 120 f.). Jede Kategorie wird von diesen Probanden wichtiger eingestuft als von den tibrigen Befragten. Auch die Zufriedenheit ist hier deutlich hoher als bei den anderen Gruppen. Sie liegt bei alien Kategorien iiber dem Durchschnitt.

Gruppe 3 konnte beziiglich ihres Engagements geeignet sein, als Lead User zu fungieren. Sie bringt wesentliche Voraussetzungen, wie beispielsweise eine hohe Bediirfnisorientierung sowie ein umfassendes Verwendungs- und Objekt-wissen mit. Diese Gruppe sollte gezielt angesprochen und untersucht werden, da sich hier das groBte Potenzial fiir interaktive Innovationsprozesse vermuten lasst.

Gruppe 4: Interaktions- und Unterhaltungsorientierte (42 Probanden/16 %) Die interaktions- und unterhaltungsorientierten Nutzer legen weniger Wert auf den Informationsgehalt der Seite. Fiir sie steht der Grad der moglichen Unter-haltung im Vordergrund. Diese Probanden mochten selber aktiv werden und sich mit anderen Nutzem austauschen. Demzufolge werden das „Forum" sowie die Online-Version der „Schrot und Kom" als besonders wichtig eingestuft, allerdings als nur maBig gut bewertet.

Nutzergruppe 4 weist zwar auch ein hohes Potenzial ftir einen interaktiven Austausch auf, allerdings steht inhaltlich die Unterhaltung im Vordergrund und eben nicht das Produktinvolvement. Daher muss auch hier davon ausgegangen werden, dass diese Gruppe nur schwer fur Innovationsprozesse im hier be-schriebenen Sinne zu aktivieren ist.

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314 Martin Muller/ Achim Spiller

Insgesamt zeigt die Clusteranalyse, dass lediglich die Halfte der Nutzer ein gesteigertes Interesse an Interaktion und kommunikativem Austausch hat. Zu-dem ist die Gruppe der Interaktionsorientierten mit dem Forum nicht zufrieden. Moglicherweise wird ihr Unterhaltungsbediirfnis nicht ausreichend befriedigt. Die Hoch-Involvierten Nutzer bewerten das Forum dagegen als wichtig und sind auch damit zufrieden. Dies ist insofem bedeutend, da das Forum im Rah-men eines interaktiven Innovationsprozesses mit den Kunden einen zentralen Stellenwert einnimmt. Hier sind Riickfragen vom Hersteller mogUch und nur hier kann ein dauerhafter Dialog stattfmden.

4.4 Aktionsforschung zur Uherpriifung der Dialogintensitdt

Aufgrund der geringen bzw. sehr kurzen Nutzung des Forums von Naturkost.de wurden im Rahmen eines aktionsorientierten Forschungsdesigns Impulse zur Steigerung der Interaktivitat des Forums gesetzt. Von Mai bis September 2003 wurde das Forum intensiv betreut. Zentrales Ziel war, die Communities fur Nutzer attraktiver zu gestalten und so die Nutzungsintensitat zu erhohen um schlieBlich einem Prozess der Froduktinnovation anzustoBen.

Im Einzelnen wurden MaBnahmen zur Erhohung des Bekanntheitsgrades und der Teilnehmerzahl, zur Starkung des Gruppengefiihls und des Vertrauens und zur Erhohung des Involvements eingesetzt. Mitglieder der Forschungs-gruppe initiierten Beitrage, schalteten exteme Fachleute ein, es wurden Benefits zur Teilnahme ausgelobt und provokante Thesen formuliert.

Weder haben sich Nutzer bereiterklart in Foren, wo es konkret um Produkt-innovationen geht teilzunehmen, noch konnten generell die angestrebten Aktivi-taten in den Foren gesteigert werden. Kommunikation erfolgte stets sehr einsei-tig und dauerte nur kurz an. Die Art der Nutzung der Foren lasst darauf schlieBen, dass bei vielen Nutzem wenig Bedarf an Austausch und langerfristi-gem Kontakt besteht. Von den Nutzem werden eher Antworten auf fachliche Fragen gesucht als konkret an Innovationsfragen mitzuwirken. Nach Beantwor-tung der Fragen der Nutzer besteht zumeist kein weiterer Bedarf zur Kommuni­kation. Dieser Informationsbedarf lasst sich auch an der hohen Anzahl von Lesevorgangen erkennen. In diesem Fall ist jedoch eine Community nicht das geeignete Instrument. Der Nutzen einer Community im Hinblick auf Interaktivi­tat und wechselseitigen Informationsfluss kann nur erreicht werden, wenn eine ausreichende Anzahl aktiver Mitglieder sich iiber einen langeren Zeitraum in der Community betatigt.

5 Schlussbetrachtung

Insgesamt lassen die Ergebnisse dieser Studie darauf schlieBen, dass Virtuelle Communities iiber ein beachtliches Verbreitungspotenzial verfiigen. Die Zahl

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Innovative Produktpolitik durch virtuelle Communities? 315

der Zugriffe auf Naturkost.de ist hoch. Rund die Halfte der User ist inhaltlich starker interessiert und grundsatzlich fur ein Forum aufgeschlossen.

Zugieich wird aber deutlich, dass die Ansprache der hochinvolvierten Nut-zer bisher nur begrenzt gelingt und selbst der gezielte Einsatz extemer Interven-tionen keine selbst tragende Kommunikation aufbauen konnte. Demzufolge gelang es auch nicht, einen virtuellen interaktiven Innovationsprozess anzusto-fien, wie er auf anderen Plattformen, wie z.B. auf der virtuellen Plattform li-nux.de, zu beobachten ist. Eine Ubertragbarkeit solcher Konzepte in den Oko-Lebensmittelbereich erscheint nach den vorliegenden Ergebnissen kaum reali-sierbar zu sein.

Hinweise auf die Ursachen der Diskrepanz zwischen dem bekundeten Dia-loginteresse und der geringen Nutzungsintensitat liefert die okologische Le-bensstilforschung (Ltith/Spiller 2004). Demnach fmden sich heute Bio-Intensivkaufer in disparaten sozialen Milieus. Die Anzahl der Bio-Kunden mit einem starkeren Kommunikationsinvolvement, die prinzipiell an einer Commu­nity interessiert sind, teilt sich in einzelne Gruppen mit sehr unterschiedlichen Lebensweisen, Interessen, Bedtirfnissen und Ansichten.

Dies ist einerseits eine Chance, um individuell auf die ausdifferenzierten Kundenwiinsche eingehen zu konnen und fruhzeitig Trends zu erkennen, ande-rerseits muss darauf bei der Gestaltung der Foren eingegangen werden, indem entsprechende Raume auf der Plattform zur Verfiigung gestellt werden und eine Moderation des Herstellers unterstiitzend wirkt. Eine starkere Berlicksichtigung der verschiedenen Gruppen ware daher bei der Einrichtung der Community nicht nur inhaltlich, sondem auch im Design und in der Organisation notwen-dig. Andemfalls besteht die Gefahr, dass sich die Beitrage auf die Beantwortung von Fachfragen beschranken werden, ohne dass ein Austausch oder wirkliche Kommunikation entstehen, welche wesentliche Voraussetzung fur einen inter­aktiven Innovationsprozess zwischen Hersteller und Kunde ist. Hier konnen sich insbesondere durch den Einsatz von Moderationselementen und durch Selbstselektion der Nutzer in verschiedenen Foren Praferenzgemeinschaften herausbilden, die fur Lead User Konzepte geeignet sind.

Die vorliegende Studie stellt einen ersten und keineswegs abschlieBenden Beitrag zum Nutzenpotenzial von virtuellen Oko-Communities vor. Die Aussa-gen deuten auf die besondere Relevanz des Involvements hin. Die Kunden des hier befragten Bio-Fachhandels bilden eine Kemgruppe der Umweltschiitzer, so dass insgesamt ein eher skeptisches Fazit zu ziehen ist - insbesondere vor dem Hintergrund des begrenzten Budgets vieler Hersteller. Solange ein vertiefter Austausch von Informationen und Nutzungsanspriichen nicht gelingt, fehlt es bereits an der notwendigen Grundlage fur eine Einbindung der User in die In-novationspolitik. Weitere Forschungsvorhaben sollten sich ggf auf Segmente wie das okologische Bauen konzentrieren, die ein hoheres Involvement der Kunden erwarten lassen.

Page 327: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

316 Martin Mtiller/ Achim Spiller

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Page 329: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Organisationales Lernen zur Realisierung nachhaltiger Innovationen

Bernd Siebenhuner/ Marlen Arnold

1 Einleitung

Untemehmen spielen bei Innovationen fur nachhaltige Entwicklung in vielfalti-ger Weise eine zentrale Rolle. Sie agieren zunehmend global und stellen durch Fusionen und Aufkaufe von anderen Untemehmen immer groBere Machtzent-ren dar, welche nicht nur tiber ihre Produktionstatigkeit, sondem auch liber ihren Einfluss auf Lebensstile und Konsummuster die Nutzung von Ressourcen und die Freisetzung von Stoffen und Energien und damit den Grad der Naturin-anspruchnahme pragen (vgl. Fichter, Clausen 1998, Schneidewind 1998). Damit kommt Untemehmen und einer Vielzahl der von ihnen generierten Innovationen eine Mitverantwortung fur die Vemrsachung einer Vielzahl okologischer und sozialer Probleme zu, die im Rahmen des Konzeptes der Nachhaltigkeit fokus-siert werden.

Untemehmen sind auf der anderen Seite auch Orte sozialer, okonomischer und okologischer Innovation, die zumindest partielle Problemlosungen im Nachhaltigkeitskontext darstellen. So hat sich eine Vielzahl von Untemehmen mittlerweile einiger zentraler Herausfordemngen der Nachhaltigkeit, wie insbe-sondere des Klimawandels, angenommen und diese Untemehmen versuchen, ihre Aktivitaten wie auch ihre Innovationstatigkeit auf diese Anfordemngen auszurichten. In diesem Zuge entstehen zukunftsvertragliche Losungen, die oftmals zugleich wirtschaftliche Chancen bergen.

Vor diesem Hintergmnd stellen sich auch angesichts der groBen Varianz im Untemehmensverhalten in Bezug auf die Herausfordemngen der Nachhaltigkeit die Fragen, wann und wamm Untemehmen Lem- und Verandemngsprozesse in Richtung nachhaltiger Entwicklung einschlagen und welche Faktoren diese fordem und hemmen. Der Beantwortung dieser Fragen widmet sich der Beitrag auf Basis einer empirischen Analyse von Untemehmen in den Bedurfnisfeldem Bauen & Wohnen, Mobilitat und Kommunikation & Information. Darin wurden nachhaltige Innovationsprozesse und ihre Ausloser im Rahmen von sechs Un-temehmensfallstudien untersucht. Die Feldstudien hierfur wurden im Sommer 2004 durchgefuhrt.

Konzeptionell baut die Analyse auf Ansatzen des organisationalen Lemens auf, aus denen ein Analyseraster entwickelt wurde, das im nachfolgenden Ab-schnitt 2 erlautert wird. Der darauffolgende Abschnitt 3 gibt die wesentlichen

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320 Bemd Siebenhuner/ Marlen Arnold

Ergebnisse der Querauswertung des Datenmaterials wieder. Abschnitt 4 zieht einige Schlussfolgerungen aus der Untersuchung und den Ergebnissen.

2 Theoretischer Hintergrund und Untersuchungsdesign

In der Literatur zum organisationalen Lemen bzw. zur Lemenden Organisation ist der Fokus auf nachhaltigkeitsbezogene Lemprozesse wenig ausgepragt. Nur wenige Ansatze zur konzeptionellen Fassung des Phanomens existieren (vgl. Brentel 2003, Cramer 2005, Pfriem, Schwarzer 1996). Wahrend eine Vielzahl von Studien Lemprozesse in Untemehmen im Hinblick auf technologische und marktorientierte Neuerungen untersuchen, standen umwelt- oder nachhaltig-keitsorientierte Lemprozesse bislang kaum im Zentmm empirischer Analysen. Eine Ausnahme hierzu stellt die Erhebung von Finger et al (1996) dar, in der okologische Lemprozesse in schweizerischen Untemehmen im Mittelpunkt standen und einige Einflussfaktoren auf derartige Lemprozesse identifiziert wurden. Auf der anderen Seite weist die Forschungsliteratur zum Umwelt- und Nachhaltigkeitsmanagement ebenfalls eine relative Lticke bei der Bearbeitung von Lem- und Verandemngsprozessen auf. So konzentrieren sich die meisten Arbeiten in diesem Bereich auf instmmentelle Aspekte und die Entwicklung neuer Management-Konzepte fur diese Herausfordemngen, ohne dabei konzep-tionell oder empirisch tiefer auf die Dynamiken diesbeziiglicher Verandemngs-prozesse einzugehen.

Lemen und Lemtheorien sind verbreitete Themen in verschiedenen wissen-schaftlichen Disziplinen. Vor allem in der Psychologie und der Padagogik ste-hen dabei individuelle Lemprozesse im Vordergmnd (vgl. Schunk 1996, Swen-son 1980). Hingegen sollen in diesem Papier kollektive Lemprozesse und ihre Dynamiken im Vordergmnd stehen, die sich zwar in weiten Teilen am Para-digma des lemenden Individuums orientieren, aber auch eigenstandige Dyna­miken aufweisen. Hierbei geht es um die Diffusion neuen Wissens in Gmppen, um die verschiedenen Reflexionsebenen und die resultierenden Verhaltensande-mngen auf koUektiver Ebene. Im Kontext der Nachhaltigkeit stellen sich spezi-fische weitere Anfordemngen an eine Konzeption von kollektiven Lemprozes-sen.

In der betriebswirtschaftlichen Literatur wird „organisationales Lemen" als ein Prozess defmiert, „der eine Verandemng der Wissensbasis der Organisation beinhaltet, der im Wechselspiel zwischen Individuen und der Organisation ablauft, der in Interaktion mit der intemen und/oder extemen Umwelt stattfm-det, der durch Bezugnahme auf existierende Handlungstheorien in der Organi­sation erfolgt und der zu einer Systemanpassung der intemen bzw. an die exter-ne Umwelt und/oder zu erhohter Problemlosungsfahigkeit des Systems beitragt" (Pawlowsky 2001: 204, eigene Ubersetzung). Ein zentrales Charakteristikum organisationalen Lemens ist, dass es sich hierbei um mehr als die Summe indi-

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Organisationales Lemen 321

viduellen Lemens handelt, d. h. um ein emergentes Phanomen, das sich auf einer kollektiven Ebene, z. B. in veranderten Organisationsstrukturen, feststel-len lasst (vgl. Probst, Buchel 1998).

Grundsatzlich soil im Folgenden dann von nachhaltigkeitsorientiertem Ler-nen gesprochen werden, wenn Akteure dauerhafte Verhaltensdnderungen zei-gen, die aufeine verdnderte Wissensbasis infolge reflexiver Prozesse zurilckzu-fuhren sind und wenn dahei das Konzept der Nachhaltigkeit als Zielrahmen zugrunde gelegt und entsprechende Verbesserungen erwirkt wurden. Diese Definition rekurriert auf Erkenntnisse der sozialpsychologischen Literatur, in der die Notwendigkeit von aktuellen Verhaltensanderungen als Resultat von Wissensanderungen betont wird (vgl. Schunk 1996). Zum anderen wird der Notwendigkeit Rechnung getragen, die Richtung der Veranderungen zu bestimmen, indem auf das Konzept der Nachhaltigkeit verwiesen wird.

Organisationale Lemprozesse werden zumeist unterschiedlichen Formen Oder Typen zugeteilt. Hierzu existieren in der Literatur eine Vielzahl von Unter-scheidungen und Systematiken, die zumeist zwei oder drei Formen unterschei-den. Dabei hat sich vor allem die Konzeption von Argyris, Schon (1978, 1996) als fruchtbar fiir viele empirische und konzeptionelle Arbeiten erwiesen, so dass auf sie aufgebaut werden soil. Fiir den Kontext der nachfolgenden empirischen Untersuchung organisationaler Lemprozesse in Richtung Nachhaltigkeit soUen folgende Lemformen unterschieden werden:

•=> Single Loop Learning: Es konnen Veranderungen in Prozessablaufen und Ergebnissen (Produkten oder Dienstleistungen) beobachtet werden, die auf Basis des bestehenden Ziel- und Regelsystems in der Organisation durchge-flihrt werden. Wertvorstellungen auf kollektiver oder individueller Ebene verandem sich hierbei nicht oder unwesentlich, d. h. die Untemehmenskul-tur bleibt weitgehend gleich. Ausloser fur die Lemprozesse konnen intem oder extem festgestellte Abweichungen von Zielvorstellungen sein oder ex-temer Dmck z. B. durch neue gesetzliche Regelungen oder die artikulierten Anfordemngen von Stakeholdem.

•=> Double-Loop Learning: Die Organisation bezieht auch die explizit formu-lierten oder implizit verfolgten Zielsetzungen mit in den Lemprozess ein. Es fmdet eine umfassende Reflexion iiber die Prozesse und Ergebnisse statt, die in der Folge verandert werden. Dadurch wandeln sich auch die vorherr-schenden Werte und die Untemehmenskultur. Zudem fmdet eine aktive Gestaltung des Lemprozesses als Prozess zur Generiemng neuen Wissens statt, der iiber die Diffusion bekannten oder iibemommenen Wissens hi-

Vgl. fur entsprechende Uberblicksdarstellungen Antal (1998), Fiol, Lyles (1985), Pawlowsky (2001).

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322 Bemd Siebenhiiner/ Marlen Arnold

nausgeht. Ausloser konnen von auBen oder vor allem auch von innen, z. B. durch Konflikte, Krisen oder Unzufriedenheiten, kommen.

•=> Deutero Learning: Dieses reflexive Lemen zielt auf eine aktive Gestaltung von Lemprozessen und den dazugehorigen Lemmechanismen ab (Liebert 2001: 69, Wiesenthal 1995: 144). Ein gezieltes Fordem und Explizieren der Reflexionen iiber Prinzipien, Regeln, Grundannahmen und Fahigkeiten -insbesondere hinsichtlich Nachhaltigkeit - starkt das gezielte ErschlieBen von nachhaltigen Entwicklungspotentialen und Innovationen. Da hierbei nicht mehr primar Nachhaltigkeit als Gegenstand des Lemens im Zentrum steht, sondem die Lemfahigkeiten und -mechanismen, stand diese Lemform nicht im Zentrum des hier verfolgten Forschungsansatzes. Zudem war das Erfassen des Lemens der Lemfahigkeit im gewahlten Forschungsdesign schwierig. Nur insofem sich das Deutero Learning auf nachhaltigkeitsbezo-genes Lemen dauerhaft auswirkt, wurde es - sofem moglich und die Daten-lage es zugelassen hat - mit untersucht.

Wahrend die Unterscheidung der Lemformen sich vomehmlich auf die Pro-zessdimension bezieht, legt der Fokus auf nachhaltigkeitsorientierte Lempro-zesse auch eine Einbeziehung der Ergebnisse der eingetretenen Verandemngen nahe. Gmndsatzlich sollen diese eine Verbessemng in Richtung Nachhaltigkeit darstellen, um unter den oben ausgefiihrten Begriff nachhaltigkeitsbezogenen organisationalen Lemens zu fallen. Angesichts der Breite des Begriffsverstand-nisses und der gegenwartig diskutierten Verstandnisse von Nachhaltigkeit ist eine kriteriengeleitete Konkretisiemng und Fokussiemng far die nachfolgende Untersuchung geboten.

Der besondere Fokus der hier vorzustellenden Studie liegt auf dem Klima-schutz als zentralem Problembereich des Nachhaltigkeitsdiskurses. Dabei inte-ressieren vor allem solche praktisch beobachtbaren organisationalen Verande­mngen in den Prozessablaufen oder den Produkten und Dienstleistungen, die einen Beitrag zum Klimaschutz im weiteren Sinne leisten. Dies kann sowohl EnergieeinsparmaBnahmen wie auch Konzepte und Technologien zur Erschlie-Bung emeuerbarer Energien beinhalten. Erganzend werden auch die weiteren nachhaltigkeitsbezogenen Zielsetzungen, MaBnahmen und Ergebnisse beriick-sichtigt. So sollen insbesondere auch die veranderten Zielformuliemngen und Strategiesetzungen auf dem Weg der Verankemng von Nachhaltigkeit in Orga-nisationen in die Analyse mit einbezogen werden. Hiemnter fallen neben oko-logischen Verbessemngen auch soziale MaBnahmen, die z.B. der Wahmeh-mung der gesellschaftlichen Verantwortung von Untemehmen dienen. All diese Verandemngen miissen sich jedoch in konkreten MaBnahmen und praktizierten Handlungsandemngen niederschlagen und diirfen nicht allein auf einer rhetori-schen Ebene bleiben, um den MaBgaben der obigen Definition zu entsprechen.

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Organisationales Lemen 323

Hinsichtlich der Reichweite dieser Veranderungen lassen sich zwei Auspra-gungen unterscheiden. So soUen in der nachfolgenden Untersuchung analog zu einer verbreiteten Unterscheidung im Innovationsmanagement zwischen inkre-mentellen und weit reichenden Veranderungen differenziert werden. Wahrend inkrementelle Veranderungen begrenzte Anpassungen in den Prozessablaufen, z. B. die Einfuhrung einer Checkliste oder okologische Verbesserungen an bestehenden Produktkonzepten beinhalten, verlangen weitreichende Verbesse­rungen radikalere Veranderungen in den Prozessablaufen und den Produktkon­zepten, die auch auf ein Umschwenken auf ganzlich neue Formen der Bediirf-nisbefriedigung abzielen konnen (vgl. Schneidewind, et al 1997).

Ziel der empirischen Arbeit ist es, u.a. herauszufinden, wie nachhaltigkeits-bezogenes Wissen zum einen von der Organisation absorbiert, generiert und verbreitet wird und zum anderen wie es in der Organisation handlungspraktisch wird. Es wird folglich hinterfragt, ob das „neue Wissen" vomehmlich von au-6en kam oder untemehmensintem generiert worden ist, welche Rolle exteme Faktoren, wie Markt, Stakeholder, Politik, spielen und wie das Untemehmen auf seine Umwelt wieder einwirkt. Um die Bedingungen fur das Zustandekom-men derartiger Lemprozesse zu identifizieren, wurde ein System aus unabhan-gigen Variablen erarbeitet. Als mogliche Erklarungsfaktoren fur organisational Lemprozesse zur Realisierung nachhaltiger Innovationen werden in der Unter­suchung strukturelle, kulturelle und personelle interne sowie exteme Faktoren unterschieden. Konkret sind dies folgende:

1. Grofie des Unternehmens: Hierbei werden anhand der Mitarbeiterzahl GroB-, Mittel- und Kleinuntemehmen unterschieden.

2. Lernmechanismen: Aufbauend auf Poper, Lipshitz (1995) sollen die stmk-turellen Elemente von Organisationen zur Aufbereitung von Erfahmngen und zur Initiiemng und Fortfuhmng von Lemprozessen wie z. B. Lem-werkstatten, Evaluationseinheiten, Workshops etc. untersucht werden.

3. Personalstruktur: Die Zusammensetzung des in einer Organisation tatigen Personals kann ebenfalls als einflussreich fur organisational Lemprozesse angesehen werden. Besonders hervorstechende Merkmale sind hierbei die bemflichen Hintergriinde als auch das zahlenmaBige Verhaltnis zwischen Frauen und Mannem, die in die empirische Studie einbezogen wurden.

4. Werte und Normen: Gemeinsame von alien oder Untergmppen der Organi-sationsmitglieder geteilte Werte und Normen sind konstituierendes Element der Organisationskultur (Schein 1984). Ihnen kann ein signifikanter Ein-fluss auf die Richtung und Form der organisationalen Lemprozesse und die generelle Lemfahigkeit der Organisation zugesprochen werden.

5. Konflikte: Ausgehend von der Erkenntnis, dass gewisse Reibungspunkte oder Konflikte in Untemehmen haufig als Ausloser fur Verandemngen fiin-gieren (vgl. Rothman, Friedman 2001), kann die These aufgestellt werden.

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324 Bemd Siebenhuner/ Marlen Arnold

6.

dass Konflikten auch eine Rolle bei organisationalen Lemprozessen zu-kommt. Fuhrungsstile: Fiihrungsstil lasst sich als ein spezifisches Verhaltensmuster eines/einer Vorgesetzten gegenuber seinen/ihren Mitarbeitem/innen be-schreiben (Kiibler 1980: 86). In dieser Studie werden ein direktiver, ein konsultativer und ein partizipativer Fiihrungsstil in Abhangigkeit der jewei-ligen Grade der Mitarbeiterbeteiligung an den Entscheidungsprozessen un-terschieden. Interne Netzwerke: GemaB der Erkenntnisse der Netzwerkforschung (vgl. Barabasi 2002, Blatter 2003, Crampton, et al 1998, Mutch 2002) und der Forschungen zur Mikropolitik (vgl. Ortmann 1988) existieren in Organisa-tionen unterschiedliche zumeist informelle Netzwerke, die von verschiede-nen Akteuren unterhalten werden. Die beteiligten Akteure etablieren ge-meinhin einen Kommunikationszusammenhang, welcher zur Wissensgenerierung und -diffusion jenseits von Fiihrungsebenen und Ab-teilungsgrenzen beitragt. Change Agents: Change Agents sind Individuen in Organisationen, die Neuerungen anstoBen und Innovationsprozesse in Gang halten. Engagierte Personen in Organisationen konnen organisationales Lemen anstoBen oder zur Diffusion von neuem Wissen aktiv beitragen (vgl. Finger, et al 1996: A9f.).Externe Faktoren: Zusatzlich zu intemen Faktoren ist zu erwarten, dass nachhaltigkeitsorientierte Lemprozesse in ihrem Verlauf und ihren Er-gebnissen auch von untemehmensextemen Faktoren abhangen. In die Un-tersuchung wurden einbezogen: die Situation auf dem Markt, gesetzliche Veranderungen, Stakeholderanforderungen und die offentliche Meinung.

Strukturelle Faktoren

• Personalstr u kt ur •Lemmechanismen

KuftureUe Faktoren •Werte und Normen •Interne Netzwerke *FQhrungsstile • Konflikte

Verhaltens-Faktoren •Change Agents 1-

Externe Faktoren I •Markt druck I •Gesetzliche I Veranderungen I •Offentlichkeit und I Stakeholderforde- I rungen I 1 Nachhaltigkeits-

bezogenes organisationales

Lernen

1 1) Single-loop learning

2) Double-loop learning

Ahbildung 42: GELENA-Bezugsrahmen zur Erfassung nachhaltigkeitshezogener Lernprozesse

Page 335: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Organisationales Lemen 325

Die einzelnen untersuchten potenziellen Einflussfaktoren sind aus der obigen Abbildung ersichtlich. Aufbauend auf den Erkenntnissen der einschlagigen Literatur zum organisationalen Lemen wurden zu den einzelnen Aspekten der Struktur-, Kultur- und Verhaltensvariablen sowie der extemen Faktoren Hypo-thesen abgeleitet, die im Rahmen der fallstudienbezogenen qualitativen Inhalts-analyse zur Uberprtifung kamen.

Um tiefer gehende Einsichten in schwer zugangliche Gegenstandsbereiche -wie hier untemehmensinteme Lem- und Innovationsprozesse mit Fokus Nach-haltigkeit - zu erfassen und um die Umsetzung von Nachhaltigkeit und insbe-sondere Klimaschutz nachzuvollziehen und relevante EinflussgroBen zu identi-fizieren, bot sich die Datenerhebung fiir die sechs Untemehmensfallstudien durch semi-strukturierte und themenzentrierte Interviews unterstiitzt durch Do-kumentenanalysen an (vgl. Mayring 2002, Yin 1994, Gassmann 1999). Das qualitative Design der Studie zielt auf die subjektiven Bedeutungen und Sinnzu-schreibungen der befragten Akteure. Basis fiir die Auswahl der Untemehmen war, dass diese bereits Nachhaltigkeits- oder klimarelevante Umweltinnovatio-nen durchgefahrt oder sich durch die Einbeziehung von Stakeholdem hervorge-tan haben. Zudem soUten Einblicke in unterschiedliche besonders nachhaltig-keitsrelevante Bediirfnisfelder gewonnen werden, so dass je zwei Untemehmen der Bereiche Mobilitat, Bauen und Wohnen und Informations- und Kommuni-kationstechnologien ausgewahlt wurden.

Die Interviewstudie basiert auf 13 semi-stmkturierten Interviews, die jeweils zwischen 45 und 90 Minuten dauerten und entweder Face-To-Face oder als Telefoninterview organisiert wurden. Diese Untemehmensfallstudien sind leit-fadengestiitzt durchgefuhrt worden. Zu den zentralen Inhalten gehorten:

O die Beschreibung des untemehmensintemen Nachhaltigkeitsprozesses O die Verankemng von Nachhaltigkeit im Untemehmen •=> Moglichkeiten zum formellen und informellen Austausch "=> Nachhaltigkeitsbezogene Kooperationsformen und -stmkturen •=> Nachhaltigkeit im Untemehmensalltag •=> Organisationale und personelle Kommunikationsstmkturen und -formen

Im Zeitraum zwischen Mai und Oktober 2004 wurden insgesamt 21 Personen aus den Abteilungen Forschung & Entwicklung, Umweltschutz/Nachhaltigkeit sowie Geschaftsfiihmng interviewt (s.Tabelle 20). In einigen Fallen wurden mit einem Fragebogen weiter flihrende Aspekte nachgefasst oder ein Fragebogen als Erganzung zur Anwendung gebracht. Da im Rahmen dieser Untemehmens­fallstudien der Entstehungsprozess der Nachhaltigkeitsorientiemng des Unter-nehmens, die fordemden und hemmenden Prozessfaktoren sowie Organisations-und Personalstmkturen untersucht werden sollten, um auch bestimmte Kombi-nationen von Variablen vertiefend analysieren zu konnen, wurde ein Code-

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326 Bemd Siebenhuner/ Marlen Arnold

System auf Basis der dargelegten Variablenstruktur in der Auswertungssoftware MAXqda erstellt.

Tabelle 20: Ubersicht ilher die durchgefuhrten Unternehmensinterviews

1 ^

1 s 1 ! 1 ^

is 1 ^ 1 :5 1 '^ 1 ^

Unternehmen

S ^ o

s

•2 r^

1 '1

Mittelstandisches Bauuntemehmen

Mittelstandische Wohnungsbau-gesellschaft

GroBes Verkehrs-dienstleistungs-untemehmen

Offentliches Nahverkehrs-untemehmen

Groi3es Elektronik-untemehmen

GroBes Elektronik-untemehmen

Anzahl Inter­views

1(T)

1(T)

1 (F, F, F, F)

1 (F, F, F)

1 (F, F)

1(F)

3 (F, F/ T/ T)

1(F)

1(F,F)

1(T)

1(T)

Rubrik (Abteilung) 1

Umweltschutz/Nachhaltigkeit in 1 Verbindung mit Forschung & 1 Entwicklung 1

Geschaftsfiihrung 1

Geschaftsftihrung 1

Umweltschutz/Nachhaltigkeit 1

Geschaftsfiihrungsassistenz 1

Geschaftsftihrung & Umwelt- 1 schutz 1

Umweltschutz/Nachhaltigkeit 1

Forschung & Entwicklung 1

Umweltschutz/Nachhaltigkeit 1

Forschung & Entwicklung 1

Geschaftsfiihrung 1

F: face-to-face Interview, T: Telefon-Interview

3 Ergebnisse

Welche Ergebnisse zeigen die vorgenommenen Auswertungen? Wird auf die oben dargelegte Unterscheidung zwischen den Lemformen und den Ergebnis-sen der Lemprozesse zuriickgegriffen, so lassen sich die untersuchten Unter­nehmen den vier Feldem der nachfolgenden Tabelle zuordnen (vgl. Tabelle 21). Es wird deutlich, dass die klein- und mittelstandischen Unternehmen besser in

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Organisationales Lemen 327

der Lage sind, radikale Innovationen umzusetzen, wahrend insbesondere die GroBuntemehmen vomehmlich inkrementelle Veranderungen realisierten. Die inkrementellen Veranderungen bei beiden Elektronikuntemehmen beruhen auf Double-Loop Leaming-Prozessen, wahrend sie beim Verkehrsdienstleistungs-untemehmen durch Single-Loop Leaming-Prozesse erwirkt wurden. Bei samtli-chen KMU lassen sich die radikalen Veranderungen auf Double-Loop Lear-ning-Prozesse zurtickfiahren. Es kann hieraus geschlussfolgert werden, dass umfassende Double-Loop Leaming-Prozesse nicht notwendiger Weise zu ent-sprechend umfassenden Veranderungen in den Untemehmen fiihren. Hingegen zeigt die Tabelle deutlich, dass radikale Veranderungen ohne entsprechend umfassende Lemprozesse nach dem Double-Loop-Muster nicht zustande ge-kommen sind bzw. unwahrscheinlich sind.

Tabelle 21: Ubersicht der Lernprozesse und resultierende Veranderungen

Prozess

Ergebnisse

Inkrementelle Veranderun­gen

Radikale Veranderun­gen

Single-Loop Learning

Beobachtete Ergebnisse

GroBes Verkehrsdienstleis-tungsuntemehmen:

• NH-Berichte • Technische UmweltmaB-

nahmen

Double-Loop Learning 1

Beobachtete Ergebnisse 1

GroBes Elektronikuntemehmen I: 1

• Nachhaltige Produktinnovationen 1

• NH-Leitbildentwicklung 1

GroBes Elektronikuntemehmen II: 1

• Nachhaltigkeitsprogramme 1 • Okobilanziemng (LCA) 1 Mittelstandisches Bauuntemehmen: 1 • Okologisch-soziale Bauprinzipen 1 • Checklisten 1 • Nachhaltigkeits-Kommunikation 1

Offentliches Nahverkehrsuntemeh- 1 men: 1 • Okologisch-soziales Dienstleis- 1

tungskonzept 1 • Stakeholder-Dialoge 1 • Beteiligungsgmppen 1

Mittelstandische Wohnungsbauge- 1 sellschaft: 1 • Nachhahigkeitsausgerichtete 1

Wohnkonzepte 1 • Einbeziehen von Stakeholdem |

Die Auswertungen haben auch ergeben, dass jedes Untemehmen sich im Rah-men dieses Konzeptes individuelle Losungen und Konzepte entwickelt, um Nachhaltigkeit in ihrem spezifischen Kontext umzusetzen. Die konkreten nach-

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haltigkeitsbezogenen MaBnahmen werden dann innerhalb dieses Rahmens ab-gestimmt. Die beobachteten Lem- und Innovationsprozesse lassen sich uber mehrere Einflussfaktoren erklaren. Auf Basis der Interviewdaten konnen direkte Beziehungen zwischen den beobachteten Lemprozessen und den nachfolgend aufgeflihrten Faktoren rekonstruiert werden.

a) Unternehmensgrofie Die beschriebene Varianz der Lem- und Veranderungsprozesse korrespondiert mit der UntemehmensgroBe und bestatigt somit Pisano darin, dass die Struktur einer Organisation ihre Lemprozesse und deren Ergebnisse beeinflusst (vgl. Pisano 1994). So zeigt sich, dass die radikalen Veranderungen vor allem in den mittelstandischen Untemehmen unseres Samples zu beobachten waren, wahrend die GroBuntemehmen zwar ebenfalls Lemformen vom Double-Loop-Modus zeigten, aber nur in geringem MaBe auch zu weit reichenderen Veranderungen in der Lage schienen.

Die GroBuntemehmen zeichnen sich zwar durch ihre professionelleren und ressourcenstarkeren Stmkturen vor allem auch im Nachhaltigkeitsbereich aus. Durch ihre GroBe ist gleichwohl auch ihre Tragheit gegenuber Verandemngen bedingt, da die Vielzahl der Personen, Abteilungen und Standorte nur schwer in kurzer Zeit in Verandemngen einbezogen werden konnen. Hingegen ermogli-chen die kurzen Kommunikations- und Administrationswege bei mittelstandi­schen Untemehmen eine schnelle Diffusion von Verandemngen.

Nichtsdestotrotz scheint die UntemehmensgroBe fur die Qualitat der Lem­prozesse wenig Relevanz zu besitzen, da sowohl groBe als auch mittlere Unter-nehmen Lemprozesse im Single- wie auch im Double-Loop-Modus zeigten. So haben das groBe Verkehrsdienstleistungsuntemehmen wie auch die Elektronik-hersteller im Sample durchaus umfassende Neuorientiemngen ihrer Prozesse und Strategien unter nachhaltigkeitsorientierten Zielstellungen untemommen. Sie haben hierfiir auch nennenswerte Ressourcen bereitgestellt und neue Stmk­turen und Ablaufe geschaffen. Gleichwohl haben die resultierenden Verande­mngen nicht die Breite aller zentralen Geschaftsablaufe erreicht und bleiben oftmals eine Randerscheinung im Untemehmensgeschehen.

b) Personalstruktur Entgegen einer Untersuchungshypothese stellte sich die Personalstmktur als wenig erklamngsmachtig fiir die beobachteten Lemprozesse heraus. So variierte die Personalstmktur in den vertretenen bemflichen Hintergriinden wie auch in der Gender-Stmktur der Untemehmen, ohne jedoch ein tibereinstimmendes Muster mit den verschiedenen Auspragungen der Lemprozesse zu zeigen. Die Annahme von Antal, dass die Personalstmktur, die Prozesse der Wissenserzeu-gung und damit das Lemen von Untemehmen beeinflusst, konnte vor diesem Hintergmnd nicht bestatigt werden (vgl. Antal 1998). Gleichwohl wurde die

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Organisationales Lemen 329

interdisziplinare Zusammenarbeit von den Interviewpartnem/innen als forder-lich fur nachhaltigkeitsbezogene Lemprozesse beschrieben.

c) Lernmechanismen Die in den untersuchten Untemehmen eingesetzten Lernmechanismen variieren und bauen auf den jeweiligen strukturellen und kulturellen Gegebenheiten in den Organisationen auf. Es zeigt sich, dass alle Untemehmen entsprechende strukturelle Vorkehrungen fur die Initiierung und Diffusion von Lemprozessen geschaffen haben. Kein Untemehmen kam ohne eine solche Stmktur aus. Der Einsatz von Lemmechanismen kann daher als zentrale stmkturelle Vorausset-zung flir den Erfolg von Lemprozessen in Organisationen angesehen werden. Folgende Lemmechanismen konnten identifiziert werden:

•=> Zielorientierter Lernmechanismus: Im mittelstandischen Wohnungsbauun-temehmen setzte die Geschaftsfuhmng zu Beginn des Lemprozesses ambi-tionierte Ziele hinsichtHch der Energiestandards und der Attraktivitat der zu sanierenden Ahbauten, die im Untemehmen kommuniziert wurden und als MaBgabe fiir die verschiedenen Untemehmenseinheiten fungierten. Die konkrete Umsetzung dieser Ziele oblag den einzelnen Einheiten.

O Integration von Meilensteinen in bestehende F&E-Prozesse: Das eine E-lektronikuntemehmen im Sample integrierte okologische Zielsetzungen in den bestehenden, fest defmierten Prozess der Entwicklung von neuen Pro-dukten. Hierbei miissen nach vorgeschriebenem Muster mehrere Meilen-steine in bestimmten Zeitablaufen erreicht werden. Dazu zahlen neben technischen Priiftingen auch die Einhaltung okologischer Kriterien, wie Re-zyklierbarkeit und Einsatz umweltfreundlicher Materialien. Durch diese Vorgaben werden Lemprozesse bei den Entwicklem/innen ausgelost, die mit der Umsetzung entsprechender MaBgaben betraut waren.

^ Formalisierte Kommunikationsinstrumente: Beim mittelstandischen Bau-untemehmen im Sample erfolgte die Diffiasion okologischer und sozialer Standards in das Untemehmen vorwiegend im Top-Down-Modus mittels eines eigens erstellten Qualitatshandbuchs und spezifischer Mitarbeiter-schulungen. Das Handbuch beinhaltet Checklisten, die von den Mitarbei-tem jeweils begleitend zu den BaumaBnahmen auszufiillen sind.

•=> Selbstorganisierte Arbeitsgruppen: Der mittelstandische Verkehrsdienst-leister setzte bei der nachhahigkeitsorientierten Umstmkturiemng eines Un-temehmensstandorts selbstorganisierte Arbeitsgmppen ein. So wurden die Mitarbeiter aufgefordert, Beteiligungsgmppen zu bilden, die ihnen Mitges-taltungsmoglichkeiten in dem von der Untemehmensleitung beschlossenen Umstmkturiemngsprozess eroffneten. Auf freiwilliger Basis nahmen die Mitarbeiter zunachst an Analyseworkshops teil, bevor sie in weitere Workshops zur Teamentwicklung eingebunden wurden, bei denen groBer

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330 Bemd Siebenhuner/Marlen Arnold

Wert auf die Optimierung der Methoden-, Fach- und Sozialkompetenz ge-legt wurde. Als tibergeordnetes Entscheidungsgremium wurde ein Projekt-team aus Fachbereichsmanagem, zwei Moderatoren der Beteiligungsgrup-pen und zwei Vertretem des Betriebsrates berufen, das fur die fortlaufende Koordinierung der Arbeitsgruppen verantwortlich ist.

^ Leitlinien-orientierte Lernprozesse: Das groBe Verkehrsdienstleistungsun-temehmen im Sample zeichnet sich durch eine starke Leitlinien-Orientierung aus. Klar defmierte und vielfaltig kommunizierte Leitbilder auf Gesamtuntemehmensebene bieten sich als Lemmechanismus in der hier vorliegenden Konzemstruktur an, da die Zentrale nur begrenzte Durch-griffsrechte auf die Tochteruntemehmen hat.

•=> Projektarbeit fur Lernprozesse: Das zweite groBe Elektronikuntemehmen im Sample setzt auf Projektarbeit, um nachhaltigkeitsbezogene Zielvorga-ben umzusetzen und nachhaltigkeitsausgerichtete Prozessoptimierungen zu realisieren. Zum einen zeichnen sich nachhaltigkeitsbezogene Projekte durch die Zusammenarbeit von mehreren Abteilungen aus. So wird ein Transfer von nachhaltigkeitsbezogenem Wissen im und durch das Unter-nehmen ermoglicht. Laut March und Wiesenthal kann Personaltausch eine Gelegenheit zur Erweiterung der Menge der Entscheidungsaltemativen bie­ten und somit das Lemvermogen einer Organisation beschleunigen (vgl. March 1991, Wiesenthal 1995). Nachhaltigkeitsprojekte konnen aber auch emergent im Untemehmen entstehen oder ohne Top-Down-Vorgaben initi-iert werden. Zum anderen wird extemes Wissen, z.B. von Forschungsein-richtungen und Beratungsinstituten, konkret projektbezogen generiert und absorbiert. Unterstiitzt wird diese Form des Wissensaustausches und der Wissensweitergabe durch Plattformen.

In der Gesamtschau zeichnet sich kein koharentes Muster fur nachhaltigkeits-orientierte Lemmechanismen ab. Die erzielten Erfolge in Richtung Implemen-tierung von Nachhaltigkeit in Untemehmen basieren auf der Anpassung und thematischen Ausrichtung der vorhandenen Strukturen an die spezifischen Her-ausforderungen der Nachhaltigkeit. Es wurde keine spezifische Form von nach-haltigkeitsorientierten Lemmechanismen, wie z.B. spezifische Controlling-Instmmente oder Stmkturen der Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung einge-setzt. Die Anpassung existierender und die Entwicklung untemehmensspezifi-scher nachhaltigkeitsorientierter Lemmechanismen kann auch als ein Erfolgs-kriterium fiir die beobachteten Lemprozesse angenommen werden.

d) Change Agents In alien Untemehmen waren individuelle Change Agents von zentraler Bedeu-tung far die Lemprozesse und die erzielten Ergebnisse. Insbesondere Fiihmngs-krafte an Schnittstellen zwischen verschiedenen Untemehmenseinheiten oder

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Organisationales Lemen 331

solche in hoheren Leitungsfiinktionen, treiben nachhaltigkeitsbezogene Lem-prozesse voran. In den untersuchten KMU sind derartige Change Agents vor-rangig in Management-Positionen verankert, wahrend die Change Agents in den GroBuntemehmen vor allem in den Nachhaltigkeits- oder F & E Abteilungen zu finden sind. Insgesamt zeigt sich, dass diese Einzelpersonen in ihren Kompe-tenzbereichen konkrete MaBnahmen ergreifen konnen, die Impulse flir Lempro-zesse auslosen (vgl. Finger, et al. 1996: 49 f.) und eine Schliisselrolle in kollek-tiven Lemprozessen einnehmen (vgl. Klimecki 1997: 85).

e) Fuhrungsstil Analog zur Ausgangshypothese korrelieren die beobachteten Lemprozesse mit einem partizipativen Ftihrungsstil. Insbesondere bei einer gemeinsamen Ent-scheidungsfindung fiihrte dies zu hoherstufigem Lemen und bei den KMU auch zu einer hohen Reichweite der jeweiligen nachhaltigkeitsbezogenen Verande-rungen. Die Fallbeispiele haben auch gezeigt, dass v. a. partizipative Arbeits-und Fiihrungsstile untemehmensintemen Wissenstransfer und -diffusion im Vergleich zum direktiven und konsultativen Stil erhohen. Das liegt nicht zuletzt an der multilateralen Willensdurchsetzung und den Informationsbeziehungen in der Organisation (vgl. Kiibler 1980, Staehle 1999: 142f). Die Verankerung von nachhaltigkeitsbezogenem Wissen in der Organisation hangt daher bei KMU stark von der Untemehmensleitung ab. Diese ist zentral fur die ,Nachhaltig-keitskultur' im Untemehmen.

j) Werte undNormen Bei den GroBuntemehmen zeigen sich nachhaltigkeitsorientierte Werte und Normen v.a. im Leitbild und in einer ausgebauten (Nachhaltigkeits-) Berichter-stattung. Hier offenbart sich ein ahnliches Muster, das zusammengefasst als „Good German Corporate Governance" bezeichnet werden konnte. Es zeichnet sich dadurch aus, dass die Untemehmen bemtiht sind, Stakeholder-Anforde-mngen emst zu nehmen, zentrale gesellschaftliche Themen und Anliegen auf-zugreifen und konstmktive Antworten zu geben. Ein Treiber hierfiir ist die Angst vor Reputationsverlust in der breiten Offentlichkeit. Insbesondere in ehemaligen offentlichen Untemehmen ist diese Sorge gepaart mit einer Traditi­on der Gemeinwohlverpflichtung und fiihrt hier zu ausgepragten Lem- und Innovationsanstrengungen Die nachhaltigkeitsbezogenen Werte und Normen werden sowohl bei den GroBuntemehmen als auch bei den KMU Top-Down vorgegeben. In GroBuntemehmen schlieBen die Top-Down Vorgaben allerdings nachhaltigkeitsbezogene Initiativen in Bottum-Up Richtung nicht aus.

g) Interne Netzwerke Vor allem im Rahmen von Bottum-Up-Initiativen leisten inteme Netzwerke einen bedeutenden Beitrag. Diese nutzen inteme Plattformen fur ihre Kommu-nikation, die zudem iiber Projektarbeit, Konferenzen und virtuelle Communities

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332 Bemd Siebenhuner/ Marlen Arnold

lauft, wo wesentliche Informationen ausgetauscht und neues nachhaltigkeitsbe-zogenes Wissen generiert werden (vgl. Morrison, Mezentseff 1997, Nonaka 1994, Tsang 1999). Sie ermoglichen so hoherstufiges Lemen.

h) Konflikte Hinsichtlich der Ausgangshypothese, dass interne Konflikte eine forderliche Wirkung fur das Zustandekommen von Lem- und Veranderungsprozessen ha-ben, reichten die generierten Daten nicht bin. Die Frage nach Konflikten wurde von den Interviewpartnem zumeist mit Hinweis auf die konfliktare Beziehung zwischen den intemen Nachhaltigkeitsinitiativen und den haufig kontraren Anforderungen des Marktes beantwortet. Insbesondere die GroBuntemehmen verfugen uber eine hohes nachhaltigkeitsbezogenes Know-How, setzen dies allerdings oftmals eher in Nischenmarkten bzw. -segmenten ein, da die Markt-nachfrage aus der Sicht der Untemehmen Nachhaltigkeit (noch) nicht honoriert. Fiir die Erhebung weitergehender intemer Konflikte war das Erhebungsinstru-ment nicht ausreichend. Hier waren vermutlich Formen der teilnehmenden Beo-bachtung oder der Aktionsforschung besser geeignet. Da das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung ein breites Spektrum an Interpretationen und Optio-nen ermoglicht, ist zu vermuten, dass seine Umsetzung in fast jedem Untemeh­men zu Konflikten flihrt (vgl. Klimecki 1997, LaPalombara 2001, Rothman, Friedman 2001).

i) Externe Faktoren Bei den organisationsextemen Faktoren zeigt sich wiederum ein durchgangiger Unterschied zwischen GroB- und mittelstandischen Untemehmen im Sample. So wurden exteme Faktoren im Bereich der tatsachlichen oder vorweggenomme-nen Fordemngen von Stakeholdem vor allem bei den GroBuntemehmen als Vemrsachungsfaktoren fur die nachhaltigkeitsorientierten Lemprozesse be-nannt. Hingegen dominieren bei den mittelstandischen Untemehmen die inter-nen Ausloser.^ Die offentliche Exponiertheit vor allem von ehemals offentlichen Untemehmen verschafft extemen Stakeholdem wie Nicht-Regiemngsorganisationen ein besonderes Dmckpotenzial, das von den unter-suchten Untemehmen mit verschiedenen MaBnahmen aufgegriffen wird und damit abgefangen werden soil.

Hingegen zeigte sich, dass die Absatzmarkte nur einen geringen Einfluss auf die eingeleiteten Lem- und Verandemngsprozesse besitzen. Die befragten Un­temehmen der Elektronik-Branche monierten explizit, dass ihr nachhaltigkeits­bezogenes Engagement im Generellen und die okologisch verbesserten Produk-

^ Beim mittelstandischen Verkehrsdienstleister wurden auch exteme Faktoren im Bereich von EU-Verordnungen und Erwartungen der Kommune und des Landes als Ausloser fur die einge­leiteten Umstrukturierungen genannt. Gleichwohl kamen die dezidiert okologischen und einige soziale MaBnahmen vor allem durch das interne Engagement von einigen Personen zu Stande.

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Organisationales Lemen 333

te im Speziellen von den Konsumenten nicht honoriert wiirden. Der Preis sei das zentrale Kaufkriterium, so dass andere Qualitatsfaktoren zunehmend in den Hintergrund ruckten. Diese Beobachtung trifft gleichwohl nur auf einige Ab-satzmarkte zu, da auf dem skandinavischen Markt okologische Produkteigen-schaften im Elektronikbereich durchaus kaufentscheidend werden. Zu einer ahnlichen Einschatzung iiber die hemmende Wirkung der Marknachfrage ka-men auch die Befragten der Untemehmen des Baubereichs und das groBe Ver-kehrsdienstleistungsuntemehmen.

Gesetzliche Veranderungen spielten nicht durchweg eine auslosende Rolle. So halfen die neuen Regelungen der EU im Bereich Elektronikverwertung we-sentlich bei der Einfuhrung von okologischen Produkt- und Riicknahmestrate-gien in den untersuchten Untemehmen. Analog auBerte sich auch das Bauunter-nehmen mit Bezug auf die Regelungen zu neuen Energie- und Warmestandards bei Hausem, die den okologischen Initiativen des Untemehmens entgegen ka-men.

4 Schlussfolgerungen

Insgesamt lasst sich festhalten, dass Untemehmen vor allem dann nachhaltig-keitsbezogene Lem- und Innovationsprozesse initiieren und durchlaufen, wenn nachhaltigkeitsbezogene Anfordemngen iiber personelle und kulturelle Gege-benheiten im Untemehmen verankert sind. Diese mtissen jedoch zugleich von entsprechenden Stmkturen und Lemmechanismen flankiert werden, um zu weitergehenden Lemprozessen mit entsprechenden Ergebnissen zu fuhren. Stmkturelle Vorkehmngen wie die Einfuhmng von spezifischen Lemmecha­nismen Oder von Instmmenten des Nachhaltigkeitsmanagements reichen fiir die erfolgreiche Generiemng von nachhaltigkeitsbezogenem Wissen, das zudem in praktische Konsequenzen miindet, nicht hin.

Unter den Verhaltens- und Kulturvariablen zeigen sich die Change Agents als zentrale Einflussfaktoren, ohne die die beobachteten Verandemngen vermut-lich nicht in Gang gekommen waren. Vor allem in der Abwesenheit entspre-chender Stmkturen zur Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung in Unter-nehmen spielen Einzelpersonen eine herausragende Rolle. Sie wirken iiber inteme Netzwerke und konnen - solange sie nicht selbst in Geschaftsfuhmngs-funktionen tatig sind - vor allem im Rahmen partizipativer Fiihmngsstile Wir-kungen entfalten. Ob ihre Initiativen nachfolgend in radikale organisationale Verandemngen miinden, hangt laut den erhobenen Daten zum einen von der UntemehmensgroBe und zum anderen von extemen Faktoren, insbesondere den marktlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen ab. In den KMU hangt dies vor allem auch von der Unterstiitzung durch die Untemehmensfiihmng ab, die nur in wenigen Untemehmen die Zielsetzungen der nachhaltigen Entwicklung

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334 Bemd Siebenhiiner/ Marlen Arnold

aktiv verfolgen, wie die Recherchen im Vorfeld der Fallstudien zeigten. In GroBuntemehmen kommt dem offentlichen Druck und der Angst vor Reputati-onsverlusten eine besondere Bedeutung zu. Diese treiben vor allem auf den oberen Managementebenen viele Nachhaltigkeitsinitiativen.

Da die Auswahl der Fallstudien in dieser Untersuchung hochgradig selektiv angelegt war, muss die Reichweite der Ergebnisse als begrenzt angesehen wer-den. Durch die Untersuchung von Erfolgsfallen waren weitergehende Untersu-chungen in Negativ-Fallen wiinschenswert, bei denen ahnliche Bedingungen gegeben, jedoch keine entsprechenden nachhaltigkeitsorientierten Lem- und Veranderungsprozesse zu beobachten sind. Auch solche Falle, in denen Lem-prozesse fehlgeschlagen sind oder abgebrochen wurden, scheinen von besonde-rem Interesse, um die hier gefundenen Ergebnisse weitergehend zu uberpriifen.

Unter Gestaltungsgesichtspunkten kann aus diesen Ergebnissen auf die hohe Bedeutung einer entsprechenden Qualifizierung und Personalentwicklung ge-schlossen werden, um individuelle Akteure des Lemens und des Wandels in Untemehmen zu unterstiitzen. Dabei haben GroBuntemehmen deutlich ausge-pragtere Moglichkeiten als KMU. Letztere sind in besonderem MaBe auf die Qualifizierungsleistungen der Bildungseinrichtungen angewiesen, denen folg-lich auch eine Verantwortung far die Aus- und Weiterbildung im Hinblick auf die Probleme und Losungskompetenzen fiir die nachhaltige Entwicklung zu-kommt.

Aus den Ergebnissen ist zudem auf die Notwendigkeit der Einrichtung flan-kierender Strukturen far nachhaltigkeitsbezogenes Lemen wie entsprechender Lemmechanismen in den Untemehmen zu schlieBen. Welche MaBnahmen hier in welcher Weise wirken und wie sie mit den entsprechenden Zielsetzungen der Nachhaltigkeit und entsprechender Untemehmensleitsatze verbunden werden konnen, ware in weitergehenden gestaltungsorientierten Forschungsvorhaben zu untersuchen.

Exteme Unterstutzung far nachhaltigkeitsorientierte Lem- und Innovations-prozesse kann von politischer Seite sowohl durch regulative MaBnahmen, wie z. B. Regelungen zur Produktverantwortung und zum Recycling von Produkten und Materialien, als auch durch die Vorgabe von Informationspflichten gegeben werden. So konnten vor allem GroBuntemehmen auf Basis des besonderen Stellenwerts der offentlichen Reputation durch Offenlegungspflichten zu einem weitergehenden und flachendeckenderem Engagement far die Ziele der Nach­haltigkeit bewegt werden. Es bleibt jedoch die zentrale Frage, wie das Nachfra-geverhalten nach nachhaltigen Produkten und Diensten gestarkt werden kann, um auch liber die marktliche Seite untemehmensinteme Lem- und Verande-mngsprozesse anzustoBen. Auch hier besteht weiterer Forschungsbedarf.

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Organisationales Lemen 335

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Page 347: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Teil IV:

Produktion und BeschafTung

Page 348: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Organisationale Innovationen im Beschaffungsmanagement als Voraussetzung zur Integration von Nachhaltigkeit

Julia Koplin

1 Einleitung

Im Rahmen der Globalisierung ist die Zahl an Lieferanten, auf die ein Unter-nehmen fiir den Bezug seiner Rohstoffe/Vorprodukte zuriickgreifen kann, e-norm gestiegen und hat die Komplexitat des Beschaffungsmanagements erheb-lich gesteigert.^ Dies starkt diejenigen Zulieferer, die in Schwellen- und Entwicklungslandem aufgrund fehlender gesetzlicher Rahmenbedingungen auf Kosten des Umweltschutzes und der Menschenrechte billiger produzieren, da oftmals immer noch der Preis als oberstes Entscheidungskriterium fur die Liefe-rantenauswahl in der Praxis gilt. Die Ausweitung der Beschaffung auf neue Markte und Regionen birgt somit umweltbezogene und vor allem soziale Her-ausforderungen auf globaler wie nationaler Ebene.^ Daraus ergibt sich fiir Un-temehmen die Notwendigkeit, Umwelt- und Sozialstandards auch in Lieferan-tenketten einzufiihren, um nicht nur Verantwortung fur das eigene Handeln, sondem auch fur den gesamten Wertschopfungsprozess ubemehmen zu kon-nen." Fur die Implementierung und ReaHsierung solcher Leitlinien ist es wich-tig, durch organisationale Innovationen diese in die Strukturen und Prozesse des eigenen Untemehmens aufzunehmen, um somit auch die intemen Produktver-gabeentscheidungen anzupassen.

Vor diesem Hintergrund war es das Ziel der Volkswagen AG, im Rahmen eines Aktionsforschungsprojektes ein Nachhaltigkeitskonzept zur Integration von Umwelt- und Sozialstandards in Lieferantenketten zu entwickeln und gleichzeitig diese Anforderungen in das Beschaffungsmanagement einzubauen. Der vorliegende Beitrag stellt dieses Forschungsprojekt vor. Danach wird auf die konzeptionellen Grundlagen organisationaler Innovationen und der Ansatze von Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement eingegangen. Den Hauptteil bilden zum einen die Entwicklung des Nachhaltigkeitskonzeptes ausgehend von der Ist-Situation der Volkswagen AG und zum anderen die anschlieBende Ein-ordnung der einzelnen Konzeptelemente in den Bereich der organisationalen

' Vgl. Arnold 1997, 111 ff. ' Vgl. Gruneberg 2001, 70 f.; Scherer 2002, 11.

Vgl. Kommission der Europaischen Gemeinschaften 2002, 5 ff. Vgl. Kommission der Europaischen Gemeinschaften 2002, 5.

Page 349: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

340 Julia Koplin

Innovationen. Am Ende steht eine Zusammenfassung der Ergebnisse mit Aus-blick auf weiteren Forschungsbedarf.

2 Das Forschungsprojekt

Das Aktionsforschungsprojekt stellte eine Gemeinschaftsarbeit der Volkswagen AG und von Wissenschaftlem der Universitat Oldenburg dar und wurde von Januar 2003 bis August 2004 durchgefuhrt. Es gestaltete sich von Beginn an als ein Dialogprozess mit relativ weitgehender Ergebnisoffenheit durch den Praxis-partner. Auf der Seite des Praxispartners wurden in den gesamten Projektverlauf im Rahmen von Workshops verschiedenste Organisationseinheiten, wie z.B. die Beschaffung, der Umweltschutz, das Personalwesen etc. involviert. Ausgehend von der zentralen Forschungsfrage, wie ein Konzept zur Integration und Kon-trolle von Umwelt- und Sozialstandards in das strategische Beschaffiingsmana-gement der Volkswagen AG aussehen konnte, ergaben sich folgende Projektzie-le: (1) die Analyse der Bedeutung und Umsetzung von Umwelt- und Sozialstandards fur Lieferanten der Volkswagen AG, (2) die Darstellung des Ist-Zustandes der Volkswagen AG bezogen auf Umwelt- und Sozialaspekte innerhalb der Beschaffungsstrukturen und (3) die Entwicklung eines an die bestehenden Strukturen und Prozesse angepassten Nachhaltigkeitskonzeptes.

Im Wesentlichen war das Forschungsprojekt in vier Phasen gegliedert, wel-che einmaligen oder prozessoralen Charakter aufwiesen:

1. Vorbereitende wissenschaftliche Analysen, 2. Projektteamtreffen und Workshops, 3. Bestandsaufnahme VW, 4. Einbeziehung von Lieferanten.

3 Organisationale Innovationen

In der Innovationsforschung existiert bisher keine einheitliche Definition des Innovationsbegriffes. Ausgehend von Hauschildt sind Innovationen beispiels-weise „(...) im Ergebnis qualitativ neuartige Produkte oder Verfahren, die sich gegeniiber dem

vorangehenden Zustand merklich - wie immer das zu bestimmen ist - unterscheiden." . A u c h

Systematisierungen von Innovationsforschungen sind wenig einheitlich und kaum in reiner Form vorzufinden.

Fur Untemehmen spielen vor allem organisationale Innovationen eine RoUe. Darunter versteht man „umwalzende" bzw. „einschneidende" Veranderun-gen/Neuerungen der zu erstellenden Produktionsgtiter und Dienstleistungen sowie der dafiir eingesetzten Strukturen und Prozesse.^ Besonders der Verwer-

^ Hauschildt 1997, S. 6. ^Vgl. Hauschildt 1997, 6.

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Organisationale Innovationen im Beschaffungsmanagement 341

tungs- bzw. Verbesserungsaspekt wird betont. Organisationale Innovationen besitzen vier gemeinsame Merkmale:^

•=> Neuartigkeit: Unter der Neuartigkeit von Innovationen versteht man die Entstehung, Diffusion und Verwendung neuer Handlungsaltemativen in-nerhalb eines sozialen Systems. Dabei reicht die Spannweite dieses Begrif-fes von einer absoluten Erstmaligkeit des Auftretens von Handlungsaltema­tiven bis hin zu lediglich sptirbaren Anderungen innerhalb der Organisation, der subjektiven Wahmehmung von Abweichungen gegeniiber dem bisherigen Geschehen.

•=> Handlungsbezug: Der Handlungsbezug von Innovationen beinhaltet einen Verwertungsaspekt. Die Innovation muss hierfiir innerhalb des sozialen Systems auch wirklich umgesetzt werden. Nicht immer sind Innovationen Ergebnis einer bewusst angestrebten Entwicklung, sie konnen sich auch als Anpassungen an veranderte Umweltbedingungen fur das Organisationshan-deln nebenbei voUziehen. Um Handlungsbezug zu erreichen, ist es wichtig, die Veranderungen in das Handlungsgefuge des Gesamtsystems zu integrie-ren, damit diese spater in der Organisation umgesetzt und gelebt werden.

•=> Prozesscharakter: Grundsatzlich kann zwischen einer objektbezogenen und einer prozessualen Innovation unterschieden werden.^ Die Objektbezogen-heit betrachtet den Gegenstand der Innovation. Dabei trennt Thom (1997) zwischen Produkt-, Prozess- und Sozialinnovationen.^ Aus prozessualer Sicht sind Innovationen Handlungsstrome. Man betrachtet Teilschritte/-aktivitaten, aus denen sich Gestaltungsempfehlungen ableiten, die in Pha-senschemata, z.B. Ideengenerierung, Entwicklung und Umsetzung, darge-stellt werden.'^

^ Mehrdimensionalitat: Die Mehrdimensionalitat von Innovationen entsteht aus der Differenziertheit der Forschungsansatze, die zum einen Innovativi-tat aus den vorgegebenen (strukturellen) Rahmenbedingungen^ ^ zum zwei-ten aus den am Prozess beteiligten Akteuren^^ und zum dritten aus der Ges-taltung und Beschreibung von Prozessen^^ ableiten.

Vgl. Martin/Behrends 1999, 5 ff. VgLMeiBnerl989, 16 ff. Vgl. Thom 1980, 32 ff '' Vgl. Wolfe 1994, 410. '' Vgl. Gaitanides/Wicher 1986. ' Vgl. Witte 1973; Hauschildt/Kirchmann 1997. ^ Vgl. Schroeder et al. 1989; Martin/Behrends 1999.

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342 Julia Koplin

4 Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement

Die Strategien und Prozesse des Beschaffungsmanagements sind far ein Unter-nehmen wichtig, wenn es seine Nachhaltigkeitspolitik effektiv umsetzen will. Besonders im Umweltbereich finden sich verstarkt Lieferantenanforderungen, die den Einsatz naturlicher Ressourcen reduzieren sowie durch die Verbesse-rung der Leistungsfahigkeit des Lieferanten Umweltrisiken minimieren soUen. " GemaB Schneidewind (2004) ist Nachhaltigkeit jedoch nicht nur mit Blick auf die Bedingungen sowie die Einspar- und Substitutionspotenziale intemer Stoff-und Energiefltisse eines einzelnen Untemehmens zu sehen. ^ Auch exteme Auswirkungen vor- und nachgelagerter Wertschopfungsstufen und daran betei-ligter Akteure (Lieferanten und Kunden) miissen berticksichtigt werden.^^ Es geht vor allem um den okonomischen Erfolg entlang der Supply Chains durch die Einhaltung okologischer und sozialer Standards auf Basis der Zusammenar-beit und gemeinsamen Entwicklung von Abnehmem und Zulieferem.^^ Von Untemehmen ausgehende Umweltbelastungen und Menschenrechtsverletzun-gen sollen bereits in den Vorstufen erkannt und abgestellt werden. Ftir die Zu-kunft wird von einem Anstieg des Einflusses okologischer und sozialer Stan­dards auf Produktvergabeentscheidungen ausgegangen.^^

Als Beginn fur die Entwicklungen des Beschaffungsmanagements im Um-welt- und Sozialbereich sehen Green et al. das Zusammenwirken drei verschie-dener Trends: (1) den Anstieg der strategischen Bedeutung des Beschaffungs­managements^^, (2) die Entstehung partnerschaftlicher Abnehmer-Lieferanten-Beziehungen^^ und (3) das Bewusstsein des Zusammenhangs zwischen den Beschaffungsentscheidungen und den Umweltleistungen eines Untemehmens^\ Der Ansatz von Nachhaltigkeit in der Beschaffung erwachst dabei aus der all-gemeinen Anpassung der eigenen Produkte entlang der Wertschopfixngskette in Bezug auf Design, Inhaltsstoffe, Herstellungsverfahren, Verwertbarkeit und Entsorgung an veranderte okologische und soziale Bedingungen.^^

4.1 Umweltaspekte im strategischen Beschaffungsmanagement

Zsidisin und Siferd defmieren umweltbezogene Beschaffung („green supply") fur ein Untemehmen als

Vgl. Simpson 2005, 313. Vgl. Schneidewind 2004, 109. Vgl. Dyllick/Hamschmidt 2002, 477; Green et al. 1996. Vgl. Schneidewind 2004, 109; Simpson 2005, 315. Vgl. Dyllick/Hamschmidt 2002, 478. Vgl. Kraljic 1983; DTIl 991. Vgl. Kay 1993; Lamming 1993. Vgl. CIPS/BIE 1993. Vgl. Dyllick/Hamschmidt 2002, 478; auch Green et al. 1996, 190 f.

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Organisationale Innovationen im Beschaffungsmanagement 343

„[...] set of purchasing policies held, actions taken, and relationships formed in response to concerns associated with the natural environment. These concerns relate to the acquisition of raw materials, including supplier selection, evaluation, and development; supplier's operations; in-bound distribu­tion; packaging; recycling; reuse; resource reduction; and final disposal of the firm's products."

Ziel ist es, Risiken fiir Untemehmen zu vermeiden, die aufgrund unzureichender UmweltaktivitatenZ-standards bei Lieferanten entstehen und dem Endabnehmer angelastet werden. " Schwerpunkte einer umweltbezogenen Beschaffung sind in der Literatur die Reduzierung des Ressourceneinsatzes, Wiederverwendung und Recycling, Qualitatssteigerungen sowie die KontroUe der Umwelteinfliisse von Lieferanten.^^ Hinzu kommen Fragen der Sicherung von Rechtskonformitat und der Vermeidung von Umweltkosten.^^

Dabei ist iiber die letzten Jahre eine Entwicklung von End-of-pipe-Programmen zur Reduzierung von Emissionen, Wasserverschmutzungen und Energieverbrauchen^^ iiber „clean technologies" Ende der 80er, welche die Einwirkungen von Untemehmen auf die Umwelt im Rahmen des Produktions-prozesses reduzieren soUten^^ bis hin zu einem „eco auditing" zur Anpassung von Produkten und Serviceleistungen^^ mit Beginn der 90er Jahre zu erkennen. Seit geraumer Zeit zeichnet sich zudem eine neue Entwicklungslinie bei multi-nationalen Untemehmen ab. Diese versuchen verstarkt, iiber die eigenen Unter-nehmensgrenzen hinweg ihre Supply Chains umweltorientierter, das heiBt aus Sicht einer okoeffizienteren Perspektive, zu gestalten.^^

Gmndsatzlich kann umweltbezogene Beschaffung mittlerweile in zwei we-sentliche Formen gegliedert werden: ^

1. Einbeziehung von UmweltkriterienZ-standards in die produktions- bzw. standortbezogenen Entscheidungen entlang des Beschaffiingsprozesses („greening the supply process") und

2. Optimiemng der Umweltvertraglichkeit der beschafften Produkte bzw. Kaufteile („product-based green supply").

Um Umweltstandards in die Beschaffungsentscheidungen des gesamten Prozes-ses integrieren zu konnen, mussen zusatzliche Information iiber die Umweltleis-

Zsidisin/Siferd2001,69. Vgl. Simpson/Power 2005, 61. Vgl. Zsidisin/Siferd 2001, 62; Carter/Carter 1998; Carter et al. 1998; Noci 1997; Lamming/Hampson 1996; Zsidisin/Hendrick 1998. Vgl. Dyllick/Hamschmidt 2002, 482; Bogaschewsky 2004, 176 ff Vgl. Hunt/Auster 1990. Vgl. Welford/Gouldson 1993. Vgl. Franke 1995. Vgl. Noci 1995; Hass 1996. Vgl. Bowenetal. 2001, 175.

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344 Julia Koplin

tungen der Lieferanten eingeholt und in einem entsprechenden Bewertungs- und Klassifizierungssystem verarbeitet werden. Unterstutzung fmdet dieser Ansatz zusatzlich durch eine verstarkte Ausbreitung normierter Umweltmanagement-sySterne nach ISO 14001. ^ Die Anforderungen solcher Umweltmanagementsys-teme gelten im Rahmen der Beschaffung auch fiir den Bezug umweltvertragli-cher RohstoffeA^orprodukte und der damit verbundenen Produktionsprozesse. Eigene Umweltstandards mtissen gleichfalls auf alle Geschaftspartner des Un-temehmens tibertragen werden. Dazu ist es erforderlich, konkrete okologische Anforderungen in den Beschaffungsrichtlinien festzulegen sowie Verfahren zur Bewertung und LFberpriifting (Audits) der Umweltauswirkungen eigener Tatig-keiten und der Einhaltung okologischer Anforderungen durch die Geschafts­partner einzufiihren.^^ Die Umweltvertraglichkeit eines Produktes, als zweite Form umweltbezogener Beschaffung, setzt sich aus seinen Eigenschaften, seiner Verpackung sowie der Wiederverwertung bzw. des Recyclings zusammen. Dabei kann ein bisher beschafftes Produkt verbessert oder auf ein Produkt mit bereits geringeren Umweltauswirkungen ausgewichen werden. " Alle lieferan-tenbezogenen Regelungen beider Formen kann man in drei Verfahren zusam-menfassen:^^

Tahelle 22: Integration okologischer Aspekte in das Beschaffungsmanagement

Verfahren fiir

Beschaffung umweltvertragli-cher Produkte/Leistungen

Beriicksichtigung des Umwelt-schutzes bei der Vertragsges-taltung

Regelungen

Volldeklaration der Inhaltsstoffe komplexer Produkte,

Klarung von Entsorgungsfragen vor der Beschaffung

Definition von Lieferantenanforderungen in den all-gemeinen Einkaufsbedingungen und Qualitatsverein-barungen,

Verpflichtung des Lieferanten zur Substitution von Problemstoffen

Vgl.Corbett/Kirsch2001. Vgl. Dyllick/Hamschmidt 2002, 481; Zsidisin/Siferd 2001, 68; Bowen et al. 2001, 177. Vgl.Bowenetal. 2001, 175. Vgl. Zsidisin/Siferd 2001, 68; Walton et al. 1998.

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Organisationale Innovationen im Beschaffungsmanagement 345

Verfahren fur

Beurteilung der Umweltleis-tungen von Geschaflspartnem

Regelungen

Integration okologischer Anforderungskriterien in die Lieferantenbewertung und -auswahl,

Durchfuhrung von Lieferantenaudits, Lieferantenent-wicklung und Integration von Lieferanten in Umwelt-managementinitiativen

4.2 Sozialaspekte im strategischen Beschaffungsmanagement

Hinweise auf Untersuchungen zur steigenden Bedeutung sozialer Kriterien fiir das Beschaffungsmanagement, wie z.B. Lieferantenbewertungen basierend auf sozialen Anforderungen, konnten in der Literatur bisher kaum gefunden wer-den. Erste Ideen fmden sich beispielsweise bei Drumwright (1994), Roberts (2003) Oder Carter (2005).^^ Diese sprechen von „ethical sourcing", „purchasing social responsibility" oder „social responsible buying", worunter jedoch sowohl Sozial- als auch Umweltstandards ftir Beschaffiangsentscheidungen subsumiert werden. ^ Das zeigt, dass soziale Faktoren unabhangig von der Umweltdimensi-on bisher nicht betrachtet wurden. Als Voraussetzung und Unterstiitzungsme-chanismen fiir ein soziales Beschaffungsmanagement sieht man eine personen-orientierte Organisationsstruktur, die Leitung durch das Topmanagement, Mitarbeiterinitiativen und der Wettbewerbsdruck durch den Markt. ^ Parallel sind diese Faktoren aber auch ftir den Umweltbereich von Bedeutung. Weiter-fiihrende Informationen fiir ein soziales Beschaffungsmanagement enthalten die aufgezeigten Ansatze nicht. Es existieren immer wieder Beztige zum umweltbe-zogenen Beschaffungsmanagement, woraus sich die grundsatzliche Frage er-gibt, ob nicht alle Formen und Verfahren dieses Bereiches auch auf die Integra­tion sozialer Anforderungen tibertragen werden konnen. Da das Projekt den Anspruch erhoben hat, Umw^elt- und Sozialstandards gleichermaBen zu integrie-ren, zeigt das Konzept auch, inwieweit diese Vorstellung realisierbar war bzw. welche Probleme in diesem Zusammenhang aufgetreten sind.

4.3 Implikationen fur Untersuchungsfelder

Zusammengefasst ergeben sich fiir das Beschaffungsmanagement verschiedene Untersuchungsfelder, innerhalb derer solche Anpassungen berucksichtigt und umgesetzt werden konnen : ^

' ' Vgl. Drumwright 1994; Roberts 2003; Carter 2005. ^' Vgl. Roberts 2003, 159. ' ' Vgl. Carter 2005, 179. ^ Vgl. Green et al. 1996, 190 f.; Bogaschewsky 2004, 176 ff.

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346 Julia Koplin

1. Ein erster Bezug resultiert aus der Entscheidung iiber die weltweite Be-schaffung auch aus Billiglohnlandem, in denen die Risiken fur okologi-sches und soziales Dumping enorm hoher sind als in industrialisierten Lan-dem mit entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen. Hinzu kommt die Frage, welche Nachhaltigkeitsanforderungen ein bestimmtes Produkt er-fullen soil.

2. Zusatzlichen Einfluss auf die Integration von Nachhaltigkeit im Beschaf-fungsmanagement besitzen im Beschaffungshandbuch bereits verankerte Umwelt- und Sozialaspekte, da diese von vomherein bei den Entscheidun-gen in den einzelnen Ablaufen benicksichtigt werden miissen. Untersttitzt werden kann dies durch ein Informationssystem fur Mitarbeiter mit aktuell relevanten Daten.

3. Die Bestimmung der Lieferantenanzahl, basierend auf Risikoaspekten der Lieferzuverlassigkeit, kann das gesamte Logistiksystem, speziell die Um-weltfreundlichkeit der Transporte und die Akzeptanz eines zweiten Anbie-ters mit niedrigeren Umwelt- und Sozialstandards beeinflussen. Gleichfalls hat auch die Lieferantenauswahl im Rahmen der Produktvergabeentschei-dung maBgeblichen Einfluss, da an diesem Punkt nachhaltigkeitsbezogene Leistungskriterien in einer Bewertung des Lieferanten berucksichtigt wer­den konnen.

4. Auch die Arten des Abrufs und der Bereitstellung (Stock, Demand-Tailored, Just-in-Time) rufen unterschiedliche logistische Au^endungen und damit Umweltbelastungen hervor. Hierbei ist unklar: „[...], ob haufige Lie-femngen mittels kleinerer Transportfahrzeuge tatsachlich und immer weniger okologisch sind

als die seltenere Beforderung groBerer Mengen mittels Schwerlasttransporte." Le ider exis-

tieren bisher kaum Ansatze zur Beurteilung okologischer Vorteile der ein­zelnen Varianten.

5. Ein weiterer Ansatz ist die Zusammenarbeit mit Lieferanten. Gemeinsame Produktentwicklungen ermoglichen es dem Abnehmer, Einfluss auf die o-kologischen und sozialen Produktionsbedingungen des Lieferanten zu neh-men. Dazu konnen untemehmensiibergreifende oko-logische und soziale Standards fiir alle Akteure entlang der gesamten Wertschopfiingskette defi-niert werden.

6. Letztendlich spielt ebenfalls die Art der Verwendung und Entsorgung von Zukaufteilen fur eine umfassende Betrachtung von Nachhaltigkeit in der Beschaffung eine Rolle, auch wenn dieser Bereich (trotz der Bedeutung des Themas Recycling) oft ausgeklammert wird. Auch hier ergeben sich Ein-wirkungsmoglichkeiten auf sowohl Lieferanten als auch Kunden.

Vgl. Bogaschewsky 2004, 177.

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Fiir die Integration von Umwelt- und Sozialstandards in das Beschaffungsma­nagement der Volkswagen AG stehen vor allem die Aspekte des Global Sour-cing (1.), der Einkaufsbedingungen (2.) und der LieferantenauswahlZ-bewertung (3.) im Vordergrund. Die Punkte 4 bis 6 wurden erst einmal ausgeklammert, da sie die Auswahl eines Lieferanten im Rahmen des Beschaffungsprozesses nicht direkt betreffen, sondem erst im Anschluss daran als Komponenten der Logis-tik, der Kooperation und des Recycling wichtig sind.

5 Entwicklung eines Nachhaltigkeitskonzeptes

Insgesamt haben die in der Literatur und der Forschung gestiegenen Anforde-rungen an Untemehmen bezogen auf Umweltschutz und soziale Verantwortung verbunden mit Nachhaltigkeit in den letzten Jahren generell Aufmerksamkeit erfahren. Leider werden bis heute in der Praxis kaum okologische und soziale Fragen und daraus resultierende Einflussmoglichkeiten einer Nachhaltigen Entwicklung bei Entscheidungen iiber die Gestaltung des Beschaffungsmana-gements fur eine dementsprechende Lieferantenauswahl umgesetzt." ^ Verant-wortlich dafiir sind zum einen die noch haufig nach geordnete Stellung der Beschaffung als Erfullungsgehilfe, zum anderen die geringen Einflussmoglich­keiten der Organisationseinheit durch nicht vorhandene Vertreter in der Unter-nehmensspitze und drittens unzureichende Kenntnisse und mangelnde Zeitres-sourcen von Mitarbeitem. Jedoch werden die potenziellen Einflussmoglichkeiten dieses Bereichs mehr als unterschatzt."^^

Es wird weiterhin deutlich, dass derzeit eine grundlegende konzeptionelle Aufarbeitung bedingter struktur- und prozessbezogener Veranderungen, fehlt. Weder Umweh- noch Sozialstandards wurden mit Blick auf das Beschaffungs­management bislang einer differenzierten Betrachtung unterzogen."^^ Somit ist eine klare Forschungsliicke erkennbar.'*'* Daraus ergibt sich der Bedarf einer Analyse, bei der folgende Forschungsfelder einzubeziehen sind:" ^

1. Bestimmung normativer Anforderungen einer Nachhaltigen Entwicklung fiir das Beschaffungsmanagement,

2. Schaffung umfassender Fruherkennungs-, Informations- und Kommunika-tionssysteme auf untemehmensintemer und zwischenbetrieblicher Ebene,

Vgl. Sarkis 1999, 4; Simpson/Power 2005, 62. Vgl. Bogaschewsky 2004, 174 ff. Zum gleichen Ergebnis kamen bereits Green et al. 1996, 191; sowie Seuring/Miiller 2004, 152; vereinzelte Ansatze finden sich nach Seuring/MuUer 2004, 145 bei Noci 1997, Carter/Dresner 2001. Vgl. Green et al. 1996, 192; Handfield et al. 2005, 18. Vgl. Lamming/Hampson 1996; Prakash Sethi 2002; weiterer Forschungsbedarf siehe Bogaschewsky 2004, 211 ff.; Simpson/Power 2005, 60.

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348 Julia Koplin

3. Anpassung der vorhandenen Beschafflingsstrukturen fiir die Umsetzung der normativen Anforderungen,

4. Entwicklung adaquater unabhangiger Mess-, Bewertungs- und Kontrollsys-teme, einschlieBlich geeigneter Anreiz- und Belohnungs- als auch Qualifi-kationssysteme fur Lieferanten.

Aus diesem Grund widmete sich das Forschungsprojekt einem neuen Gestal-tungsfeld des Supply (Chain) Managements, bei dem es um die Entwicklung eines strukturierten Konzeptes zur Integration von Umwelt- und Sozialstandards in das Beschafflingsmanagement eines Untemehmens ging, zu dem bisher noch keine umfassenden Ansatze in der Literatur gefunden werden konnten." ^ Um fur eine erfolgreiche Umsetzung des Konzeptes Untemehmensentscheidungen anpassen zu konnen, bedurfte es der Veranderung bisheriger Strukturen und Prozesse. Diese Veranderungen stellen fur die Volkswagen AG organisationale Innovationen dar, da sie neue Handlungsaltemativen beinhalten, die bisher innerhalb des VW-intemen Organisationsgeschehens nicht existent waren.

5.7 Ist-Situation der Volkswagen AG

Fiir die interne Bestandsaufnahme bei Volkswagen zur 1st-Analyse der Beschaf­flingsstrukturen und des Lieferantenmanagements wurden Experten-Interviews mit Vertretem verschiedener Geschaftsbereiche und eine Dokumentenanalyse VW-intemer Unterlagen durchgefiihrt.

5.1.1 Nachhaltigkeitsanforderungen

Grundlage fiir die Umsetzung von Nachhaltigkeit in Lieferantenbeziehungen ist die Einhaltung von weltweit anerkannten institutionellen Umwelt- und Sozial­standards innerhalb eines Untemehmens. Deshalb bekennt sich die Volkswagen AG zum Mission Statement der Wirtschaftsinitiative econsense und zur ICC-Charta. Gleichzeitig unterstiitzt sie den Global Compact und orientiert sich an den OECD-Leitlinien fiir multinationale Untemehmen. Weiterhin sind weltweit fast alle Produktionsstandorte entweder nach ISO 14001 oder nach EMAS zerti-fiziert. Auf sozialer Ebene fiindiert die globale Verantwortung von Volkswagen seit 2002 auf einer „Erklarung zu den sozialen Rechten und den industriellen Beziehungen", deren Inhalte mit denen des SA 8000 grundsatzlich tiberein-stimmen und die von ihrer Form her in die Reihe der Codes of Conduct einge-ordnet werden kann.

Vgl. auch Simpson 2005, 314.

Page 358: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Organisationale Innovationen im Beschaffungsmanagement 349

5.1.2 Friiherkennung

Friiherkennung von Problemen und Risiken, aber auch Chancen im Bereich Nachhaltigkeit wird bei Volkswagen derzeit zu Umweltthemen durchgeftihrt. Im Bereich der extemen Friiherkennung fmdet bisher das Projekt „Umweltra-dar" statt. Es geht um die Erforschung der langfristigen Umweltrahmenbedin-gungen (Chancen/Risiken). Daraus ergeben sich Ansatze zur Formulierung und Implementierung einer Umweltpolitik und -strategie im Untemehmen (Um-weltmanagement), zur Integration der Umweltziele in den Gesamtkonzem als auch zur Unterstiitzung der umweltbezogenen intemen/extemen Kommunikati-on gegeniiber der Offentlichkeit. Es wird versucht, Geschaftsprozesse mit rele-vanten umweltbezogenen Informationen zu unterstiitzen.

5.1.3 Beschaffungsprozess

Der Beschaffungsprozess der Volkswagen AG weist prqduktbezogene Umwelt-vorgaben fiir den Lieferanten, aber keine Beriicksichtigung von Anforderungen fur den Bereich der produktionsbezogenen Umweltstandards sowie fiir soziale Aspekte auf Im Innenverhaltnis bestehen in den intemen Richtlinien der Be-schaffung Vorgaben fiir den Einkaufer. Im AuBenverhaltnis zu den Lieferanten sind hingegen bisher nur die produktbezogenen Anforderungen wirksam. Den Lieferanten werden die aktuellen Vorgaben von Volkswagen bei der Beschaf-flingsanfrage mitgeteilt. Fiir einen Lieferantenvorschlag von Seiten der Beschaf-fiing steht ein Gesamtpool ohne Bewertung und Klassifiziemng dieser hinsicht-lich umweltbezogener und sozialer Bewertungen zur Verfiigung. Lediglich Evaluationen der Qualitat, der technischen Eigenschaften als auch der wirt-schaftlichen Situation des Lieferanten liegen als Daten im System vor. Bei der Angebotspriifung werden alle abgegebenen Angebote auf die Qualitat ihrer Produkt- und auch Umwelteigenschaften untersucht. Eine weitergehende Ange­botspriifung zu Produktionsstandards erfolgt nicht. Bislang stehen nur die As­pekte Qualitat, Lieferfahigkeit und Kosten im Mittelpunkt.

5.1.4 Monitoring und Lieferantenentwicklung

Kontrollen und Bewertungen der Lieferanten, basierend auf ISO 9000 Zertifi-kat, Selbstauskunft, Revision oder Auditierung sowie Entwicklungs- und Ver-besserungsnachweise, fmden bei der Volkswagen AG bisher fiir den Bereich Qualitat statt. Die Beurteilung der gelieferten Produkte und Dienstleistungen sowie der Standorte des Lieferanten auf seine Qualitatsfahigkeit und -leistung ist ein wichtiger Baustein der Lieferantenbewertung als Grundlage fur die Auf-tragsvergabeentscheidung. Ein Qualitatsnachweis kann durch Selbstauskunft und Selbstaudit der Lieferanten erbracht werden und wird durch zusatzliche Audits der Qualitatssicherung erganzt.

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350 Julia Koplin

5.2 Darstellung der organisationalen Verdnderungen

Im Zentrum von Nachhaltigkeit in Lieferantenbeziehungen steht fur Volkswa­gen das Ziel, die Entwicklungsfahigkeit der Wertschopfungskette auf Basis gegenseitiger Lemprozesse zu steigem und „Win-win-Situationen" fur den Lieferanten und den Auftraggeber zu schaffen. So konnen Verbesserungen in der Umweltschutzorganisation eines Betriebes beispielsweise zu Produktivitats-steigerungen fiihren, wenn hierdurch Fehler- und Storungsquellen fiir den Pro-duktionsprozess beseitigt werden. Das im Forschungsprojekt entwickelte Nach-haltigkeitskonzept bietet der Volkswagen AG dafiir einen Orientierungsrahmen und gibt Handlungsempfehlungen. Im Wesentlichen lasst es sich in vier grund-legende, miteinander verbundene Ebenen zusammenfassen, welche sich an den Forschungsfeldem eines nachhaltigen Beschaffiingsmanagements orientieren und fur die praktische Umsetzung jeweils an die spezifischen Merkmale des einzelnen Untemehmens angepasst werden mtissen:

5.2.1 Definition von Nachhaltigkeitsanforderungen fiir Lieferanten

Als erstes wurden Anforderungen des Volkswagen Konzems zur Nachhaltigkeit in den Beziehungen zu Geschaftspartnem definiert, die Volkswagen an seine Lieferanten richtet. Diese basieren inhaltlich einerseits intern auf Aussagen der VW-Umweltpolitik, den daraus abgeleiteten Umweltzielen und Umweltvorga-ben, der Qualitatspolitik sowie der „Erklarung zu den sozialen Rechten und den industriellen Beziehungen bei Volkswagen". Andererseits orientieren sie sich extern an der Allgemeinen Erklarung der Menschenrechte der Vereinten Natio-nen, den Prinzipien des Global Compact, den Kemarbeitsnormen der Intemati-onalen Arbeitsorganisation, den OECD-Leitlinien fur mulinationale Konzeme sowie der Business Charta fiir eine langfristige tragfahige Entwicklung der Intemationalen Handelskammer.

5.2.2 Fruherkennung von Problemen und Risiken

Eine zweite Ebene ist der Aufbau eines intemen und extemen globalen Issue-Screenings zur vorausschauenden Identifizierung von umweltbezogenen und sozialen Risiken bei Lieferanten. Sowohl das exteme Wissen einzelner Experten als auch das interne Wissen von Mitarbeitem kann dafiir nutzbar sein. Alle relevanten Umwelt- und Sozialthemen werden durch die Radarfunktion erfasst. Mogliche Instrumente sind Intemet-Recherchen, Experten-Panel, Beobachtun-gen der Medien und Fachpresse sowie Gesetzesentwurfe als auch regelmaBige Dialoge mit NGOs. Untemehmensintem liegen gleichfalls Kenntnisse tiber einzelne Probleme bei Lieferanten vor. Um diese aufzufangen, wurde eine in­terne Informationspflicht fur alle Geschaftsbereiche eingefuhrt.

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Organisationale Innovationen im Beschaffungsmanagement 351

5.2.3 Entscheidungsfmdung im Beschaffiingsprozess

Gleichzeitig miissen die Beschaffiingsstrukturen und -prozesse des Untemeh-mens als drittes Element fur die Beriicksichtigung der Nachhaltigkeitsanforde-rungen bei den eigenen Entscheidungsfmdungen angepasst werden. Dafiir konnten im Projekt drei wesentliche Schritte identifiziert werden. Ein erster Schritt ist die Abfrage umweltbezogener/sozialer Aspekte in Form einer Selbst-auskunft fur die Geschaftspartner, welche bei jedem Beschaffungsvorgang in aktualisierter Form vorliegen muss. Die Selbstauskunft ist die Basis flir den zweiten Schritt: den Aufbau einer umweltbezogenen/sozialen Lieferantenbewer-tung anhand eines Klassifizierungsschemas. Die in der Selbstauskunft gemach-ten Angaben der Lieferanten werden mit Hilfe von Plausibilitatspriifungen der Qualitatssicherung untersucht. Generell ist von alien Lieferanten sicherzustel-len, dass ihre eigenen Zulieferer geeignete MaBnahmen gewahrleisten.

5.2.4 Monitoring und Lieferantenentwicklung

Um die Selbstauskiinfte der Lieferanten umfassend kontrollieren zu konnen, sind Monitoring-MaBnahmen, z.B. in Form einzelfallbezogener Revisionen in den Produktionsstatten vor Ort, durchzufiihren. Langfristig will Volkswagen auf ein gut ausgebautes Revisions- bzw. Auditierungssystem hinwirken, um Fach-kompetenz und Routine flir diese Prozesse zu erreichen. Ein Lieferant, der mas-siv gegen bestimmte Anforderungen verstoBt, wird nicht gleich aus dem Liefe-rantenpool ausgelistet, sondem ist dazu angehalten, einen Qualifizierungs-prozess mit Nachweispflichten iiber die Schritte, den Zeitplan und die Ergebnis-stande zu initiieren. Die Volkswagen AG unterstiitzt alle Lieferanten in Form von Informationen (Lieferantenplattform) und fachlicher Beratung (Kontaktstel-le). Erganzend sind Schulungsangebote ein wichtiges Instrument, die gemein-same Zusammenarbeit zu vertiefen. In regelmaBigen Abstanden wird Lieferan­ten die Moglichkeit gegeben werden, sich im Rahmen von Seminaren bezogen auf Nachhaltigkeitsthemen weiterzubilden.

Tabelle 23 zeigt die Veranderungen auf den einzelnen Ebenen die sich aus dem entwickelten Nachhaltigkeitskonzept ergeben noch einmal tiberblicksartig auf

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352 Julia Koplin

Tabelle 23: Zusammenfassung der Verdnderungen als organisationale Innovationen

Ebenen

Normative Ebene

Friiherkennung

Beschafflings-prozess

Monitoring

Lieferanten-entwicklung

Stand vor dem Konzept

Produktbezogene Lieferanten-anfordemngen zu Umweltas-pekten

Forderung ISO 9000

Internationales Issue-Screening zu Umweltthemen

Keine Informationspflicht der Geschaftsbereiche

Keine Zusammenarbeit der Geschaftsbereiche

Fehlende Informationen zu Umwelt- und Sozialstandards

Keine Bewertung von Lieferan-ten

Beschaffungsentscheidungen anhand der Bewertungen von Qualitatssicherung, Forschung und Logistik

Qualitatsaudits mit einzelnen produktbezogenen Umweltfra-gen

Fehlende Informationsweiterga-be an Lieferanten zur Nachhal-tigkeit

Fachliche Unterstiitzung zu Umweltthemen

Stand nach dem Konzept

Produkt- und produktionsbezogene Lieferantenanforderungen zu Um­welt- und Sozialaspekten

Forderung ISO 9000 und ISO 14001

Internationales Issue-Screening zu Umwelt- und Sozialthemen

Informationspflicht der Geschafts­bereiche an den Umweltschutz als zentrale Stelle

Experten-Team (Personalwesen, Umweltschutz, Beschaffting, Quali­tatssicherung) ftir Bewertung von Inft)rmationen

standortbezogene Selbstauskunft ftir Lieferanten via Lieferantenplatt-form

Umweltbezogene und soziale Liefe-rantenbewertung

Erganzende Einbeziehung der Um­welt-/ Sozialbewertungen in die Beschafftingsentscheidungen

Zusatzliche fallbezogene Revisio-nen zu Umwelt- und Sozialstan­dards in den Produktionsprozessen

Informationsbereitstellung auf Lieferantenplattform via Internet

Fachliche Unterstiitzung zu Nach-haltigkeitsthemen (Umwelt + Sozia-les)

Ausgehend von den Merkmalen organisationaler Innovation konnen die be-schriebenen Elemente des Nachhaltigkeitskonzeptes eindeutig als solche klassi-

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Organisationale Innovationen im Beschaffungsmanagement 353

fiziert werden. Das Konzept erfullt den Anspruch der Neuartigkeit, da neue Handlungsaltemativen, z.B. die Auswahl eines Lieferanten nach Umwelt- und Sozialaspekten, erstmalig in das Organisationsgeschehen eingreifen. Der Hand-lungsbezug ergibt sich aus der bewussten Erarbeitung des Konzeptes fiir die spatere Umsetzung im Untemehmen. Die Handlungsdurchfiihrung und Auswer-tung waren als definierte Phasen eines Aktionsforschungsprozesses von Anfang an Voraussetzung fur das Forschungsprojekt. Somit stellte der Verwertungsas-pekt von vom herein einen Bestandteil der Veranderungen dar. Im Rahmen des Prozesscharakters kann das Konzept den objektbezogenen Innovationsbegriff und hier den Prozessinnovationen zugeordnet werden, da es bei der Volkswa­gen AG speziell um die Reorganisation der Beschaffungsprozesse ging. Die Mehrdimensionalitat umfasst sowohl abgeleitete Veranderungen aus den struk-turellen Rahmenbedingungen, z.B. der Ausweitung der VW-intemen Selbstver-pflichtungen auf die Lieferantenketten, den am Prozess beteiligten Akteuren in Form unterschiedlichster Organisationseinheiten der Volkswagen AG als auch der Beschreibung und Gestaltung neuer Elemente des Beschaffungsprozesses, beispielsweise der Einfuhrung einer Selbstauskunft oder der Entwicklung eines Lieferantenklassifizierungsschemas ftir Nachhaltigkeit. Tabelle 24 zeigt die Umsetzung der Merkmale organisationaler Innovationen anhand der Elemente des Nachhaltigkeitskonzeptes.

Tabelle 24: Umsetzung der Merkmale organisationaler Innovationen

Ebenen

Normative Ebene

Merkmale organisationaler Innovationen

Neuartigkeit

Nachhaltigkeits-anforderungen fiir Lieferanten

Handlungsbezug

Integration Nach-haltigkeitsanfor-derungen in be-stehende Regelungen

Weitergabe der Lieferantenanfor-derungen iiber Lieferantenplatt-form

Prozess charakter

Objektbezogen-heit: Produktinno-vationen

Mehrdimen­sionalitat

Ausweitung VW-intemer Selbst-verpflichtungen auf Lieferantenbe-ziehungen

Orientierung an extemen Stan­dards intemationa-ler Institutionen

Page 363: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

354 Julia Koplin

Ebenen

Friiherken-nung

Beschaf-fungsprozess

Monitoring

Lieferanten-entwicklung

Merkmale organisationaler Innovationen

Neuartigkeit

Erweiterung Global Monito­ring (soziale Faktoren + Lieferanten)

Informations-pflicht fur Ge-schaftsbereiche

Selbstauskunft;

Lieferantenbe-wertung nach Umwelt- und Sozialaspekten

Plausibilitats-priifungen

fallbezogene Revisionen zu Umwelt- und Sozialstandards

Qualifizierungs-prozess fur Lieferanten

Handlungshezug

Intemet-Recher-chen, Experten-Panel, Beobach-tungen der Me-dien und Fach-presse

Fragebogen zu Umwelt-, Arbeits-schutz- und sozia-len Aspekten

Klassifizierungs-und Bewertungs-schema

Trackingsystem fur Expertenteam

Datenbank fiir Informationen

Nachweispflichten (Schritte, Zeitplan und Ergebnisstan-de)

Prozesscharakter

Objektbezogen-heit: Prozessinno-vationen

Objektbezogen-heit: Prozess- und Sozialinnovatio-nen

Objektbezogen-heit: Prozess- und Sozialinnovatio-nen

Objektbezogen-heit: Prozess- und Sozialinnovatio-nen

Mehrdimen-sionalitdt

Einbeziehung unterschiedlichs-terNGOs/Watch­dogs

Andocken an bestehendes Mo-nitoringsystem

Einbeziehung aller beteiligten Ge-schaftsbereiche und ausgewahlter Lieferanten

Enge Zusammen-arbeit mit der Qualitatssiche-rung;

Aufbau eines Expertenteams

Fachliche Unter-stiitzung zu Nach-haltigkeitsthemen

6 Zusammenfassung

Wenn davon ausgegangen wird, dass sich Nachhaltigkeit nur unter Einbezie­hung der operativen Umsetzung zukiinftiger okologischer und sozialer Entwick-lungen in Untemehmen realisieren lasst, mussen genau an dieser Stelle, namlich in den Untemehmen selbst, Wege fiir eine Nachhaltige Entwicklung gefunden werden. Als ein Ansatz dafur, um ihre untemehmerische Verantwortung wahr-nehmen und gleichzeitig ihre Bemiihungen fiir eine Nachhaltige Entwicklung ausbauen zu konnen, wurden umweltbezogene und soziale Standardsysteme und deren Integrationsmoglichkeiten in die Prozesse der Untemehmenstatigkeit und

Page 364: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Organisationale Innovationen im Beschaffungsmanagement 355

speziell in das Beschaffungsmanagement untersucht. Das Ergebnis ist ein Nachhaltigkeitskonzept, bestehend aus organisationalen Innovationen, um Be-eintrachtigungen der Umwelt sowie soziale Probleme in den gesamten Wert-schopfiingsaktivitaten eines Untemehmens reduzieren oder sogar ganz aus-schlieBen zu konnen.

Die vorliegende Arbeit eroffnet somit auf Basis eines Aktionsforschungs-prozesses erste Erkenntnisse auf diesem Gebiet. Dementsprechend handelt es sich bei den abgeleiteten Handlungsempfehlungen des Nachhaltigkeitskonzep-tes um ein Gestaltungsmodell bzw. einen Orientierungsrahmen, das/den es durch weiterfiihrende Forschungen zu tiberprtifen und zu verfeinem gilt. Einen ersten Ansatz daflir bietet die derzeitige Implementierung und Anpassung des Konzeptes bei der Volkswagen AG zur Analyse der praktischen Auswirkungen im Rahmen seines realitatsbezogenen Anwendungszusammenhangs, was gleichzeitig den Handlungsbezug der organisationalen Innovation erhoht. Erst dann kann das Konzept hinsichtlich seines Potenzials zur Umsetzung von Nachhaltigkeit in Lieferantenbeziehungen voUstandig bewertet und zur Uber-prtifung der Allgemeingiiltigkeit weitere Aktionsforschungsprojekte initiiert oder multiple Fallstudien durchgefiihrt werden. Daraus ergeben sich nahere Erkenntnisse beziiglich der praktischen Anwendbarkeit, des Nutzens sowie auch der moglichen Risiken des Konzeptes als potenzielles Gestaltungsmodell. Erst diese Forschungsergebnisse werden zeigen, inwieweit das entwickelte Nachhal­tigkeitskonzept wirklich zur Umsetzung des Leitbildes einer Nachhaltigen Ent-wicklung in den Strukturen und Prozessen des Beschaffungsmanagements von Untemehmen beitragen,kann.

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Page 367: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beschaffungsmanagement und okologische Innovation in Zulieferketten

Lutz Preuss

1 Einleitung

Spatestens seit Joseph Schumpeter (1911/1997) gilt Innovation als Motor der volkswirtschaftlichen WertschopfUng. Dank der „schopferischen Zerstorung" bestehender Markte und Wettbewerber konnen sich neue Produkte am Markt etablieren, die ihrerseits den Wettbewerbsdruck weiter erhohen. Somit konnen Innovationen weit mehr Wachstum erzielen als Preisanderungen einzelner An-bieter. Parallel dazu wird Innovation auch in der Literatur zu nachhaltiger Ent-wicklung eine tragende Rolle zugeschrieben. Besonders das Konzept der okolo-gischen Modemisierung (Mol und Sonnenfeld, 2000; Seiler-Hausmann et al, 2004) versucht durch eine Intensivierung der Ressourcennutzung um einen Faktor zwischen vier und zehn die Spannung zwischen den Anforderungen des Umweltschutzes und inter- und intragenerationaler sozialer Gerechtigkeit zu entscharfen (siehe auch die Kritik von Paech, 2004).

Innovation beinhaltet zwangslaufig die Rolle des Individuums im Innovati-onsprozess. AUerdings ist Innovation selten ein singularer Akt, besonders nicht wenn man F&E-Prozesse in modemen GroBuntemehmen betrachtet. Industrielle Innovation sollte also besser als Prozess verstanden werden, zu dem verschie-dene Organisationsmitglieder aus verschiedenen Bereichen beitragen. Wahrend die Innovationsliteratur in diesem Zusammenhang oft die Kooperation von F&E, Produktion und Marketing betrachtet, soil in diesem Beitrag speziell die Rolle der Beschaffungsfunktion im Innovationsprozess untersucht werden. Deren Rolle wird bereits darin ersichtlich, dass heute kein Untemehmen mehr die Ressourcen aufbringen kann, alle benotigte Technologic selbst zu entwi-ckeln. Industrielle Innovation beruht daher auch immer auf Innovationsleistun-gen der Zulieferer.

Die gewachsene okonomische Bedeutung der Beschaffungsfunktion steht heute fur die meisten Untemehmen des verarbeitenden Gewerbes auBer Zweifel (Schuff, 2002; Burt et al, 2003). Aus Sicht des Umweltschutzes fungiert die Beschaffungsfunktion als Gate-Keeper des Untemehmens und verftigt somit iiber ein betrachtliches Potential, prozess- und produktorientierte Innovationen unter Zulieferem zu fordem (New et al, 2000; Dyllick und Hamschmidt, 2002). Die Beschaffungsfunktion kann z.B. einen griinen Multiplikator-Effekt hervor-rufen, indem hohere Anforderungen im Bereich Umwelt die Zulieferer in die

Page 368: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

360 Lutz Preuss

Lage versetzen, neue Kunden zu gewinnen und okologische Innovationen in die Zuliefemetze weiterer Untemehmen zu tragen (Preuss, 2005). Eine derartige Perspektive ist besonders unter den Bedingungen einer zunehmend globalisier-ten Beschaffung (Arnold, 2002) interessant, da die Umweltschutzbestimmungen in vielen Entwicklungs- und Schwellenlandem hinter denen von Industriestaa-ten hinterherhinken.

Der vorliegende Beitrag beginnt mit einer Literaturauswertung zu Faktoren, die den Innovationsprozess in Industrieuntemehmen beeinflussen. Daran schlieBt sich eine Diskussion der Bedeutung von Zulieferketten im Innovations­prozess an. Der methodologische Teil gibt Aufschluss tiber die dem Beitrag zugrundeliegende qualitative Studie von 34 britischen Untemehmen des verar-beitenden Gewerbes. Die Ergebnisse werden getrennt nach Prozess-, Produkt-und organisatorischer Umweltinnovation prasentiert, wahrend der Schlussteil die Diskrepanz zwischen theoretisch erwartbaren und tatsachlichen Resultaten thematisiert.

2 Determinanten des Innovationsprozesses

Dieser Beitrag folgt dem Oslo-Manual der OECD (OECD und Eurostat, 1997), das unter Innovation eine technologische oder organisatorische Neuerung ver-steht. Technologische Innovationen konnen entweder neue bzw. verbesserte Produkte oder neue Produktionsprozesse betreffen, die einen vergleichbaren Output bei verringertem Input erlauben. Unter organisatorische Innovation fallen traditionell eher als Begleiterscheinungen von technologischen Innovati­onen betrachtete Neuerungen in Organisationsstruktur, Managementtechnik oder Untemehmensstrategie. Beide Arten von Innovationen konnen dabei ent­weder eine stufenweise Verbesserung bestehender Produkte oder Prozesse oder aber eine radikale Abkehr vom Bestehenden bezeichnen (Murphy und Gould-son, 2000). Eine Neuerung soUte allerdings nur dann als Innovation bezeichnet werden, wenn eine messbare Outputveranderung vorliegt, z. B. bei Material-verbrauch oder Produktivitat (Rennings et ai, 2005).

Nach Ettlie (1998) entfallt der GroBteil industrieller Innovationen, gemessen an F&E-Ausgaben, auf die Entwicklung neuer Produkte, wobei allerdings gra-vierende Unterschiede zwischen einzelnen Wirtschaftszweigen zu verzeichnen sind. Prozessinnovationen werden im Vergleich dazu oft mehr oder weniger komplett von Zulieferem erworben, was im Bereich Informationstechnik be­sonders auffallig ist. Damit geht allerdings die Frage einher, bis zu welchem MaBe sich das Untemehmen den Nutzen der Innovationen zu eigen machen kann. So zeigte Ireland (1999), dass Informationsasymmetrie und besseres Know-how seitens der Zulieferer von IT-Systemen tiberdurchschnittliche Ertra-ge von relativ abhangigen Kunden bescheren konnen.

Page 369: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beschaffungsmanagement und okologische Innovation in Zulieferketten 361

Umweltinnovationen konnen definiert werden als technologische oder orga-nisatorische Neuerungen, die zu einer Verbesserung der Umweltqualitat fuhren, unabhangig davon ob sie auch aus anderen, insbesondere okonomischen Grtin-den vorteilhaft waren (Klemmer et ah, 1999). Umweltbezogene Innovationen treten damit in folgenden Kategorien auf (Murphy und Gouldson, 2000; Ren-ningse^a/., 2005):

•=> produktbezogene Umweltinnovation: Entwicklung neuer bzw. Weiter-entwicklung bestehender Produkte

•=> prozessbezogene Umweltinnovation: Modifizierung bestehender Produkti-onsprozesse bzw. Einfiihrung neuer Prozesse

•=> organisatorische Umweltinnovation: Anderungen der betrieblichen Aufbau-oder Ablauforganisation

Im Unterschied zur volkswirtschafitlichen Innovationsliteratur im Sinne Schum-peters, die Innovation eng als Marktneuheit, als erstmalige Einfiihrung eines Produkts, eines Prozesses oder einer organisatorischen Anderung auslegt, wird hier ein subjektiver Innovationsbegriff benutzt, der eine Innovation nicht unbe-dingt als absolut neu, sondem als neu fiir eine bestimmte Person oder Organisa­tion auffasst. Damit werden zwar sowohl Innovation als auch Diffusion zum Gegenstand der Untersuchung, was aber gerechtfertigt ist, da auf betrieblicher Ebene bei Difflisionen bestehender Losungen ohnehin oft Anpassungen not-wendig sind, eine reine Diffusion also eher selten ist. AuBerdem ist es spezifisch auf dem Gebiet des Umweltschutzes eher wiinschenswert, dass die Diffusion neuartiger Best-Practice Losungen schnell und auf breiter Front erfolgt (Ren-nings era/., 2005).

Im Mittelpunkt des Innovationsprozesses steht zweifellos die innovierende Person. Damit haben individuelle Charakteristika, wie Einstellungen und Werte, zweifellos Einfluss auf den Innovationsprozess in modemen Untemehmen (Pierce und Delbecq, 1977). Wo bei Schumpeter noch der einzelne Untemeh-mer mit Mittelpunkt des Interesses stand, verschob sich der Schwerpunkt des Interesses zunehmend auf sogenannte Innovation Champions, meist in der mitt-leren Fiihrungsebene zu fmdende Mitarbeiter, die mit informellen Mitteln den Innovationsprozess lenken und Unterstiitzung in der Untemehmensleitung su-chen. Individuelle Charakteristika konnen auch erklaren, warum Mitarbeiter Widerstand gegen die Einfiihrung organisatorischer Veranderungen leisten (VandeVener(3/., 1999).

Neben individuellen Charakteristika wird Innovation auch von organi­satorischen Faktoren bestimmt. Dies gilt in erster Linie fiir Skalenertrage, wo eine bestimmte MindestgroBe eines Untemehmens fur die Ressourcenausstat-tung des Innovationsprozesses notwendig ist (Ettlie et al, 1984). Daneben hat auch die Struktur eines Untemehmens Einfluss auf seine Innovationstatigkeit;

Page 370: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

362 Lutz Preuss

flexible Strukturen gelten als bessere Basis fiir innovative Untemehmen als starre, mechanistische Strukturen (Nohria und Gulati, 1996; Lam, 2005). Eine weitere Determinante erfolgreicher Innovation sind organisational Lemprozes-se. Nonaka (1991) verweist hier besonders auf die Rolle impliziten Wissens, wenn er defmiert, dass die Wissensbasis eines Untemehmens aus dem explizi-ten Wissen seiner Mitarbeiter und dem impliziten Wissen in den sozialen Bezie-hungen von Organisationsmitgliedem und anderen Anspruchsgruppen besteht (siehe auch Powell und Grodal, 2005). Eine Herausforderung erfolgreicher Innovation besteht somit darin, das Organisationsumfeld nach technologisch ntitzlichem Wissen abzusuchen, dieses in die Organisation iiberzuleiten und mit intemen Fahigkeiten zu verbinden. Damit wird bereits die Bedeutung von Gate-Keeper-Funktionen, wie dem Beschaffungsmanagement, fiir den Innovations-prozess deutlich.

Erfolgreiche Innovationen werden weiterhin durch branchenspezifische Fak-toren gefi)rdert oder behindert. So kann die Existenz einer dominierenden Tech-nologie Innovationen in einer Branche hemmen (Anderson und Tushman, 1990). Ein Beispiel ware etwa die zogerliche Markteinfiihrung von Altemativen zum Verbrennungsmotor fiir Kfz (Hall und Kerr, 2003). Auch konnen inno­vative Untemehmen keineswegs immer ihre anfangliche Marktbeherrschung gegen aggressive Imitatoren verteidigen. Boulding und Christen (2001) spre-chen in diesem Zusammenhang von „first-mover disadvantage." Derartige bran­chenspezifische Faktoren wurden von Pavitt (1984) in einer Typologie zusam-mengestellt, die unterscheidet zwischen:

•=> von Zulieferem dominierten Untemehmen O Anbietem von Spezialausriistungen ^ Untemehmen mit Skalenertragen •=> Untemehmen mit naturwissenschaftlichem Know-how

Pavitts Typologie zeigt deutlich, welch wichtige Rolle Zulieferbeziehungen im Innovationsprozess spielen konnen. In den ersten beiden Fallen ist die Rolle der Zulieferkette per Definition gegeben: hier beherrscht der Zulieferer den Markt, entweder dank eigener UntemehmensgroBe oder durch eine Positioniemng als Nischenanbieter. Bei Untemehmen, die Wettbewerbsvorteile aus Skalenertragen gewinnen, wie z.B. in der Autoindustrie, zeigt sich ein deutlicher Trend zur Verlagemng immer groBerer Produktionsschritte auf die Zulieferer. Damit sind nur noch Untemehmen, die ihren Wettbewerbsvorteil aus natur­wissenschaftlichem Know-how gewinnen, wie etwa die pharmazeutische In­dustrie, in ihren Innovationsprozessen nicht unbedingt von Zulieferketten ab-hangig.

Die Literatur beschreibt Innovation also als ein Zusammenspiel individuel-ler, organisationsspezifischer und branchenspezifischer Faktoren. Gleichzeitig

Page 371: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beschaffungsmanagement und okologische Innovation in Zulieferketten 363

wird eine besondere RoUe des Beschaffungsmanagements im Innovations-prozess sichtbar (Wolters, 2002). Dies gilt sowohl fur „konventionelle" als auch fiir Umweltinnovationen. In bezug auf okologische Produktinnovationen kann das Beschaffungsmanagement Mindestanforderungen an eingekaufte Materia-lien Oder Komponenten erheben. Prozessinnovation kann z.B. die Einfiihrung eines Umweltschutzmanagementsystems bei Zulieferem betreffen. Gleichzeitig kann die Umweltbelastung eines Produktes durch den gesamten Life-Cycle auch durch organisatorische Innovationen reduziert werden, wie z.B. eine bes-sere Optimierung von Transportprozessen.

3 Methodik

Da es sich beim Themenfeld Umweltinnovation und Zulieferketten um eine relativ junge Fragestellung handelt, wurde eine qualitative Studie gewahlt. Um moglichst reprasentative Ergebnisse zu bekommen, wurde eine breite Spanne von Firmen des verarbeitenden Gewerbes in GroBbritannien angestrebt, wobei Branchen nach der Standard Industrial Classification of Economic Activity 1992 (Central Statistical Office, 1992) ausgewahlt wurden. Als sekundare Krite-rien fiir die Auswahl wurden UntemehmensgroBe, Land des Firmensitzes und Rechtsform benutzt. Die Auswahl der eigentlichen Untemehmen wurde mit Hilfe der Dateien UK Kompass Register (Kompass, 2000), Scottish Business Register (Dunn & Bradstreet, 1999) und Digital Directory of Scottish Manufac­turing Capability der Wirtschaftsforderungsagentur Scottish Enterprise (1997) vorgenommen.

Insgesamt wurden Beschaffungsmanager von 50 Untemehmen um ein Inter­view fur die Studie gebeten, von denen 16 ablehnten. Die Daten zu Branche bzw. Produkt, UntemehmensgroBe, Firmensitz und Rechtsform fur die ver-bleibenden 34 Untemehmen sind Tabelle 1 zu entnehmen. Die Interviews wur­den in drei Phasen durchgefuhrt: eine Pilotphase (Untemehmen 1 bis 6) im Sommer 1998, die Hauptphase (Untemehmen 7 bis 29) von Sommer 1999 bis Fruhjahr 2000 und eine Nachfolgephase (Untemehmen 30 bis 34) im Sommer und Herbst 2004.

Die Interviews dauerten i.d.R. von 30 min bis zwei Stunden und wurden auf dem jeweiligen Firmengelande durchgefuhrt. Die Gesprache wurden auf-genommen und spater transkribiert. Zwei Beschaffungsmanager (Untemehmen 25 und 30) konnten aus Zeitgriinden nur ein Telefoninterview gewahren. Der Interviewleitfaden enthielt eine Mischung von offenen und geschlossenen Fra-gen, um zum einen die Vergleichbarkeit der Daten zu gewahrleisten und zum anderen den Interviewpartnem Gelegenheit zu bieten ihre eigenen Schil-demngen, z.B. von Einflussfaktoren auf den Innovationsprozess, zu geben. Interviewdaten wurden durch untemehmensinteme und -exteme Datenquellen

Page 372: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

364 LutzPreuss

angereichert, wie z.B. Leitlinien ftir die Beschaffung, Umweltberichte, Unter-nehmenszeitschriften oder Dokumentationen von Regulierungsbehorden.

Dem subjektiven Innovationsbegriff entsprechend wurden Selbstauskiinfte der Beschaffungsmanager als Informationsquelle benutzt. Deren Konsistenz und Validitat wurde in einzelnen Fallen durch Befragung mehrerer Unter-nehmensvertreter und Geschaftspartner, d.h. der jeweiligen Zulieferer oder Kunden, gepruft. Die Zahl der befragten Untemehmen erlaubt keine statistische Auswertung der Daten. Da die Produktionsverfahren aber keineswegs landes-typisch sind und die Konzemzentralen sich auf die Triade USA, Japan und Europa verteilen, konnen die Ergebnisse jedoch auf Industriestaaten verall-gemeinert werden.

4 Beschaffungsmanagement und Umweltinnovation

Die Ergebnisse der Studie sind in Ubersichtsform in Tabelle 25 dargestellt. Auf-fallig ist die geringe Zahl von Untemehmen, die keinerlei Umweltinnovationen in ihren Zulieferketten aufweisen konnten. Diese sind alle kleine oder mittel-standische Untemehmen, wobei im Falle des Herstellers von Cashmere-Gam noch auBergewohnlich widrige wirtschaftliche Umstande die Einfiihmng von UmweltschutzmaBnahmen behinderten. So musste eine geplante Einfiihmng eines Recyclingprogramms flir Abprodukte eingestellt werden, da der zustandi-ge Manager das Untemehmen verlieB und nicht ersetzt werden konnte.

In den meisten Untemehmen der Studien - damnter auch zahlreiche KMU -sind Umweltinnovationen zu verzeichnen. Hierbei iiberwiegen Prozess-innovationen deutlich gegentiber Produktinnovationen. Organisatorische Inno-vationen (wobei hiemnter nur Neuemngen verstanden werden, die nicht gleich-zeitig Prozesse oder Produkte beeinflussen) sind ebenfalls eher selten. Prozess-innovationen reichen von eher bescheidenen MaBnahmen, wie einer Review der vom Auftragnehmer getroffenen Arbeits- und UmweltschutzmaBnahmen vor und wahrend des Auftrages (Untemehmen 19) iiber die Reduziemng von Transportkosten durch die Verlagemng von Fracht von der StraBe auf die Schiene (Untemehmen 7) bis zur Einfiihmng von wiederbenutzbaren Contai-nem fiir Gefahrenstoffe.

Page 373: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beschaffungsmanagement und okologische Innovation in Zulieferketten 365

Tabelle 25: Umweltinnovationen in den Zulieferketten von britischen Indus trieunternehmen

Unter-nehmen

Produkt Rechtsform und Mitarbeiter im Umweltinnovationen in Innovationstyp Firmensitz Betrieb Zulieferketten

1 Blech- KMU in Famili- 200-300 Trennung und Recycling Prozess verarbeitung enbesitz von Abprodukten

Computer Multinationale Hard- und PLC mit Sitz in Software USA

Video- Multinationale kassetten- PLC mit Sitz in rekorder Japan

Maschinen- Limited Compa-bau ny, ein Standort

Etiketten und Limited compa-Aufkleber ny, ein Standort

Antennen und Limited Com-Kabel pany mit Sitz in

USA

Spezialkabel Limited Com­pany mit Sitz in

GB

Kfz-Reifen Multinationale PLC mit Sitz in

EU

400-500

600-700

ca. 100

50-100

200-300

400-500

ca. 800

Rucknahme von Altol durch Lieferanten

Chemikalien in Leiterplat-tenherstellung

Wiederverwertung oder Recycling von Verpa-

ckungsmaterial

Zulieferer von Farben mussen in Ruckgewin-

nungsanlage fur Losungs-mittel investieren

Reduzierung von Fracht-kosten durch verstarkte Beschaffung innerhalb

Europas und Nutzung der Bahn

Ruckverkauf von Altmetall an Lieferanten

Wiederverwendbare Con­tainer fur einzelne Produkte

(Kompaktierung von Abprodukten)

Prozess

Produkt

Prozess

Prozess

Prozess

Prozess

Prozess

(Prozess)

Ersetzen von Losungsmit- Prozess teln (geringfugige

Auswirkungen auf das Pro­

dukt)

Page 374: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

366 Lutz Preuss

10 Elektronik fur Multinationale 300-400 Kampftechnik PLC mit Sitz in

GB

14

15

Elektronische Limited Com- ca. 1300 Test- und pany mit Sitz in

Mess- USA instrumente

12 Elektrische Limited Compa- 200 Motoren ny, ein Standort

13 Hydraulik- KMUinFamili- ca. 300 ausriistungen enbesitz, ein

Standort

16

17

tCfz-Reifen

Mobil-telephone

Multinationale PLC mit Sitz in

EU

Multinationale PLC mit Sitz in

USA

1000

uber 2000

Druckerund Multinationale ca. 1000 Faxgerate Limited Com­

pany mit Sitz in Japan

Leiterplat- Multinationale 900-1000 tenmontage PLC mit Sitz in

USA

Ersetzen von Schwermetal-len und radioaktiven Mate-

rialien

Ersetzung von Losungsmit-teln in der Leiterplattenrei-

nigung

Ersetzen von Schwermetal-len in Leiterplatten

Produktriicknahme am Ende der Nutzungszeit

Recycling von Verpa-ckungsmaterialien

Ersetzen von Losungsmit-teln

Wiederverwendung von Verpackungsmaterialien

Besteht auf Verpackungs-

Produkt

Prozess

Prozess (klei-nere Auswir-

kungen auf das Produkt)

Prozess

Prozess

Prozess

Prozess

Prozess materialien aus nachhalti-

gen Quellen

Erhohung der Nutzungs-dauer des Produktes

Einfiihrung wiederver-wendbarer Verpackung mit

Zulieferer

Ersatz von Palladium durch kiinstliches Material

Besteht auf Verpackungs­materialien aus nachhalti-

gen Quellen

Einfiihrung wiederver-wendbarer Verpackung mit

Zulieferem

Recycling elektronischer Komponenten

z. T. Recycling von Abpro-dukten

Prozess

Reduzierung und Recycling Prozess von Abprodukten

Prozess

Produkt

Prozess

Prozess

Prozess

Prozess

Page 375: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beschaffungsmanagement und okologische Innovation in Zulieferketten 367

18 Qualitats- und Limited Com-Spezialpapier pany mit Sitz in

GB

19 Spezialche- Multinational mikalien Limited Compa­

ny

20 Pigmente und Multinationale Farbstoffe PLC mit Sitz in

CH

21 Qualitats- Limited Compa-papier ny (Teil eines

groBeren Unter-nehmens)

22

23

Linoleum und Limited Compa-PVC-Belage ny (Teil eines

Untemehmens mit Sitz in NL)

Qualitats- PLC mit Sitz in papier GB

24 Handels- Multinationale schiffe Limited Compa­

ny

26 Cashmere- KMU (Teil einer Gam groBeren PLC)

27 Spezialfasem Multinationale fiir Textilien Limited Compa­

ny mit Sitz in USA

iiber 800

900

800

550-600

450

ca. 800

ca. 1500

250-300

ca. 460

Umweltaudit von Zuliefe- Organisato-rem risch

z. T. Recycling von Abpro- Prozess dukten

Review von Umwelt- und Organisato-Arbeitsschutz vor und risch wahrend des Auftrages

Entwicklung und Einfiih-rung wiederverwendbarer Container fur gefahrliche

Chemikalien

Umweltaudit von Zuliefe-rem von ChemikaUen

Ersetzen iosungsmittelhal-tiger Farben durch Wasser-

lack

Ersetzen von Weichma-chem

FSC-Zertifizierung fur einzelne Produktlinien

RecycHngpapier als Input

Prozess

Organisato-risch

Produkt/ Prozess

Produkt/ Prozess

Prozess/ Organisato-

risch

Produkt/ Prozess

Umweltaudit von Zuliefe-rem von Zellstoff und Organisato-

Chemikalien risch

Wiederverwendbare Con- Prozess tainer fiir Farben

(Recyclingprogramm eingestellt)

(Recycling von Druckerpat-ronen nicht erfolgreich)

Recycling von iiberschussi- Prozess gen Produktionschemika-

lien

Recycling von Verpa- Prozess ckungsmaterialien geplant

Page 376: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

368 Lutz Preuss

28 Petrochemika- Multinationale lien PLC mit Sitz in

GB

ca. 1120 Einfuhrung wiederver-wendbarer Container fur

einzelne Chemikalien

Beschaffungsleitlinien fur eine Reihe von Produkten

29

31

Augenoptik

Verpa-ckungsma-

schinen

Kleinuntemeh-men; ein Stand-

ort

KMU mit Sitz in GB; ein Standort

ca. 45

ca. 175 Verringerung des Bedarfs an Farben und fliichtigen

organischen Verbindungen

32

33

interne Wiederverwendung von Verpackungsmaterial

Mitglied eines regionalen Verwertungsnetzes fiir

Abprodukte

3800 Riicknahme und Recycling von Kfz-Komponenten

durch Zulieferer

Verwendung wiederver-wendbarer Verpackung

Sport-und Teil eines groBe- (11000 fur Riicknahme und Recycling Gelandewa- renUntemeh- gesamtes von Kfz-Komponenten

gen mens mit Sitz in Untemehmen) durch Zulieferer USA

Kraflfahrzeu- Multinationales ge Untemehmen

mit Sitz in Japan

Prozess

Organisato-risch

Produkt

Prozess

Prozess

Prozess

Prozess

Prozess

34 Papierta- Sitz in Nordame-schentiicher rika

500

verlangtISO 14001 Zertifi-zierung von Zulieferem

Zellstoff nur aus nachhalti-gen Quellen

Chlor in Zusammenarbeit mit Zulieferem von Chemi-

Organisato-risch

Produkt

Pro-zess/Produkt

kalien ersetzt

Transportoptimiemng Prozess

Quelle: Interviews mit Beschaffungsmanagem, Sommer 1998 (Untemehmen 1 bis 6), Sommer 1999 bis Fruhjahr 2000 (Untemehmen 7 bis 30) und Fruhjahr bis Herbst 2004 (Untemehmen 31 bis 34). Der Interviewleitfaden fiir die Pilotphase enthieh diese Frage nicht. Die Beschaffungsmanager der Untemehmen 25 und 30 gewahrten nur ein Telefoninterview, und diese Frage konnte aus Zeitgriin-den nicht gestellt werden. Fiir Untemehmen 5, 25 und 30 existieren daher keine Angaben.

Page 377: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beschaffungsmanagement und okologische Innovation in Zulieferketten 369

4.1 Technologische Innovation

Die haufigste Prozessinnovation (sechsfache Nennung) betrifft die Wieder-verwendung bzw. das Recycling von Verpackungsmaterialien und wird von Untemehmen der Elektro- und Elektronikindustrie, der Textilindustrie und des Maschinenbaus betrieben. Branchenspezifische Unterschiede sind hier auszu-machen, da insbesondere Reifenhersteller wegen des hohen Verschmutzungs-grades ihrer Verpackung diese nicht wiederverwenden konnen. Einzelne Unter-nehmen bestehen auch auf der Verwendung von Verpackungsmaterialien, z. B. Papier oder Holz fur Paletten, aus nachhaltigen Quellen.

Aus Umweltsicht geht die Einfuhrung wiederverwendbarer Verpackungen bzw. Container (sechsfache Nennung) einen deutlichen Schritt weiter. Derartige Initiativen wurden aus der Chemieindustrie, der Elektronik, dem Schiffsbau und der Autoindustrie gemeldet und betrafen meist chemische Produkte. Z. B. ent-wickelte ein Hersteller von Pigmenten und Farbstoffen (Untemehmen 20) in dreijahriger Entwicklungsarbeit mit dem Zulieferer einen solchen wieder-verwendbaren Container. Die MaBnahme ersetzt jahrlich 30.000 Fasser, die bis dahin als Sondermtill zu entsorgen waren. Selbst unter KMU finden sich Bei-spiele fur die Wiederverwendung von Verpackungsmaterialien. Ein Hersteller von Elektromotoren holt seine Verpackung bei einem GroBkunden, an den die Firma 50.000 Motoren jahrlich liefert, bei jeder WarenHeferung wieder ab. Bei eigenen Zulieferem mangelt es allerdings am erforderlichen Volumen, um ein derartiges System zu rechtfertigen.

Innovationen betrafen auch haufig das Ersetzen von Losungsmitteln und lo-sungsmittelhaltigen Farben durch Wasserfarben (fiinffache Nennung). Solche Initiativen fanden sich in der Elektro- und Elektronikindustrie, bei Reifen-herstellem, im Maschinenbau und bei einem Hersteller von Linoleum und PVC-FuBbodenbelagen. Ein Fabrikant von Etiketten und Aufklebem betonte noch bestehende Qualitatsunterschiede zwischen Wasserfarben und solchen auf Lo-sungsmittelbasis besonders beim Drucken auf Plastikoberflachen. Die Firma besteht aber darauf, dass die Zulieferer von losungsmittelhaltigen Farben ihrer-seits in Rtickgewinnungsanlagen fiir Losungsmittel investieren.

Trennung und Recycling von Abprodukten waren ebenfalls haufig zu beo-bachten (vierfache Nennung), geschahen aber meist mit Hilfe extemer Dienstleister. Eine Anzahl von Untemehmen vermeldeten Neuemngen zum Rtickkauf von Produktionsstoffen, wie Elektronikbauteilen und Altmetall, durch die urspninglichen Zulieferer (dreifache Nennung). Eine relativ junge Entwick-lung stellt die Rucknahme des Produktes nach Ende der Nutzungszeit durch den Hersteller dar (dreifache Nennung). Beispiele dazu kommen aus der Elektronik-und Autoindustrie und resultieren aus der EU-Gesetzgebung, wie der Altauto-Richtlinie (2000/53/EG) oder der Richtlinie zur Beschrankung der Verwendung bestimmter gefahrlicher Stoffe in Elektrik- und Elektronikgeraten (2002/95

Page 378: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

370 LutzPreuss

EG). Eine weitere interessante Innovation ist ein regionaler Verwertungsver-bund fur Abprodukte (Schwarz und Strebel, 1999).

Die bei Prozessinnovationen fuhrenden Branchen sind die Chemie-, Auto-und Elektronikindustrie. Hier liegt allerdings eine Uberschneidung mit Unter-nehmensgroBeneffekten vor, da diese Branchen auch durch GroBuntemehmen gekennzeichnet sind. GroBuntemehmen haben zum einen mehr Ressourcen als Mittelstandler, die in den Umweltschutz investiert werden konnen, und sind zum anderen auch groBerem offentHchen Druck ausgesetzt. Einen interessanten Fall stellt die Papierindustrie dar, die sich zwar durch eine konsequente Ver-wendung von Instrumenten des Umweltmanagements auszeichnet - von Zulie-fererfragebogen iiber regelmaBige Audits von Zellstoff- und Chemikalienzulie-ferem bis zur Zertifizierung nach Forest Stewardship Council Standards -gleichzeitig aber wenige Beispiele von Innovationen in den Zulieferketten zeigt.

Produktinnovationen wurden von einem Fiinftel der untersuchten Unter-nehmen gemeldet. So ersetzten Elektronikuntemehmen Schwermetalle (und in einem Fall radioaktive Materialien) in Elektronikkomponenten sowie Chemika-lien in der Leiterplattenherstellung durch umweltfreundlichere Altemativen. Ein Hersteller von Linoleum und PVC-FuBbodenbelagen ersetzte Weichmacher und losungsmittelhaltige Farben, wahrend ein Papierhersteller Recyclingpapier als Rohstoff nutzt. Letzteres wurde allerdings nur in einem Falle und nur ftir ein-zelne Produktlinien beobachtet, da die Hersteller von Qualitatspapier eine Be-eintrachtigung der Produktqualitat beflirchteten. AuBerdem ist die Rentabilitat der Recyclinganlage sehr vom zyklischen Zellstoffpreis auf dem Weltmarkt anhangig. Ein Hersteller von Verpackungsmaschinen strebte eine Verringerung des Farbstoffverbrauchs durch Anderung der Lackierungsfolge an. Die Redu-zierung wird allerdings durch die Einzelfertigung des Untemehmens erschwert, da jeder Kunde seine eigene Farbkombination bestellt. Insgesamt treten die Wirtschaftszweige Elektro- und Elektronikindustrie, Chemie, Maschinenbau und Papierindustrie als die in bezug auf Produktinnovationen aktivsten hervor.

4.2 Organisatorische Innovation

Organisatorische Innovationen sind noch etwas seltener als Produkt­innovationen und wurden nur in einem Sechstel der ausgewahlten Untemehmen beobachtet. Organisatorische Innovationen betreffen in erster Linie die An-wendung neuer Instrumente des Umweltmanagements, z.B. die Einfuhrung eines Umweltaudits fiir Zulieferer durch Papierhersteller oder von Beschaf-fiingsleitlinien ftir eine Reihe von Produkten durch ein petrochemisches Unter-nehmen. Die groBe Mehrheit der Stichprobe, 19 von 34 Untemehmen, ist nach ISO 14001 oder EMAS zertifiziert. Ftir einen Hersteller von Antennen und Kabeln war Dmck von Kunden in der Tat ein wichtiger Gmnd fur die Einftih-mng eines Umweltmanagementsystems und dessen Zertifiziemng. Allerdings

Page 379: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beschaffungsmanagement und okologische Innovation in Zulieferketten 371

ergibt sich hieraus (bislang) kein entsprechender Druck auf Zulieferer, da nur fiir einen der beiden Autohersteller ISO 14001 Zertifiziemng Voraussetzung einer Geschaftsbeziehung ist. Fiir die Beschaffungsmanager der anderen Unter-nehmen ist eine Beschrankung auf zertifizierte Zulieferer im Moment nicht realistisch, da deren Zahl zu gering ist. Gleichzeitig wird aber erwartet, dass -parallel zum Qualitatsstandard ISO 9001 - der Umweltstandard in Zukunft ebenfalls zur Selbstverstandlichkeit werden wird.

Umweltinnovationen werden oft einseitig durch die marktlich starkere Seite, d.h. ohne groBere Kommunikation oder Kooperation gefordert. Ein Hersteller von Etiketten und Aufklebem (Untemehmen 6) erwartet z.B., dass seine Zulie­ferer von losungsmittelhaltigen Farben in eine Ruckgewinnungsanlage fiir Lo-sungsmittel investieren. Ein Hersteller von Papiertaschentiichem (Untemehmen 34) besteht auf Zellstoff aus nachhaltigen Quellen, wahrend ein Elektronik-untemehmen (Untemehmen 17) auf Verpackungsmaterialien aus gleichfalls nachhaltigen Quellen besteht. In alien Fallen legt der Kunde ohne langere Kon-sultation mit dem Zulieferer Kriterien fest, die dieser bei Strafe eines Auftrags-verlustes zu erfuUen hat.

Diese Situation spiegelt die Diskussion in der Beschaffungsliteratur zu den jeweiligen Vorteilen von kooperativer gegeniiber rein marktlicher Beschaffiing wider (Krause et al, 1998; Gadde und Snehota, 2000; Preuss, 2005). Durch Informationsaustausch, Betonung komplementarer Ziele von Zulieferem und Kunden und eine allgemein langerfristige Perspektive gekennzeichnet und oft als Partnerschaft bezeichnet, ist eine derartige Kooperation von Zuliefer-kettenmitgliedem auch aus Umweltschutzperspektive interessant, da gerade die Kurzfristigkeit der Marktlogik fiir eine Verengung des Untemehmensziels auf Gewinnerzielung verantwortlich gemacht wird. Eine auf langerfristige Koopera­tion anlegte Zusammenarbeit von Zulieferer und Kunde konnte also nicht nur beiderseitige Vorteile in bezug auf Produktqualitat, Absatzzahlen oder Markt-anteile bringen, sondem auch einen Rahmen fiir eine angemessenere Beruck-sichtigung der Umwelt bieten.

Unter den Motiven fiir die Einfuhmng von Umweltinnovationen in Zuliefer­ketten nehmen Gesetzgebung und Reguliemng eine fiihrende Stellung ein, ein-schlieBlich der Erwartungshaltung beziiglich zuktinftiger Gesetzgebung (siehe auch Hall und Clark, 2003). Dies wurde besonders bei EU-Richtlinien zu Alt-autos und zum Ersetzen von Schwermetallen in der Elektronik deutlich. Gesetz-liche Vorschriften konnen dabei vom Verbot bestimmter Materialien oder Pro-duktionsprozesse iiber verscharfte Auflagen zur Benutzung bestimmter Materialien bis zur rechtverbindlichen Bereitstellung zusatzlicher Informationen reichen. Fiir global agierende Untemehmen, an deren Konzemzentralen der­artige Bestimmungen (noch) nicht gelten, wie etwa amerikanische Untemeh­men, ergeben sich hier u.U. inteme Koordinationsprobleme, da die Dringlich-keit der in einem Teil der Welt anstehenden gesetzlichen MaBnahmen im

Page 380: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

372 LutzPreuss

Vorfeld eher unterschatzt wird und die Gefahr eines Marktausschlusses drohen kann.

Eine zweite wichtige Motivation fiir Umweltinnovationen ergibt sich aus dem Markt, wenn sich betriebswirtschaftliche Rationalitat und Umweltschutz tiberschneiden. Ein Hersteller von Mobiltelephonen ersetzte z.B. Papp-verpackungen vollstandig durch wiederverwendbare Plastikcontainer - bei immerhin 5.000 Lieferungen taglich. Anlass fur die MaBnahme waren Quali-tatsprobleme, da Verpackungspartikel in die Produktionslinie gerieten und auf-wendige Nacharbeit verursachten. Eine ahnlich gelagerte Motivation sind Imagegriinde. Insbesondere in der Chemie- und Papierindustrie ist das Bewusst-sein um das strapazierte okologische Image des Wirtschaftszweiges eine wichti­ge Motivation, das Potential der ZuHeferer fiir Umweltinnovationen anzuzapfen. In der Stichprobe zeigen sich allerdings auch die Opportunitatskosten von Um­weltschutz deutlich. Der Hersteller von Cashmere-Gam musste wegen widriger wirtschaftlicher Lage zwei Untemehmen der Gruppe schlieBen. „So the envi­ronment, at the moment, might be the furthest thing away from the mind", kommentierte der Beschaffungsmanager die Situation.

5 Schlussfolgerungen

Die Studie von 34 britischen Untemehmen des verarbeitenden Gewerbes zeigte, dass nur eine kleine Anzahl von Untemehmen keinerlei okologische Innova-tionen in ihren Zulieferketten aufweist. Diese Untemehmen sind meist KMU, woraus allerdings nicht abgeleitet werden sollte, dass KMU generell bei Um­weltinnovationen hintenan stehen. Aus der Gesamtmenge der Umwelt­innovationen entfiel die weitaus groBte Anzahl auf Prozessinnovationen. Bei-spiele fur Prozessinnovationen reichen von der Einfuhmng von wieder-verwendbaren Containem fur Chemikalien bis zur Rticknahme von Konsum-gutem nach Ablauf der Nutzungsdauer. Ftir die Stichprobe insgesamt dominier-ten unter Prozessinnovationen allerdings auf Verpackungsmaterialien gerichtete Initiativen, die nur indirekte Auswirkungen auf die okologische Qualitat der gelieferten Materialien und Komponenten haben. Gleichzeitig sind Ver­packungsmaterialien im Vergleich zu den Gesamtausgaben der Beschaffiing eher vemachlassigbar. Da Kostensenkungspotentiale eine wichtige Motivation fur UmweltschutzmaBnahmen sind, diirften derartige Projekte eine vergleichs-weise geringe Chance auf Realisiemng haben.

Unter Produktinnovationen dominierten Initiativen zur Ersetzung von Schwermetallen und Losungsmitteln, die i.d.R. durch Gesetzgebung und Regu-liemng, hier insbesondere durch Richtlinien der EU, zustande kamen. Bei orga-nisatorischen Innovationen, die noch seltener als Produktinnovationen auftraten, fiel auf, dass die Einfuhmng eines Umweltmanagementsystems nicht zu Um­weltinnovationen in der Zulieferkette fuhrte, da die Mehrheit der untersuchten

Page 381: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Beschaffungsmanagement und okologische Innovation in Zulieferketten 373

Untemehmen mit der eigenen Zertifizierung (noch) keine entsprechenden An-forderungen an die Zulieferer verband. In bezug auf organisatorische Innovatio-nen in der Beschaffung ist festzustellen, dass okologische Herausforderungen meist passiv angegangen werden. Hier werden dem Zulieferer Mindest-anforderungen mitgeteilt, sonst erfolgt aber keine weitere Kommunikation wie diese am besten zu erfullen seien. Wie bereits in der Total Quality Management Literatur kritisiert, wird damit in vielen Fallen eine umfassendere Herange-hensweise verhindert. Das okologische Potential des Beschaffungsmanagements bleibt somit auf dreifache Weise - in bezug auf Produkt-, Prozess- und organi­satorische Innovationen - unausgeschopft.

Griinde fur eine derartige Divergenz zwischen dem theoretisch erwartbaren und dem tatsachlichen Beitrag der Beschaffungsfunktion liegen zum Teil in den technologischen Fertigkeiten der gesamten Zulieferkette. Die Bedeutung des Umweltschutzes wird im allgemeinen von Beschaffungsmanagem akzeptiert, gleichzeitig sind allerdings auch Zweifel an der Wirtschaftlichkeit von Umwelt-schutzmaBnahmen zu beobachten (siehe auch Bowen et al., 2001). Die maB-geblichsten Griinde sind jedoch in der reaktiven Ausrichtung der Beschaffungs­funktion und in der relativen Machtverteilung im Untemehmen zu sehen. So verbringen die Beschaffungsmanager der Stichprobe iiber die Halfte ihres Ar-beitstages mit Tatigkeiten kurzfristiger operativer Natur; fiir strategische Auf-gaben bleibt dann entsprechend weniger Zeit.

Beschaffung ist in erster Linie eine Dienstleistungsfiinktion geblieben: je reibungsloser sie funktioniert, desto unsichtbarer ist sie. Trotz gewachsener okonomischer Bedeutung sind Beschaffungsmanager nur selten (in zwei von 34 Untemehmen) im Vorstand vertreten. Ihre spezifischen Erfahmngen flieBen daher nur ungeniigend in die strategische Entscheidungsfmdung des Unter-nehmens ein. Unter dem Dmck einer Vielfalt von Anfordemngen an das Be­schaffungsmanagement verschwinden in dieser Situation Variablen, die nicht explizit zum Aufgabenbereich gehoren - wie hier die Umwelt, aus dem Blick-feld des Beschaffungsmanagers.

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Page 384: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Umwelttechnischer Fortschritt und Innovationsmanagement in China

Jutta Geldermann

1 Einfuhrung

Eine Herausforderung der Umweltpolitik in industriellen Schwellenlandem ist die Harmonisierung der wirtschaftlichen Entwicklung und der Knappheit der Ressourcen mit dem Bevolkerungswachstum (Weltbank, 2002). Neben den bisher drangenden Umweltproblemen (Erosion, Wasserknappheit etc.) tragen dort verstarkt Emissionen (Losemittel, Larm etc.) zur Belastung der Umwelt-medien bei. Dies wird besonders deutlich in der Volksrepublik China, dem bevolkerungsreichsten Land der Erde mit wachsender intemationaler Bedeu-tung. So leiden tiber 60 % der Stadte in China unter Luftverschmutzung und acht von zehn Stadten mit der wehweit hochsten Luftbelastung Hegen in China. Der Hintergrundbericht „Environmental Challenges in China" (ECON, 2002) fur den Weltentwicklungsbericht des Jahres 2003 beschreibt die Herausforde-rurigen fur die Volksrepublik (VR) China als „Balanceakt" zwischen Umwelt­politik und anderen Prioritaten. Bei der raschen Industrialisierung kamen Tech-nologien mit enormen Rohstoff, Energie- und Ressourcenverbrauch ohne Abwasser- und Abgasreinigung zum Einsatz.

Der zehnte Fiin^ahresplan der VR China (2001-2006) fordert nun explizit Energieeffizienz und sparsamen Ressourceneinsatz, den Aufbau einer Umwelt-schutzindustrie, industrielle Wassereinsparung, den Aufbau einer Industrie fur neue und emeuerbare Energien und den Einsatz innovativer Baustoffe. Durch die Vergabe der olympischen Spiele an Peking ftir 2008 und der Weltwirt-schaftsausstellung nach Shanghai im Jahre 2012 sind zwar umfangreiche Infra-strukturmaBnahmen und Umweltprojekte vor allem an der Ostkiiste geplant, aber eine flachendeckende Einfuhrung von Umweltstandards ist wegen der resuhierenden hohen fmanziellen Belastung fflr die Bevolkerung nicht zu erwar-ten. Vielmehr zeichnet sich in Folge des steigenden Bedarfs an Energie, Eisen und Stahl oder Losemitteln u.a. eine zunehmende Verschlechterung der Luft-qualitat ab. Dabei ist auch zu beobachten, dass die Emissionen durch kleine und mittlere Untemehmen zum Teil ansteigen, wahrend sie bei GroBuntemehmen in den 1990er Jahren sanken (ECON, 2002).

Vor allem die Problematik des bodennahen Ozons wird in den kommenden Jahren zu einem schwerwiegenden Problem, das sich zusatzlich durch den wachsenden Fahrzeugbestand in China verscharft. Der Anstieg der VOC-

Page 385: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

378 Jutta Geldermann

Emissionen (VOC = volatile organic compounds, dt.: fliichtige organische Ver-bindungen) aus stationaren Anlagen ist hauptsachlich auf zwei Grunde zurtick-zufiihren: Zum einen ist die Kontrolle und Minderung der VOC-Emissionen wegen der inharenten Eigenschaften der Quellen schwierig. Besonders kleine Untemehmen als Emittenten haben damit die Problematik aus den Ballungs-zentren auch in bisher unbelastete Gebiete getragen. Zum anderen sind Losun-gen nach europaischem Stand der Technik aus Kostengrlinden oft nicht einsetz-bar: Zwar haben exportierende Privatbetriebe etwas hohere Gewinnmargen, aber vor allem die staatlichen Betriebe konnen auf dem Binnenmarkt die Mehr-kosten fur fortschrittlichere Technologien oder Einsatzstoffe (z.B. Lacke, Farb-oder Klebstoffe) nicht erwirtschaften.

EmissionsminderungsmaBnahmen nach dem deutschen bzw. europaischen Stand der Technik konnen derzeit in China kaum von Seiten des Staates durch-gesetzt werden.^ Eine Verteuerung der Ressourcen (Wasser, Diinger, Pflanzen-schutzmittel, Kohle, Benzin etc.) wixrde aufgrund der geringen Kaufkraft des GroBteils der Bevolkerung soziale Probleme nach sich ziehen. Wie auch Erfah-rungen aus Europa zeigen, sind nachhaltige Emissionsminderungen am wirk-samsten durch wirtschaftliche Anreize zu erreichen.

Damit der technische Fortschritt in chinesischen Untemehmen umgesetzt wird, sind geeignete Losungsansatze zur Verbesserung der Ressourceneffizienz industrieller Aktivitaten notwendig. Dazu wird in diesem Beitrag zunachst auf den betrieblichen Umweltschutz in China eingegangen. AnschlieBend wird die Bedeutung des technischen Fortschritts und des Innovationsmanagements flir den Umweltschutz unter besonderer Beriicksichtigung der Entscheidungsfm-dung in chinesischen Untemehmen herausgearbeitet. AnschlieBend wird mit MOP A (Multi Objective Pinch Analysis) ein Ansatz far ein integriertes Pro-zessdesign vorgestellt, der die Auswahl geeigneter UmweltschutzmaBnahmen unterstiitzt.

2 Umweltschutz in China

Der zunehmende Einsatz fossiler Brennstoffe sowie der Einsatz bestimmter Chemikalien sind neben der Steigemng der industriellen Produktion die groBten Probleme der Luftverschmutzung in China (WHO, 2000). Der Einsatz von Mindemngstechniken fiir Massenschadstoffe (CO2, NOx, SO2) konnte durch Technologietransfer in den letzten Jahren gesteigert werden. Die Reduziemng von Losemittelemissionen, die wesentlich zu den VOC-Emissionen beitragen und ein Problem in urbanen wie auch in landlichen Gebieten darstellen, ist hin-gegen bisher nahezu unbenicksichtigt geblieben. In China sind z.B. mehr als 5,3

Environment China - A Bridge linking Europe and China, http://www.envirochina.de/ (Zugriff: 9.12.2005)

Page 386: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Umwelttechnischer Fortschritt und Innovationsmanagement in China 379

Millionen Hektar Anbauflache durch bodennahes Ozon beeintrachtigt. Dadurch liegt die Produktion einiger landwirtschaftlicher Erzeugnisse deutlich unter dem eigentlichen Potenzial (ECON, 2002).

Neben der Luftverschmutzung spielt die Bereitstellung von Frischwasser und damit die Kontrolle der Wassergtite eine wichtige Rolle fur Aktivitaten des Umweltschutzes in Schwellenlandem (UNEP, 2004). Anforderungen der Ge-sundheitsvorsorge der Bevolkerung miissen ebenso erfullt werden wie die in-dustrieller Tatigkeiten. Zusatzlich miissen regionale Unterschiede bei der Was-serversorgung zwischen den westlichen Gebieten und den Kustenregionen Chinas berticksichtigt werden.

Der Energieverbrauch stellt die dritte groBe Herausforderung dar. Effizienz-steigerung sowie ein vermehrter Einsatz emeuerbarer Energiequellen sind not-wendig, um die steigende Nachfrage nach Energie nachhaltig befriedigen zu konnen. Auch die Versorgungsstrukturen sind zu tiberpriifen. Aufgrund einer starken Regulierung des Energiemarktes liegen die Energiepreise in China deut-Hch unter den eigentlichen Marktpreisen, so dass Anreize zum Energiesparen bislang fehlen.

Der grundsatzliche Losungsansatz der chinesischen Regierung zur Verbes-serung des Umweltschutzes besteht deshalb darin, die Industrielandschaft nach­haltig und zukunftsfahig umzustrukturieren. Wichtige Bestandteile der neuen Industriepolitik sind die saubere Produktion („Cleaner Production"), technolo-gische Innovation und technologischer Umbau sowie die Ausmusterung riick-standiger Technologien. Insbesondere die wissenschaftliche und technische ErschlieBung des Umweltschutzbereiches soil verstarkt und die Einfuhrung von Umweltmanagementsystemen nach ISO 14001 gefordert werden (ZHENG).

2.1 Betrieblicher Umweltschutz

Dem intemationalen Vorbild entsprechend hat China eine Organisationsstruktur im Umweltschutz geschaffen (Betke, 2003, S.774). Umweltschutz konsequent durchgefuhrt bedeutet oft auch die SchlieBung von Betrieben (vom Staatsbetrieb bis zum KMU (kleinen und mittleren Untemehmen). Zwar konnten solche Still-legungen eine okonomische und soziale Destabilisierung auslosen, doch ande-rerseits sind ohne sofortige zusatzliche UmweltschutzmaBnahmen die Modemi-sierungsziele und die Gesundheit der Bevolkerung gefahrdet (Betke, 2003, S.775).

Die Umsetzung von umweltpolitischen Innovationen unterscheidet sich in den verschiedenen Untemehmenstypen. So verfiigen groBe und mittelgroBe chinesische Staatsunternehmen gegenwartig iiber eine groBe Verwaltungsorga-nisation, deren Funktionseinheiten gemaB den verschiedenen Abteilungen in den zustandigen Behorden angeordnet sind. Gibt es z.B. in der Behorde eine

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380 Jutta Geldermann

Umweltschutzabteilung, muss eine entsprechende Abteilung ftir Umweltschutz im Staatsuntemehmen eingerichtet werden (Xu, 2000, S.146).

Eine chinesische Besonderheit sind die Kollektivuntemehmen TVE („Township and Village Enterprises"), die seit den 1980er Jahren vor allem in den landlichen Bereichen die Industrialisierung vorangetrieben und zur Stabili-sierung der Wirtschaftsentwicklung beigetragen haben. Sie entwickelten sich sowohl als kollektive Gemeinschaftsuntemehmen unter einer motivierten Lo-kalverwaltung als auch als „quasi-private" Untemehmen (Schlotthauer, 2003).

Allgemein anerkannt ist die groBe Bedeutung der Entwicklung kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) fur die wirtschaftliche Entwicklung eines Lan-des (OECD, 1999). Aufgrund ihrer flexiblen Organisationsstruktur konnen KMU tendenziell Vorteile gegenuber etablierten GroBuntemehmen bei der Entwicklung marktfahiger, innovativer Produkte - insbesondere auch in Markt-nischen - realisieren (vgl. etwa (Mugler, 1998)). In China (ebenso wie in ande-ren Transformationslandem) ist zwischen KMU zu unterscheiden, die aus einer „kleinen Privatisierung" hervorgegangen sind, und den Neugrundungen. Vor allem letztere sind als neue Akteure eher in der Lage, neue Produkte zu entwi-ckeln, wahrend die ehemaligen Staatsuntemehmen bislang lediglich eine forma-le Umstrukturierung durchlaufen haben (Schlotthauer, 2003, S.124). Durch den Zusammenschluss in Industrieparks bieten sich auch flir KMU grundsatzlich Moglichkeiten, GroBendegressionseffekte zu nutzen.

2.2 Industrieparks

Seit den achtziger Jahren werden in China zunehmend Industrieparks geplant und ausgebaut, um die bestehenden Industriestrukturen der aktuellen Wirt-schaftsdynamik anzupassen. Dabei werden vor allem KMU in bestimmten Stadtgebieten angesiedelt (Wang und Lu, 1993, China SEPA, 1998, Bao et al. 2005). Seit 2003 regelt das „Accelerating Small and Medium Enterprise Deve­lopment Law of PRC" die Entwicklung der rund 2,6 Millionen KMU, die 99,6 % der Untemehmen entsprechen und damit einen wichtigen Beitrag zur Beschaftigung und zur Nachfragedeckung leisten. Ebenfalls seit 2003 ist das „Cleaner Production Promotion Law" in Kraft, das Chinas Strategic fur eine nachhaltige Entwicklung umsetzen soil.

Eine besondere Herausfordemng ist das Umweltmanagement in den Indust­rieparks. Wahrend in europaischen Industrieparks das bedeutendste Untemeh­men (z.B. ein Automobilhersteller) als fokales Untemehmen fungiert und die Kooperation mit seinen Zulieferem dominiert (Tietze-Stockinger, 2005), sind in chinesischen Industrieparks eher gleichartige KMU zu fmden, wie beispielswei-se sechzig Fahrradlackierer im Ludu-Industriepark im Norden Shanghais (Bao et al. 2005, S.12). Durch die Unabhangigkeit der Untemehmen wird die Einfiih-mng von UmweltschutzmaBnahmen erschwert, weil die kritische Menge der

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Umwelttechnischer Fortschritt und Innovationsmanagement in China 381

wiederzuverwertenden Kuppelprodukte in den einzelnen Untemehmen nicht erreicht wird. Erst in einer Zusammenarbeit zwischen mehreren KMU konnen fortschrittliche Technologien zur Einsparung von Ressourcen, insbesondere Energie und Wasser, sowie RecyclingmaBnahmen effizient eingesetzt werden. Dazu fehlt jedoch ein geeigneter Informationsaustausch einerseits zwischen einzelnen Untemehmen und andererseits mit der zentralen Verwaltung des Industrieparks.

3 Technischer Fortschritt und Umweltschutz

In China tragt der technische Fortschritt derzeit vor allem zum Wirtschafts-wachstum bei. Zugleich ist eine Verbesserung der Umweltsituation durch Inno-vationen notwendig und erstrebenswert. Der technische Fortschritt wird in der Literatur als Neuerungsprozess beschrieben, der sich bekanntermaBen in die drei Phasen Invention, Innovation und Diffusion unterteilen lasst (Pleschak und Sabisch, 1996). Der Begriff Innovation wird haufig auf technische Neuerungen reduziert und meint dann die erstmalige wirtschaftliche Verwendung von neuen Ideen und neuem Wissen. Ohne Produkt- und Prozessinnovationen werden Untemehmen nicht in der Lage sein, neue Anfordemngen durch veranderte wirtschaftliche Bedingungen erfolgreich zu bewaltigen (Gemiinden et al. 1992, S.48).

Gesellschaftliche Verandemngen werden auch als Beweggmnd fiir betrieb-liche Innovationen genannt, die zu neuen Wertekomplexen und Zielvorstellun-gen fiihren, wie sie beispielsweise im Leitbild der nachhaltigen Entwicklung formuliert werden. In China ist hier ein langsamer Wandel zu beobachten, bei dem die Beteiligung der Offentlichkeit am Umweltschutz bisher erst mdimentar entwickelt ist (Betke, 2003, 8.774).^

In der Praxis bedingen und erganzen sich oft Produktinnovationen (z.B. die Einfuhmng losemittelreduzierter und damit umweltfreundlicherer Lacke) und Prozessinnovationen (z.B. neue Lackauftragsverfahren) (vgl. auch den Beitrag von L. Preuss). Dennoch wird Prozessinnovationen eine steigende Bedeutung eingeraumt. Sie umfassen Verandemngen bzw. Neugestaltungen der materiellen und informationellen Prozesse mit den Zielen von Produktivitatssteigemng, Kostensenkung (z.B. Rohstoff- und Energieeinspamng), Verbessemng der Produktqualitat, Erhohung der Sicherheit (von Umweltschutz bis zur Arbeitssi-

Seit der Griindung der „Naturfreunde" im Jahre 1993 ist die Zahl nationaler wie lokaler Nicht-regierungsorganisationen im Umweltschutz gewachsen. Sie unterliegen jedoch noch strenger staatlicher Kontrolle, um die Bildung autonomer umweltpolitischer Interessensvertretungen zu verhindem. Wie alle bisherigen umweltpolitischen Erfolgsfalle zeigen, kann Umweltschutz je­doch auch in China nur wirksam werden, wenn er in der Gesellschaft verankert ist (Betke, 2003, S.774).

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382 Jutta Geldermann

cherheit) und vor allem auch die Vermeidung von Umweltschaden (Corsten, 1989, Pleschakund Sabisch, 1996, Strebel, 2003).

Zur Umsetzung von Innovationsprozessen werden ganzheitliche, untemeh-mensbezogene Vorgehensweisen gefordert, um systematisch Varianten zu gene-rieren und zu bewerten sowie unterschiedlich detaillierte und aggregierte Aus-sagen zur Wirtschaftlichkeit der Prozessinnovationen in Abhangigkeit von der Entscheidungssituation zu formulieren (Gemiinden et al. 1992). Im folgenden Abschnitt wird zunachst auf die Entscheidungsfindung im Innovationsmanage-ment eingegangen, bevor anschlieBend ein Konzept zur systematischen Analyse von Optionen zur Ressourceneffizienz und Emissionsminderung vorgestellt wird.

4 EntscheidungsHndung im Innovationsmanagement

In der Literatur lassen sich zahlreiche Phasenmodelle finden, die den Ablauf von Entscheidungen im Innovationsmanagement von der Ideengenerierung bis zu ihrer Implementierung systematisieren (vgl. etwa (Hauschildt, 1997), S.350ff.). Damit soil erreicht werden, dass Innovationsprozesse zielorientiert ablaufen, Problemlosungen schneller gefunden und effizient bearbeitet sowie die einzelnen Innovationsprozesse geeignet aufeinander abgestimmt werden. Ganz allgemein sollen Chancen im Innovationsprozess wahrgenommen und Risiken reduziert bzw. vermieden werden (Corsten, 1989). Weil Innovationen im betrieblichen Alltag oft auf Widerstande stoBen, wird nach (Hauschildt und Gemunden, 1998) der Grundsatz des Promotoren-Modells^ nach (Witte, 1973, S.17ff) auch in Zukunft seine Giiltigkeit behalten.

Die Entscheidungsfindung im Innovationsmanagement in China ist jedoch durch zahlreiche Besonderheiten gekennzeichnet, die in der wissenschaftlichen Literatur bislang wenig beleuchtet wurden. So sind an der Umsetzung von In­novationen in China gegenwartig noch zahlreiche untemehmensexteme Ent-scheidungstrager beteiligt. Das generelle Ziel der chinesischen Technologiepoli-tik ist der Aufbau eines staatlichen Innovationssystems zur Forderung des Technologietransfers und der Diffusion der Ergebnisse von Forschung und Entwicklung (F&E) und Innovation (Xu, 2000, S.93). GemaB des entsprechen-den Planungs- und Genehmigungsrechts treffen Ministerien und lokal zustandi-ge Behorden die Entscheidung iiber mittelgroBe Innovationsprozesse der

Zur Arbeitsteilung bei der Umsetzung von Innovationsprozessen und zur Uberwindung von Widerstanden stellt (Witte, 1973, S. 17ff) das Promotoren-Modellvox. Der Machtpromotor ver-fiigt iiber Ressourcen fur das Innovationsvorhaben und die Macht, um die Innovation zu ver-wirklichen. Der Fachpromotor hat fachspezifisches Wissen und ist an alien Phasen des Innova-tionsprozesses beteiligt, um fachliche Probleme zu losen. Der Prozesspromotor ist der Organisator und iibemimmt die Aufgabe der Verbindung zwischen dem Fach- und dem Macht­promotor.

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Umwelttechnischer Fortschritt und Innovationsmanagement in China . 383

Staatsuntemehmen. Zudem sind verschiedene Beratungsinstanzen und exteme Behorden an der Entscheidungsfmdung beteiligt.

Das gegenwartige Entscheidungs- und Ftihrungssystem der Untemehmen beruht traditionell auf den zentralen chinesischen Werten Familie, Harmonie, Gesicht und Weg der Mitte (Xu, 2000, S.232). AuBerdem sind „Guanxi", die als „Beziehungen" tibersetzt werden und gegenseitige Verpflichtungen zwischen Individuen bezeichnen, bei der Organisation von Innovationsprozessen wichtig (Xu, 2000, S.115). Diese personlichen Beziehungen haben in den ersten Re-formphasen Chinas sicherlich erfolgreich dazu beigetragen, institutionelle Man­gel zu beheben und Konflikte zu vermeiden. (Badelt, 2005, S.370) spricht von einer hartnackigen Verflechtung von Politik und Wirtschaft, als wichtigem Bestimmungsfaktor fiir ein „ausgesprochen gemaBigtes Tempo des Transforma-tionsprozesses und der Aufrechterhaltung der alten politischen Ordnung", wo-bei kulturelle Faktoren verstarkend wirken. Inzwischen steigt jedoch im Rah-men einer weltweiten Zusammenarbeit die Notwendigkeit, formale Regeln fiir die Entscheidungsfmdung zu fixieren (Schlotthauer, 2003, S.72). Bislang ist jedenfalls die Ubertragung der westlichen Erkenntnisse zum Innovationsmana­gement auf chinesische Betriebe schwierig. Allerdings ware es interessant zu untersuchen, ob etwa durch die Guanxi eine stabilere Zusammenarbeit in chine­sischen Industriepark gefordert wird.

5 Multi Objective Pinch Analysis (MOPA) als Phasenmodell zur Realisierung von Prozessinnovationen

Angesichts der zahlreichen Besonderheiten des Innovationsmanagements und insbesondere der Entscheidungsfmdung in chinesischen Betrieben werden zu-nachst Ansatze benotigt, die eine technik-orientierte Beurteilung der Einfiihrung von UmweltschutzmaBnahmen ermoglichen. Um den zahlreichen Umweltprob-lemen in China Rechnung zu tragen, sollten die vorgestellten Ansatze gleichzei-tig Warme-, Wasser- und Massenstrome beriicksichtigen konnen. Solche Ansat­ze werden in der Verfahrenstechnik unter dem Begriff der Prozessintegration entwickelt (Dunn und Bush, 2001, Linnhoff, 2002, Hamad et al. 2003). Beson-ders erfolgreich sind dabei die Ansatze der Pinch-Analyse fiir Energie-, Wasser-und VOC-Strome, die jedoch bislang nur fiir einzelne Energie- und Stoffstrome in chemischen GroBanlagen eingesetzt werden.

Fiir die Reduzierung von VOC-Emissionen, die haufig von kleinen und mitt-leren Untemehmen freigesetzt werden, ist jedoch eine betriebsiibergreifende Anlagenoptimierung notwendig, um ausreichende Stoffmengen zur Wiederge-winnung zur Verfiigung zu haben. Gleichzeitig treten neben die urspriingliche ZielgroBe der VOC-Wiedergewinnung zusatzlich die Energieeinsatzoptimie-rung und die Abwasservermeidung. Eine solche integrierte Anlagenplanung und -optimierung mit mehreren Recyclingkaskaden flihrt in der Regel zu einem

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384 Jutta Geldermann

multikriteriellen Prozessdesignproblem. Ein systematisches Vorgehen fiir eine integrierte Anlagenplanung auf der Grundlage der Pinch-Analyse bietet das Konzept MOPA (Multi Objective Pinch Analysis), vgl. Abbildung 43 sowie (Geldermann et al. 2006). Im Folgenden wird das MOPA-Konzept vorgestellt und anschlieBend die Anwendung auf eine Fallstudie aus der Fahrradlackierung skizziert.

Nach der Erstellung eines Prozessmodells auf Grundlage einer eingehenden Prozessanalyse der technischen Verfahren, charakteristischen Prozessdaten und Prozessanforderungen (Modul 1) wird ein Techriikiiberblick auf Grundlage der Besten Verfiigharen Techniken erstellt, um die in Frage kommenden Technolo-gien und innovative Technologien (engl. emerging technologies) mit ihren spe-zifischen Prozesscharakteristika zu erfassen (Modul 2, (Rentz et al. 2003)). Ftir die nachfolgende Evaluierung und Optimierung werden Kennzahlen gebildet, die die technischen, okonomischen und okologischen Auswirkungen beschrei-ben (Modul 3).

Durch Einsatz von Methoden der Prozessoptimierung werden theoretisch minimale Verbrauchswerte (z.B. minimaler Warmebedarf) mit Hilfe der Pinch-Analyse berechnet (Modul 4). Die Grundidee der Pinch-Analyse besteht in der Ermittlung der minimal notwendigen Einsatzstoffe (z.B. Energie, Wasser oder Losemittel) der Prozessschritte eines betrachteten Stoffstromnetzes (z.B. Lack-anwendung) (Linnhoff und Turner, 1981). Ausgehend von der Optimierung von Warmeiibertragemetzwerken (Kobayashi et al. 1971, Linnhoff und Flower, 1978) wurde die Pinch-Analyse in den letzten Jahren auf die Losemittelwieder-gewinnung (Dunn und El-Halwagi, 1994, Zhelev und Semkov, 2004) und auf die Wassereinsatzoptimierung (Wang und Smith, 1994, Alva-Argaez et al. 1998) erweitert. Durch Beriicksichtigung von Kostenaspekten konnen mit Hilfe der Pinch-Analyse okonomische Fragestellungen bearbeitet werden (Linnhoff, 2004). Das Pinch-Problem lasst sich graphisch losen oder in ein Transportprob-lem im Sinne des Operations Research iiberfiihren und mittels linearer Pro-grammierung losen (Cerda et al. 1983, Geldermann et al. 2006). Einige Flows-heeting-Programme (wie. etwa Aspen Plus) bieten bereits Algorithmen fiir die Pinch-Analyse und Datenbanken mit den unterschiedlichsten Warmeiibertragem an.

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Umwelttechnischer Fortschritt und Innovationsmanagement in China 385

^ ^ Eingangsdaten •

• Prozessdaten (Temperatur, Druck, Reaktionen etc.)

•Stoff- und Energiestromdaten • Hilfsprozesse

• BVT Katalog • Neue fortschrittliche Technologien

• okonomische Daten • landerspezifische Daten • Stoffeigenschaften

'MOPASchritte" Umsetzung

•Methoden der Mehrziel -entscheidungsunterstijtzung

• Praferenzen der Entscheider • Metrik der Ressourceneffizienz '

•Preise, Rahmenbedingungen fijr Investitionen

• Instrumente der Aniagenplanung

•Zielgroflen fur jede Ressource

ft fE

Prozessanalyse

Technologieerfassung

Kennzahlen

Optimierung

Mehrziel-Analyse

Prozessdesign

Implementierung

X Prozessveranderungen:

neue Iteration

Ahbildung 43: Konzeptubersicht der Multi Objective Pinch Analysis (MOPA)

Zur Anwendung der Pinch-Analyse fur die Identifizierung von betriebstibergrei-fenden Losungen zur ressourceneffizienten und umweltschonenden Produktion wird folgendes Vorgehen vorgeschlagen:

1. Durchfuhrung der Pinch-Analyse fiir die optimale Verschaltung von War-mestromen mittels Warmeubertragem.

2. Durchfuhrung der VOC-Pinch-Analyse fiir entsorgungs- oder abfallrelevan-te Stoffstrome, zur Minimierung des Materialeinsatzes und Abfallaufkom-mens.

3. Durchfuhrung der Wasser-Pinch-Analyse fiir die Abwasserseite. 4. Wenn keine LFberschneidungen durch die Pinch-Analysen im Prozessdesign

auftreten, konnen alle identifizierten Recycling-Kaskaden gleichzeitig reali-siert werden, sofem die notwendigen Investitionen in einem sinnvollen Verhaltnis zu den erzielbaren Einsparungen stehen.

5. Bei Uberschneidungen und widerspriichlichen Recycling-Kaskaden ist ein Mehrzielentscheidungsmodell anzuwenden, um ein Prozessdesign als Kompromiss zu identifizieren.

Die berechneten minimalen Verbrauchswerte, die mittels der Pinch-Analysen bestimmt wurden, konnen durch weitere Prozesskriterien (z.B. benotigte Inves­titionen, optische Qualitat etc.) erganzt werden (Modul 5). Fiir die Berucksich-

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386 Jutta Geldermann

tigung okologischer, okonomischer und technischer Kriterien in der Bewertung ist der Einsatz von Methoden der Mehrzielentscheidungsunterstiitzung erforder-lich. Die Ermittlung von Nutzenwerte und/oder einer Rangfolge der untersuch-ten technischen Optionen bildet die Grundlage fur das nachfolgende Prozess-design (Modul 6, zur Mehrzielentscheidungsunterstutzung vgl. auch (Geldermann und Rentz, 2001, Belton und Stewart, 2002, Figueira et al. 2005)). Die implementierten Technologien und ihre prozessspezifische Anpassung bestimmen letztlich die realisierten Einsparpotenziale (Modul 7). Durch Ande-rungen der Anlagenkonfiguration (z.B. veranderte Temperaturintervalle, unter-schiedliche Prozessstrome) wird ein emeutes Anwenden aller Module in einer neuen Iteration notig.

Im Folgenden wird der Einsatz der Pinch-Analyse ftir die Lackierung von Fahrradem kurz dargestellt, bevor auf die Moglichkeiten einer betriebsiibergrei-fenden Anwendung eingegangen wird.

5.1 Fallbeispiel: Fahrradlackierung

Im untersuchten Modellbetrieb werden 200 Fahrrader pro Tag produziert. Tag-lich wird die Lackieranlage fiir fiinf Stunden betrieben (vgl. Abbildung 44). Im Ausgangsszenario das Abgas nicht gereinigt, und die vier Trocknungsofen nicht miteinander verbunden, d.h. die Abwarme wird nicht zum Vorheizen genutzt. Zum Vergleich wird ein Szenario untersucht, in dem die Trocknungsofen ver­bunden sind und das Abgas auf 40°C gekiihlt wird. Wahrend das Ausgangssze­nario einen Heizbedarf von rund 5.000 MJ/h hat, weist das Vergleichsszenario einen theoretischen Heizbedarf von rund 367 MJ/h im thermodynamischen Optimum auf Die Berechnungen wurden mit der OptmizationToolbox in MATLAB" durchgeflihrt und sind in (Geldermann et al. 2005a, Geldermann et al. 2006) ausfiihrlich beschrieben.

MATLAB ist eine hochentwickelte Sprache fur technische Berechnungen und eine interaktive Umgebung fur die Algorithmenentwicklung, die Visualisierung und Analyse von Daten sowie fiir numerische Berechnungen.

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Umwelttechnischer Fortschritt und Innovationsmanagement in China 387

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J 1 / i » Luftdurchfluss « LOsemittel [kg/h] Parameter [m^/h] und Typ siehe 8 LOsemittelgehalt » Feststoffe [kg/h] Trocknungs-

[nrig/m ] und ihre Stoff- ofen 1 « Eingangs- und eigenschaften

Ausgangs- «Oberflache temperatur [°C] [m^/Rahmen]

IS Erforderliche « Lackschlamme [kg/h] Trocknungs- « Schichtdicke [|jm] temperatur ["C] ^ Wasserverbrauch und -zeit [min] [^^/h]

« aktueller Energie- ^ Anforderungen verbrauch [kWh/h] wassergijte (ink!.

Eingangs- und Ausgangsparameter

• i i y i B T ^ ^ ^ ^ ^ i i y i V a i l \

Etikettieren/Einspeichen/Endmontag^ Verpackun(

/ / 7 ,

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* / 1

Parameter siehe Grundierung

) 1

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f ofen 3 k

/ Parameter siehe Trocknungs-ofen 1

ffl ^ \ Klarlack

' -Parameter siehe Grundierung

^ V vTrocknungsX

/ ofen 4 /

/ Parameter siehe Trocknungs-ofen 1

Ahbildung 44: Daten zur Fallstudie Fahrradlackierung

Theoretisch konnten also durch die Umsetzung der identifizierten Prozessver-schaltungen und der Anwendung der Pinch-Analyse 93 % des Energieeinsatzes eingespart werden. Bei einem Gaspreis von 4,1 Cent/kWh wtirden sich die Ein-sparungen auf rund 50.000 €/a belaufen. Entscheidend fiir die Realisierung der mit der Pinch-Analyse ermittelten Energieeinsparungen sind die Auswahl und Implementierung geeigneter Warmeubertrager unter Berticksichtigung z.B. der korrosiven Eigenschaften der abzukuhlenden Abluft bei hohen Konzentrationen bestimmter VOC. Femer ist zu beachten, dass die Investitionen in Warme-iibertrager sich nicht nur in Abhangigkeit des eingesetzten Materials (z.B. Edel-stahl Oder Sonderwerkstoffe wie Hastelloy oder Titan), sondem auch je nach Geometrie (Rohrbiindel-Warmeubertrager oder Wendel-Doppelrohr-Apparate sowie unterschiedliche Ausfuhrungen der Flansche) und der GroBe der Warme-iibertragungsflache erheblich unterscheiden konnen. Zudem sind bei der Be-rechnung der wirtschaftlichsten Auslegung eines Warmeiibertragers die Exer-gieverluste des Apparates zu berticksichtigen (Gregorig, 1973). Ein wesentlicher Schritt bei der Umsetzung des MOPA-Konzepts besteht deninach in der Identifizierung kosteneffizienter Zwischenschritte (z.B. Warmetauscher, Pufferbehalter oder MaBnahmen zur Veranderung der Zusammensetzung von Stoffstromen).

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388 Jutta Geldermann

5.2 Betriebsubergreifende Ansdtze

Bei der integrierten Anlagenplanung mit Hilfe der Pinch-Analyse sind signifi-kante Energie- und Ressourceneinsparpotenziale zu erwarten, falls entsprechen-de Randbedingungen erfullt sind (z.B. kurze Entfemungen zwischen Anlagen Oder die Moglichkeit der Zwischenspeicherung der entsprechenden Stoff- und Energiestrome). Abbildung 45 zeigt denkbare Prozessverkniipfungen, die mit Hilfe des MOPA-Konzepts systematisch untersucht werden konnten. Im Rah-men eines Forschungsprojekts werden dazu in Fallstudien Prozessmodelle er-stellt, die eine Analyse von Prozessveranderungen und Ermittlung des Einspar-potenzials auf Grundlage von Messungen, Simulationen und Planungsunterlagen erlauben. Diese exemplarischen Prozessmodelle, bei-spielsweise der Fahrradherstellung und -lackierung, Alkohol- oder Farbenher-stellung, dienen dariiber hinaus dazu, mogliche Oberschneidungen von Recyc-lingkaskaden zu identifizieren (Geldermann et al. 2006).

Durch die Kombination von Prozessstromen auf betriebsubergreifender E-bene kann beispielsweise die Qualitat der Stoffstrome flir einen bestimmten Verwendungszweck verbessert werden (z.B. hohere Losemittelkonzentratio-nen). Neue technische Optionen konnen durch veranderte Kapazitaten aufgrund von GroBendegressionseffekten berticksichtigt werden und werden okonomisch oder okologisch sinnvoll (z.B. durch die bereits erwahnte gemeinsame Betrach-tung von sechzig Betrieben zur Fahrradlackierung im chinesischen Industrie-park Ludu (Bao et al. 2005)). AUerdings konnen organisatorische und fmanziel-le Aspekte (z.B. Transaktionskosten), die einer betriebsiibergreifenden Zusammenarbeit Grenzen setzen (Fichtner et al. 2004, Tietze-Stockinger, 2005), mit diesen Methoden nicht untersucht werden. Dennoch stellt die Ermittlung der theoretisch optimalen Ressourceneinsparungen eine wichtige Planungsgrundla-ge dar, um etwa den prozesstechnisch bedingten Verhandlungsspielraum zu ermitteln. Wenn bereits die Investition fiir die zusatzlichen Prozesseinheiten die durch die Realisierung der rechnerisch ermittelten Ressourceneinsparungen im Planungshorizont iibersteigen, ist eine iiberbetriebliche Zusammenarbeit nicht sinnvoll. AuBerdem kann das MOPA-Konzept die Aufgabe des Fachpromotors unterstiitzen, indem die Untersuchung der iiberbetrieblichen Zusammenarbeit auf die technischen Aspekte konzentriert wird und eine systematische Uberpru-fung aller moglichen Prozessverschaltungen erlaubt.

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Umwelttechnischer Fortschritt und Innovationsmanagement in China 389

Frisch -wasser

Input Zwischenschritte

Reduktion von: Abwasser Abwarme VOC-haltiger Abluft Abfallen / Reststoffen

i

Output

Abbildung 45: Modifikation eines Produktionssystems durch integriertes Prozessdesign

6 Zusammenfassung und Ausblick

Am Beispiel des betrieblichen Umweltschutzes in China wird in diesem Beitrag die Entscheidungsfindung bei der Umsetzung des technischen Fortschritts un-tersucht. Neben dem zunehmenden Einsatz fossiler Brennstoffe sowie bestimm-ter Chemikalien ist die Luftverschmutzung eines der groBten Umweltprobleme in China. Neben den Staatsuntemehmen sind vor allem auch die kleinen und mittleren Untemehmen gefordert, ihre Ressourceneffizienz zu steigem. Dazu ist die Einfuhrung von technisch fortschrittlichen Produktionsverfahren notwendig. Dies bietet sich insbesondere in den zahlreichen Industrieparks und den TVE (Township and Village Enteq^rises) an, die seit den achtziger Jahren auBerhalb der Stadtzentren geplant und ausgebaut werden. Dank der raumlichen Nahe sind eine enge Zusammenarbeit und der effiziente Einsatz von fortschrittlichen Technologien zur Einsparung von Ressourcen, insbesondere Energie und Was­ser, sowie RecyclingmaCnahmen auch fur KMU moglich.

Angesichts der zahlreichen Besonderheiten des Innovationsmanagements und insbesondere der Entscheidungsfindung in chinesischen Untemehmen wer­den zunachst Ansatze benotigt, die zunachst eine rein technik-orientierte Beur-teilung der Einfuhrung von UmweltschutzmaBnahmen ermoglichen. Um den zahlreichen Umweltproblemen in China Rechnung zu tragen, soUten die vorge-stellten Ansatze gleichzeitig Warme-, Wasser- und Massenstrome berticksichti-gen konnen. Solche Ansatze werden in der Verfahrenstechnik unter dem Begriff der Prozessintegration entwickelt. Um diese Ansatze auf die Belange von KMU zu iibertragen, wird als systematisches Vorgehen fiir eine integrierte Anlagen-planung auf der Grundlage der Pinch-Analyse das Konzept MOPA (Multi Ob-

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jective Pinch Analysis) vorgeschlagen. Durch die iterative Anwendung der Pinch-Analyse auf unterschiedliche Ressourcen werden jeweils Zielwerte iden-tifiziert. Im nachsten Schritt werden diese unterschiedlichen Zielwerte in einer Gesamtlosung zusammengefasst. Dazu kann eine techno-okonomische Bewer-tung der unterschiedlichen technischen Optionen durchgefuhrt werden, die auBer den identifizierten theoretisch minimalen Verbrauchswerten der betrach-teten Eingangsstoffe weitere quantitative (z.B. benotigte Investitionen, CO2 Emissionswerte etc.) und qualitative Kriterien (optische Qualitatsanforderun-gen, Zukunftsfahigkeit etc.) beriicksichtigt. Methoden der Mehrzielentschei-dungsunterstiitzung sind dafur bekanntermafien geeignet.

Die Ubertragung des vorgestellten Ansatzes auf Industrieparks in anderen Landem erscheint grundsatzlich moglich, soweit die notwendigen technischen Voraussetzungen wie raumliche Nahe der zu verschaltenden Produktionspro-zesse gegeben sind.

7 Danksagung

Diese Arbeit entstand im Rahmen des Forschungsrojekts PepOn „Integriertes Prozessdesign fur die betriebsiibergreifende Anlagenplanung in dynamischen Stoffstromnetzen", das von der VolkswagenStiftung gefordert wird. Meinen Kollegen Hannes Schollenberger und Martin Treitz danke ich fiir die exzellente Zusammenarbeit und vor allem fiir ihren Einsatz bei der Durchfuhrung der Fallstudien vor Ort.

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Teil V:

Managementinstrumente

Page 401: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Integrated Roadmapping Unterstiitzung nachhaltigkeitsorientierter Innovationsprozesse in der Informationstechnik und Telekommunikation

Siegfried Behrendt

1 Einleitung

Die Innovationsbedingungen fiir Untemehmen der Informationstechnik und Telekommunikation (ITK) befmden sich im Umbruch. Sichtbar wird dies nicht nur an immer kiirzer werdenden Produkt- und Innovationszyklen, die Struktur der Untemehmen selbst steht immer mehr unter Veranderungsdruck. Innovatio-nen entziehen sich immer deutlicher einer technologisch verkiirzten Sichtweise und einem eng verstandenen untemehmerischen Kontext (Burmeister/Neef 2003). Das Ergebnis von Innovationsprozessen ist weitgehend offen und der Erfolg kaum abseh- bzw. planbar. Dies erfordert im Untemehmen funktions-iibergreifende Sichtweisen und Zustandigkeiten, eine neue Verteilung der Res-sourcen und eine Neuausrichtung der Innovationsablaufe. Unter den Bedingun-gen globaler Markte, zunehmender Arbeitsdifferenziemng, sich verkiirzender Innovationszyklen bei gleichzeitig steigenden Aufwendungen fur Forschung und Entwicklung sowie der hohen Komplexitat sozialer, okonomischer und okologischer Prozesse ist Innovationsfahigkeit vor allem auch dadurch charak-terisiert, dass die Untemehmen in der Lage sind, langfristige Ziele zu formuHe-ren und iiber langere Zeitraume hinweg durchzusetzen. Die Einbeziehung sozi­aler Kontexte in Innovationsprozesse flndet erst langsam statt und noch selten wird die Frage aufgeworfen, fur welche gesellschaftlichen Aufgaben und sozio-okonomischen Herausfordemngen die zur Verfugung stehenden Technologie-optionen einen Beitrag leisten konnen und sollen. Die in der ITK-Wirtschaft verfolgte Vision des „Pervasive Computing" und damit der Durchdringung des AUtags mit elektronischen Komponenten, die immer und iiberall eingeschaltet und weitgehend drahtlos vemetzt sind, wirft Fragen nach Chancen und Risiken sowie moglichen unerwiinschten Nebenfolgen dieser Technologic auf Wach-sende Technikabhangigkeit, Kontrolle iiber neue Medien, Schutz der Privat-sphare und nicht geklarte Folgen fur Umweh und Gesundheit sind neue, bisher wenig beriicksichtigte Herausfordemngen fur das Innovationsmanagement in Untemehmen der ITK-Wirtschaft. Vor diesem Hintergmnd stellt sich fur Un­temehmen der Informationstechnik und Telekommunikation die Frage nach geeigneten Instmmenten, Methoden und Akteurskooperationen zur Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in ihre technologic-, produkt- und systembezoge-nen Innovationsprozesse. Der Beitrag fokussiert dabei auf das Roadmapping

Page 402: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

396 Siegfried Behrendt

und geht der Frage nach, wie das weit verbreitete Instrument fur eine Nachhal-tigkeitsorientierung in friihen Phasen von Innovationsprozessen speziell fur den Bereich der ITK fruchtbar gemacht werden kann. Er basiert auf dem Projekt „Innovationspfade fur eine nachhaltige Informationsgesellschaft", das im Rah-men der sozial-okologischen Forschung vom BMBF (unter dem Kennzeichen 07IFS03A) gefordert wurde.

2 Roadmapping als Instrument in Innovationsprozessen

Roadmaps sind ein Instrument der Forschungs- und Entwicklungsplanung und konnen dort den intuitiv-strukturierten Suchverfahren zugeordnet werden (Specht/Behrens 2002). Die Bedeutung des Roadmapping besteht in der Btinde-lung vieler Einzelthemen, dem Identifizieren von Handlungsoptionen und dem Setzen von Prioritaten. Der Hauptnutzen liegt in der Bereitstellung mittel- bzw. langfristigen Orientierungswissens fur untemehmerische und/oder politische Akteure. Mit der Weiterentwicklung des Konzeptes seit Mitte der 80er Jahre fmdet das Konzept immer starkere Anwendung bei Untemehmen bis bin zu Industriezweigen, ftir gemeinsame, untemehmenstibergreifende Technologie-Ziele und bei der Bereitstellung von Orientierungen fur die Forschungs- und Entwicklungspolitik.

2.1 Definitionen: Was ist Roadmapping?

Es wurden verschiedene Definitionen ftir Roadmapping vorgelegt (da Costa et. al. 2003, Kostoff 2002). Sie sind teilweise wenig prazise, teilweise wird der Begriff sehr spezifisch verwendet. Zur Prazisierung und Abgrenzung lassen sich einige besondere Merkmale identifizieren, die ffir das Roadmapping charakte-ristisch sind und es von anderen Instrumenten und Methoden (Delphi, Szenario-Technik, Innovations- und Technikanalyse etc.) unterscheiden.

•=> Systematische Erfassung, Biindelung und Bewertung von Entwicklungs-pfaden durch Abstimmung divergierender Meinungen und Erwartungen in gruppendynamischen Prozessen.

•=> Roadmaps liefem Darstellungen iiber den Stand der Produkte, der Technik Oder Technologien in einem Innovationskontext zu einem bestimmten Zeit-punkt und iiber die Art, Geschwindigkeit und Richtung moglicher For­schungs- und Technologieentwicklungen. Somit sind Roadmaps ein Vor-ausschauinstrument (Foresight).

^ Ausgepragter Anwendungsbezug: Das Roadmapping soil die Identifikation konkreter Handlungsoptionen in einem spezifischen Handlungskontext er-moglichen. Als solches ist eine Roadmap (wortlich StraBenkarte) ein Pla-nungswerkzeug ftir die Gestaltung von Innovationsprozessen: „ein Reise-

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Integrated Roadmapping 397

begleiter, der essentielle Kenntnisse, Nahe, Richtung und einen gewissen Grad an Sicherheit bei der Reiseplanung bietet" (Kostoff 2002).

•=> Roadmaps sind durch einen Instrumentenmix gekennzeichnet. Um zukiinf-tige Entwicklungen beschreiben und bewerten zu konnen, wird auf ver-schiedene andere bewahrte Instrumente zuruckgegriffen, darunter die Sze-nario-Technik und die Delphi-Methode. Dies erlaubt die Biindelung verschiedener Zugange zu komplexen Handlungsfeldem.

^ SchlieBlich ist der Erstellung von Roadmaps die Form der Visualisierung gemeinsam. In der Regel visualisiert eine Roadmap einen zweidimensiona-len Suchraum, der durch eine horizontale Objekt-Achse (Technologien, Produkte, Dienstleistungen) und eine vertikale Zeit-Achse dargestellt wird (Specht/Behrens 2002:88).

Vor diesem Hintergrund wird Roadmap wie folgt defmiert: Roadmapping bezeichnet einen Suchprozess, der Darstellungen uber den

Stand der Produkte, der Technik oder der Technologien in einem Innovations-kontext zu einem bestimmten Zeitpunkt und iiber die Art, Geschwindigkeit und Richtung mogHcher Forschungs- und Technologieentwicklungen liefert, mogli-che Herausforderungen biindelt und in Aktivitaten, Anforderungen und Meilen-steine iiberfuhrt.

2.2 Roadmap-Typen

In Aniehnung an da Costa (2002) lassen sich vier verschiedene Typen des Roadmappings unterscheiden:

•=> Untemehmensspezifische Roadmaps, •=> Branchenbezogene Roadmaps, O Problemorientierte Roadmaps und •=> Forschungs- und Entwicklungs-Roadmaps fur die Politik.

Die wesentlichen Unterschiede zwischen diesen Typen lassen sich anhand von sieben Aspekten (da Costa 2002) festmachen:

•=> Gegenstand und Umfang des Suchfeldes, •=> Initiative und Durchfuhrung des Roadmappings, •=> Nutzerkreis: Zielgruppe und Nutzer der Roadmap, •=> Ziele, die mit dem Roadmapping verfolgt werden, ^ Methoden: der Methodenmix fur das Identifizieren, Analysieren und Be­

werten von Entwicklungsverlaufen, '= Dominante Orientierungslogik: technologic- oder problemorientiert; eine

oder mehrere Zuktinfte, deskriptive oder normative Zukunftsbilder etc., ^ Zeithorizont: Zeitraum zwischen Status quo und den zugrundegelegten

Visionen.

Page 404: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

398 Siegfried Behrendt

Die folgende Tabelle fasst die Typologie zusammen. Wie alien Typologien gibt es LFberschneidungen zwischen den verschiedenen Typen, anhand der Aspekte lassen sich aber hinreichende Differenzierungsmerkmale identifizieren.

Tabelle 26: Typologisierung des Roadmappings

Aspekte

Suchraum

Initiative

Nutzung

Ziele

Unternehemens-spezifisches

Roadmapping

Produkt, Produkt-familie, Techno-logien

einzelnes Unter-nehmen

innerhalb des Untemehmens

Optimierung von F&E-Entscheidungen, strategische Pla-nung fur die Ent-wicklung neuer Produkte

Branchen-bezogenes

Roadmapping

Technologischer Sektor

Konsortium von Untemehmen, nationale Indust-rien bis hin zu intemationalen Industriezweigen, staatliche Stellen, private Beratungs-firmen

im Konsortium, andere Stakehol­der

Hohere Wettbe-werbsfahigkeit durch gemein-same Techno-logiefriiherken-nung in der Vor-wettbewerbsphase

Problem-orientiertes

Roadmapping

Ermoglichung von Technologien fur ein bestimmtes Ziel

staatliche Stellen, wissenschaftliche Einrichtungen, die initiativ oder unterstiitzend innerhalb von Akteurs-kooperationen agieren

Untemehmen teilweise aus verschiedenen Branchen, die gemeinsames Interesse an Prob-lemlosungen haben, andere Stakeholder

Begegnung von gesellschaftlichen und marktlichen Herausforderun-gen

Forschungs-politische Roadmaps

breite F&E-Bereiche z.B. ITK, Ambient Intelligence

Think tanks. staatliche Einrich­tungen, fachof-fentliche Foren

politische Ent-scheidungstrager, andere Stakehol­der, Untemehmen

Unterstiitzung von Forschungs-programmen. Gewahrleistung ihrer gesellschaft­lichen Relevanz

Page 405: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Integrated Roadmapping 399

Aspekte

Methoden

Orientie-rungs-logik

Zeithori-zont

Unternehemens-spezifisches

Roadmapping

Zusammenstellen technischer Do-kumentationen, Extrapolation, Szenariotechni-ken, interne Workshops

Technologietrie-ben/ marktindu-ziert

deskriptiv oder normativ

Kurzfristig, nor-malerweise bis 5 Jahre

Branchen-bezogenes

Roadmapping

Workshops mit Industriefachleu-ten/wissenschaft-lichen Experten, Experten-befragungen

Technologiege-trieben, Vorhersa-ge und normativ: Was wird passie-ren? Was soil getan werden?

Mittelfristig, normalerweise 5 bis 10 Jahre

Problem-orientiertes

Roadmapping

Workshops mit Experten und Stakeholdem, Szenariotechni-ken, teilweise Delphi-Methode

Problemorientiert, vorausschauend mit Blick auf gesellschaftliche Herausforderun-gen

Normalerweise langerfristig bis zu 20 Jahre, kann aber je nach Prob-lemstellung auch kurzfristig sein

Forschungs-politische Roadmaps

Workshops mit Experten und Stakeholdem, fachoffentliche Konferenzen, Internet Chats

Technologie-, problemgetrieben, mehrere mogliche Zukunfte, F&E-Gestaltung

Normalerweise 10 bis 20 Jahre

Quelle: in Anlehnung an da Costa 2002

Unternehmensspezifisches Roadmapping

Beim untemehmensspezifischen Roadmapping steht ein bedarfsgesteuerter Planungsprozess fiir eine bessere Bestimmung, Auswahl und Entwicklung tech-nologischer Optionen zur Deckung bestimmter Produkt- oder Technologiebe-darfe im Mittelpunkt. Die Roadmap identifiziert (fiir eine Anzahl von Produkten und Technologieoptionen) die entscheidenden Systemanforderungen, Sollwerte fiir die Produkt- und Prozessleistung sowie die technologischen Optionen und Meilensteine zum Erreichen dieser Werte (da Costa 2002). Untemehmensspezi-fische Roadmaps flihren zu Darstellungen der Zukunft fiir Produkte, Produkt-familien oder Technologien, wobei okonomisch relevante Ebenen integriert und die technologischen Kompetenzen mit den Geschaftszielen verkniipft werden. Der Zeithorizont ist bei untemehmensspezifischen Roadmaps in der Regel eher kurzfi'istig und reicht normalerweise von 2 bis 4 Jahre. Die Vorausschau und die Identifikation von Meilensteinen basiert iiblicherweise auf einer Extrapolation von gegenwartigen, meist technologischen Trends. Verschiedene mogliche Zukunfte werden in der Regel nicht betrachtet. Die Roadmap-Ergebnisse wer­den normalerweise untemehmensintem verwendet und werden nicht veroffent-

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400 Siegfried Behrendt

licht. Vereinfachte Roadmaps werden nicht selten im Rahmen des Marketing eingesetzt, so beispielsweise um auf ktinftige neue Technologien (z.B. elektro-nisches Papier oder Smart Label) aufmerksam zu machen.

Branchenbezogene Roadmaps

Auf industrieller Ebene werden seit den 90er Jahren verstarkt branchenbezoge­ne Roadmaps entwickelt. Die Kemmotivation ist, dass eine Branche „langfristig wettbewerbsfahiger wird, wenn F&E-Investitionen und -Ergebnisse in der Vorwettbewerbsphase geteilt und gemeinsame Technologiestandards und -plattformen geschaffen werden" (da Costa 2002). Fiir die beteiligten Untemeh-men dient sie sowohl als ein Informations- als auch ein Strategieplanungsin-strument zur Entwicklung, Organisation und Prasentation von Informationen uber Anforderungen, Herausforderungen und Meilensteine entlang eines oder mehrer technologischer Entwicklungspfade.

Branchenbezogene Roadmaps werden durch Firmenkonsortien erstellt. Hau-fig sind Untemehmensberatungen beteiligt, die als neutrale Moderatoren, den Prozess steuem. Teilweise sind staatliche Einrichtungen beteiligt mit dem Ziel, die nationale Wettbewerbsfahigkeit der Industrie zu starken. Technologie-Forschungseinrichtungen sind insbesondere involviert, wenn es um langerfristi-ge technologische Entwicklungen (emerging technologies) geht. In der Regel sind fur die Erstellung branchenbezogener Roadmaps erhebliche Mittel notwen-dig, die von einer groBeren Anzahl von Firmen geteilt oder einem Verband zur Verfiigung gestellt werden. Gegentiber dem untemehmensspezifischen Road-mapping sind die Zeithorizonte bei branchenbezogenen Roadmaps normaler-weise groBer und liegen zwischen 5 und 10 Jahren. Es konnen aber auch langere Zeithorizonte vorkommen.

Ein bekanntes Beispiel fur eine branchenbezogene Industrie-Roadmap ist die erstmals 1992 in den USA entwickelte „National Technology Roadmap for Semiconducturs" (NTRS). Sie dient als weltweiter Bezugsrahmen fur die Halb-leiterindustrie. Seit 1999 wird die Roadmap als „The International Technology Roadmap for Semiconductors" (IRTS) veroffentlicht. Die Funktion dieser Roadmap ist es, technische Htirden und Herausforderungen aufzuzeigen, mit denen die Halbleiterindustrie in den folgenden 15 Jahren konfrontiert ist. Ver-gleichbare Roadmaps wurden von dem europaischen Verband „European De­sign and Automation Association" (EDAA 1998) und von „Micro-Electronics Development for European Applications" (MEDEA 2000) erstellt, die verschie-dene Technologien umfassen und auf Produktionsverfahren fiir bestimmte In-dustriebereiche ausgerichtet sind (da Costa 2002).

Page 407: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Integrated Roadmapping 401

Prohlemorientierte Roadmaps

Problemorientierte Roadmaps zielen darauf, technologieiibergreifende Probleme Oder Herausforderungen und ihre Konsequenzen fur Untemehmen zu identifi-zieren. Der Grundgedanke ist hier, dass Innovationen zunehmend einen multi-disziplinaren und multisektoralen Charakter (da Costa 2002) aufweisen und in einem sozio-okonomischen Kontext stehen. Der methodische Ansatz setzt bei einer Herausforderung oder bei einem Ziel an und richtet sich auf die Identifika-tion und Riickverfolgung der Entwicklungspfade. Bei den Zielen kann es sich um Objekte oder Applikationen (z.B. smartes Haus), fiinktionale Ziele (z.B. Verringerung von Umweltbelastungen, Erhohung von Qualitatsansprtichen) oder Wettbewerbsziele handeln (da Costa 2002). Der Zeithorizont ist norma-lerweise vergleichsweise lang und umfasst bis zu 20 Jahre. Oftmals sind an diesem Roadmap-Typ staatliche Stellen beteiligt, haufig werden sie auch von staatlichen Einrichtungen initiiert und koordiniert (da Costa 2002).

Als Beispiel lasst sich die DOE Environmental Restoration and Waste Ma­nagement in Revised Roadmap (1993) anflihren, auch die verschiedenen Road­maps der Microelectronics and Computer Technology Corporation (MCC) las-sen sich diesem Typ zuordnen. Die „Enibedded Systems Roadmap 2002" ist ein weiteres Beispiel. Sie bezieht verschiedene andere Technologie-Roadmaps (ITRS, MEDEA, ITEA etc.) mit ein und verkntipft verschiedene wissenschaftli-che Zugange und Expertenmeinungen zur Darstellung technologischer Entwick-lungslinien fur eingebettete Systeme.

Forschungs- und Entwicklungs-Roadmaps fur die Politik

Seit Mitte der 90er Jahre haben verschiedene Wissenschafts- und Beratungsein-richtungen versucht, die Roadmapping-Methode fiir die Gestaltung und Aus-richtung der Forschungs- und Technologiepolitik anzupassen und nutzbar zu machen. Dieser Ansatz fokussiert darauf, technologische Entwicklungen in den Kontext politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Herausforderungen zu stellen, um daraus langfristige Forschungsbedarfe zu identifizieren und Prio-ritaten ableiten zu konnen.

Beispielhaft sind die Roadmap-Aktivitaten des Institute for Prospective Technological Studies (IPTS) der EU-Commission, das in Kooperation mit dem European Science and Technology Observatory (ESTO) eine Roadmap zur „Ambient Intelligence" im Alltag (AmI@Life) entwickelt hat. Die Roadmap zielt auf Vertrauen geniefiende und universelle Zugange zu neuen Technologien der Ambient Intelligence im Kontext von AUtagshandlungen. Eine andere Roadmap des IPTS bezieht sich auf die „Gesundheitsvorsorge im Kontext einer altemden Gesellschaft", untersucht werden wahrscheinliche Technologiepfade zur wirksamen Gesundheitsversorgung in einer altemden und pluralen europai-schen Gesellschaft. Ein weiteres Beispiel ist das von der EU fmanzierte Projekt

Page 408: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

402 Siegfried Behrendt

„Enabling users for Distance-working & Organisational Mobility using Am­bient Intelligence Networks (eu-DOMAIN). Ziel ist es, Menschen, Gerate, Ge-baude und Informationsinhalte in einem offenen, flexiblen und „intelligenten" Netzwerk zu verbinden.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass das methodische Vorgehen beim Roadmapping bisher kaum formalisiert ist. Abgesehen von einigen wenigen generalisierbaren Schritten tiberwiegen anwendungsspezifische Losungen fur die Erstellung der Roadmap. Auch fiir die Einbeziehung weiterer methodischer Hilfsmittel gibt es keine allgemeingiiltigen Losungen, jedoch ist hier der Szena-riotechnik, der Expertenbefragung und der Durchfuhrung von moderierten Gruppendiskussionen besondere Bedeutung zuzumessen.

3 Roadmaps mit Umwelt- und Nachhaltigkeitsbezug

Roadmaps, die die Umweltprobleme oder Nachhaltigkeitsaspekte in den Mittel-punkt riicken, gibt es bisher nur wenige. In den USA wurde die Methode des Roadmapping erstmals zu Beginn der 1990 Jahre auf Umweltfragen angewen-det. Ein „Vorreiter" ist hier die Microelectronics and Computer Technology Corporation (MCC), die eine Roadmap zum Thema „Environmental Conscious­ness: A Strategic Competitiveness Issue for the Electronics and Computer In­dustry" vorlegte. Inzwischen existieren in den USA zahlreiche Technologiero-admaps, die neben ihren technologischen Kemthemen auch Umweltaspekte behandeln. In Japan hat das MITI Roadmaps fiir innovative Elektronikkonzepte angestossen, deren Ziel ist es, technologische Optionen zu bleifreien Loten, halogenfreie Schaltungen und der Wiederverwendung von Elektronikkompo-nenten zu eroffnen. Auf Weltebene hat u.a. der Internationale Industrieverband der Halbleiterhersteller (World Council of Semiconductors) im Rahmen seiner Roadmap zur Entwicklung der Halbleitertechnologien auch langfristige Ziele zur Senkung von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (PFCs) und zur Senkung des Energieverbrauchs formuliert.

Erst in neuerer Zeit wurden verschiedene Roadmaps im Bereich der ITK entwickelt, die sich iiber reine Umweltfragen hinaus breiter an sozio-okonomischen Anforderungen orientieren oder sich mit dem Leitbild Nachhal-tiger Entwicklung auseinandersetzen. Hervorzuheben sind insbesondere:

^ „New Partnerships for Sustainable Development in a Knowledge Econo­my" (Neskey): Die Roadmap entwirft eine Agenda fur Forschung und Ak-tivitaten mit Blick auf eine nachhaltige Entwicklung in der Wissensgesell-schaft.

^ „Strategic Action for a Sustainable & Information Age" (SASKIA): Im Mittelpunkt steht eine Forschungs- und Entwicklungspolitik auf EU-Ebene zur nachhaltigkeitsorientierten Gestaltung der Informationsgesellschaft.

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Integrated Roadmapping 403

"=> „Japan Sustainable Information Society Project" (SIS): Es handelt sich um eine strategisch ausgerichtete Roadmap (ITK bis 2015) mit dem Ziel, die Teilnahme Japans an intemationalen Initiativen zur nachhaltigen Informati-onsgesellschaft zu fordem.

•=> „Nachhaltigkeit in der Informations- und Kommunikationstechnik" (NIK): Es handelt sich um eine Innovationsinitiative. Der Schwerpunkt lag auf der Erstellung einer Roadmap fur eine nachhaltige Informations- und Kommu­nikationstechnik.

Das Beispiel NIK soil hier exemplarisch vorgestellt werden: Wie lassen sich die Entwicklungen zur Informationsgesellschaft mit den

Herausforderungen des nachhaltigen Wirtschaftens verknupfen - sowohl strate­gisch flir die gesamte Branche als auch ganz praktisch im einzelnen Untemeh-men? Unter dieser ambitionierten Fragestellung begann 2001 ein Dialogprozess zwischen Vertretem aus Wirtschaft, Politik und Forschung, der von der Bundes-regierung iiber das Bundesministerium far Bildung und Forschung initiiert wur-de und 2003 in eine Roadmap miindete.

Die Ergebnisse der Initiative stieBen auf eine groBe Resonanz. Dies ist nicht nur daran festzumachen, dass sich eine Vielzahl von Untemehmen aktiv am Dialogprojekt beteiligt hat. Vielmehr konnten fiir ausgewahlte Innovationsfel-der (Mobilkommunikation, Displays etc.) Innovationskorridore und MaBnah-men gemeinsam mit der Wirtschaft erarbeitet werden und dariiber hinaus eine Reihe von konkreten Initiativen (z.B. Weiterentwicklung der Greenbook-Initiative der Telekommunikationsbranche) angestoBen werden. Ein besonderer Erfolg ist die Aktivierung der fur die Branche wichtigen Industrieverbande. So ordnet der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien derzeit seine Aktivitaten im Umweltbereich neu. Damit will der Verband den zunehmend wichtiger werdenden Themen „Intemationale Um-weltpolitik" und „Nachhaltigkeit" Rechnung tragen. Erstmals versteht das Deut­sche Flachdisplay Forum Nachhaltigkeit als Chance und Herausforderung fur Untemehmen im Flachdisplaymarkt.

Exemplarisch illustriert das folgende Schaubild fur das Innovationsfeld Dis­plays die Gestaltungsziele, die im Rahmen einer begleitenden Fokusgruppe entwickelt und mit MaBnahmen untersetzt wurden. In der Fokusgruppe „Dis-plays" waren neben dem Institut fur Zukunftsstudien und Tech-nologiebewertung (IZT), das den Roadmap-Prozess moderiert und wissen-schaftlich untersttitzt hat, die Firmen Schott Glas, LG Philips Displays, Sharp, Sony und Merck sowie das mittelstandische Recyclinguntemehmen Griag ver-treten. Temporar beteiligt waren der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (BITKOM), das Deutsche Flachdis-play-Fomm (DFF), das Umweltbundesamt sowie die Recyclingfirmen Vicor und Mirec.

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404 Siegfried Behrendt

Handlungsfeld Roadmap Gestaltungsziele

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Verdopplung des Altglasanteils in der Kpnusglasschmelze 10.000 Mischglas, 20.000 t Konusglas, 50.000 t Schirmglas Open-loop-Pfade gemall modifizierterj LAGA

\X^'

Kennzeichnung Hg-haltiger Komponenten Verringerung von Hg auf 3mg/Leuchtrdhre

-•-h Anschub:F+E zum LCD-Recycling

Kommunikation der Umweltvorteile

Neue Fiachdtsplay-technotogien

Design for Environment im F+E-Prozess

LAGA: Ldnderarbeitsgemeinschaft Ahfall; Hg: Quecksilber; CRT: Cathode Ray Tube; LCD: Liquid Crystal Displays Abbildung 46: Gestaltungsziele der Roadmap Displays Quelle: Behrendt/Erdmann 2004

Was Ids St sick aus dem NIK-Projekt lernen?

Die Ergebnisse des NIK-Projektes lassen keinen Zweifel, dass das Innovations-instrument Roadmap zu positiven Ergebnissen fahren kann. Neben der Ingang-setzung eines intensiven Dialogprozesses uber die Chancen und Risiken nach-haltiger Untemehmensstrategien, ist vor allem die Motivation der beteiligten Untemehmen zu nennen, die mittel- und langfristigen Moglichkeiten zu nutzen, fruhzeitig in Kooperation mit der Wissenschaft einen Orientierungsrahmen far Innovationen in Richtung Nachhaltigkeit zu schaffen. Weiterhin ist fiir die Un­temehmen wichtig, fruhzeitig mit der PoHtik und den Interessenverbanden For-derungen zur Nachhaltigkeit von Produkten, Verfahren und Dienstleistungen zu erortem und abzustimmen. Wichtig ist auch die Biindelung bisher isoliert ange-gangener Einzelthemen und das Setzen von Prioritaten gemeinsam mit Unter-nehmen verschiedener Branchen und Akteuren aus Politik und Verbanden. Auf diese Weise wird ein Klima des Vertrauens geschaffen, ohne das ein solches kooperatives Vorgehen nicht denkbar ist.

Eine Gefahr ist, sich in endlosen Debatten iiber die Dimensionen von Nach­haltigkeit und deren Gewichtung zu verlieren. Um diese zu vermeiden, verstan-digte man sich im NIK-Projekt auf ein breites Nachhaltigkeitsverstandnis, das sowohl okologische als auch okonomische und soziale Anforderungen bertick-

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Integrated Roadmapping 405

sichtigt („triple sustainability"). Gleichwohl wurde die Arena durch die „okolo-gische Ttir" betreten", nach und nach wurden aber weitere Dimensionen prob-lemorientiert hinzugenommen. Relevant fiir den Erfolg ist auBerdem, dass mit einer solchen Roadmap nicht nur nachhaltigkeitsbezogene Herausforderungen und strategischen Leitlinien, sondem besonders auch konkrete Ziele und MaB-nahmen entwickelt werden, die perspektivisch fur alle Beteiligten nachvoll-ziehbare Zeithorizonte zur Umsetzung konkreter Zukunftsperspektiven bieten. Die Grenzen sind dort, wo Zustandigkeiten von Untemehmen aufgrund der intemationalen Markte und Verflechtungen der IKT-Industrie nicht in Deutsch-land liegen, sondem in anderen Landem. Dies macht Abstimmungsprozesse schwieriger und schrankt mogliche Handlungsspielraume ein. So hat die Fokus-gruppe Displays eine Initiative zum Recycling von Flachdisplays (LCD) ange-stoBen. Auf diese Weise soUte dem Trend wachsender Verkaufszahlen fiir LCDs, die zeitversetzt zunehmende Abfallstrome erwarten lassen, friihzeitig Rechnung getragen werden. Dabei ist die Bereitschaft der Untemehmen zur Bereitstellung von Finanzmitteln und Infrastmktur fiir proaktive MaBnahmen deutlich geworden, die der Gesetzgeber so eng nicht fordert. Trotz dieses Enga­gements der Untemehmen konnte die Initiative nicht starten, was auf die Kon-zentration der Aktivitaten einiger Mutterkonzeme auf Ostasien zuriickzufiihren ist. Grenzen sind auch beim Zeithorizont zu sehen. Die Ziele und MaBnahmen konnten fiir einen Zeitraum von etwa drei Jahren konkret und teilweise auch quantitativ gefasst werden. Jenseits des mittelfristigen Planungshorizontes von ca. 3-5 Jahren steigt die Unsicherheit rapide an, womit auch die Moglichkeit der Verstandigung auf Ziele und MaBnahmen sinkt. Der Langfristperspektive wird in der NIK-Roadmap deshalb eher als Langfristoption Rechnung getragen. Nach dem der Dialogprozess erfolgreich angestossen und in erste Initiativen und Projekte iiberfiihrt werden konnte, stellt sich nun die Aufgabe, diesen Pro-zess auf nationaler und intemationaler Ebene weiterzufiihren.

4 Integrated Roadmapping : ein neues Konzept

Insgesamt sind die Ergebnisse der bisher vorliegenden nachhaltigkeitsorientier-ten Roadmaps sehr unterschiedlicher Qualitat. Teilweise liegen sehr allgemeine Ergebnisse vor. Andererseits konnten konkrete Zielmarken defmiert werden, die praktisch relevant wurden. Bisher ist es erst in Ansatzen gelungen dem integra-tiven Anspmch des Nachhaltigkeitspostulates (triple sustainability) gerecht zu werden und gleichzeitig das Interesse des Innovationsmanagements in den Fir-men der ITK zu fmden. Vor diesem Hintergmnd stellt sich die Aufgabe nach einer geeigneten Erweitemng bzw. Modifikation der Roadmap-Methode fiir eine Unterstiitzung von nachhaltigkeitsorientierten Innovationsprozessen im Bereich der ITK.

Page 412: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

406 Siegfried Behrendt

4.1 Anforderungen

Soil iiber eine technikzentrierte, mehr oder weniger eindimensionale Betrach-tung hinausgegangen werden und sollen dariiber hinaus konkxete und praktische Ergebnisse erbracht werden, muss die Roadmap mehrere Anforderungen erflil-len:

Erstens muss die Roadmap beziiglich des Umfangs der betrachteten Berei-che ein geniigend groBen Rahmen bieten, der die Komplexitat iibergeordneter Trends und Entwicklungen in ihrem Wirkungsgefuge abbildet und eine Orien-tierung (Ausloser, Triebkrafte, Veranderungsdynamik bei Markten, Lebenssti-len und Technologien etc.) bietet.

Zweitens ist den komplexen Umwelten, der Unsicherheit von Trendaussagen und ungewissen Handlungsfolgen durch eine Komplexitatsreduktion entspre-chend Rechnung zu tragen. Hierzu miissen Schwerpunkte gesetzt werden, um konkrete und iiber ohnehin bekannte Herausforderungen (Geschaftsfelder, Po-tenziale, Standardisierungsfragen etc.) der ITK hinausgehende Einsichten ge-winnen zu konnen. Auf diese Fokusthemen, die wichtige Teilbereiche abde-cken, miissen die verfiigbaren Ressourcen mit Prioritat konzentriert werden, weil dort konkrete Umsetzungen am ehesten erreichbar sind.

Drittens stellt ein nachhaltigkeitsorientiertes Roadmapping besondere An­forderungen an die Komplexitat von Systembetrachtungen, an die Abschatzung okologischer und sozialer Wirkungen und den Umgang mit auftretenden Kon-flikten zwischen okonomischen, okologischen und gesellschaftlichen Zielset-zungen. Da unter Bedingungen hoher Unsicherheit moglichst konkrete Aktivita-ten aus Roadmaps abzuleiten sind, sind Expertenbefragungen (Untemehmen, Kunden, Wissenschaft), Szenario- und Modellierungstechniken als Strategien des „(Nicht)-Wissensmanagements" zu nutzen, um Zukunftsbilder und Korrido-re moglicher Entwicklungen identifizieren zu konnen.

Viertens stellt die Integration von Kunden und anderen Stakeholdem beson­dere Anforderungen an leistungsfahige Dialogstrukturen. Dies betrifft auch die Frage, welche kiinftigen Bedarfe und Bediirfnisse existieren konnten, die sich naturgemaB nicht vorhersehen lassen.

Fiinftens muss der unmittelbare und spatere Nutzen eines erweiterten Road-mapping deutlich und praxisnah vermittelbar sein. Sozio-okonomische Zu­kunftsbilder miissen konkrete, neue Geschaftsmoglichkeiten oder Forschungs-felder sichtbar machen oder in Meilensteine, Aktivitaten und MaBnahmen far untemehmerisches bzw. politisches Handeln iiberfiihrt werden konnen. Es geht um die Klarung der Frage: Welche Innovationen konnen eine Schliisselposition auf dem Weg zu mehr Nachhakigkeit in der Wirtschaft einnehmen?

Page 413: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Integrated Roadmapping 407

4.2 Ansdtzefur ein nachhaltigkeitsorientiertes Roadmapping

Die Integration von Nachhaltigkeitsanforderungen, gesellschaftlichen Bedarfen und Kundenbediirfnissen im Roadmapping kann iiber verschiedene Zugange erfolgen. Dabei kann auf bereits bestehende und teilweise etablierte Methoden zuriickgegriffen werden.

Tabelle 27: Ansdtze im Vergleich

Ansatz

Sozio-okonomische und sozial-okologische Trend-und Bedarfsanalyse

Leitbild Assessment

Bediirfnisfeldanalyse

Anwender-ZStakeholder-Integration

Innovative Technikfol-genabschatzung und -bewertung

..-

Vorteile

Kann an bestehende Vorgehensweisen im Innovationsmanagement ankniipfen

Synchronisation von technischen Machbar-keits- und soziokulturel-len Wunschbarkeitsvor-stellungen

Erfassung zusammenhan-gender Entwicklungspro-zesse mit Bezug auf Nutzungskontexte, An-forderungen etc.

Ideengenerierung und -bewertung

Risikominimierung

Friihzeitige Problemer-kennung

Nachteile

Inharente Unsicherheit von Trendaussagen

Selektivitat der ausgewahlten Trends

Ambivalenz von Trends beziig-lich ihrer Nachhaltigkeitspoten-ziale

Selektion sozial-okologischer/soziokultureller Leitbilder

Operationalisierbarkeit von Leitbildem

Selektivitat von Trends

Erfassbarkeit von Kundenan-forderungen

Hoher Aufwand

Auswahl der Stakeholder selek-tiv

Anreize zur Teilnahme

Bewertung noch unscharfer Technologien und Nutzungs­kontexte

Fokus auf sozio-okonomische bzw. sozial-okologische Trends und Heraus-forderungen: Das Roadmapping fokussiert auf sozio-okonomische bzw. so-zialokologische Trends und Herausforderungen (z.B. Klimawandel, soziale Disparitaten in Entwicklungslandem, Zunahme der Weltbevolkerung, Res-sourcennutzung) und fragt nach Losungsbeitragen durch ITK.

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408 Siegfried Behrendt

Leitbild Assessment: Das Roadmapping stellt Leitbilder ins Zentrum und nimmt ein Leitbild Assessment vor, das als Grundlage fur die Ableitung von untemehmerischen Herausforderungen und neuen Geschaftsmoglich-keiten dient. Mit Blick darauf geht es bei diesem Zugang im Roadmapping darum, gegenuber der bisher dominanten Orientierung an Technikleitbil-dem, sozial-okologische Leitbilder gegeniiberzustellen und einen Perspek-tivenwechsel vorzunehmen. Neben dem „Meta"-Leitbild Nachhaltige Ent-wicklung werden eine Reihe von sozialen und okologischen Leitbildem seit langerem diskutiert. Dabei geht es vor allem um Prinzipen der Ethik, wie soziale Gerechtigkeit, gesellschaftliche Verantwortung (global compact, corporate social responsibility) und des okologischen Wirtschaftens, insbe-sondere Dematerialisierung (Faktor 4/10), Kreislaufwirtschaft und Industri­al Ecology. Bediirfnisfeldbezogener Ansatz: Kemgedanke dieses Ansatzes ist es, Grundbedtirfnisse, die in verschiedenen Lebensbereichen eine RoUe spie-len, zusammenzufassen und damit Fragen der Bedarfs- und Bediirfnisent-wicklung in ihrem Kontext erfassen und mit Blick auf mogliche neue An-wendungen der ITK analysieren zu konnen. Dieser Zugang fokussiert auf die menschliche Bediirfnisbefriedigung, die mit unterschiedlichen Mitteln der ITK untersttitzt werden kann. Die Aufteilung in Bedtirfnisfelder (z.B. Wohnen, Emahrung) erlaubt es, Anwendungen, bei denen sich ahnliche Anforderungen stellen, besser zusammenzufassen ohne die Betrachtung zu sehr von der Seite der Technologic auf deren Push zu konzentrieren. Integration von Stakeholdem: Neben der (iiblichen) Befragung von Exper-ten bzw. Einbeziehung von Experten in Rahmen von Workshops werden weitere Stakeholder in den Roadmappingprozess eingebunden. Die Einbe­ziehung von Akteuren aus gesellschaftlichen Praxisbereichen erhoht den Gehalt an Zukunftswissen, die Phantasie und Kreativitat bei der Erstellung von Zukunftsbildem und fiihrt insbesondere die (fur eine Nachhaltige Ent-wicklung) wichtigen Aspekte der Wiinschbarkeit, Gestaltbarkeit und Um-setzung in den Innovationsprozess (Kreibich 1995). Innovative Technikfolgenabschatzung und -bewertung: Einbindung der Frage, welche technologischen Entwicklungen mit welchen Risiken behaf-tet sind. Die Grundidee besteht darin, moglichst von der ersten Erfmdungs-idee bis zur Vorbereitung einer technischen Neuerung die Ergebnisse der Technikfolgenforschung einzuspeisen. Somit bietet es sich an, moglichst frtihzeitig, bevor die Projekte eine Eigendynamik erlangen und spater (ins­besondere aus Kostengrlinden) nicht mehr oder kaum noch revidiert oder modifiziert werden konnen, negative Effekte als Vermeidungsziele in das Roadmapping mitaufzunehmen (Kreibich 1990; Steinmiiller et.al. 1999). Dies hatte den Vorteil, dass sie „schon in friihen Stadien der technischen

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Integrated Roadmapping 409

Entwicklung wirksam werden konnen und zudem am Ort des umfangreichs-ten technologischen Wissens erfolgen." (Mehl 2001:112f)

Die verschiedenen Zugange zur Integration von gesellschaftlichen Bedarfen und Kundenbediirfnissen iiberlappen sich, schlieBen sich aber nicht aus, sondem bieten verschiedene Sichtweisen und ermoglichen auf diese Weise einen Per-spektivenwechsel beim Roadmapping.

Heute Zukunft

Einflussfaktoren

Politik

Okonomie

Umwelt

Technoiogie

Wissenschaft

Geselischaft Kunden

—>

—>

—>

—>

—>

Kurzfristig mittelfristig langfrjstig

Sozio-okonomische/ sozial-okologische Trend- und Bedarfsanalyse

Leitbild-Assessment

Bedurfnisfeldanalyse

Anwender- und Stakeholderintegration

Innovative Technikfoigenabschatzung

Extrapolation \ • / Retropolation

Ist-Analyse N B ^ Zukunftsbllder

Trendanalyse JM Innovationspfade

Wirkungsanalyse / l B r \

Roadmap Richtungssicherheit^ ^ . . . ^ Unternehmen Orientierungswissen

Abbildung 47: Nachhaltigkeitsorientiertes Roadmapping - die Methode

4.3 Schritte zur Erstellung einer nachhaltigkeitsorientierten Roadmap

Mit Blick auf die Erweiterung der Technologie-Roadmap um eine Nachhaltig-keitsorientierung soil im folgenden ein Ansatz entwickelt werden, mit dessen Hilfe gesellschaftliche Bedarfe und Kundenbedtirfnisse fruhzeitig einbezogen werden konnen. Das methodische Grundgerlist lehnt sich an tibliche Vorge-hensweisen des Technologie-Roadmappings an.

Die Erstellung der Roadmap besteht aus einem mehrstufigen Prozess, der mit der Eingrenzung des Suchfeldes beginnt und mit der Identifikation von Wertschopfungsmoglichkeiten und Herausforderungen endet. Die genannten

Page 416: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

410 Siegfried Behrendt

Ansatze sind in das Grundgerust des Roadmappings an mehreren Stellen einzu-binden. Die dazu notwendigen Schritte zur Erstellung der Roadmap sind in der folgenden Abbildung zusammengefasst.

Scoping

\ Schritti:

\ Bestimmung

/ Suchraums

> Definition der Roadmap-Ziele

> Auswahl von Suchfeidern

> Festlegung des Filters

> Skalierung der Zeitaclnse

> Eingrenzung des geografischen Raums

Forecasting

\ \ Schritt2: \

\ \ldentifikation von / /Trends, Bedarfs-/ .

/ / Potenzial- / / / analyse /

> Scanning von Literatur, Internet, Datenbanken

> 1st-, Trend-, und WIrkungsanalyse

> Selektion der wichtigsten Trends,

> Interviews mit Marktteilnehmern, Technologie-ZUmfeld-Experten, Stakeholdern

> Erstellungen von Profilen mit Blick auf Trends, Visionen, Herausforderungen

Backcasting

\ Schritt 3: \

\ \ Identifikation ^ / / von Chancen /

/ und Risiken /

> Entwicklung von Zukunftsbildern

> Bildung von Arbeitsgruppen (Unternehmen, Experten, Stakeholder)

> Identifikation neuer Tech no log ien, Applikationen und Dienstleistungen

> Auswertung in Bezug auf

-F&E-Bedarfe -Standardisierungsbedarf -Akzeptanzfragen -Sicherheitsaspekte -Zeitliche Relevanz -Risiken

Roadmap Review

\ Schritt 4: \ \ Schritt 5: \

A Erstellung \ \ validierung \ / der Roadmap / / /

/ / /

> Uberfijhrung der > Vollstandigkeits- und Ergebnisse in Konsistenzanalyse Meilensteine mit Zeithorizonten

> yisualisierung

> Ableitung von Empfehlungen

> Festlegung von Aktivitaten

> Transfer und Kommunikation

Abbildung 48: Schritte zur Erstellung der Roadmap

Scoping: Bestimmung des Suchraums - Zielbestimmung und Systemabgrenzung

Zu Beginn muss der Suchraum vemiinftig abgegrenzt sein. Er bestimmt die Referenzpunkte fiir die Bewertung und Selektion von Innovationsrichtungen und Technologien. Dies geschieht mittels eines Filters, der entsprechend den spezifischen Anforderungen die nicht relevanten Felder und Parameter ausblen-det. Dazu miissen zuerst die Aufgabenstellung und die Ziele der Roadmap bestimmt werden. Bin wichtiger Teil der Suchfeldabgrenzung ist die Festlegung eines Filters, nach dem bedarfs- und potenzialseitige Auspragungen von Ent-wicklungen identifiziert und beurteilt werden sollen. In der Regel wird die be-darfsseitige Umwelt durch den Markt defmiert und die potenzialseitige Umwelt durch die Forschung und Entwicklung in Technologie-Roadmaps abgedeckt (Mohrle 2002: 95). Mit Blick auf eine frtihzeitige Steuerung von Nachhaltig-keitseffekten reicht die Analyse von Marktsog und Technologiedruck nicht aus, vielmehr ist die Einbeziehung weiterer Push- und PuU-Faktoren notwendig, um fnihzeitig nicht-intendierte gesundheitliche, okologische oder soziale Nebenfol-gen sowie nutzerbedingte Nachhaltigkeitseffekte identifizieren und steuem zu konnen. Dazu gehort insbesondere (Fichter/Kiehne 2004)

Page 417: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Integrated Roadmapping 411

^ die Beachtung rechtlicher Entwicklungen, gesellschaftlicher Leitbilder und von Visionen proaktiver Untemehmen,

•=> die Frage nach Losungsbeitragen von Technologien zur Bewaltigung sozio-okonomischer Trends und gesellschaftlicher Herausforderungen,

•=> das Suchfeld nicht nur auf Technologien oder Produkte, sondem die Frage nach Nutzungs- und Funktionssystemen in den Vordergrund zu rticken,

^ neue Technologien und Applikationen iiber ihren Lebensweg analysiert und bewertet werden.

Forecasting: Bedarfs- und Potenzialanalyse

Die Vorausschau moglicher Entwicklungen (Forecasting) hat die Aufgabe relevante Veranderungspotenziale zu identifizieren. Dies ist mit einer bloBen Analyse und Fortschreibung von Trends, wie sie haufig bei Technologie-Roadmaps zu finden ist, weder belastbar zu bewaltigen noch hinsichtlich neuer Herausforderungen und Moglichkeiten der Technologic- und Produktentwick-lung angemessen zu befruchten. Um zu tragfahigen Ergebnissen zu gelangen, miissen Methoden eingesetzt und miteinander verkntipft werden, die dreierlei erlauben

^ erstens die Analyse der Ausgangsbedingungen, •=> die Identifizierung relevanter Trends und deren Wirksamkeit im Zeitverlauf

und •=> drittens die Exploration von Veranderungspotenzialen.

Zur Erfullung dieser Anforderungen ist ein mehrstufiges Vorgehen zweckmas-sig. Dabei gibt es keine Patentlosungen, vielmehr wird der Methodenmix (z.B. Experteninterviews, Delphi-Befragung) situativ jeweils den spezifischen Anfor­derungen an die Roadmap angepasst werden miissen. Von besonderer Bedeu-tung ist jedoch die Einbeziehung von Experten, Anwendem und Stakeholdem an dieser Stelle. Deren Suche und Integration ist keineswegs trivial, sondem stellt fiir das Roadmapping eine Herausforderung dar. Die Auswahl muss ge-wissen Kriterien geniigen (z.B. Themenabdeckung, Fachkompetenz, Visions-kompetenz, strategische Bedeutung), ansonsten besteht die Gefahr, dass nicht richtungssichere, sondem eher beliebige Aussagen und Beurteilungen generiert werden.

Backcasting: Identifikation von Chancen und Herausforderungen

Dieser Schritt zielt darauf, neue Technologien, Anwendungen und Markte und damit verbundene Chancen und Anfordemngen zu identifizieren. Dabei nimmt die Sensibilisiemng, Inspiration, reflexive Selektion der am Roadmapping-Prozess beteiligten Akteure und die Frage nach der Richtungssicherheit einen

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412 Siegfried Behrendt

breiten Raum ein. Mit Blick auf Push- und Pull-Faktoren (rechtliche Entwick-lungen, individuelle Bediirfnisse, gesellschaftliche Bedarfe etc.) sind technolo-gische Antworten und Losungsbeitrage zu identifizieren („Anforderungsroad-map"). Dazu ist es zweckmassig verschiedene Zukunftsbilder auf der Basis der Bedarfs- und Potenzialanalyse zu generieren. Zukunftsbilder stellen eine koha-rente Biindelung von Trends, Visionen und Leitbildem dar. Zukunftsbilder sind etablierte Werkzeuge der Zukunftsforschung und Technikfolgenabschatzung. Bilder der Zukunft konnen mit Hilfe von Szenarien dargestellt werden. Szena-rien untersttitzen die diskursive Klarung von Gestaltungs- und Handlungsmog-lichkeiten und bilden ein besseres Verstandnis ihrer strategischen Implikationen heraus. Mit Blick auf Nachhaltigkeitsanforderungen etwa des Klima- und Res-sourcenschutzes kommt es nicht nur auf die Darstellung wahrscheinlicher Ent-wicklungen (im Sinne der Vorhersage) an. Von Bedeutung ist vielmehr die Formulierung moglicher, wiinschenswerter oder auch unerwtinschter Zukunfts­bilder. Dabei ist groBer Wert auf die Gestaltbarkeit der Entwicklungen zu legen. Mit altemativen Szenarien lassen sich durch die besondere Betonung einzelner Zieldeterminanten Zukunftsbilder entwickeln, die in verschiedenen Szenarien jeweils spezifische Chancen und Risiken besonders herausarbeiten und alterna­tive Handlungskorridore untersuchen. Um Herausforderungen fiir Zielgruppen der Roadmap zu identifizieren, ist die enge Kopplung von Szenario und Diskurs mit relevanten Akteuren von entscheidender Bedeutung. Die Zukunftsbilder sind im Rahmen des Backcasting einer Auswirkungsanalyse zu unterziehen. Dies geschieht am besten mit Hilfe von gruppenbasierten Methoden wie mode-rierte Experten-Workshops, Leaduser-Workshops und Zukunftswerkstatten. Daraus ergeben sich Chancen fur effektivere Austauschbeziehungen, die weit iiber Marktsignale und Technologieprognosen hinausgehen und Risiken identi­fizieren helfen konnen.

Erstellung der Roadmap

Im vierten Schritt des Roadmapping-Prozesses werden die Ergebnisse der Ana­lyse und Bewertung verdichtet und in Meilensteine, Aktivitaten und Empfeh-lungen iiberfiihrt. Die Entwicklung von Produkten, Technologien und Nut-zungssystemen ist auf einem Zeitstrahl ubersichtlich darzustellen. Ein Problem besteht darin, die identifizierten Handlungsoptionen (Chancen/Risiken) in kon-krete MaBnahmen und Aktionen umzusetzen. Obwohl das Roadmapping gerade Handlungsoptionen liefert und in strategische Beziehungen setzt, lasst sich die Lticke zwischen Strategic und operativer Anwendung oft nur schwer iiberbrti-cken. Roadmaps aber -sollen sic nicht ohne Folgen bleiben, sondem in Innova-tionspolitik und -management wirksam werden- miissen deshalb mit operativen Aktivitaten (Vinkemeier 2002) verkntipft werden.

Page 419: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Integrated Roadmapping 413

Review

An die Roadmapgenerierung schlieBt sich ein Review des Prozesses an. Die Aufgabe des Reviews ist es, festzustellen, ob alle relevanten Entwicklungsver-laufe beriicksichtigt werden konnten, die Einschatzung der Innovationsobjekte in sachlicher und zeitlicher Hinsicht plausibel begrundet ist und die Annahmen und Bewertungen nachvollziehbar flir interne und exteme Nutzer der Roadmap sind (Mohrle 2002). Im Rahmen des Reviews werden Unsicherheiten identifi-ziert und transparent gemacht. Dabei mussen die Datenbasis, die Datenqualitat, die Verarbeitungsschritte und Aussagefahigkeit der Ergebnisse (z.B. in Band-breiten) genau dargelegt werden. Auf diese Weise soil vor allem bei der An-wendung Fehlnutzungen begegnet werden, wie sie vielfach von der Prognostik her bekannt sind (Kreibich 2005). Insbesondere ist zu verhindem, dass Genau-igkeit und Relevanz von Zukunftsaussagen nur vorgetauscht wird.

5 Was kann das nachhaltigkeitsorientierte Roadmapping leisten? Moglichkeiten und Grenzen

Das Roadmapping fokkussiert bis dato in erster Linie auf Technologien und ist in der Praxis weitestgehend technologiegetrieben. Sozio-okonomische und sozial-okologische Zusammenhange spielen vielfach eine untergeordnete Rolle. Als Ergebnis werden haufig Technikbilder produziert, die aufgrund der fehlen-den sozio-okonomischen bzw. sozial-okologischen Einbettung autistisch wir-ken. Eine friihzeitige Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeitsaspekten hilft aber Unsicherheiten bei Technologieentwicklung, Markteinfuhrung und Geschafts-und Erlosmodellen zu minimieren, die okologische Richtungssicherheit zu er-hohen und ist letztlich ein Erfolgsfaktor bei der Einfiihrung neuen Technolo­gien. Voraussetzung dazu ist, dass die bisher fiir Roadmaps typische Verengung auf das technologisch Machbare um Schnittstellen zu Nachhaltigkeitsfragen erganzt wird. Dies kann einerseits durch eine Fokussierung des Suchfilters auf nachhaltige Schrittmacher- und Schltisselinnovationen erfolgen. Darunter sind Innovationsfelder zu verstehen, die ein erhebliches Potenzial flir eine nachhalti­ge Entwickiung erkennen lassen, wie beispielsweise virtuelle Kraftwerke, elekt-ronisches Papier oder produktbegleitende Informationssysteme auf der Basis von Funkchips (so genannten RFIDs) (Behrendt et.al. 2005). Es liegt also nahe, fur solche Schrittmacher- und Schlusseltechnologien spezifische Roadmaps zu entwickeln, mit denen die ErschlieBung nachhaltiger Zukunftsmarkte interaktiv mit zentralen Akteuren untersttitzt werden kann.

Andererseits - und dies diirfte mit dem vorherrschenden Innovations-management in den Untemehmen am ehesten kompatibel und andockbar sein-geht es darum, Nachhaltigkeitsprinzipien und -dimensionen als „Leitplanken" eines Suchkorridors und -filters in dem Roadmappingprozess mitlaufen zu

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414 Siegfried Behrendt

lassen, das heiBt situativ an passenden Stellen zu integrieren. Dabei muss die Vorgehensweise den Besonderheiten der Technologiefruherkennung- und -bewertung Rechnung tragen, die (insbesondere im Bereich der ITK) durch Star­ke Dynamik, Unsicherheit, Vemetzung und mangelnde Quantifizierbarkeit gekennzeichnet ist. Als erschwerend kommt hinzu, dass die Interpretation vieler Nachhaltigkeitschancen und -risiken normativ-ethische Bewertungen fordert. Die Schwierigkeit besteht zudem darin, dass sich die Folgen noch unscharfer Technologien und der spateren Nutzungskontexte einer fundierten Bewertung weitestgehend entziehen, insbesondere dann, wenn es sich um breite Suchfelder zur Identifikation und Selektion von Technologien und damit verbundenen Herausforderungen handelt. Eine enge Verkntipfung mit den (bisher teilweise von Untemehmen wenig zur Kenntnis genommenen) Ergebnissen der intemati-onalen „Foresight"-Forschung (und deren Datenbanken) ist deshalb eine we-sentliche Voraussetzung, um tiberhaupt ansatzweise auf das dazu notwendige Wissen zugreifen zu konnen.

Gerade fur die Nachhaltigkeitsorientierung scheint eine relativ offene Me-thode am geeignetsten, die die verschiedenen Untemehmensbereiche und Ak-teure miteinander verkniipft, gleichzeitig einen Lemprozess unter den Beteilig-ten auslost und langfristig angelegt ist. Das Roadmapping schafft (unter bestimmten Bedingungen) dafur den notwendigen Rahmen, in dem es eine intelligente Vemetzung und Kommunikation zwischen Wissenstragem sowie eine Wissensintegration ermoglicht.

Als Fazit kann festgehalten werden, dass mit dem Roadmapping ein bewahr-tes und zunehmend verbreitetes Instrument zur Erzeugung von Orientierungs-wissen bei der Technologiefruherkennung zur Verfugung steht, das -wie erste Beispiele belegen- in erweiterter Form zur innovationsstrategischen und for-schungspolitischen Nachhaltigkeitsorientierung fruchtbar gemacht werden kann.

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416 Siegfried Behrendt

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Page 423: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Abschatzung von Umweltwirkungen in friihen Phasen des Produktinnovationsprozesses

Claus Lang-Koetz/ Daniel Heubach/ Severin Beucker

In den friihen Phasen des Produktinnovationsprozesses, insbesondere den Pha­sen der Orientierung und der Ideengenerierung werden zentrale Entscheidungen getroffen, die sich auf die zukiinftigen Nachhaltigkeitseffekte und Umweltwir­kungen eines Produktes auswirken. Diese verhaltnismaBig groBen MogHchkei-ten zur nachhaltigen und umweltfreundlichen Gestaltung in den friihen Phasen des Produktinnovationsprozesses stehen jedoch oft im Widerspruch zu dem Wissen, das die am Innovationsprozess beteiligten Akteure uber mogliche Um­weltwirkungen und Risiken haben. Viele existierende Instrumente z.B. aus dem Okodesign oder der Okobilanzierung greifen erst in spateren Phasen des Inno-vationsprozesses, wenn wesentliche Parameter eines zukiinftigen Produktes bereits festgelegt sind und nicht mehr grundsatzlich in Frage gestellt werden.

Ziel des vorgestellten Ansatzes ist es, in den friihen Phasen des Innovations-prozesses die Beriicksichtigung zu erwartender Umweltwirkungen einer Pro-duktidee zu ermoglichen. Basierend auf der Stage-Gate-Methode von Cooper (Cooper 2001) wird daher ein Modell zur Abschatzung von Umweltwirkungen in friihen Phasen des Innovationsprozesses vorgestellt. Dort werden den einzel-nen Phasen des Stage-Gate-Prozesses Handlungsstrategien einer umweltgerech-ten Produktgestaltung zugeordnet. Damit sollen gesetzliche Anforderungen und Stakeholder-Anforderungen friih in den Innovationsprozess integriert werden konnen und so Richtungssicherheit im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung erreicht werden. Dabei wird auf den Konflikt zwischen notwendigem Orientie-rungswissen und dem Umgang mit Nichtwissen im Innovationsprozess einge-gangen\

Die vorgestellten Arbeiten werden im Projekt „nova-net: Innovation in der Intemetokonomie" im Themenfeld „Life Cycle e-Valuation" durchgefiihrt. nova-net stellt einen von sieben For-schungsschwerpunkten innerhalb des vom Bundesministerium fur Bildung und Forschung ge-forderten Forschungsprogramms Intemetokonomie dar. Im Projekt werden Theorien, Strategien und Instrumente fiir nachhaltige Produkt- und Serviceinnovationen analysiert und entwickelt. nova-net wird durch das Fraunhofer lAO koordiniert. Projektpartner sind neben dem lAO das Institut fur Politikwissenschaft (IfP) der Universitat Tiibingen, das Institut fiir Parallele und Ver-teilte Systeme (IPVS) der Universitat Stuttgart, das Borderstep Institut fur Innovation und Nachhaltigkeit, die InTraCoM GmbH und das Steinbeis-Zentrum fiir Zukunftsfahige Innovatio-nen und Systemlosungen.

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418 Claus Lang-Koetz/ Daniel Heubach/ Severin Beucker

1 Einleitung

In den frtihen Phasen des Produktinnovationsprozesses kann wesentlicher Ein-fluss auf die nachhaltige und umweltfreundliche Gestaltung eines Produktes genommen werden. Jedoch ist das Wissen der am Innovationsprozess beteilig-ten Akteure tiber mogliche Umweltwirkungen und Risiken zumeist gering. Im Folgenden wird ein Ansatz vorgestellt, der die Berticksichtigung zu erwartender Umweltwirkungen einer Produktidee in den fruhen Phasen des Innovationspro-zesses ermoglicht.

Dazu werden zunachst Charakteristika der fruhen Phasen des Innovations-prozesses sowie Methoden der Umweltwirkungsbewertung und ihre Defizite beschrieben. Der Stage-Gate-Prozess von Cooper (Cooper 2001) zur Unterstiit-zung des betrieblichen Innovationsprozesses sowie die acht, in der Praxis aner-kannten Handlungsstrategien des EcoDesign Strategy Wheels von Brezet/van Hemel (1997) werden vorgestellt. SchlieBlich wird ein Modell zur Abschatzung von Umweltwirkungen in friihen Phasen des Innovationsprozesses hergeleitet. Es dient dazu, gesetzliche Anforderungen und Stakeholder-Anforderungen friih in den Innovationsprozess zu integrieren und Richtungssicherheit im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung zu erreichen. Das Modell beruht auf der der Zuordnung einzelner Handlungsstrategien der umweltgerechten Produktgestal-tung zu den fruhen Phasen des Stage-Gate-Prozesses.

2 Die fruhen Phasen des Innovationsprozesses

Den im Folgenden vorgestellten Arbeiten liegt ein auf Fichter/Paech (2003) zuriickgehendes Verstandnis des betrieblichen Innovationsprozesses zugrunde, welches die weithin akzeptierten Phasen der Ideengenerierung, -akzeptierung und -realisierung^ um die Phase der Orientierung erganzt.

Fruhe Phasen des Innovationsprozesses

Abbildung 49: Phasen des Innovationsprozess nach Fichter/Paech (2003: 31)

Vgl. hierzu stellvertretende HerstattA^erwom (2003).

Page 425: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Abschatzung von Umweltwirkungen 419

Ftir die nachhaltige und umweltfreundliche Gestaltung von Produkten kommt den friihen Innovationsphasen, insbesondere den Phasen der Orientierung und der Ideengenerierung (siehe auch Abbildung 49) grofie Bedeutung zu.

Zu den fruhen Phasen des Innovationsprozesses gehoren alle Schritte und Tatigkeiten von der Orientierung bis Ideengenerierung und Konkretisierung einer Produktidee als grobes Konzept. Die friihe Phase umschlieBt im Allge-meinen alle Tatigkeiten bis zum Start eines Entwicklungsprojekts mit der Res-sourcenplanung (Herstatt/Verwom2003). Zur Phase der Ideengenerierung wer-den die Schritten der Ideengewinnung, -bewertung und -auswahl, Initiative, Zielbildung und der Konzepterstellung gezahlt (siehe Abbildung 49). Nach einer Zusammenstellung von Herstatt und Verwom (2003) gehoren zu der frii­hen Phase zudem die Schritte der Marktanalysen, die Ausarbeitung eines Pro-duktkonzeptes, die Produktplanung sowie die Produktspezifikationen und -architektur.

Die fruhen Phasen sind charakterisiert durch ein hohes MaB an marktseiti-gen und technischen Unsicherheiten. Marktunsicherheiten sind dadurch ge-kennzeichnet, dass eindeutige Kundenanforderungen nicht vorliegen und das Innovationspotenzial nur schwer abgeschatzt werden kann. Der zukiinftige Nutzungszusammenhang fiir eine Produktidee fehlt, sodass der zukiinftige Ein-satz der Innovationen kaum bewertet werden kann.

Technische Unsicherheiten entstehen wiederum aus einer unzureichenden Herausarbeitung des Kundenbedarfs aus technischen Spezifikationen. Das An-wendungspotenzial neuer Technologien oder Technologiekombinationen kann in dieser friihen Phase hinsichtlich der zukiinftigen Kundenakzeptanz nur schwer erfasst werden. Zudem kann die technische Machbarkeit nicht immer eindeutig bewertet werden. Erst im weiteren Fortgang des Innovationsprozesses kann diese Unsicherheit - dargestellt als Differenz zwischen benotigten und vorhandenen Informationen - reduziert werden (HerstattA^erwom 2003).

Eine weitere Unsicherheit bezieht sich auf okologische und soziale Auswir-kungen und wird mit dem Begriff Zukunftsfahigkeit bezeichnet. Darunter kon-nen sowohl direkte soziale und okologische Effekte eines Produkts als auch sowie indirekte Effekte verstanden werden (Fichter/Paech 2003).

Eine Entscheidung iiber eine Realisierung von Ideen im Untemehmen, wird oftmals anhand der in den friihen Phasen des Innovationsprozesses gewonnenen Einschatzungen getroffen. Daraus folgt, dass Produktideen trotz hoher Unsi­cherheit und geringem Wissen nach marktlichen, technischen und okologischen Gesichtspunkten bewertet werden miissen. Andererseits ist die Hebelwirkung auf wesentliche Einflussparameter in den friihen Innovationsphasen besonders groB: Mit einem relativ geringen Kostenaufwand werden in diesen Phasen ein groBer Kostenanteil bestimmt. Herstatt/Verwom (2003) zitieren eine Abschat­zung von Burgel und Zeller, wonach 75 bis 80% der Produktlebenskosten in den friihen Phasenbestimmt werden, der Aufwand dafiir allerdings nur 5 bis 7%

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der Produktlebenskosten betragt. Ebenso konnen die Umweltwirkungen eines Produkts zu diesem Zeitpunkt in hoherem MaBe beeinflusst werden als in spate-ren Phasen (vgl. Abbildung 50).

Kenntnisse der Umweltrelevanz des Produktes/ der Produktidee

Einfluss auf die UmweltwIrkcmgBnl des Produktes/ der Produktidee

Abbildung 50: Kenntnisse der Umweltrelevanz und Einfluss auf die Umweltaspekte aller Produktlebensphasen (in Anlehnung an Ziist 1998)

3 Umweltwirkungsbewertung in den friihen Phasen des Innovationsprozesses

Die Umweltwirkungen eines Produkts ergeben sich aus seiner Interaktion mit der Umwelt. Umwelteffekte werden durch Materialstrome (Ressourcen, Emissi-onen, Abfall, etc.) verursacht, die von der Materialauswahl, der Herstellung, der Nutzung und der End-of-Life-Gestaltung eines Produktes abhangen. Mit Hilfe von Methoden der Umweltwirkungsbewertung konnen komplexe Umwelteffek­te von Produkten iiber deren Lebenszyklus analysiert werden. Das Vorgehen orientiert sich dabei an einer systemischen Betrachtung: Neben den physischen Materialien (Rohstoffen), wird die dem Produkt zu Grunde liegende Technolo­gic, die Funktionsweise und die Nutzung des Produktes (Sachgut, Dienstleis-tung, hybrides Produkt; nutzungsverlangemde Strategien, Demontage u.a.) mit ihren jeweiligen Umweltwirkungen beriicksichtigt. Es kann dabei in ex-ante-und ex-post- Ansatze der Bewertung unterschieden werden. Methoden des Life Cycle Assessments (LCA) basieren auf in erster Linie auf ex-post-

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Abschatzung von Umweltwirkungen 421

Betrachtungen^ (z. B. LCA nach ISO 14040 ff, Simplified LCA, Matrix Appro­ach, vgl. Schaltegger/Burritt 2000). Methoden des Life-Cycle-Thinkings fokus-sieren auf ex-ante-Betrachtungen potenzieller Umweltwirkungen (EcoDesign-Ansatze, z. B. Ecodesign strategy wheel (Brezet, van Hemel, 1997), Ecodesign-Pilot (Wimmer, Zust 2001), Eco-Effectiveness (McDonough, Braungart 2002), Ressourcenproduktivitat - MIPS (Schmidt-Bleek 1998)).

Da in den friihen Phasen zunachst ein Such- und Bewertungsprozess neuer Ideen durchgefuhrt wird, liegen noch keine konkreten und defmierten Informa-tionen zu Produkten bzw. deren Altemativen vor. Die Ausgestaltung der einzel-nen Lebenszyklusphasen ist zu diesem friihen Zeitpunkt noch weitestgehend unbekannt oder ist Gegenstand des Innovationsprozesses. Daher kann eine po-tenzielle Interaktion des zu erstellenden Produktes mit der Umwelt nur zu unzu-reichend abgeschatzt werden.

Daher sind auch Methoden der Umweltwirkungsbewertung in den friihen Phasen des Innovationsprozesses nur schwer anwendbar, denn sie erfordem eine relativ genaue Spezifikation des zu entwickelnden Produkts. Die Komple-xitat vorhandener Ansatze zur Umweltwirkungsbewertung und die Anforderun-gen an die bereitzustellenden Daten machen eine voUstandige Bewertung von Produktideen praktisch unmoglich (Staudt/Schrott 2001).

Jedoch kann durch verschiedene Ansatze Richtungssicherheit im Innovati-onsprozess im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung gewonnen werden. Nach Fichter/Paech (2003) konnen fiir die Entwicklung eines Produktes richtungs-weisende „Leitplanken" definiert werden. Dabei symbolisiert die exteme Leit-planke die Interaktion mit gesellschaftlichen Akteuren, Stakeholdem, Netzwer-ken oder potenziellen Nutzem. Als interne Leitplanke wirkt dagegen ein prozessual ausgerichtetes Innovationsmanagement, in dem interne Aufgaben, Methoden und Instrumente vorgegeben werden. Eine ex-ante-Steuerung fmdet in den Phasen Orientierung, Generierung und Akzeptierung statt. In der Phase der Ideenrealisierung ist die Innovationsidee schon als konkretes Innovationsob-jekt ausformuliert und kann daher nur noch ex-post betrachtet werden (Fich­ter/Paech 2003).

Fur die Gewahrleistung von Richtungssicherheit ist auch die Informations-beschaffung und das Wissensmanagement von groBer Bedeutung (Fichter/Paech 2003). Z.B. mussen Informationen und Wissen iiber zu erwartende Umweltwir-

Zwar finden sich in der aktuellen Literatur eine Reihe von Beitragen, die vor allem unter dem Stichwort des Life-Cycle-Management fur einen friihen Einsatz des Instrumentes LCA sprechen (siehe z.B. Charter/Tischner (2001)), in der untemehmerischen Praxis werden LCA's jedoch in erster Linie far die Bewertung existierender oder weitestgehend marktreifer Produkte genutzt. Dies erklart sich auch aus den fiir die Durchfuhrung einer LCA notwendigen detaillierten Daten zur Sachbilanzierung und Wirkungsabschatzung sowie den fur die Bildung von Systemgrenzen erforderlichen Informationen. Ihre Erfassung ist in der betrieblichen Praxis mit grol3em Auf-wand verbunden (siehe z.B. Beucker (2005)).

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kungen innerhalb des Innovationsprozesses zur Verfiigung gestellt werden. Diese konnen dann im Rahmen einer ex-ante-Bewertung von zu erwartenden Umweltwirkungen genutzt werden. Die Herausforderung ist, in einem Stadium groBer Unsicherheit Informationen bereit zu stellen, die einerseits als Einfluss-groBen zur Schaffung eines umweltfreundliches Produkt und andererseits als BewertungsgroBen fur zu erwartende Risiken dienen konnen. Zudem miissen solche Informationen mit geringem Aufwand erstellt oder bereitgestellt werden konnen.

4 Organisation des betrieblichen Innovationsprozesses in der Praxis

Als konzeptionelle Basis fur die Integration der Umweltwirkungsbewertung in betriebliche Innovationsprozesse kann die Stage-Gate-Methode genutzt werden. Diese wurde von Cooper aufgrund umfangreicher empirischer Analysen entwi-ckelt (vgl. Cooper/Kleinschmidt 1986) und ist mittlerweile in Wissenschaft und Praxis weit verbreitet (vgl. Verwom/Herstatt 2000). Eine detaillierte Beschrei-bung der Methode fmdet sich in Coopers Buch „Winning at New Products" (Cooper 2001) und dem deutschen Buch „Erfolgsfaktor Markt, Kundenorien-tierte Produktinnovation". (Kleinschmidt et al. 1996). Basierend auf diesen Quellen wird im Folgenden ein kurzer Uberblick uber die Stage-Gate-Methode gegeben (siehe Abbildung51).

Mit Coopers Methode soil die Durchftihrung des Innovationsprozess qualita-tiv verbessert werden, die dabei auftretenden Fragestellungen interdisziplinar gelost und eine bessere Markt- und Kundenorientierung erreicht werden. Au-Berdem soil generell durch systematisches Vorgehen die dem Prozess anhaften-den Risiken vermindert werden.

Der Stage-Gate-Prozess wurde basierend auf empirischen Untersuchungen in Untemehmen erstellt. Dabei wurde der Innovationsprozess in Phasen unter-teilt, den so genannten Stages. Jede Phase besteht aus vorgeschriebenen, funkti-onenubergreifenden und parallel stattfmdenden Aktivitaten. Jede Phase beginnt mit einem Tor, dem so genannten Gate. Diese Tore dienen der Qualitatskontrol-le, sie Uberprlifen, ob ein Projekt weitergefiihrt oder beendet wird.

In jeder Phase des Prozesses werden Informationen gesammelt, die benotigt werden, um das konkrete Innovationsvorhaben voran zu bringen. Diese Infor­mationen verringem Unsicherheiten und dienen als Entscheidungsgrundlage uber die Fortfiihrung des Projektes. Jede Phase ist funktionstibergreifend, so-dass Aktivitaten aus Forschung und Entwicklung (F&E) sowie Marketing zu-sammen ausgefuhrt werden. Der Aufwand zur Ermittlung der Informationen ist zunachst gering und steigert sich von Phase zu Phase (Cooper spricht von einem typischen Personalaufwand von max. 10 Personentagen fiir Phase 1 und ca. 10-

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Abschatzung von Umweltwirkungen 423

20 Personentagen fiir Phase 2). Die zusammengetragenen Informationen werden iiberpruft und im Detaillierungsgrad erhoht.

Jeder Phase folgt ein Tor: Hier kommt das interdisziplinar zusammengesetz-te Projektteam zusammen und entscheidet dann auf Grundlage der gesammelten Informationen und anhand vorher definierter Muss- und Soll-Kriterien, ob das Projekt fortgefuhrt oder abgebrochen werden soil. Prioritaten werden gesetzt und weitere Aktivitaten bestimmt. Termine und Verantwortlichkeiten werden festgelegt sowie finanzielle Mittel und Personalressourcen freigegeben.

Muss-Kriterien gehen z. B. darauf ein, ob sich das Projekt im Rahmen der Geschaftsstrategie befmdet und Umwelt-, Gesundheits- und Sicherheitsvorga-ben eingehalten werden. Soll-Kriterien beschaftigen sich mit dem zu erwarten-den Erlos, der erwarteten Marktattraktivitat sowie der Fahigkeit, benotigte Kemkompetenzen in das Projekt selbst einbringen zu konnen.

Dabei stellt der vorgestellt Prozess einen idealtypischen Ablauf dar. Er muss fur jedes Untemehmen an die spezifischen Bedtirfnisse angepasst werden und kann sich auch in verschiedenen Bereichen desselben Untemehmens unter-scheiden. Dabei soUte der Standardablauf einfach und klar gestaltet werden, vier bis sechs Stufen haben sich in der Praxis bewahrt (Kleinschmidt et al. 1996).

Nach Herstatt und Verwom (2003) wird der Stage-Gate-Prozess hauptsach-lich in Untemehmen eingesetzt, die inkrementelle Innovationen Untersttitzen und strukturieren mochten. Inkrementelle Innovationen greifen auf heutige oder veranderte/ erweiterte Markte zuruck und basieren auf Basis- oder Schliissel-technologien (Pleschak/ Sabisch 1996). Marktunsicherheit und technische Unsi-cherheit sind als niedrig anzusehen. Die Auswirkungen der Innovation auf Kemkonzepte der einzelnen Komponenten oder Baugruppen eines Produktes und auf die Relation der einzelnen Komponenten sind eher schwach (Gerybadze 2004). Bei inkrementellen Innovationen kann daher in hohem MaBe auf vor-handenes Wissen zuriickgegriffen werden.

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Orientierung

Phase 0 i

Ideengewinnung

-Markt -Technik/Technologie -Kosten

-Detaillierte Marktanalysen -Rechtliche Beurteilung -Detaillierte technische Analysen -Projektbegrundung -Produktdefinition -Projektplan -Business Plan (grob) _

-Produktentwicklung -Plane fur Tests und Marketing -Kostenanalysen -Marktanalysen und Kundenfeedback

-Gesamtanalyse Kosten/ Wirtschaftlichkeit/Finanzen -Interne Anwendungstests -Kundentests -Pilotproduktion -Testverkaufe -Einpflegen in die Systeme der Fertigungssteuerung und Logistik]

-Business Plan

-Ausfuhrung des Einfuhrungsplans -Start routinemafliger Produktion -Einlagerung in das logistische System

-Erstverkaufe ~

1. Phase

Ideen Muss- und Sollkriterien

Reichweite festlegen

2. Phase

Zweites — Screening

Rahmen abstecken

3. Phase

Entwicklung

Entwicklung

4. Phase

CTor4>/7 -Testen

Testen und Validieren

5. Phase

zur Markt-_ einfuhrung

Produktion und IViarkteinfuhrung

-Muss- und Sollkriterien aus Tor 1 -Grobe Wirtschaftlichkeits-rechnung

-Qualitatscheck der vorangegangenen Aktivitaten -Differenziertere Muss- und Soll-Kriterien

-Freigabe Produktdefinition -Freigabe Aktionsplan der folgenden Stufe

-Qualitatscheck der vorangegangenen Aktivitaten -Kosten/Wirtschaftlichkeitsanalyse| -Freigabe Aktionsplan der folgenden Stufe

-Qualitatscheck der vorangegangenen Aktivitaten -Detaillierte Wirtschaftlichkeits-und Finanzkriterien

-Freigabe Aktionsplan der folgenden Stufe

Abhildung 51: Der Stage Gate-Prozess nach Cooper (angepasst nach Cooper 2001 und Kleins chmidt et al 1996)

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Abschatzung von Umweltwirkungen 425

5 Modell zur Abschatzung von Umweltwirkungen in friihen Phasen des Innovationsprozesses

Im vorgestellten Ansatz werden Elemente der Umweltwirkungsbewertung in den Stage-Gate-Prozess als systematische Vorgehensweise fiir betriebliche Innovationsprozesse integriert. Dies soil Richtungssicherheit im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung im Innovationsprozess gewahrleisten. In Anlehnung an Fichter/Paech (2003) werden dabei die beiden extemen Leitplanken „Stake-holder-Anforderungen" und „gesetzliche Anforderungen" unterschieden. Diese Anforderungen konkretisieren sich im Laufe des Innovationsprozesses und dienen als Mafigabe fiir die Anwendung des Ansatzes (Abbildung 52). Ziel ist es dabei, die okologische Unsicherheit im Innovationsprozess zu reduzieren.

• • • ^ Gesetzliche Leitpla

Ideen-gewjnnung

Orien-tierung

Reichweite festlegen

Ideen screenen

Rahmen abstecken

Zweites Screening

Entwicklung Testen und Validieren

— K f o r 3 > - ^ Kzli

Konkretisierung

Produktion & Markteinfiihrung

IVIarktein-fuhrung

Stakeholder-Leitplanke

Konkretisierung

Verringerung der okologischen Unsicherheit

Abbildung 52: Verringerung der okologischen Unsicherheit im betrieblichen Innovati­onsprozess und Gewdhrleistung der Richtungssicherheit im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung

Elemente des vorgestellten Ansatzes sind das Lebenszyklusdenken und Hand-lungsstrategien zur Verringerung von Umweltwirkungen von Produkten, die in den Stage Gate-Prozess integriert und einzelnen Phasen zugeordnet werden. Dieser Prozess wird vor allem fiir inkrementelle Innovationen angewandt (s.

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oben). Es kann also davon ausgegangen werden, dass Grundinformationen iiber die Produktidee und deren mogliche Umsetzung im Untemehmen vorhanden sind.

Lebenszyklusdenken Der konventionelle Fokus auf Produktentwicklung, Produktion und Distribution wird angereichert durch einen Lebenszyklusfokus. Dazu ist ein Perspektivwech-sel erforderlich. Ziel eines Lebenszyklusdenkens ist zunachst die Erweiterung des Sichtfeldes und die ganzheitliche Betrachtung einer Produktidee aus Sicht des Produktlebens, von der Werkstoff-/ Rohstoffauswahl, der Produktion und Distribution, iiber die Nutzung bis zum End-of-Life (Jensen at al. 1997).

Bei dessen Anwendung im Stage-Gate-Prozess steht jedoch keine detaillier-te Betrachtung der einzelnen Phasen im Vordergrund. Vielmehr soil durch die Skizzierung des erwarteten Lebenszyklus eine Reflexion iiber mogliche Um-weltwirkungen und eine Sensibilisierung erreicht werden. So konnen die wich-tigsten Handlungsfelder des zu erstellenden Produktes aus okologischer Sicht identifiziert werden.

Handlungsstrategien zur Verringerung von Umweltwirkungen Des Weiteren werden Handlungsstrategien zur Verringerung von Umweltwir­kungen von Produkten angewandt. Sie geben Impulse und Ansatzpunkte fiir die Betrachtung von moglichen Umweltwirkungen des Produktes und werden, entsprechend dem Zweck und Informationsbedarf der Strategic, den Phasen des Stage-Gate-Prozesses zugeordnet (siehe Abbildung 53). Dabei fmden zunachst grobe Abschatzungen statt, die dann im Laufe des Innovationsprozesses detail-lierter iiberpriift werden. Es werden die von Brezet/van Hemel (1997) formu-lierten acht Handlungsstrategien zur Verringerung der Umweltwirkungen von Produkten genutzt. Sie orientieren sich am Lebenszyklus eines Produkts, sind in der umweltgerechten Produktentwicklung allgemein anerkannt und dienen als Grundlage fur praxisnahe Konzepte des Okodesigns (vgl. Birkhofer et al. 2000, Wimmer et al. 2004):

1. Auswahl von Materialien mit geringen Umweltwirkungen: Zu bevorzugen sind Materialien mit geringer Umweltgefahrdung und klei-nem „okologischem Rucksack", emeuerbare Materialien, rezyklierte Mate­rialien, rezyklierbare Materialien und Materialien, die iiber eine geringe Materialintensitat verfiigen, ein geringes Umweltgefahrdungspotenzial (z. B. Toxizitat) besitzen und leicht zu entsorgen sind.

2. Reduktion des Werkstoffeinsatzes (Dematerialisierung): Eine Dematerialisierung kann durch die Verwendung neuer Materialien er­reicht werden, um Gewicht und Transportvolumen zu verringem. Dies fiihrt auch zu geringerem Ressourcenverbrauch beim Transport des Produkts.

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Abschatzung von Umweltwirkungen 427

3. Optimierung der Produktion: Wenn das Produkt und dessen Herstellung schon klar defmiert sind, kann der Ressourcenverbrauch bei der Produktion durch eine Optimierung der innerbetrieblichen Material- und Energiestrome und der Produktionsprozes-se optimiert werden. Dies gelingt z. B. durch alternative Produktionstechni-ken, weniger Produktionsschritte, eine energieeffiziente Herstellung, die Optimierung der Materialstrome oder die Verringerung von Produktionsab-fallen.

4. Optimierung der Distribution: Der Transport eines Produktes im Rahmen der Distribution kann zu erheb-lichen Umweltwirkungen ftihren. Eine Optimierung der Distribution kann z. B. durch eine verbesserte Verpackung (geringe Masse, umweltfreundli-che und rezyklierbare Inhaltsstoffe) oder energieeffizienten Transport er-reicht werden.

5. Optimierung der Nutzungsphase: Umweltwirkungen, die in der Nutzungsphase entstehen, konnen durch eine Verringerung des Ressourcenverbrauchs reduziert werden, z. B. beim Ein-satz von Hilfs- und Betriebsstoffen bei Betrieb und Wartung von Werk-zeugmaschinen.

6. Verldngerung der Produktlebensdauer: Eine hohere Produktlebensdauer fuhrt zu einem geringeren Ressourcen­verbrauch bezogen auf den Produktnutzen. Diese kann durch eine hohere Zuverlassigkeit und Langlebigkeit, eine leichtere Wartung und eine verbes­serte Reparierbarkeit, eine modulare Produktstruktur, klassisches Design und generell durch eine enge Produkt-Nutzer-Beziehung erreicht werden.

7. Optimierung des End-of-Life des Produkts: Das Produkt sollte so gestaltet sein, dass an seinem Lebensende eine Wie-derverwendung, Wiederaufbereitung, Recycling oder eine Wiederverwer-tung durchgefuhrt werden kann.

8. Entwicklung eines neuen Produktkonzepts (@-Strategie): Die ©-Strategic fokussiert auf neue, funktionale und umweltfreundliche Produktkonzepte: Im Zentrum der Uberlegung stehen Fragen der Funkti-onsintegration (Integration mehrerer Funktionen in ein Produkt, sodass z. B. die Anzahl der Gerate reduziert wird, vgl. Copy-Scan-Fax-Print-Gerate), der Funktionsoptimierung (umweltfreundliche Gestaltung von Produkt-Hilfsfunktionen, z.B. die „Luxus-Anmutung" einer Verpackung wird statt mit aufwandigem Materialeinsatz durch ein „Luxus-Design" erzielt), der Dematerialisierung (z. B. indem der Produktnutzen durch Dienstleistungen zur Verfiigung gestellt wird, vgl. Anrufbeantworter als Dienstleistung) oder der Mehrfachnutzung des Produkts (vgl. Car-Sharing).

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Die Handlungsstrategien werden in der Praxis durch konkrete Leitfragen zur Anwendung im Untemehmen operationalisiert (siehe beispielhaft Leitfragen in Abbildung 54). Vor dem Hintergrund der eher geringen Kenntnisse iiber ein Produkt in der friihen Phase des Innovationsprozesses und dem zunehmenden Wissensgewinn im weiteren Verlauf, werden die Handlungsstrategien stufen-weise in den Stage-Gate-Prozess eingebunden (Abbildung 53).

Bereits mit der Identifizierung und Sammlung von Ideen in der Phase 0 „Ideengewinnung" konnen erste Uberlegungen zur Materialauswahl (Hand-lungsstrategie 1), zur Optimierung des End-of-Life (Handlungsstrategie 7) so-wie zu einem neuem Produktkonzept (Handlungsstrategie 8) in den Stage-Gate-Prozess eingebunden werden. Hier werden eventuell erste Untersuchungen iiber neue technologische Moglichkeiten durchgefiihrt. Somit konnen die Handlungs­strategien auch bei einer relativ unkonkret ausformulierten Produktidee schon angewendet und erwartete Umweltwirkungen berucksichtigt werden. Zum Teil sind einfache Abschatzungen mit relativ geringem Aufwand durchfiihrbar.

Auch die Frage der Dematerialisierung (Handlungsstrategie 2) kann bereits zu diesem relativ friihen Zeitpunkt in Phase 1 aufgegriffen werden, z. B. durch die Betrachtung moglicher Ressourceneinsparungen durch den Einsatz neuer Technologien. Mit der Analyse von Technik/Technologie in dieser Phase wird hierfur eine wichtige Weichenstellung getroffen bzw. kann das Blickfeld bei der Analyse geweitet werden.

Die Handlungsstrategien unterstiitzen auch die Konkretisierung der umwelt-gesetzlichen Anforderungen (Gesetzliche Leitplanke) sowie die Anforderungen von Stakeholdem (Stakeholder-Leitplanke) (vgl. Abbildung 52):

•=> Handlungsstrategien zur Beriicksichtigung gesetzlicher Anforderungen Die in einige Gesetze des Umweltrechts eingeflossene Beweislastumkehr (vgl. ElektroG, ProdHaftG, GPSG) fiihrt zu einer erhohten Produktverant-wortung und -haftung von Untemehmen. Wichtige gesetzliche Anforde­rungen an Produkte beziehen sich auf verwendete Inhaltsstoffe und Materi-alien (z. B. geplante EU-Chemikalienverordnung REACH oder RoHS-Richtlinie zur Beschrankung der Verwendung gefahrlicher Stoffe) sowie die End-of-Life-Gestaltung (z. B. ElektroG, AltautoV). Deren Betrach-tungshorizont bzw. die generelle Bedeutung der Materialauswahl und der End-of-Life Strategic wird durch die Handlungsstrategie 1 (Materialaus­wahl) und 7 (End-of-Life) in den Innovationsprozess integriert.

•=> Handlungsstrategien zur Beriicksichtigung von Stakeholder-Anforderungen •=> Stakeholder-Anforderungen an ein Untemehmen sind spezifisch und von

dem jeweiligen wirtschaftlichen und kulturellen Hintergmnd abhangig. Ei­ne vorausschauende Berucksichtigung von Umweltwirkungen gemaB dem Vorsorgeprinzip kann durch eine Input-bezogene Herangehensweise er-reicht werden, indem eine Verringemng der Ressourcenintensitat und die

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Abschatzung von Umweltwirkungen 429

grundsatzliche Vermeidung von Inhaltsstoffen mit hoher Umweltwirkung angestrebt wird. Dazu eignen sich insbesondere Handlungsstrategien 1 und 2.

Die Handlungsstrategien 5 und 6 zur Optimierung der Nutzungsphase und Ver-langerung der Produktlebensdauer tragen ebenso zur Berlicksichtigung von gesetzlichen und Stakeholder-Anforderungen bei. Sie beziehen sich hauptsach-lich auf Aspekte der Konstruktion, der Bedienbarkeit von Produkten und des Designs und setzten ein gestalterisches Konzept flir das Produkt voraus. Erste Kenntnisse darliber konnen schon in Phase 2 („Rahmen abstecken") des Innova-tionsprozesses bekannt sein, wodurch eine Anwendung dieser beiden Hand­lungsstrategien moglich wird.

Zur Optimierung von Produktion und Distribution (Handlungsstrategien 3 und 4) mtissen schon Kenntnisse uber die Herstellung des Produkts und die damit verbundene Logistik bekannt sein. Dies ist zumeist erst im Laufe der Produktentwicklung (Phase 3) der Fall. Daher werden diese Handlungsstrate­gien in Phase 3 des Stage-Gate-Prozesses angewandt.

1 Auswahl von Materialien mit geringen Umweltwirkungen

2 Reduktion des Werkstoffeinsatzes (Dematerialisierung)

S 3 Optimierung der Produktion "55

^ 4 Optimierung der Distribution CO

§ 5 Optimierung der Nutzungsphase

: t 6 Verlangerung der Produktlebensdauer

7 Optimierung des End-of-Life des Produkts

8 Entwicklung eines neuen Produktkonzepts (@-Strategie)

Phase 0

Phaser) des Stage-Gate-Prozesses

Phase 1

Phase 2

Phase 3

Abbildung 53: Anwendung der unterschiedlichen Handlungsstrategien fur eine umwelt-gerechte Produktentwicklung von Brezet/van Hemel (1997) im Stage-Gate-Prozess

Umsetzung der Handlungsstrategien durch Leitfragen Die Handlungsstrategien werden durch entsprechende Leitfragen operationali-siert. Sie dienen dazu, die Anwender in der jeweiligen Phase im Stage-Gate-Prozess auf Ansatzpunkte fur eine Umsetzung der jeweiligen Handlungsstrate-

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gie hinzufuhren und geben Hinweise flir die Verringerung von Umweltwirkun-gen. Die folgende Darstellung (siehe Abbildung 54) zeigt beispielhaft unter-schiedliche Leitfragen flir die Auswahl von Materialien mit geringen Umwelt-wirkungen (Handlungsstrategie 1).

Werden alle gesetzlich geregelten Gefahrstoffe vermieden?

1st sichergestellt, dass der Einsatz von halogenierten Materialien (Brom, Chlor) vermieden wird?

Werden moglichst keine Materialien verwendet, die bei Brand oder bei BerUh-rung mit Wasser toxische Folgen verursachen?

Konnen Materialien und Komponenten mit einem geringeren okologischen Rucksack eingesetzt werden?

Konnen erneuerbare Materialien verwendet werden (sofern sie nachhaltig ge-wonnen werden)?

Konnen rezyklierte und/oder rezyklierbare Materialien eingesetzt werden?

1st die Materialzusammensetzung so einfach wie moglich (geringe Werkstoff-und Teilevielfalt)?

1st die Anzahl von Verbundstoffen so gering wie moglich (vor allem bei kiirzer-lebigen Produktkomponenten)?

1st das Produktgewicht so gering wie moglich?

Sind Grofie, Fldchenbedarf bzw. Volumen des Produkts so klein wie moglich?

Abbildung 54: Beispielhafte Leitfragen fUr die Operationalisierung der Handlungs­strategie 1: „ Auswahl von Materialien mit geringen Umweltwirkungen"

Die in Abbildung 54 beispielhaft gestellten Leitfragen Handlungsstrategie 1 („Auswahl von Materialien mit geringen Umweltwirkungen") sollten in Phase 0 und 1 des Stage-Gate-Prozesses (siehe Abbildung 53) zunachst durch Abschat-zungen oder kurze Recherchen beantwortet werden. Intensivere Recherchen zu einzelnen Themen, z. B. wie energie- und materialintensiv die ausgewahlten Materialien sind, ob sie ein hohes Umweltgefahrdungspotenzial, z. B. durch Toxizitat haben, oder ob sie problematisch zu entsorgen sind, sollten erst in Phase 2 durchgefuhrt werden.

Im Verlauf des Innovationsprozesses nimmt mit steigendem Wissen und Kenntnissen uber die Ausgestaltung des Produktes die Detaillierung der Be-trachtung zu. Die Leitfragen der Handlungsstrategie werden spezifischer und

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Abschatzung von Umweltwirkungen 431

miissen dann detaillierter beantwortet werden (siehe die zunehmende Anwen-dungsintensitat in Abbildung 53).

6 Ausblick

Das vorgestellte Modell erlaubt die Beriicksichtigung von Umweltwirkungen in den friihen Phasen des Innovationsprozesses und kann damit zur Wahrung von Richtungssicherheit im Sinne einer Nachhaltigen Entwicklung dienen. Eine Erprobung in der Praxis findet momentan statt. Die daraus gewonnenen Er-kenntnisse flieBen in eine Uberarbeitung des Modells ein.

Gleichzeitig werden Kriterien fiir die Tore des Stage-Gate-Prozesses entwi-ckelt, die zur Uberpriifbarkeit der Zukunftssicherheit der Produktidee dienen. Muss-Kriterien ergeben sich dabei aus gesetzlichen Anforderungen. Stakehol-der-Anforderungen oder eigene Vorgaben des Untemehmens zur umweltge-rechten Produktgestaltung konnen in Muss- oder SoU-Kriterien einflieBen.

In der Praxis sind zur Umsetzung der Handlungsstrategien zum Teil um-fangreiche Informationen iiber verwendete Materialien oder Prozesse notwen-dig, um Umweltwirkungen abschatzen zu konnen. Die Bereitstellung entspre-chender Informationen kann einerseits durch eigene Expertise im Untemehmen erfolgen, zum Teil miissen aber auch exteme Informationsquellen genutzt wer­den. Im Weiteren wird daher untersucht, inwieweit durch Intemet-gesttitzte Recherchen geeignete Informationen zur Verfiigung gestellt werden konnen.

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Page 439: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Der Einfluss von Umweltmanagementsystemen auf Umweltinnovationsaktivitaten in Unternjehmen: Empirische Evidenz und Schlussfolgerungen fiir Managementinstrumente

Marcus Wagner

1 Einleitung und Uberblick

Dieser Beitrag untersucht die Hypothese dass die Existenz eines Umweltmana-gementsystems (UMS) in Untemehmen einen positiven Einfluss auf die Durch-fiihrung von Umweltinnovationen hat. Umweltinnovationen werden dabei als die Teilmenge der Innovationen in einer Volkswirtschaft verstanden, welche eine Reduktion der von Produkten oder Prozessen ausgehenden Umweltbelas-tung zur Folge haben. Tiirpitz et al. (2004) weisen darauf hin, dass diese Ein-grenzung der Richtung des durch die Innovation erzeugten technischen Fort-schritts ein wesentliches Definitionskriterium ist fur Umweltinnovationen ist. Rennings (2000) weist weiterhin auf das Merkmal der Doppelextemalitat von Umweltinnovationen hin, der ebenfalls zur Abgrenzung herangezogen werden kann. Hiermit ist gemeint, dass die Durchfiihrung von Umweltinnovationen neben den Innovationen generell zugeschriebenen positiven Extemalitaten aus Spillover-Effekten zusatzlich die Reduktion von extemen Umweltkosten als negativer Extemalitat zur Folge hat (solange Umweltbelastungen mit extemen Kosten verbunden sind). Derart eingegrenzt konnen Umweltinnovationen grundsatzlich weiterhin gemass des Oslo-Manuals (OECD/Eurostat 1997) in Produktinnovationen (umweltgerechte Produktgestaltung) und Prozessinnovati-onen (integrierte Umweltschutztechnologien) unterschieden werden (vgl. auch Tiirpitz et al. 2004; Ziegler & Rennings 2004; Fichter 2005). Eine Reihe von empirischen Studien hat die Determinanten von Umweltinnovationen auf be-trieblicher Ebene und auf der Ebene aggregierter Industrien untersucht. Diese werden im Folgenden kurz dargestellt.

Jaffe und Palmer (1997) untersuchen in dieser Hinsicht den Einfluss von Umweltausgaben auf Innovationsaktivitaten auf Basis eines Panel-Datensatzes des US-amerikanischen verarbeitenden Gewerbes. Sie fmden einen positiven Einfluss von Umweltausgaben auf zukiinftige Forschungs- und Entwicklungs-ausgaben, nicht aber auf die Zahl der Patentanmeldungen. Allerdings kritisieren Brunnermeier und Cohen (2003), dass der gleichzeitige Einfluss von Umwelt­ausgaben auf Forschungs- und Entwicklungsausgaben und Patentanmeldungen nicht modelliert wird und dass die Zahl der Patentmeldungen nicht nur umwelt-orientierte Innovationen beriicksichtigt.

Page 440: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

434 Marcus Wagner

Hemmelskamp (1999) untersucht mit geordneten Probit-Modellen auf Basis von Daten aus dem Mannheimer Innovationspanel von 1993 den Einfluss einer Reihe von Variablen auf die funf mittels Faktoranalyse identifizierten Innovati-onsziele „Entwicklung umweltfreundlicher Produkte", „Reduzierung der Um-weltbelastung in der Produktion", „Senkung des Energieverbrauchs" und „Ver-besserung der Arbeitsbedingungen". Ein Schwerpunkt der Analyse ist dabei die Bewertung des Einflusses der Umweltgesetzgebung auf Innovationsaktivitaten. Dieser wird mittels eines Index modelliert, der fur spezifische Industrien die Betroffenheit durch unterschiedliche Instrumente, wie z.B. Auflagen oder Ab-gaben. Zum Beispiel ergibt sich fur die Entwicklung umweltfreundlicher Pro­dukte ein signifikant positiver Zusammenhang zu Abgaben und ein (schwache-rer) signifikant negativer Einfluss von Auflagen. Diese Ergebnisse weisen auf die Bedeutung der Umweltgesetzgebung auf die Durchfiihrung von Umweltin-novationen hin, die in erweiterter Form auch von Porter und van der Linde (1995) diskutiert wird.

Fur Umweltproduktinnovationen wird weiterhin ein U-formiger Zusammen­hang mit der Beschaftigtenzahl festgestellt, wie er auch von Schumpeter (1934; 1943) allgemein nahegelegt, allerdings von Scherer (1992) auf Basis einer zu-sammenfassenden Bewertung der bis dahin veroffentlichten Studien, die den Einfluss der Firmengrosse auf Innovationsaktivitaten untersuchen, in Frage gestellt wird.^ Hemmelskamp begrundet dies unter anderem damit, dass in vie-len Umwelttechnik-Untemehmen die Mitarbeiterzahl sehr niedrig ist und weist darauf hin, dass der von ihm beobachtete GroBeneffekt nicht linear ist (erst bei ca. 33.000 Mitarbeitem wird wieder ein ahnlich hoher Effekt wie bei kleinen Untemehmen erreicht, der minimale Effekt liegt bei ca. 190 Mitarbeitem). Ein Einfluss umweltorientierter Nachfrage auf die Entwicklung der Entwicklung umweltorientierter Produkte konnte nicht festgestellt werden, obwohl gerade von umweltorientierte Konsumenten eine Rolle als Lead User (von Hippel 1994; 2005) zu erwarten ware. Eine Einschrankung der Untersuchung von Hemmelskamp (1999) ist es, dass die ihr zugrunde liegende Befragung nicht spezifisch auf Umweltinnovationen ausgerichtet war (Tiirpitz et al. 2004).

Rennings et al. (2003; 2005) untersuchen in einer breit angelegten empiri-schen Studie am Beispiel des EG-Oko-Audit-Systems EMAS welche Innovati­ons- und Wettbewerbswirkungen von UMS ausgehen. Auf Basis einer Breiten-befragung und detaillierter Fallstudien arbeiten Sie heraus, dass eine starkere Verkntipfung von Innovations- und Umweltmanagement die Wettbewerbsfa-higkeit von Untemehmen erhohen kann. Zugmnde liegt eine telefonische Be-

^ Einen Uberblick zu theoretischen und empirischen Untersuchungen zur so genannten Porter-Hypothese gibt Wagner (2003).

^ Dies auch der Grund, warum in der vorliegenden Untersuchung kein quadratischer Term fiir die FirmengroBe verwendet wird.

Page 441: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Der Einfluss von Umweltmanagementsystemen 43 5

fragung von 1277 EMAS-validierten Firmen. Die Zusammenhange zwischen UMS und Umweltinnovation wurden dabei auf Basis von binaren Probit-Modellen untersucht. Diese zeigen einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen der Existenz eines UMS und der Durchflihrung von Umweltinnovati-onen. Auch werden etwa die unter EMAS geforderten Umwelterklarungen (im Sinne eines positiven Informations-Spillovers) von anderen Untemehmen daflir verwendet, urn Ideen fur eigene umweltbezogene Innovationen zu generieren.

Die Studie zeigt auf, dass insbesondere Forschungs- und Entwicklungsabtei-lungen starker in die Einfiihrung und Entwicklung von Umweltmanagementsys­temen im Untemehmen eingebunden werden sollten, um dadurch Untemeh-mensstrategie und Produktaspekte besser zu verbinden. Eine wesentliche Schlussfolgerung daraus ist der Bedarf nach besserer Verkniipfung des betrieb-lichen Umwelt- mit dem Innovationsmanagement. Daraus lasst sich auch ein Bedarf nach integrierten Managementinstrumenten ableiten. Eine Einschran-kung der Untersuchung ist es, dass nur Daten von EMAS-verifizierten Unter-nehmen verwendet wurden, so dass eine Verallgemeinerbarkeit hinsichtlich der Determinanten von Umweltinnovationen selbst auf die Grundgesamtheit der Untemehmen des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland allein nur schwer moglich ist. Ziegler und Rennings (2004) stellen weiterhin die Wirkungen von zertifizierten UMS teilweise in Frage, da dort eine EMAS-Validiemng keinerlei Einfluss hat.

Bmnnermeier und Cohen (2003) untersuchen auf der Ebene aggregierter In-dustrien unter anderem den Einfluss von Inspektionen auf Einhaltung der Um-weltauflagen sowie die Hohe der Umweltausgaben (nur laufende Kosten) auf den Umfang der Umweltinnovationen auf Industriebene. Sie verwenden dazu Paneldaten fur den Zeitraum 1983 bis 1992. Einen signifikant positiven Effekt auf die Innovationsaktivitat hatte hierbei nur die Hohe der Umweltausgaben. Allerdings ist die okonomische Relevanz des Effekts relativ gering (+0.04% pro 1 Mio. USD Ausgabenanstieg). Daneben wurde ein signifikant negativer Effekt des Konzentrationsgrades (CR4) auf die Patentaktivitaten beobachtet, far den als Erklamng eine geringere intemationale Wettbewerbsfahigkeit hoherkonzentrier-ter Industrien vorgeschlagen wird.

Umweltinnovationen werden im Modell von Bmnnermeier und Cohen auf Basis von Patenten (erfolgreiche Anmeldungen umweltrelevanter Patente auf Industrieebene) gemessen, was problematisch erscheint, da Patentanmeldungen in vielen Fallen nur begrenzte Aussagen tiber das tatsachliche Niveau der Inno-vationsaktivitaten eines Untemehmens machen (vgl. Ziegler & Rennings 2004). So haben etwa untemehmensspezifische Schutzstrategien fiir geistiges Eigen-tum eine starke moderierende Wirkung auf den Zusammenhang von Patenten und Innovation. Neben dieser Einschrankung verwendet das Modell weder Variablen zu spezifischen umweltbezogenen Instmmenten oder MaBnahmen

Page 442: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

436 Marcus Wagner

noch zum Grad der UMS-Implementierung, und kann keine Aussagen auf Un-temehmensebene machen.

Ziegler und Rennings (2004) untersuchen eine Stichprobe deutscher Firmen (n=588), die in der zweiten Jahreshalfte von 2003 befragt wurde in Hinblick auf den Einfluss von'UMS und spezifischen Instrumenten/MaBnahmen wie Okobi-lanzen und Recyclingsystemen auf zukiinftig geplante umweltbezogene Pro-dukt- und Prozessinnovationen. Sie verwenden dabei binare und multinomiale Discrete Choice Modelle. Bei ersteren hat nur eine ISO 14001 Zertifizierung einen signifikant positiven Effekt auf die Durchfiihrung von Umweltprodukt-und/oder -prozessinnovationen (binare Variable „Produkt- oder Prozessinnova-tion"). In alien anderen binaren Modellen (Modellen mit unabangigen Variablen fiir Produktinnovation allein, Prozessinnovation allein und gleichzeitiger Pro-dukt- und Prozessinnovation) hat weder die Zertifizierung gemaB ISO noch die nach EMAS einen signifikanten Einfluss. Dagegen haben die EinzelmaBnah-men/Instrumente auch bei den multinomialen Discrete Choice Modellen einen signifikant positiven Einfluss zumindest auf die am starksten umweltorientierte Innovationsauspragung. Bei letzteren hat auch eine ISO 14001 Zertifizierung einen signifikant positiven Effekt.

2 Modellentwicklung und Hypothesenformulierung

Die vorliegende Studie untersucht mittels eines binaren Discrete Choice-Modells fur Produkt- und Prozessinnovationen separat Einflussfaktoren fiir die Durchfiihrung von Umweltinnovationen (z.B. Qualitatsmanagementsysteme, FirmengroBe, Alter des Untemehmens, Markteinfltisse) und hier insbesondere die Rolle von UMS. Sie basiert auf einem spezifisch auf Umweltmanagement-und -innovationsaspekte ausgerichteten Fragebogen, erfasst Daten auf der Ebe-ne des Einzeluntemehmens und enthalt sowohl Firmen mit UMS, wie auch solche ohne ein derartiges System.

Es wurde versucht, die Ahnlichkeit mit bisherigen Studien moglichst hoch zu halten, um eine gute Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu ermoglichen. Aller-dings wird vorgeschlagen, die Existenz eines UMS nicht auf Basis von Zertifi-zierungen (EMAS, ISO 14001) zu messen wie etwa bei Ziegler und Rennings (2004) und Tiirpitz et al. (2004), sondem nach dem Implementierungsgrad von UMS und somit unabhangig von einer Zertifizierung. Institutionenokonomische Ansatze (z.B. Russo 2001) leiten aus dem Vorliegen asymmetrischer Informati­on bei der UMS-Zertifizierung Anreize fiir Untemehmen zu opportunistischem Verhalten ab. Ebenso postuliert die neoinstitutionelle Organisationstheorie (DiMaggio & Powell 1983) dass eine Zertifizierung als symbolische Geste wenig Einfiuss auf den Umfang von Umweltinnovationen hat und eher aus institufionellem Isomorphismus und Mimikry-Verhalten motiviert ist.

Page 443: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Der Einfluss von Umweltmanagementsystemen 437

Dagegen lasst sich aus dem ressourcenorientierten Ansatz (Wemerfelt 1984) ableiten, dass eine UMS-Implementierung zum Aufbau von strategischen Res-sourcen und Wettbewerbsvorteilen fiihrt, die einen positiven Einfluss auf Inno-vationsfahigkeit und den Umfang von Umweltinnovationen im Untemehmen hat. Zwar ware aus dieser Sicht eine Zertifizierung nach ISO 14001 oder EMAS als Signalling deutbar, welches tatsachliche Kompetenzen des Untemehmens zusichem kann. Allerdings ware ein positiver Einfluss auf die Innovationsfa-higkeit und den Umfang von Umweltinnovationen auch in diesem Fall vom UMS selbst abhangig und wurde somit durch den Implementierungsgrad erfasst werden: eine Zertifizierung sichert entsprechende Eigenschaften nur zu, ist aber nicht ursachlich fur sie verantwortlich.

Tabelle 28 gibt diesen Zusammenhang wieder, wobei nur diejenigen Unter-nehmen beriicksichtigt sind, die in der Befragung angegeben hatten, dass sie ein UMS implementiert haben.

Tabelle 28: Zusammenhang zwischen UMS-Implementierungsgrad und Zertifizierung*

Art der UMS-Zertifizierung (ggf. nur in Erwdgung gezo-gen/in Vorbereitung bzw. im

Zertifizierungsprozess)

UMS-Imple-mentie-rungsgrad

inBe-tracht ge-zogen

im Aufbau

Ja

Gesamt

EM AS

1

2

42

45

ISO 14001

23

145

456

628

Bei-de

1

5

75

81

Ge­samt

25

152

573

754

* Nullhypothese einer Gleichverteilung tiber alle Zellen wird zum 1%-Niveau zuriickgewiesen (Chi-Quadrat Test nach Pearson); nur zertifizierte Untemehmen beriicksichtigt

Ein weiterer Unterschied zu einigen der anderen Studien ist, dass im vorliegen-den Fall die bereits von den Untemehmen durchgeftihrten Umweltinnovationen als abhangige Variablen verwendet werden. Zwar weisen Ziegler und Rennings (2004) darauf hin, dass dies zu Endogenitatsproblemen ftihren konnte und dass eine Verwendung von Aussagen tiber zukiinftig geplante Umweltinnovationen (d.h. von zeitverzogerten abhangigen Variablen) diese zumindest mindem konnte. Andererseits riskiert aber eine Verwendung zukunftsgerichteter Aussa­gen groBere Unsicherheit beztiglich des tatsachlichen Eintreffens einer Aussage

Page 444: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

438 Marcus Wagner

und ist (zumindest potenziell) auch starker von Verzerrungen aufgrund sozial erwtinschten Antwortverhaltens betroffen, die bei einer bereits durchgefuhrten Innovation so nicht bestehen. Weiterhin sehen Ziegler und Rennings (2004) hier vor allem Probleme beim Einfluss von Umweltinnovationen auf spezifische organisatorische Umweltmassnahmen. So ist es z.B. erst dann fur ein Unter-nehmen sinnvoll ein Recyclingsystem als organisatorische Massnahme einzu-fuhren, wenn es bereits eine Umweltproduktinnovation durchgefuhrt hat, weil das Recyclingsystem letztlich Teil der Umweltproduktinnovation ist. Derart spezifische Massnahmen werden aber in der vorliegenden Untersuchung nicht abgefragt, so dass ein potentielles Endogenitatsproblem deutlich abgemildert ist, da die Endogenitat von UMS beziiglich Umweltinnovationen zumindest schwa-cher sein soUte, als die spezifischer Massnahmen. Schliesslich weisen Tiirpitz et al. (2004) auf die sehr hohe Korrelation zwischen bereits durchgefiihrten und geplanten Umweltinnovationen sowohl im Bereich der Prozess- wie auch im Bereich der Produktinnovationen hin. Dies stellt ebenfalls in Frage, inwiefem ein potenziell bestehendes Endogenitatsproblem durch das Ausweichen auf Aussagen iiber geplante Innovationen tatsachlich vermieden wird.

Die wesentliche Hypothese, die in der vorliegenden Studie untersucht wird, ist die, dass die Existenz eines UMS unabhangig von einer Zertifizierung einen positiven Einfluss auf die Durchfuhrung von Umweltinnovationen im Uriter-nehmen hat. Dabei werden als abhangige Variablen der Analyse Aussagen des Untemehmens zur umweltgerechten Gestaltung eines neuen Produktes und zum Einsatz produktionsintegrierter umweltfreundlicher Technologien bzw. zum produktionsintegrierter Umweltschutz verwendet. Auf diese Fragen antworteten die Untemehmen jeweils mit Ja oder Nein, wobei es auch moglich war, die erfragte Innovationsaktivitat als nicht anwendbar einzustufen. Die Verwendung einer allgemeinen Frage zur Bewertung UMS-Implementierungsgrad scheint angemessen, da eine hohe Assoziation zwischen dieser und der Zahl der einzel-nen UMS-Elemente im Untemehmen (aus einer Gesamtzahl von zehn; Mittel-wert: 5,7; Standardabweichung: 3,5) bestand, die sich signifikant zwischen den Implementierungsstufen unterscheidet (vgl. Abbildung 55).

Die UMS-relevanten Elemente waren: schriftlich verfasste Umweltpolitik, geregeltes Verfahren zur Sicherstellung der Rechtskonformitat, erste Bestandsaufnahme/Umweltprufung, Verwen­dung messbarer Umweltziele, Programm um die Umweltziele zu erreichen, klar definierte Zu-standigkeitenA^erantwortlichkeiten, Umweltschulungsprogramm fiir Mitarbeiter, Umweltziele als Teil eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses, eigenstandiger Umwelt- bzw. Gesund-heits-, Sicherheits- und Umweltschutzbericht oder Umwelterklarung sowie Auditsystem zur U-berprufung der Wirksamkeit des Umweltprogramms.

Page 445: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Der Einfluss von Umweltmanagementsystemen 439

C o E

Lil

A

c "N 4-c o 73 ! C 5 '•

I

I Z

I I I Nein in Betracht gezogen im Aufbau befindlich

UMS-implementierungsgrad

Ja

Abbildung 55: Zusammenhang zwischen Implementierungsgrad und UMS-Elementen (n=1693)

3 Datenerhebung und Analysemethodik

Die empirische Analyse basiert auf Daten aus der Befragung „European Busi­ness Environment Barometer (EBEB)". Diese wurde bis 2001 in etwa zweijah-rigem Tumus als schriftliche Fragebogenerhebung zum Stand des Umweltma-nagements in der Untemehmenspraxis in mehreren europaischen Landem durchgefiihrt. Der Fragebogen erfasst dabei wesentliche Umweltwirkungen die vom Untemehmen ausgehen und Forderungen von Anspruchsgruppen an das Untemehmen. Weiterhin erhebt die Befragung die wesentlichen organisatori-schen und technischen Aktivitaten um auf Umweltwirkungen und Anspruchs­gruppen zu reagieren. Ebenfalls wurden die Untemehmen gebeten, eine Ein-schatzung des Nutzens ihrer Umweltmanagementaktivitaten in hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte durchzufuhren/

Der der Erhebung zugrunde liegende Fragebogen kann unter www.agf.org.uk/pubs/pdfs/German.pdf eingesehen werden.

Page 446: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

440 Marcus Wagner

Die folgend dargestellten Ergebnisse basieren auf der letzten EBEB-Befragungsrunde von 2001, welche in neun Landem durchgeflihrt wurde. Bau-mast und Dyllick (2001) stellen deskriptive Resultate und einen ersten Ver-gleich beziiglich der Relevanz unterschiedlicher technologischer und organisa-torischer MaBnahmen vor. In der EBEB-Befragungsrunde 2001 wurden annahemd 2100 Firmen des verarbeitenden Gewerbes in den genannten neun Landem befragt. Die zugrunde liegende Stichprobe von Untemehmen an die Fragebogen versandt wurden war weitaus groCer und wurde in alien Landem eigenstandig auf Basis einer Zufallsauswahl festgelegt. In Deutschland etwa wurden 2000 Untemehmen angeschrieben, von denen 334 Fragebogen zuruck sandten. Dies entspricht einer Antwortrate von 16,7 Prozent. Diese ist ver-gleichbar mit Durchschnitt der anderen Lander (etwa in GroBbritannien 10,7%, Schweiz 14,9%, Niederlanden 18,1%, Ungam 35,2% oder Schweden 36,3%) die in 2001 befragt wurden (vgl. Baumast & Dyllick 2001).

Beziiglich der produkt- und prozessorientierten Umweltinnovationen muss-ten die befragten Untemehmen jeweils angeben, ob diese durchgeflihrt wurden, nicht durchgeflihrt wurden, oder ob die Innovationsaktivitat unzutreffend war. Da alle Variablen binar ausgepragt sind wurde flir die Analyse ein binares Lo-git-Modell (Backhaus et al. 2000) verwendet, in welchem die Parameter mittels der Maximum Likelihood Methode geschatzt werden. Da mit 28 eine hohe Zahl unabhangiger Variablen verwendet wurde, um eine moglichst voUstandige Mo-dellspezifikation sicherzustellen, wurden die Daten flir alle Lander gepoolt, wobei flir die einzelnen Lander Dummy-Variablen eingeflihrt wurden.

Die Auswahl der unabhangigen Variablen flir das Modell orientierte sich an der industrieokonomischen (Schmalensee 1989; Wagner 1992, 1995; Nguyen Van et al. 2000), innovationsokonomischen (Ziegler & Rennings 2004; Hau-schildt 2004) und umweltmanagementbezogenen Literatur (z.B. Schaltegger & Dyllick 2002; Turpitz et al. 2004; Wagner & Schaltegger 2004). Dabei wurde einen Vielzahl von Erklamngsfaktoren als unabhangige Variablen in der Reg-ressionsgleichung beriicksichtigt, so unter anderem FirmengroBe, Lander- und Industriezugehorigkeit, Standort, Existenz eines Qualitatsmanagementsystems (QMS), Marktwachstum, UMS-Implementiemngsgrad und Profitabilitat des Untemehmens. Tabelle 29 gibt einen Uberblick uber die verwendeten Variab­len. gibt die Ergebnisse der Schatzung des zuvor beschriebenen Modells flir Umweltinnovationen allgemein (d.h. nur unterschieden in Produkt- und Pro-zessinnovationen) wieder. Daneben werden verschiedene statistische MaBe und Tests, welche die Qualitat der Schatzung beschreiben, angegeben.

Page 447: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Der Einfluss von Umweltmanagementsystemen 441

Tabelle 29: Zusammenfassung der Variablendefinitionen des verwendeten Regress ions mode I Is

Konzept

Umwelt-innovation allgemein

Land

Variablen-name

Umwelt-produkt-; -prozess-innovation

Belgien

Frankxeich

Ungam

Nieder-lande

Norwegen

Schweden

Schweiz

GroBbri-tannien

Deutsch-land

Beschreibung

Umweltgerechte Gestaltung eines neuen Pro-dukts Einsatz produktionsintegrierter umweltfreund-licher Technologien

Untemehmensstandort in Belgien

Untemehmensstandort in Frankreich

Untemehmensstandort in Ungam

Untemehmensstandort in Holland (Referenz)

Untemehmensstandort in Norwegen

Untemehmensstandort in Schweden

Untemehmensstandort in der Schweiz

Untemehmensstandort in Grofibritannien

Untemehmensstandort in Deutschland

Typ

Binar

Dummy

Dummy

Dummy

Dummy

Dummy

Dummy

Dummy

Dummy

Dummy

Branchen-zugehorig-keit

Emahmng/ Tabak

Textil bzw. Leder

Papier bzw. Holz

Verlag/ Dmck

Ener-gietrager

Chemie

Kunststoffe

Steine und Erden

Emahmngsgewerbe oder Tabakverarbeitung Dummy

Textil- und Bekleidungsgewerbe; Lederge- Dummy werbe

Papierherstellung; Holzgewerbe (ohne Mobel) Dummy

Verlags-ZDmckgewerbe, Ton-, Bild-, Daten- Dummy trager

Kokerei, Mineralolverarbeitung, Spalt- Dummy

/Bmtstoffe

Chemische Industrie, Duftmittel, Kosmetika Dummy

Gummi- und Konststoffwarenherstellung Dummy

Glasgewerbe, Keramik, Steine- Dummy /Erdenverarbeitung

Page 448: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

442 Marcus Wagner

Maschinen Maschinenbau Dummy

Elektro/ EDV, elektrische/optische Gerate, MSR- / Dummy Optik Medizin-ZNachrichtentechnik, Optik

Transport- Kraftwagenteile, Fahrzeugbau, Transport- Dummy

Industrie gewerbe

Metall Firma im Bereich Metallprodukte (Referenz) Dummy

Sonstige Untemehmen ist in keiner genannten Branche Dummy Status der UMS-Im-plementie-rung

Kein UMS Untemehmen hat kein UMS implementiert

Untemehmen zieht UMS-Aufbau in Betracht UMS in Betracht

UMSim Aufbau

UMS vorhanden

UMS befmdet sich im Untemehmen im Auf­bau

Untemehmen hat UMS voUstandig implemen­tiert

Dummy

Dummy

Dummy

Dummy

Andere Kontroll-variablen

Firmenaher Logarithmus des Untemehmensalters in Jahren

Markt- Entwicklung des Hauptabsatzmarktes (5er-wachstum Skala)

Einzelfirma Zutreffend, wenn Untemehmen eigenstandig ist

Konti-nuierlich

Ordinal

Dummy

Qualitat

GroBe

Bmttoer-trag

QMS

Firmengro-Be

Bmttoertrag verglichen zum Aufwand (5er-Skala)

Zutreffend, wenn Untemehmen ein QMS hat

Zahl der Mitarbeiter (in Tausend)

Ordinal

Dummy

Konti-nuierlich

Page 449: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Der Einfluss von Umweltmanagementsystemen 443

Tabelle 30: Ergebnisse der Modellschdtzung fur Umweltprodukt- und -prozessinnovationen *

Abhdngige Variable

Unabhdngige Variablen

Emahrung / Tabak

Textil

Leder

Holz

Papier

Verlag / Druck

Energietrager

Chemieindustrie

Kunststoffe

Steine und Erden

Maschinenbau

Elektro / Optik

Transportindustrie

Sonstige Branchen

Deutschland

Schweden

Schweiz

GroBbritannien

Ungam

Frankreich

Norwegen

Belgien

Umweltproduktinnovation

Koeff.

0,266

-0,669

0,783

0,839

U66

-0,599

0,761

0,896

0,801

1,279

-0,897

1,092

1,143

0,704

1,068

0,232

0,468

0,317

-0,885

0,029

0,596

0,359

Std.fehler

0,269

0,376

1,316

0,379

0,361

0,348

0,783

0,280

0,291

0,403

0,274

0,294

0,398

0,262

0,238

0,223

0,300

0,282

0,405

0,368

0,299

0,241

Exp (Koeff.)

1,305

1,952

2,188

2,315

3,209

1,819

2,141

2,449

2,227

3,594

2,453

2,980

3,138

2,022

2,909

1,261

1,596

1,373

0,413

1,029

1,815

1,432

Umweltprozess innovation

Koeff

-0,096

-0,254

0,085

-0,266

0,394

0,150

-0,270

0,134

-0,493

-0,227

-0,380

-0,309

-0,695

-0,127

0,552

0,270

-0,039

0,156

0M2

0,313

0,236

0,624

Stdfehler

0,214

0,321

0,938

0,327

0,333

0,297

0,665

0,262

0,259

0,327

0,241

0,270

0,362

0,216

0,217

0,194

0,296

0,253

0,264

0,331

0,255

0,205

Exp (Koeff)

0,909

0,776

1,088

0,766

1,483

1,162

0,764

1,144

0,611

0,797

0,684

0,734

0,499

0,881

1,736

1,310

0,961

1,169

1,556

1,367

1,266

1,867

Page 450: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

444 Marcus Wagner

UMS in Betracht gezogen

UMS im Aufbau befindlich

UMS vorhanden

QMS

Marktwachs-tum

FirmengroBe

Firmenalter

Einzelfirma

Bruttoertrag

Konstante

Zahl der Beobach tungen

Zahl der Frei-heitsgrade

Hosmer-Lemeshow-Test

Cox & Snell R

Nagelkerkes R

0,212

0,177

0,507

-0,018

0,087

0,007

0,282

0,195

0,069

-2,785

-2 Log-Likelihood

LR-Test/Chi-Quadrat Statistik

0,237

0,208

0,186

0,178

0,077

0,011

0,190

0,147

0,072

0,558

1059

31

5,429

0,093

0,126

1314,82

103,36

1,237

1,193

1,660

0,982

1,091

1,007

1,326

1,215

1,071

0,062

0,343

0,202

0,685

0,004

0,120

0,144

-0,017

0,038

-0,031

-0,664

0,200

0,177

0,167

0,151

0,066

0,056

0,164

0,131

0,064

0,467

1258

31

4,783

0,059

0,078

1659,08

75,94

1,409

1,223

1,984

1,004

1,127

1,155

0,983

1,038

0,970

0,515

* Fett und kursiv gesetzte Zahlen bezeichnen Signifikanz zum 1%-Niveau, fett gesetzte Zahlen Signifikanz zum 5%-Niveau und kursiv gesetzte Zahlen bezeichnen Signifikanz zum 10%-Niveau.

Page 451: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Der Einfluss von Umweltmanagementsystemen 445

4 Ergebnisse der empirischen Untersuchung

Die Ergebnisse der Untersuchung werden hinsichtlich zweier Aspekte unter-sucht: Einerseits wird der Einfluss einer Reihe von Faktoren auf Umweltpro-dukt- und andererseits auf Umweltprozessinnovationen analysiert. Dabei wurde ein signifikanter positiver Einfluss der Firmengrosse auf die Wahrscheinlich-keit, produktionsintegrierte Umwelttechnologien einzusetzen, festgestellt. Da-gegen wurde kein signikanter Einfluss auf die umweltgerechte Gestaltung eines neuen Produktes festgestellt. Dieses Ergebnis lasst sich mit dem Umfang von Produktinnovationen von kleinen Firmen erklaren und ist konsistent mit den Untersuchungen von Utterback und Abemathy (1975) zum anteiligen Verhalt-nis von Produkt- und Prozessinnovation in verschiedenen Phasen des Innovati-onsprozess (Utterback und Abemathy (1975) unterscheiden eine fluide, transiti-onale und spezifische Phase, wobei letztere nach Festlegung des dominanten Designs beginnt).

Beztiglich der Wirkungen von UMS wurde sowohl fiir produktionsintegrier­te Technologien wie auch fur die Entwicklung umweltgerechter Produkte ein hoch signifikanter positiver Einfluss der UMS-Implementierung festgestellt. Bei Prozessinnovationen wurde daneben auch daflir, dass ein UMS in Betracht gezogen wurde, ein (schwacherer) positiver Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit der Implementierung umweltgerechter Technologien geftinden. Es ist noch genauer zu klaren, worin dieser Effekt begrundet ist. Eine Vermutung ist, dass bereits die Planung eines UMS systematischere Suchprozesse bei Umweltinno-vationen zur Folge hat. In einer Modellvariante wurden zusatzlich in Anlehnung an Ziegler und Rennings (2004) ein binares MaB dafur, ob Umweltaspekte fur das Untemehmen wettbewerblich relevant sind und ob das Untemehmen ex-portorientiert ist, in das Modell aufgenommen. Durch die Einfugung dieser Variablen verbessert sich die Anpassungsgtite flir Produktinnovationen deutlich (Cox/Snell-R^ auf 0,144, Nagelkerke-R^ auf 0,194) und fur Prozessinnovationen etwas (Cox/Snell-R' auf 0,066, Nagelkerke-R^ auf 0,078). Allerdings werden gleichzeitig Fallzahlen deutlich reduziert (fur Produktinnovationen von 1059 auf 985 und flir Prozessinnovationen von 1258 auf 1151). Da Exportorientie-rung in keinem Fall signifikant war, wurde diese wieder aus dem Modell ent-femt, wobei dadurch die Anpassungsgtite und alle Koeffizienten effektiv nicht verandert wurden und die Fallzahlen sich nur marginal erhohten. Tabelle 31 zeigt die Interaktion der Wettbewerbsrelevanz mit den UMS-Variablen. Dieses modifizierte Modell wurde jedoch nicht weiter verfolgt.^

^ In den Modellen, die zusatzlich eine Variable dafur enthalten, ob Umweltaspekte wettbe­werblich relevant sind, werden die Einfliisse von UMS insignifikant, selbst fiir den Fall eines vollstandig implementierten Systems. Es besteht ein starker Zusammenhang zwischen Wettbe­werbsrelevanz von Umweltaspekten und UMS-Implementierung. Dadurch kommt es zu Multi-

Page 452: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

446 Marcus Wagner

Tabelle 31: Interaktion Wettbewerbsrelevanz von Umweltaspekten mit UMS-Implementierung*

UMS im Unternehmen vorhanden?

Umweltaspekte wettbew- Nein erbsrelevant

Ja

Nein

496

115

in Betracht

162

51

im Aufbau

248

109

Ja

324

332

Gesamt

1230

607

* Nullhypothese einer Gleichverteilung iiber alle Zellen wird zum 1%-Niveau zuriickgewiesen

Im Bezug auf die Entwicklung umweltgerechter Produkte wurden positive Lan-dereinfliisse (relativ zum Referenzland Niederlande) wurden festgestellt, die fur Deutschland hoch signifikant und fiir Norwegen signifikant waren. Ein signifi-kanter negativer Einfluss wurde fur Ungam festgestellt. Beziiglich der Imple-mentierung integrierter Technologien wurde ein hoch signifikanter positiver Einfluss fiir Belgien und ein signifikanter positiver Einfluss fiir Deutschland festgestellt.

5 Relevanz von Managementinstrumenten

Uber eine empirische Analyse der Einflussfaktoren fiir Umweltinnovationsakti-vitaten hinaus, die sich hier vor allem auf den Einfluss von UMS konzentrierte ist es letztlich notwendig, konkrete Instrumente aufzuzeigen, wie diese Einfltis-se wirksam werden. Obwohl UMS einige solcher Instrumente nahe legen gibt es moglicherweise weitere, die noch wirksamer sind. Ein in dieser Hinsicht viel versprechendes Managementinstrument ist die Balanced Scorecard (Kaplan & Norton 1997, 2001; Schaltegger & Dyllick 2002), da sie eine verbesserte Inte­gration des Umweltmanagements mit der Untemehmens- bzw. Innovationsstra-tegie ermoglichen kann.^ Dadurch wiirde auch die Innovationsstrategie eines Untemehmens starker mit seinem UMS verzahnt werden.

Neben Umweltmanagementsystemen und Managementinstrumenten wie der Balanced Scorecard, die untemehmensstrategische Uberlegungen (wie z.B. unterschiedliche Innovationsstrategien) mit operativen Aktivitaten der For-schung und Entwicklung verkniipfen, erscheinen insbesondere Instrumente des Technologic- und Innovationsmanagement als geeignete Managementinstru-mente. Hierbei gilt zu berucksichtigen, dass Innovationsfahigkeit ein allgemei-

kolinearitat (s. Tabelle 4), die Schatzungen verfalscht. Dieser Ansatz wurde daher nicht weiter werfolgt. Interessanterweise wurde dieses Potenzial fiir starkere Integration und seine leistungssteigemde Wirkung in der einschlagigen Literatur zur konventionellen Balanced Scorecard (Kaplan & Norton, 1997; 2001; Olve et al, 1999) bisher nicht aufgegriffen.

Page 453: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Der Einfluss von Umweltmanagementsystemen 447

ner Erfolgsfaktor fur Untemehmen ist, wobei Hauschildt (2004) entsprechende Dimensionen des Innovationserfolges in (direkte und indirekte) technische Effekte (direkte und indirekte) okonomische Effekte und sonstige Effekte (z.B. Umwelt- und Sozialeffekte) unterscheidet. Insbesondere letztere haben Rele-vanz im Kontext von Umweltinnovationen. Geeignete Instrumente des Techno-logie- und Innovationsmanagements sollten in der Lage sein, diese sonstigen Effekte besonders detailliert darstellen zu konnen. Bei umweltorientierten Pro-duktinnovationen kommt hier vermutlich dem Verstandnis von Kundenbediirf-nissen eine wesentliche Rolle zu, welches schon Rothwell et al. (1974) als einen wesentlichen Treiber der Innovationsfahigkeit identifiziert hat. Ein solches Verstandnis fuhrt mit hoherer Wahrscheinlichkeit auf ein Neuprodukt mit ein-zigartigem Kundennutzen, welches selbst einen positiven Einfluss auf den In-novationserfolg habt (Cooper 1980; Cooper & Kleinschmidt 1986). Aus dieser Perspektive erscheint die Lead User Methode (von Hippel et al. 1999) ein ge-eignetes Instrument zu sein. So legt der von Hemmelskamp (1999) identifizierte geringe Einfluss umweltorientierter Nachfrage auf die Entwicklung umweltori-entierter Produkte nahe, dass moglicherweise die Anforderungen derartiger Nachfrage in vielen Fallen ein Untemehmen gar nicht erreichen. Die Einfiih-rung eines UMS wird vermutlich im Untemehmen zu einer hoheren Sensibilitat bezuglich umweltorientierter Nachfrage fahren. AUerdings bietet ein UMS kein systematisches Verfahren wie umweltbezogene Anfordemngen gefiltert und verstarkt werden konnen. Gerade dies ist aber die Starke der Lead User Metho­de, die auch dazu beitragen kann, nur aufwendig transferierbare Informationen dem Untemehmen besser zuganglich zu machen (von Hippel et al. 1999, vgl. auch von Hippel 1994; 2005).

6 Schlussfolgerungen und Ausblick

Die wesentliche Hypothese, welche in diesem Beitrag untersucht wurde, war die, dass die Existenz eines UMS (unabhangig von einer etwaigen Zertifizie-mng) einen positiven Einfluss auf die Durchflihmng von sowohl produkt- wie auch prozessbezogenen umweltorientierten Innovationen hat. Dies konnte in der Tat nachgewiesen werden. Ftir Europa insgesamt scheinen UMS einen wesent­lichen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit der Durchfiihmng von Umweltinno­vationen in Untemehmen haben. Die Verwendung von Zertifiziemngen als Mass ftir die Existenz eines UMS ist eine mogliche Erklamng dafiir, dass in empirischen Untersuchungen die Existenz eines UMS teilweise keinen signifi-kanten Einfluss auf Umweltinnovationen hat. UMS wirken letztlich infolge

Page 454: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

448 Marcus Wagner

ihrer Implementierung, nicht erst durch eine Zertifizierung, die einerseits erst spater und andererseits auch nicht zwingend erfolgt.^

Aus diesen Ergebnissen ergibt sich ein Einflusspotenzial von Management-instrumenten, wie es auch durch die Forderung von Ziegler und Rennings (2004) nach einer starkeren Verkniipfung des Technologic- und Innovationsma-nagements mit Umweltmanagementsystemen belegt wird. Dies sollte zunachst (wie im vorherigen Abschnitt dargestellt) auf Basis konkreter Instrumente wie der Lead User Methode oder der Sustainability Balanced Scorecard erfolgen, deren Verkniipfung mit UMS in Einzelprojekten erprobt werden sollte. In einem weiteren Schritt leitet sicher aber daraus auch die Notwendigkeit ab, derartige Managementinstrumente als weitere Erklarungsfaktoren in groBzahlige empiri-sche Studien einzubinden.

Eine Einschrankung der vorliegenden Untersuchung ist es, das sie nur auf Basis von binaren Logitmodellen erfolgte, da diese nicht eindeutig zwischen umweltinnovativen und anderen Firmen trennen. So ist es denkbar, dass Firmen, die keine Produktinnovation durchfuhren trotzdem umweltorientierte Prozessin-novationen durchfuhren. Obwohl dies flir eine separate Analyse von Produkt-und Prozessinnovationen unproblematisch ist, sollen im nachsten Schritt auch multinomiale Modelle eingesetzt werden, um den Einfluss von UMS auf Um-weltinnovationsaktivitaten in Untemehmen noch genauer zu untersuchen.

Danksagung

Wichtige Hinweise und Kommentare zu diesem Beitrag gaben die Teilnehmer der 2005er Tagung der Kommission Umweltwirtschaft im Verband der Hoch-schullehrer fiir Betriebswirtschaft, insbesondere Prof. Dr. Thomas Dyllick und PD Dr. Klaus Fichter. Ebenso bedanke ich mich flir wertvoUe Anregungen bei Prof Dr. Joachim Henkel, Oliver Alexy, Jom Block und Stefanie Pangerl und den anonymen Gutachtem im Rahmen des Auswahlprozesses fiir die Beitrage der Tagung.

Moglicherweise ist dies auch einer Erklarung dafiir, dass Ziegler und Rennings (2004) nur eine geringe Signifikanz der Zertifizierungsvariablen ihrer Modelle finden. Erklarungsbedtirftig ist moglicherweise auch, warum eine Zertifizierung nach ISO 14001 insgesamt einen starkeren po-sitiven Einfluss ausuben sollte als eine Validierung nach EM AS, wenn zumeist letzteres als das anspruchsvollere System angesehen wird (Pflicht zu Veroffentlichung einer Umwelterklarung mit quantitativen Umweltdaten).

Page 455: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Der Einfluss von Umweltmanagementsystemen 449

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Page 457: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Organisationsaufstellungen - eine methodische Innovation zur Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien

Carl Ulrich Gminder

1 Einfiihrung

Eine nachhaltige Entwicklung bedarf der Realisiemng umfassender Innovatio-nen in Organisationen und Netzwerken - dies ist eine der Tagungsthesen. Diese These ist auch Ausgangslage und Problemstellung des in 2003/04 ausgefiihrten Forschungsprojektes „Nachhaltigkeitsmanagement mit der Organisationsauf-stellung" des Instituts fur Wirtschaft und Okologie der Universitat St.Gallen (IWO-HSG). Bezogen auf Untemehmen wurde im Projekt exploriert, inwiefem die Methode der Organisationsaufstellung (OA) ein innovativer instrumenteller Ansatz sein kann, um die erfolgreiche Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien zu unterstutzen. Die beiden forschungsleitenden Fragestellungen sind: Welche inhaltlichen und welche methodischen Erkenntnisse konnen mit der Methodik der Organisationsaufstellung fiir die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien gewonnen werden? Diese Fragen werden sowohl theoretisch-konzeptionell aus dem Forschungsstand der Literatur beantwortet, als auch empirisch in Zusam-menarbeit mit einem Untemehmen aus der Textilbranche (Remei AG, CH-Rotkreuz), das iiber ein Jahr lang u.a. mit OA begleitet wurde. Sieben der aus­gefiihrten Organisationsaufstellungen wurden als Einzelfallstudien ausgewertet. Basierend auf den Grundlagen der anwendungsorientierten Betriebs-wirtschaftslehre sowie der qualitativen Sozialforschung fiel die Wahl auf ein Forschungsdesign von Aktionsforschung und Einzelfallanalyse. Dabei wurde mit Interviews, Dokumentenanalyse, Beobachtung und Organisations­aufstellung gearbeitet. Die OA war Kern der Aktionsforschung: ihre Niitzlich-keit als Begleitinstrument bei der Strategieumsetzung wurde untersucht.

Ziel des folgenden Beitrags ist es, die Forschungsergebnisse in Bezug auf die inhaltliche Frage, wie Nachhaltigkeitsstrategien erfolgreich im Untemehmen umgesetzt werden konnen, zu erlautem. Die ausftihrlichen theoretisch-konzeptionellen Gmndlagen sowie inhaltlichen und methodischen Erkenntnisse fmden sich in Gminder 2005.

Der Inhalt des Beitrags ist wie folgt: Zunachst wird die Methode theore­tisch-konzeptionell erschlossen, dann die Ergebnisse aus der Literaturstudie und -aufbereitung vorgestellt, um zum Abschluss die Erkenntnisse aus der empiri-schen Forschungsarbeit fur die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien dazu-legen.

Page 458: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

452 Carl Ulrich Gminder

2 Die innovative Methode der Organisationsaufstellung^

Zuerst wird die Frage beantwortet: Was ist die Organisationsaufstellung (OA)? Das ist eine neue, innovative Methode zur Analyse, Bearbeitung, Simulation und Losung von Problem- und Themenstellungen im Untemehmen. Sie ist ein Prozessinstrument zur Bearbeitung von Inhalten. Zu ihrer Ausfuhrung wird eine Gruppe benotigt. Mit den Teilnehmenden wird ein soziales System reprasentiert und es werden Zustande sowie Dynamiken in diesem System simuliert und visualisiert. Daher konnen OA entweder „In-house" mit den Mitarbeitem oder im Rahmen eines offenen Seminars mit Extemen ausgefuhrt werden. Sie bediir-fen der fachkundigen Moderation bzw. Leitung.

Die Problem- und Themenstellungen (auch Anliegen genannt), konnen all-gemeiner Natur sein: das Erreichen von Zielen, das Treffen von Entscheidun-gen, das Losen von Problemen oder Konflikten, das Simulieren von zukiinftigen Situationen sowie das Analysieren von Geschafts- und Arbeitsbeziehungen. Oder sie konnen konkrete Fragen und Themen aus dem Untemehmenskontext betreffen. I.d.R. wird immer ein Anliegen einer Einzelperson („Klient") bear-beitet und aus der Sicht dieser Einzelperson aufgestellt. Es konnen aber auch Gruppen- oder Organisationsthemen bearbeitet werden in dem bspw. die Sich-ten der einzelnen Teammitglieder nacheinander aufgestellt werden.

Der Ablauf einer OA ist wie folgt: Im Vorgesprach wird das aufzustellende Anliegen im Dialog zwischen Moderator und Klient prazisiert und geklart. Dabei wird festgelegt, welche Personen, Gruppen, Themen oder Organisations-entitaten fur das Anliegen relevant sind. Diesen wird jeweils ein Reprasentant, d.h. eine Person oder ein Gegenstand als Platzhalter, zugeordnet. Dann stellt der Klient die Ausgangssituation im Raum auf, indem er jeden Reprasentanten an einen intuitiv fiir sinnvoll befiindenen Platz positioniert. Implizites Wissen wird explizit und dadurch „bearbeitbar". In der nachfolgenden Prozessarbeit veran-dem Reprasentanten und Moderator dieses Ist-Bild dergestalt, dass ein trag-fahiges Losungs- bzw. Abschlussbild in Bezug auf das Anliegen entsteht. In diesem Prozess spielen die Wahmehmungen und Dialoge der Reprasentanten sowie Umstellungen eine Rolle. Am Ende tritt der Klient selbst in das Bild und kann die Losung als Idee in seinen Arbeitsalltag „mitnehmen". „Der Prozess zum Losungsbild gibt den Impuls fur die Dynamik fur die Veranderung danach. Das Losungsbild ist also nie ein Endbild, sondem immer der Beginn von etwas Neuem. Die Handlungsimpulse miissen sich dann in der realen Situation bewah-ren" (Sparrer & Varga von Kibed 2000: 72)

Das Thema bzw. Anliegen, die Ist- und Losungsbilder beziehen sich auf ein menschliches Organisationssystem. Das konnen Teams, Projekte, Abteilungen,

Vgl. Weber 2000, Sparrer & Varga von Kibed 2000, Horn & Brick 2001, Ruppert 2003, Kohlhauser & Asslander 2005

Page 459: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Organisationsaufstellungen 453

Geschaftseinheiten, das Gesamtuntemehmen, aber auch Markte, Politik oder Gesellschaft sein - je nach Systemgrenze. Die OA ist daher eine systemische Methode, die hauptsachlich die Wechselwirkung zwischen den System-mitgliedem und -elementen beleuchtet und weniger das Verhalten und die Ei-genschaften des einzelnen Systemmitglieds.

Im Management kann die OA unterschiedlichen Zwecken dienen: als Analy­se- und Gestaltungswerkzeug vom Strategischen Management iiber das funkti-ons- oder geschaftsprozessspezifische Management (z.B. Marketing oder Auf-tragsabwicklung) bis hin zum operativen Projektmanagement eingesetzt werden, genauso wie fur die Organisations- und Personalentwicklung oder fur die Arbeit an der Untemehmenskultur. Abbildung 56 zeigt die Analyseebenen der Methode in Bezug auf die verschiedenen Prozesse im Untemehmen. Dabei werden sowohl Sachinformationen einbezogen als auch Beziehungszusammen-hange.

Basisprozesse, bspw. - Analyse und Klarung - Problemlosung -Simulation , . . , . - - " " *

Beziehungs-dimension . * Sachdim^ision

Management-prozesse, - Normativ

- Strafeglsch - Operativ

Geschafts- oder KernprozesseX bspw.

- Kundenbetreuung - Leistungsersteilung

- innovationsgenerierung

UfiteritClt;i^ngsprozesse»

«tiilbii^^ii^echiuMogie

Abbildung 56: Prozesse im Untemehmen, eigene Darstellung in Anlehnung an Riiegg-Sturm 2002

Die Erkenntnistheorie der Organisationsaufstellung fusst auf drei sozialwissen-schaftlichen Ansatzen: der Phanomenologie (vgl. Biihl 2002, Waldenfels 1992) dem Konstruktivismus (vgl. Watzlawick 2002, Kieser 2001, Hejl & Stahl 2000) und der Systemtheorie (vgl. Muller 1996, Willke 1991), insbesondere systemi-sches Management (vgl. Riiegg-Sturm 2002, Ulrich 2001, Malik 2000, Gomez

Page 460: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

454 Carl Ulrich Gminder

& Probst 1999) und systemische Psychotherapie (vgl. von Schlippe & Schweit­zer 2003, Ludewig 1997).

Konstruktivismus und Phdnomenologie sind philosophische Denkfiguren und wissenschaftstheoretische Grundhaltungen zugleich. Beide sind sie Metho-den der Erkenntnis iiber die Welt und den Menschen. Die Phanomenologie verlangt vom Erkennenden bzw. Beobachtenden eine weltanschauungsfreie Einstellung. Objekte sollen aus dem Anblick der Sache selbst betrachtet und behandelt werden - so bewertungsfrei wie moglich. Dabei entsteht ein Erkennt-nisprozess, in dem Sachgehalt und Zugangsart unaufloslich miteinander ver-schrankt sind. Im Konstruktivismus wird davon ausgegangen, dass die Wirk-lichkeit durch uns Menschen selbst und die Gruppen, in denen wir interagieren, konstruiert wird. Wahmehmen ist eine konstruktive, keine abbildende Tatigkeit. D.h. jeder von uns sieht die Welt durch seine „Brille". Realitat entsteht durch menschliche Kognition. Wir machen uns kein Abbild, sondem errechnen ein eigenes Bild der Wirklichkeit. Diese wird zwar in irgendeiner Weise sinnlich erfahren (Sehen, Horen, Riechen etc.), aber dann im Gehim als Realitat neuro-biologisch konstruiert und anschliessend interpretiert. „Erst die Ergebnisse der modemen Gehimforschung zeigen uns heute, dass der Mensch gar nicht anders kann, als sich Bilder zu machen und damit die Welt im Kopf entstehen zu las-sen." (Urban 2002: 11). Epistemologisch hat das radikale Konsequenzen: For-scher und Erforschtes, Beobachter und Beobachtetes sind untrennbar verkntipft. Fiir die Organisationsaufstellung hat dies zwei Konsequenzen: (1) das Ist-Bild, das der Klient aufstellt sowie die Ergebnisse, die er mitnimmt, sind Konstrukti-onen seiner Wirklichkeit. (2) die Phanomene, die sich wahrend des Aufstel-lungsprozesses zeigen, sind so bewertungsfrei wie moglich wahrzunehmen und erst im Nachgang bewusst zu interpretieren.

In der Systemtheorie geht es um die Art und Weise wie natiirliche, techni-sche Oder soziale Systeme (Familien, Organisationen, Staaten) funktionieren. Sie ist ein Ansatz, der sich in den 1950er bis 70er Jahren als neue allgemeine Wissenschaftsdisziplin (General Systems Theory, GST) etabliert hat. Durch ihren interdisziplinar angelegten Charakter hatte die Systemtheorie eine grosse Ausstrahlungskraft in viele Disziplinen der Natur-, Geistes- und Sozialwissen-schaften und wurde dort ausdifferenziert. Pragend ftir die Managementlehre ist der St.Galler Ansatz, der Untemehmen als komplexe Systeme versteht, die im Kontext einer sich dynamisch wandelnden Umwelt eingebettet sind. Sowohl systemische Managementlehre als auch systemische Psychotherapie fokussieren weniger den Einzelnen, sondem das Zusammenspiel in ihren sozialen Systemen. Die Aufstellungsmethode wurde zunachst fiir Familien eingesetzt, bevor ihr Potenzial fiir Organisationssysteme entdeckt wurde. In einer OA wird ein sol-ches System modelliert und Veranderungen in diesem System simuliert, mog-lichst so, dass sich das Anliegen des Klienten losen lasst.

Page 461: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Organisationsaufstellungen 455

3 Thema: Die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien

Wie ist der Stand der Forschung in Bezug auf Nachhaltigkeitsstrategien und deren Umsetzung? Und wie lasst sich dieser handlungsorientiert verdichten und strukturieren? Antworten auf diese Fragen konnen auf vier verschiedenen Stu-fen gefiinden werden, die in den folgenden Abschnitten naher erlautert werden (vgl. Abbildung 57 sowie ausfiihrlich Gminder 2005: 214-226).

Rahmenbedingungen fur die Formulierung und Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien

Kontext Unternehmenszweck HandlungsgriJnde Bezugsebene Explizierung

Strategietypotogien >=>Branchenspezifische Strategien •=> Unternehmensstrategien

Umsetzungsbereiche Umsetzungsmodi

Abbildung 57: Struktur der Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien

3.1 Rahmenbedingungen

Ftir die Strategieformulierung und -umsetzung lassen sich allgemeine Rahmen­bedingungen von untemehmensspezifischen unterscheiden. AUgemein sind die hohere Komplexitat und die Langerfristigkeit des Nachhaltigkeitskonzepts im Vergleich zur rein wirtschaftlichen Orientierung. Hinzu kommt, wie Nach-haltigkeit konstruiert, d.h. verstanden wird. Nachhaltigkeitsmanager mtissen beachten, dass Untemehmenssysteme, deren Elemente und Zwecke unter-schiedlich beobachtet und wahrgenommen werden. Jeder Beobachter „kon-struiert" sich das System und seine Zusammenhange dergestalt, wie er es sehen mochte und damit sehen kann. Zu entscheiden, ob und wie Untemehmen Nach-haltigkeit umsetzen oder nicht, hangt vom Beobachter ab. Untemehmens-exteme, bspw. Vertreter von NGO, kommen hier oft zu gegensatzlichen Ergeb-nissen im Vergleich zu Untemehmensintemen - analog im Untemehmen

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Nachhaltigkeits- und Linienmanager. Denn alle beobachten die Nachhaltigkeits-umsetzung durch ihre „konstruktivistische Brille". Ftir die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien ist es daher wichtig, (1) die „Realitat" als Konstrukti-onen von Wirklichkeit zu verstehen und die daraus entstehenden Irritationen zu akzeptieren; (2) UmsetzungsmaBnahmen systemkonform zu „konstruieren" (Systemzweck und -kultur) und (3) so oft wie moglich Umsetzung mit „objekti-ven" Daten und kennzahlenbasierten Zielen zu verkniipfen wie bspw. Mengen, Grenzwerten, Kosten etc. Dabei muss berlicksichtigt werden, dass solche „ob-jektiven" Daten durch ihre Messweise z.T. wiederum konstruierbar sind; dass es Widerstande gegen ein Vorgehen geben kann, welches „Konstruktions-spielraume" einengt, sowie die Gefahr besteht, dass nur Nachhaltig­keitsstrategien umgesetzt werden, die quantifizierbar sind (vgl. Bieker et al. 2002: 355). Eine Mischung von quantitativ-technischen und qualitativ-menschlichen MaCnahmen diirfte der erfolgreiche Weg sein. Dariiber hinaus ist es fiir Nachhaltigkeitsmanager ratsam, die Logik der Beobachtung zu beobach­ten und zwischen Selbst- und Fremdbeobachtung unterscheiden zu lemen. Re­flexion, Selbstreflexion und Supervision werden damit zu einer wichtigen Ma-nagementkompetenz: wie und was beobachte ich und was nicht?

Unternehmensspezifische Rahmenhedingungen sind der situative Kontext (bspw. Altlastenproblem oder Bio-Produkte), die Untemehmenszweck, die Handlungsgriinde fur Nachhaltigkeit, ob Nachhaltigkeitsstrategien aus norma-tiv-ethischen, wettbewerbsstrategischen oder politischen Griinden verfolgt wer­den. Des weiteren die organisatorische Bezugsebene von Nachhaltigkeitsstrate­gien (Untemehmen, Geschaftseinheit, Abteilung) und die Tatsache, ob sie explizit oder implizit verfolgt werden (vgl. Dyllick 2003a, Rhee & Lee 2003, Gminder et al. 2002: 103f., Vredenburg & Westley 2002: 199-213, Bansal & Roth 2000).

3.2 Definition von Nachhaltigkeitsstrategien

Hier lassen sich konzeptionelle Strategietypologien, branchenspezifische Stra-tegie-Ansatze sowie untemehmensindividuelle Strategien unterscheiden. 5 Ty-pen von wettbewerbsorientierten Nachhaltigkeitsstrategien (sicher, glaub-wiirdig, effizient, innovativ und transformativ) und deren Umsetzung beschreiben (vgl. Dyllick 2003b, Gminder et al. 2002) in Anlehnung an Dyllick et al. 1997). Empirisch werden sie von Leitschuh-Fecht & Steger (2003) sowie Steger (2004a) tiberwiegend bestatigt.

3.3 Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien

Fiir die Umsetzung lassen sich fiinf Handlungsebenen identifizieren (vgl. Dyllick 2003a, Gminder et al. 2002: 103f.). Drei davon gehen iiber den tiblichen

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Untemehmensrahmen hinaus. Das sind die Ebenen der Gesellschaft (Verbrau-cherbediirfnisse), der Produktfunktionen (bspw. Mobilitat, Warme, Kleidung, Sauberkeit etc.), der Produktkette (bspw. Wald, Papierfabrik, Druckerei, Buch). Zwei davon sind im Untemehmen. Das sind die Ebenen von Organisation (Ma­nagement) und Betrieb (Prozesse).

Innerhalb der beiden untemehmensintemen Ebenen konnen zusatzlich je-weils vier - nicht ganz uberschneidungsfreie - Umsetzungsbereiche und Umset-zungsmodi abgesteckt werden (vgl. Abbildung 58, Starik 2002, Meffert & Kirchgeorg 1998: 395-438 bzw. Epstein 1996: 26f.). Die Umsetzungsbereiche markieren mogliche „Arenen", wo die Umsetzung stattfmden kann bzw. muss. Die Umsetzungsmodi markieren mogliche „Spielziige", wie die Umsetzung ausgefuhrt werden kann bzw. muss. Beide ermoglichen keine Aussagen tiber die Erfolgswahrscheinlichkeit der Umsetzung, zeigen jedoch Nachhaltigkeits-managem, wo und wie sie aktiv werden konnen. Sie weisen keine besondere Nachhaltigkeitsspezifitat auf und konnen genauso fiir die klassische Strategie-umsetzung gelten.

Handlungsebenen - BedUrfntsse (Gesellschaft) - Funktionen (Funktionsverbund) - Produkte (Produktketten) - Organisation (Untemehmen) | - Betrieb (Prozesse)

Umsetzungsbereiche - Organisationsstruktur - Organisationate Prozesse und Systeme - Unternehmenskultur - Management- und FDhrungsstll

Umsetzungsmodi . Organisationslemen

und -^ntwtcklung - Organisationaler Waiidei .Mikmporm - Mana^ment von Symbofsystemen

Abbildung 58: Bereiche der Strategieumsetzung im Untemehmen

Folgende Umsetzungsbereiche konnen identifiziert werden:

1. Organisationsstruktur: Hier geht um die formelle Gestaltung des Nachhal-tigkeitsmanagement in Aufbau- und Ablauforganisation. Hauptfrage ist es, ob Nachhaltigkeit eher zentral oder dezentral gemanagt werden soil? Eine sinnvolle systemische Antwort lautet: soviel Dezentralisierung wie moglich, soviel Zentralisierung wie notig (vgl. bspw. BMU/UBA 2001, Atkinson et al. 2000 und Kostka 1997).

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2. Organisationale Prozesse und Systeme: Hier geht es um die Mana-gementsysteme, -techniken und -instrumente sowie die Managementprozes-se, die fiir die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien sinnvoll sind (bspw. Leisten & Krcal 2004, Schaltegger & Dyllick 2002, Dyllick & Hamschmidt 2000, Winter 1997, 1998, Freimann 1996, Epstein 1996 oder Stahlmann 1994). Hauptfrage ist es, ob Nachhaltigkeit in bestehende Pro­zesse, Systeme und Instrumente integriert oder besser additiv gemanagt werden soil? Eine sinnvoUe systemische Antwort lautet: soviel Integration wie moglich, so viel Addition wie notig. Die Umsetzung mittels zweier wichtiger Managementinstrumente und -prozesse ist derzeit jedoch noch wenig untersucht. Es handelt sich zum einen um die fmanziellen Anreizsys-teme fur die Mitarbeiter (vgl. Lothe & Myrtveit 2003). Zum anderen han­delt es sich um die Budgetierung, in deren Rahmen betriebliche Finanzmit-tel geplant und zugeteilt werden. „Nothing is going to be happen until resources are allocated." (Switzer et al. 2001, auch Epstein 1996: 164-211).

3. Unternehmenskultur. Hier geht es um die Werte, Einstellungen und Grund-annahmen im Untemehmen, die das Handeln der Mitarbeiter bei der Um­setzung von Nachhaltigkeitsstrategien pragen (vgl. Bicker 2005, Ehrenfeld 2002, Howard-Grenville 2000, Meffert & Kirchgeorg 1998: 420-432, Welford 1995: 114-148, Hoffmann, A. J. 1993 sowie Seidl 1993). Diese tief griindenden Werte und Grundannahmen im Untemehmen beeinflussen einerseits die Umsetzung, andererseits hat die Umsetzung wieder Aus-wirkungen auf die Kultur. Hauptfrage ist es, ob die Umsetzungsaktivitaten an die bestehende Kultur angepasst werden sollen („Cultural Framing", vgl. Howard-Grenville & Hoffmann 2003) oder eine wesentliche Stossrichtung der Umsetzung die Veranderung der Kultur sein soil („Cultural Change", vgl. Wehrmeyer & Parker 1995). Eine sinnvolle systemische Antwort lau­tet: soviel Anpassung wie moglich, soviel Veranderung wie notig. Dabei greift die Giddensche Dualitat von Struktur und Handlung (Giddens 1988): Die Unternehmenskultur pragt die Umsetzung von Nachhaltigkeits­strategien und umgekehrt. Sackmann (2002) wamt, dass sich Kultur kaum „managen" lasse, da viele kulturelle Prozesse unbewusst, unausgesprochen, „ungemanagt" ablaufen.

4. Management- und Fuhrungsstil („Leadership"): Hier geht es um das Ver-halten, das Commitment und die personliche Verantwortung der Fiihrungs-krafte in Bezug auf Nachhaltigkeit (Steger 2004b). Zahlreiche Autoren konstatieren, dass es ohne das sog. „Top Management Commitment" nicht ginge. Fiir die Implementierung ist es notwendig, aber nicht hinreichend (vgl. Bicker et al. 2002: 352, Tinsley 2002: 378). Hauptfrage ist, ob die Fiihrung die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien personlich verant-wortlich steuem oder als selbstorganisierten Prozess zielgerichtet beeinflus-

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sen lassen soil? Eine sinnvolle systemische Antwort lautet: soviel Selbstor-ganisation wie moglich, soviel personliche Verantwortung wie notig.

Folgende Umsetzungsmodi konnen identifiziert werden:

1. Organisationslernen und -entwicklung: Hier geht es um Lemprozesse von Mitarbeitem und Organisation, die das Handlungswissen und die Fahigkei-ten („Organizational Capability") verbessem, um Nachhaltigkeit umzu-setzen (Brentel et al. 2003, Pichel 2003, Starik 2002, Sharma & Vredenburg 1998). Hauptfrage ist es, ob diese Fahigkeiten indirekt durch Strategien, Managementsysteme oder -instrumente und Ftihrungsverhalten vermittelt oder direkt durch interne Kommunikation sowie Aus- und Weiterbildung geschult werden sollen? Eine sinnvolle systemische Antwort lautet: Soviel indirekte Fahigkeitsverbesserung wie moglich, soviel direkte Schulung wie notig.

2. Organisationaler Wandel: Hier geht es um die gesamthafte Veranderung der Organisation zur Umsetzung untemehmerischer Nachhaltigkeit. Meist fmdet organisationaler Wandel durch wirkmachtige Veranderungen wie Umstrukturierungen, Fusionen, Markteintritte oder -austritte, Investitionen oder Desinvestitionen statt. In Bezug auf Nachhaltigkeit ist zu beobachten, dass solch ein Wandel eher durch fCrisen ausgelost wird (bspw. Etemit oder Shell) als durch geplante Strategien (bspw. Frosta Tiefkuhlkost). Zur Erkla-rung und Gestaltung hat die organisationale Wandelforschung mehrere Theorien entwickelt (vgl. Mtiller-Stewens & Lechner 2003: 550ff.). Uber-fordert die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien die Wandelfahigkeit der Organisation und die der Mitarbeiter (Birke & Schwarz 1997)? Wird Nachhaltigkeit nicht zur Option, dessen Umsetzung zwar wichtig scheint, aber nie richtig dringend wird? Verschwindet Nachhaltigkeit allzu rasch wieder im „organisationalen Miilleimer"? Maier (2002) zeichnet in ihrer Studie iiber die gescheiterte Einfuhrung von Bio-Mahlzeiten in Schweizer Personalrestaurants eine solche Uberforderung nach. Hauptfrage ist es, ob Veranderungen radikal diskontinuierlich oder inkrementell kontinuierlich vorgenommen werden soUten? Eine sinnvolle systemische Antwort lautet: Soviel inkrementeller Wandel wie moglich, so viel radikaler Wandel wie notig (Hoffmann, E. et al. 2003, Canning & Hanmer-Lloyd 2001).

3. Mikropolitik: Hier geht es um Handlungsspielraume, Macht, Prestige und Karriereentwicklung von individuellen Akteuren oder ganzen Abteilungen (vgl. bspw. Morgan 1997: 153-214; Friedberg 1995). Auch die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien wird durch die Beteiligten mikropolitisch be-einflusst: im positiven Sinne durch Vorantreiben oder Unterstiitzen, im ne-gativen Sinne durch Bremsen oder Blockieren. Hauptfrage ist, ob eher di-rektiv durch Macht und Fiihrung oder eher partizipativ durch Uberzeugung

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umgesetzt werden sollte? Eine sinnvolle systemische Antwort lautet: Soviel partizipative Uberzeugung wie moglich, soviel direktive Durchsetzung wie notig (vgl. Brentel et al. 2003; Bieker et al. 2002, Prakrash 2001, Schaltegger 1999, Birke & Schwarz 1994,1997).

4. Symbolisches Management: Hier geht es um die Interpretation von betrieb-lichen Entscheidungen, Strukturen, Definitionen und Handlungsweisen (bspw. Managementsysteme, Investitionsvorgange, Kostenrechnungsprakti-ken Oder Branchenvereinbarungen) als Symbolsysteme (Schneidewind 2003a,b). Sie werden von den daran Beteiligten konstruiert und intersubjek-tiv anerkannt, so dass sie steuerungs- und handlungsrelevant wirken. Haupt-frage ist hier, ob das Symbolsystem der Nachhaltigkeit mit eigenstandigem Umsetzungsanspruch konstruiert oder dem Symbolsystem der Wirtschaft-lichkeit untergeordnet werden soil? Eine sinnvolle systemische Antwort lautet: Soviel Symbolisierung von Nachhaltigkeit als Ressource fur den Ge-schaftserfolg wie moglich (bspw. durch wissenschaftliche Nachweise, dass Nachhaltigkeit positiv mit dem Finanzerfolg korreliert, vgl. Margolis & Walsh 2003, Wagner 2003, Rennings et al. 2003, soviel Symbolisierung als eigenstandiges Umsetzungssystem wie notig. Auf jeden Fall zu vermeiden ist die klassische Win-Lose-Perception: „Viele Manager denken, CSR kos-tet Geld und bringt nichts." (Sywottek 2004: 68, Drake et al. 2004).

3.4 Erfolgsfaktoren

Erfolgsfaktoren fur die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien sind die In­tegration von sozialen und okologischen Zielen und MaBnahmen in das klassi­sche Management (vgl. Bieker et al. 2002 und Leemann 2002) sowie die Kon-struktion von Nachhaltigkeit als einem Ziel, das dem Untemehmen niitzt (vgl. Howard-Grenville & Hoffmann 2003, Angell & Rands 2002 und Roome 2001). Des Weiteren sind die sozialen Regeln bei der Umsetzung zu beachten und anzuerkennen, dass das Untemehmenssystem sich teilweise selbst organisiert sowie nur begrenzt steuerbar ist. Wichtig sind auch eine entsprechende Profes-sionalitat und sonstige Erfolgsfaktoren klassischen Change Managements (vgl. Doppler & Lauterburg 2002).

4 Die empirischen Erkenntnisse

In diesem Abschnitt wird der Frage nachgegangen, welche empirischen Er­kenntnisse sich aus den 7 Einzelfallstudien fur die Umsetzung von Nachhaltig­keitsstrategien mit Unterstiitzung der Organisationsaufstellung (OA) gewinnen lassen (vgl. ausfuhrlich Gminder 2005). Die folgenden Themen wurden aufge-stellt:

t=> „Vertragsbauem verstoBen gegen Bio-Richtlinien (OA Dungebauem)"

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"=> „Verhandlung mit einem potenziellen Grosskunden (OA Verhandlung)" ^ „Ausgliederung der Anbauprojekte in eine Stiftung (OA Projekte) ^ „Schwierigkeiten in einer Abteilung (OA Teamkonflikt)" ^ „Probleme mit indischem Lieferanten (OA Lieferant)" ^ „Soziale Nachhaltigkeit regeln (OA Sozialstrategie)" •=> „Kommunikation mit den Kunden optimieren (OA Markenstrategie)"

Welchen Umsetzungsbereichen und -modi von Nachhaltigkeitsstrategien lassen sich die fiir die OA gewahlten Umsetzungsthemen zuordnen? Gleichrangig, jeweils ffinf Mai, sind die Bereiche von organisationalen Prozessen und Syste-men, Untemehmenskultur sowie Management- und Fiihrungsstil. Dies zeigt, dass die operative Umsetzung genauso weiche Faktoren wie Kultur oder Fiih­rungsstil betrifft wie die klassischen formalen Veranderungen von Prozessen und Strukturen. In drei Fallen geht es um die Frage der Gestaltung von Organi-sationsstrukturen. Dies sind insbesondere strategische Fragen. Die Umset-zungsmodi geben Hinweise, wie umgesetzt wird. In jeweils funf Fallen sind Organisationslemen und -entwicklung sowie das Management von Symbolsys-temen relevant. Dies unterstreicht, wie wichtig Lem- und Entwicklungsprozesse fur untemehmerische Nachhaltigkeit sind. Erstaunlich ist, dass in der Umset­zung auch haufig mit Symbolsystemen gearbeitet wird, wie bspw. „Soziales", „Umweltvertraglichkeit", „Qualitat" oder „Vertrauen". Die Mikropolitik wird in den vier Fallen wichtig, wo es um konkretes Management von Geschaftsbezie-hungen geht. Organisationaler Wandel ist wieder der Modus fur die strategi-schen Fragen, er ist analog mit der Anderung von Strukturen verkniipft.

Die Analyse der Erfolgsfaktoren fur die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstra­tegien zeigt in alien Fallstudien, dass es mit der Organisationsaufstellung vor allem darum geht, Nachhaltigkeit professionell umzusetzen. Dartiber hinaus kann die OA AnstoBe generieren, wie Nachhahigkeit am besten „konstruiert" bzw. wahrgenommen wird. Sei es operativ die Reaktion auf den VerstoB gegen Bio-Richtlinien oder um strittige Punkte einer Verhandlung; sei es strategisch die Konstruktion von „sozialer Nachhaltigkeit" oder des geeigneten Markt-auftritts mit nachhaltigkeitsorientierten Produkten. Wichtige Erfolgsfaktoren fur die Umsetzung sind der Einbezug sozialer Regeln und der Selbstorganisation, weiche gleichzeitig die Grenzen der Steuerbarkeit zeigt. In fiinf Fallen konnen hier mit der OA „sozial kompetente" Handlungsempfehlungen erarbeitet wer-den. Auch klassische Change Management Fragen werden in vier Fallen bear-beitet, bspw. der Umgang mit Widerstanden im Teamkonflikt oder den Themen, die organisationaler Wandel und Umstrukturierungen aufwerfen. Seltener Ge-genstand waren Fragen der Integration (lediglich 3 Falle).

Uber alle Organisationsaufstellungen hinweg lasst sich beobachten, dass das Gelingen von Geschdftsheziehungen ftir die Umsetzung von Nachhaltigkeits-

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strategien von hoher Relevanz ist. Untemehmerische Nachhaltigkeit verandert Geschaftsbeziehungen im und zwischen Untemehmen,

1. weil die Inhalte umfangreicher und komplexer werden, wenn zusatzlich zu den wirtschaftlichen noch soziale und okologische Anforderungen zu be-riicksichtigen sind (bspw. vier statt zwei Verhandlungspunkte in der Fall-studie „Verhandlung"). Hier kann die Organisationsaufstellung helfen, komplexe Zusammenhange zu klaren und uberschauen.

2. weil den Lieferanten nicht nur die Produktqualitat, sondem auch die Pro-duktionsweise vorgeschrieben wird. Bis auf wenige Ausnahmen ist dies in den heutigen Wertschopfungsketten uniiblich. Hier zeigt bspw. die Fallstu-die „Dungebauem", dass es sinnvoll ist, nicht nur den VerstoB gegen Pro-duktionsrichtlinien zu ahnden, sondem deren Einhaltung anzuerkennen. Beides verdient seine Aufmerksamkeit.

3. weil die Untemehmenstatigkeit viel transparenter gemacht werden muss. Bio- und Sozialzertifizierer kontrollieren im Auftrag des Kunden. Der Lie-ferant ist keine Black Box mehr. Die geringere Anonymitat muss durch ho-here Verbindlichkeit belohnt werden.

4. weil mit Problemen offener umgegangen werden muss, um die Glaubwur-digkeit beim Endkunden nicht zu verlieren. Nachhaltigkeit ist eine Vertrau-enseigenschaft, die sich nicht am Produkt kontrollieren lasst wie Farbe oder Passform. Hier kann man mit OA mogliche Kommunikation simulieren, wie die Fallstudie „Diingebauem" zeigt.

5. weil sich Nachhaltigkeitsherausforderungen nur noch begrenzt im Unter-nehmen alleine, bspw. im Rahmen der Betriebsokologie, bearbeiten lassen. Nachhaltigkeitsorientierte Produkte erfordem eine wertschopfungsketten-weite Koordination. Diese kann mit Hilfe von OA simuliert werden, wie die Fallstudie „Sozialstrategie" illustriert.

6. weil durch die vielschichtigeren Anforderungen die Gefahr entsteht, dass Fehler oder Missverstandnisse auftreten, die die Beziehungen beeintrachti-gen. Hier konnen mit OA neue Haltungen gewonnen werden wie die Fall­studie „Lieferant" zeigt.

7. weil durch neue Akteure wie bspw. Zertifizierer, Fair-trade-Label- oder Entwicklungshilfeorganisationen oder NGO die Beziehungskomplexitat steigt. Hier kann die OA helfen, Beziehungszusammenhange zu klaren wie die Fallstudie „Sozialstrategie" zeigt.

Ftinf der Organisationsaufstellungen bestatigen den Trend, dass nach jahrelan-ger Bearbeitung der okologischen Dimension nun die soziale Nachhaltigkeit im Vordergrund steht. Im Gegensatz zur sachorientierten Okologie, bei der che-misch-physikalische Probleme wie Stoffstrome oder Schadstoffbelastungen gelost werden mtissen, sind im beziehungsorientierten sozialen Bereich das

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Management und die Untemehmenskultur zentrale Handlungsfelder der Nach-haltigkeit. OA verschaffen hier wertvoUe Einsichten und Simulationsmoglich-keiten, um Soziales „managen" zu konnen.

Dartiber hinaus spielt im Zeitalter der Globalisierung die Zusammenarbeit mit Entwicklungsldndern (in den Fallstudien ist es Indien) eine wichtige Rolle fiir die Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien. Drei Punkte lassen sich resti-mieren: (1) Das Thema der Fallstudie „Projekte" zeigt, dass nachhaltigkeitsori-entierte Projekte in Entwicklungslandem noch wenig wirtschaftlich tragfahig sind. Stiftungen konnen hier eine sinnvolle Briicke zwischen Entwicklungshilfe und „freiem" Markt bilden. (2) Die Fallstudie „Sozialstrategie" unterstreicht, wie kulturabhangig die Vorstellungen von sozialer Nachhaltigkeit sind. Daher sind der kulturadaquate Transfer der europaischen Anspriiche und deren Ausba-lancierung mit den indischen Realisierungsmoglichkeiten wichtig. Dies konnen bspw. ein massgeschneidertes Sozialkonzept sowie eine Ftihrung leisten, die sich in beiden Kulturen auskennt. (3) Die Fallstudien „Dungebauem" und „Lie-ferant" zeigen, wie wichtig das Verstandnis der indischen Kultur ftir einen fai-ren sozialen Umgang ist. OA konnen interkulturelles Arbeiten schulen.

Die Fallstudie „Verhandlung", „Sozialstrategie" und insbesondere „Marken-strategie" zeigen, dass die Vermarktung nachhaltigkeitsorientierter Textilien besonderer Aufmerksamkeit bedarf. In den 1990er Jahren wurde durch zahlrei-che „Flop-Erfahrungen" gelemt, dass sich die Produkte weder durch den okolo-gischen noch den sozialen Zusatznutzen besser oder teurer verkaufen lassen. Im Gegenteil ist „Oko" seither bei Textilien (wie auch beim manchen anderen Pro-dukten) eher als Verkaufshindemis einzustufen, weil die Verbraucher schlechte Erfahrungen mit Preis, Qualitat und Design gemacht haben (vgl. Schneidewind 2003b). Fiir die Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie zeigt die Fallstudie „Markenstrategie", dass es wichtig ist, eine klares Vermarktungskonzept ftir Bio-Textilien zu haben (Qualitat, Design, Preis, Handelsmarken vs. Eigenmar-ken), um diese klar und attraktiv an die verschiedenen Zielgruppen kommuni-zieren zu konnen.

Die Fallstudien bestatigen, dass die nachhaltigkeitsorientierte Strategie-umsetzung in erster Linie auf dem Handlungsfeld des Managements sowie auf der Ebene von Betrieb und Organisation stattfmdet; aber auch in der Produkt-oder Wertschopftmgskette aufgrund der international ausgerichteten Textilbran-che. Organisationsaufstellungen werden dabei ftir strategische Fragen zur Um­setzung und Anpassung der Nachhaltigkeitsstrategien genutzt. Sie werden aber auch fur operative Herausforderungen genutzt, die bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategien auftreten konnen oder ganz einfach Bestandteil des Untemehmensalltags sind. Die OA kann daher als Instrument des strategischen und des operativen Nachhaltigkeitsmanagements dienen.

Die Fallstudien zeigen, dass sich die Organisationsaufstellung ftir zahlreiche Themenstellungen im normativen, strategischen und operativen Nachhaltig-

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keitsmanagement sowie zur Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien eignet. Insbesondere dann, wenn es um die Klarung und die Simulation von „menschli-chen" Beziehungs- und Organisationszusammenhangen sowie Verhaltensdyna-miken in oder zwischen Untemehmen geht. Bei diesen Themen, alien voran Entscheidungen, hilft die Methode, implizites Wissen - das „Bauchgefuhl" - zu explizieren, zu strukturieren und Losungen zu generieren. Organisationsaufstel-lungen fuhren weniger zu direkten Anschlusshandlungen, sondem vielmehr zu Haltungs- und Einstellungsanderungen in Bezug auf die bearbeiteten Themen. Die Themen miissen wichtig, komplex und dringend sein, damit die Bearbei-tung mit der OA Sinn macht.

Nachhaltigkeitsherausforderungen lassen sich nur noch begrenzt im Unter-nehmen selbst bearbeiten. Soziale Nachhaltigkeit und Produktokologie erfor-dem interkulturelles Management, den Einbezug von Stakeholdem sowie eine wertschopfungskettenweite Koordination, wie das die Fallstudien „Projekte", „Sozialstrategie", „Dtingebauem" oder „Lieferant" illustrieren. Zudem sind durch Globalisierung, Outsourcing und Fokussierung auf Kemkompetenzen heute in vielen Branchen lange Lieferketten entstanden. Deren Logistik wird mittels aufwendiger Supply Chain Management Software gesteuert, doch mit Hilfe welcher Tools konnen die menschlichen Geschdftsbeziehungen gesteuert werden? Mit der OA bietet sich erstmalig eine Methode zur Bearbeitung dieser Dimension an.

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Der Einfluss von Oko-Labelling auf das Konsumentenverhalten - ein Discrete Choice Experiment zum Kauf von Gliihbirnen

Katharina Sammer/ Rolf Wustenhagen

1 Einleitung

Laut Lancaster (1966) besteht ein Produkt fiir den Konsumenten aus einem Btindel an unterschiedlichen Produkteigenschaften. Diese Produkteigenschaften lassen sich in Such-, Erfahrungs- und Vertrauenseigenschaften unterteilen. Sucheigenschaften konnen vom Konsumenten vor dem Kauf bereits identifiziert werden z.B. Preis, Farbe usw. Erfahrungseigenschaften konnen erst nach dem Kauf erkannt werden (Nelson, 1970) z.B. Haltbarkeit. Vertrauenseigenschaften sind jedoch weder vor noch nach dem Kauf iiberpriifbar (Darby and Kami, 1973) z.B. Inhaltsstoffe. Das Wissen uber diese Produkteigenschaften ist asymmetrisch zwischen Kaufer und Verkaufer verteilt. Je nach Art der Produkteigenschaft lasst sich diese Informationsasymmetrie auflosen. Die grosste Herausforderung liegt in der Umwandlung von Vertrauenseigenschaften in Sucheigenschaften. Der Konsument ist hier auf vertrauenswiirdige Informationen angewiesen.

Der vorliegende Beitrag untersucht „unsichtbare" Produkteigenschaften (Vertrauenseigenschaften), die eine geeignete Produktinformation benotigen (Signale wie beispielsweise Marken oder Labels). Marken und Labels erfiillen zwei Hauptfunktionen fiir den Konsumenten: sie informieren iiber „unsichtbare" Produkteigenschaften (Informationsfunktion, z.B. Qualitat) und vermitteln einen Wert an sich (Wertftmktion, z.B. Prestige). Die hier dargestellte Studie fokussiert auf die Bedeutung eines Oko-Labels (Energieetikette) als Kaufentscheidungskriterium im Vergleich zu anderen Produkteigenschaften. Die Energieetikette transformiert mittels eines Zertifizierungsprogramms einer unabhangigen Drittpartei die Vertrauenseigenschaft Energieeffizienz in eine Sucheigenschaft. Die Informationsbereitstellung iiber Produkteigenschaften von Firmen und/oder Institutionen werden in der neuen Institutionenokonomik „Signalling" genannt, wahrend sich die Suche nach und Uberpriifting von bestimmten Produkteigenschaften des Konsumenten „Screening" nennt (Goebel, 2002).

Es konnte gezeigt werden, dass fur den Konsumenten ein Problem besteht, geeignete Produktinformation zu erhalten. Daraus ergibt sich die nachste Fragestellung: Welche Produkteigenschaften interessiert den Konsumenten?

Page 476: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

470 Katharina Sammer/ Rolf Wustenhagen

Auf der Basis einer Discrete Choice Analyse anhand von 151 Interviews, die in der Schweiz im Fruhjahr 2004 durchgefuhrt wurden, wird dieser Frage am Beispiel von Gliihlampen nachgegangen. Wenn der Konsument der Energieetikette bei der Kaufentscheidung Bedeutung beimisst, dann steigt auch das Interesse der Untemehmen energieeffiziente Produkte anzubieten. Das EU Energielabel wurde damit als institutionelle Innovation wirken, die die Diffusion okologisch innovativer Produkte fordert. Ein erfolgreiches Okolabel setzt Umweltinnovationen in Gang und unterscheidet sich von klassischen Innovationen beziiglich der Einflussfaktoren vor allem durch besondere Bedeutung staatlicher Regelungen (Institution) zur Heilung von Marktversagen (Ewringmann und Koch, 2006; Minsch, 1997). Das Ergebnis dieser Analyse gibt auch Aufschluss inwieweit sich das EU Energielabel als institutionelle Umweltinnovation eignen konnte.

2 Energieetikette- EU Energielabel

Bisher finden sich in der Literatur zu Oko-Labelling hauptsachlich konzeptionelle oder deskriptive Ansatze, die die Bedeutung von Oko-Labels aus der Perspektive von Untemehmen, Konsumenten und Politik diskutieren (Gallastegui, 2002; De Boer, 2003; OECD, 1991). Ein anderer Literaturstrang befasst sich mit den Marktauswirkungen von Oko-Labelling-Programmen (OECD, 1997; Gallastegui, 2002; Imug, 1998; Banerjee and Solomon, 2003), wahrend andere wissenschaftliche Arbeiten sich wiederum mit dem politischen Prozess einer erfolgreichen Implementierung von Oko-Labels auseinandersetzen (Karl and Orwat, 1999; Wiel and McMahon, 2003). Schliesslich haben einige Autoren versucht, verschiedene Perspektiven des Oko-Labelling zu kombinieren um die dynamischen Anreize dieses relativ jungen umweltpolitischen Instruments zu erklaren (Wustenhagen, 2000; Truffer etal.,2001).

Das EU Energielabel (siehe Abbildung 59) wurde von der Europaischen Kommission als obligatorisches Label fiir elektrische Haushaltgerate („Weisse Ware") und Gliihlampen, die innerhalb der EU verkauft werden initiiert. Die „Directive for Mandatory Energy Labelling of Household Appliances" trat am 1. Januar 1995 in Kraft. Seit Dezember 1999 fordert eine weitere EU-Richtlinie eine solche Entscheidungshilfe auch fur Autos. Jedes EU-Land ist dazu verpflichtet, diese Richtlinie in die nationale Gesetzgebung umzusetzen und fiir die Realisierung und Einhaltung der Vorschriften zu sorgen (Harrington and Damnics 2001). Seit 1. Januar 2002 hat auch die Schweiz im Rahmen der Energieverordnung das EU-Label fur Haushaltsgerate und Gliihlampen in Form der „Energieetikette" umgesetzt (Energie Schweiz 2004). Dieses Label gibt dem Konsumenten die Moglichkeit den Energieverbrauch verschiedener Haushaltsgerate miteinander zu vergleichen (Vergleichslabel). Die Produkte

Page 477: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Der Einfluss von Oko-Labelling 471

werden auf einer Skala von A bis G beurteilt, wobei „A" das energieeffizienteste Produkt auszeichnet und „G" die Produkte mit dem hochsten Energieverbrauch markiert.

Einige Studien haben den Erfolg des EU-Energielabels evaluiert. Ein Bericht der Europaischen Kommission iiber die ersten drei Jahre des EU-Energielabels von Winward, Schiellerup und Boardman (1998) ergab, dass das Label vom Konsumenten verstanden und angenommen wird. Der Erfolg des Energielabels zeigte sich vor allem in nordlichen EU-Staaten, in denen das Thema Energiekonsum schon langer Beachtung findet, wahrend der Einfluss des Energielabels in siidlichen EU-Staaten weitaus geringer ausfiel. Ein weiterer Faktor, der den Einfluss des Energielabels auf die Kaufentscheidung einschrankt, liegt im Produktsortiment einiger Einzelhandelsgeschafte.

Das EU-Energielabel funktioniert nach dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche: sowohl sehr energieeffiziente als auch weniger energieeffiziente Produkte werden gekennzeichnet. Produzenten und Handler haben daher einen zweifachen Anreiz verstarkt energieeffiziente Produkte anzubieten. Zu guter letzt liegt es in der Hand des Konsumenten, ob er sich fur ein besonders energieeffizientes Produkt entscheidet.

900 15 1200

Lumen Watt

h

Abhildung 59: EU Energie Label

Page 478: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

472 Katharina Sammer/ Rolf Wiistenhagen

3 Untersuchungsdesign

3.1 Untersuchungsziel

Ziel unserer Untersuchung ist es, die relative Bedeutung des Energielabels beim Gliihlampenkauf in Bezug auf andere Produkteigenschaften (Marke, Preis, ...) zu ermitteln. Fiir diese Art der Analyse eignet sich ein Discrete Choice Ansatz. Aufgrund von hypothetischen Auswahlentscheidungen der befragten Konsumenten konnen wir indirekt ihre Zahlungsbereitschaft fiir energieeffiziente Produkte und deren Eigenschaften ermitteln, beispielsweise den Mehrpreis fiir den Kauf einer Gliihlampe der Energieeffizienzklasse A im Vergleich zur Klasse F.

3.2 Umfrage

Im Rahmen der vorliegenden Studie wurden 151 Interviews von ca. 15 Minuten Dauer durchgefiihrt, von denen zwei Drittel im deutschsprachigen Teil der Schweiz (Regionen Zurich und Luzem) und ein Drittel im franzosischsprachigen Teil (Region Lausanne) realisiert wurden. Die Wahl der Befragungsstandorte diente dazu, im Rahmen der befragungstechnischen Moglichkeiten ein Spektrum unterschiedlicher Verkaufsstellen abzudecken. Gewahlt wurde deshalb einerseits mit Lumimart ein spezialisierter Lampenfachmarkt, andererseits mit Coop Bau+Hobby ein Einzelhandelskanal mit einem breiteren Sortiment, in dem Lampen eher nebenbei im Zusammenhang mit anderen Einkaufen erworben werden. Befragungsstandorte waren Winterthur ZH, Kriens LU und Crissier VD (Coop Bau+Hobby; 75 Interviews) sowie Diibendorf ZH, Kriens LU und Romanel-sur-Lausanne VD (Lumimart; 76 Interviews). Die Interviews wurden von erfahrenen Interviewerinnen am Point of Sale durchgefiihrt, wobei in fiinf von sechs Fallen die Genehmigung zur Durchfiihrung der Befragung innerhalb des Ladens in der Fachabteilung fiir Lampen erhalten werden konnte. Dies envies sich als Erfolgsfaktor bei der Gewahrleistung einer hohen Antwortrate und entsprechend geringer Streuverluste. Am 01.04.2004 wurde ein Pretest im Raum Zurich durchgefiihrt. Die Hauptuntersuchung fand im Zeitraum 29.04. bis 02.06.2004 statt. Es wurde ein Stated-Preference-Approach gewahlt, das heisst, es wurden die Entscheidungen zwischen hypothetischen Produktaltemativen erfasst, nicht das tatsachliche Kaufverhalten der Befragten. Da sich die befragten Kunden jedoch im Prozess des Kaufs von Gliihlampen oder Leuchten befanden, war eine grosse Realitatsnahe gegeben. Der Fragebogen umfasste eine einleitende Frage zur Bedeutung gesellschaftlicher Probleme in der Schweiz, Fragen iiber die Kaufgewohnheiten bei Gliihlampen, 21 Choice Tasks

Page 479: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Der Einfluss von Oko-Labelling 473

(Wahlentscheidungen zwischen je drei Produktaltemativen), Fragen zum Beleuchtungsverhalten, und schliesslich soziodemographische Fragen.

4 Methodik

4.1 Theoretische Rahmenhedingungen

Diese Studie basiert auf zwei theoretischen Grundkonzepten: Erstens, der mikrookonomischen Haushalts- bzw. Konsumtheorie, welche besagt, dass der Konsument voUkommen rational und bewusst handelt und dabei jene Produktaltemative wahlt, die ihm bei gegebenen Produktpreisen und Budget den grossten Nutzen stiftet. Eine Einkaufsentscheidung basiert daher auf einem Kosten-ZNutzenvergleich der unterschiedlichen Altemativen (Kreps, 1990). Lancaster (1966) hat die Haushaltstheorie erweitert, indem er darauf hingewiesen hat, dass nicht die Giiter selbst, sondem deren Charakteristiken dem Nachfrager Nutzen stiften. Beispielsweise werden beim Kauf einer Gluhlampe unterschiedliche Produkteigenschaften berlicksichtigt: Lebensdauer, Preis, Energieverbrauch, etc.

Zweitens dienen die Verhaltenswissenschaften als Grundlage einer Discrete Choice Analyse: Die Entscheidung eines Individuums wird durch personliche, individuelle Merkmale beeinflusst (z.B. Alter, Geschlecht,...) (Hawkins et al., 2001). Verhaltenswissenschaftliche Modelle gehen von der Annahme aus, dass die „Black Box" der Entscheidungsprozesse des Konsumenten durch beobachtbare Stimuli und Reaktionen entschlusselt werden konnen (Kroeber-Riel und Weinberg, 1999). Die Inputfaktoren der Black Box sind Personlichkeitsmerkmale (Soziodemographie), Faktoren des Marketing-Mix (Produktgestaltung, Preis, Distribution, Kommunikation), Psychologische Merkmale (Motivation, Einstellungen, Kognition, Lemen), Soziokulturelle Faktoren (Kultur, Subkultur, Klassenzugehorigkeit), gesellschaftliche Faktoren (Familie, Bezugsgruppen, Meinungsftihrer, soziale Rollen) und situative Faktoren (Umfeld, Stimmung, Zeit, Kaufzweck, ...). Der Output der Blackbox ist die aktuelle Kaufentscheidung. Das KaufVerhalten wird beschrieben durch Problemerkennung (mittels Stimuli), Informationssuche (mittels intemer oder extemer Informationsquellen), Evaluation der Altemativen aus dem Evoked Set, Kaufentscheidung und Nachkauf-Evaluation (Kroeber-Riel und Weinberg, 1999).

4.2 Discrete Choice Analyse als Untersuchungsinstrument

Die Discrete Choice-Analyse hat ihre Wurzeln in der quantitativen Psychologic. Das okonometrische Modell basiert auf den Arbeiten von Quandt (1968), Theil (1970) und McFadden (1974). Die Besonderheit dieses Modells liegt darin, dass

Page 480: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

474 Katharina Sammer/ Rolf Wustenhagen

die zu erklarende Kaufentscheidung des Konsumenten als eine diskrete abhangige Variable dargestellt wird. Die Attraktivitat des Modells zeichnet sich durch einen wahrscheinlichkeitstheoretischen Ansatz aus, der die Nutzenvorstellungen und das Auswahlverhalten der Nachfrager theoretisch und methodisch miteinander verbindet (Hahn, 1997). Discrete Choice Analysen werden in sehr unterschiedlichsten Disziplinen der Sozialwissenschaften angewandt: Verkehrswissenschaften, Energiethemen (Rivers and Jaccard, 2005; Goett et al., 2000), Gesundheitsokonomie (Hall et al. 2004). Eine detaillierte Beschreibung der Methode findet sich in Train (2003) und Louviere et al. (2000).

Kurz dargestellt, versucht ein Discrete Choice Modell nach dem „stated preference" (beobachtbare Praferenzen) Ansatz eine reale Kaufentscheidung zu simulieren, in der der Konsument zwischen mehreren Produkten aus einer Produktpalette (evoked set) auswahlt. Die Produkte variieren aufgrund ihrer Produkteigenschaften und sind nicht teilbar. Die abhangige Variable gibt Auskunft tiber das Ergebnis des individuellen Kaufverhaltens, d.h. ob ein bestimmtes Produkt gewahlt wurde oder nicht (0-1 Entscheidung). Der Nachfrager wahlt aus der Angebotssituation das Produkt aus, welches ihm den grossten Nutzen stiftet. Personliche Eigenschaften der Konsumenten konnen in das Modell miteinbezogen werden. Andere beeinflussende Faktoren auf das Kaufverhalten werden mittels des probabilistischen Ansatzes miteinbezogen, da das Wissen eines Forschers in der Regel nicht ausreicht, um alle kaufentscheidungsrelevanten Einfltisse adaquat abzubilden. Die Praferenzen konnen direkt von der beobachtbaren Kaufentscheidung hergeleitet werden.

Die Nutzenfunktion und die Entscheidungsregel konnen folgendermassen beschrieben werden (Hahn, 1997):

Uj,-Uj,{vj„Sj,)-^max\ Ujk = Nutzen, den Produkt k Konsumenten j stiftet Vjk = deterministische Nutzenkomponente beinhaltet Nutzenbeitrage aufgrund von Produkteigenschaften des Produktes k fiir den Konsumenten jXzjk) und individuelle personliche EigenschaftenyX^y) Sjk = stochastische Zufallsvariable, welche unbeobachtbare Produkteigenschaften umfasst zyy* , unbeobachtbare individuelle Attribute 5}* und Messfehler Sjk,

Die Auswahlwahrscheinlichkeit wird folgendermassen formuliert:

Pj, = ?rob(Uj, >Uj„;Vk ^n;k,neX,)

P1^ = Wahrscheinlichkeit, dass Konsument j Produkt k wahlt.

Page 481: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Der Einfluss von Oko-Labelling 475

Fiir den stochastischen Term der Verteilungsftinktion wird eine logistische Funktion gewahlt (multinominales Logitmodell).

U(k)

P.-^

z e^<" /=1

P.j^ = Wahrscheinlichkeit, dass Konsument j Produkt k wahlt.

n = Anzahl der Altemativen 1 = Produktaltemative

Die Schatzung der Modellparameter erfolgte mit der Maximum-Likelihood-Methode (McFadden, 1974; Ben-Akiva and Lerman, 1985).

4.3 Discrete Choice Design

Die Durchfuhrung eines Discrete Choice Experiments umfasst fiinf Schritte: geeignete Auswahl der Produktattribute, Spezifizierung ihrer Auspragungen, die Erstellung des Fragebogens, Durchfuhrung der Befragung und Schatzung des Discrete Choice Modells (Verma et al., 2004). Im ersten Schritt wurden fur die vorliegende Studie die relevanten Attribute und ihre Auspragungen fur Gliihlampen festgelegt. Dies beruhte auf der Analyse von Marketingmaterial der Hersteller (Produktkataloge, Websites) und des Handels sowie Expertengesprachen mit den Mitgliedem der Begleitgruppe des Forschungsprojekts. Tabelle 32 zeigt die letztendlich ausgewahlten Attribute und Auspragungen. Es ist dabei fiir den Erfolg der Untersuchung entscheidend, die wichtigsten Produktmerkmale aus der Sicht des befragten Konsumenten auszuwahlen, und dennoch die Anzahl der gewahlten Merkmale klein zu halten (maximal ftinf bis sechs). Die ausgewahlten Marken umfassen die beiden Marktftihrer, Osram und Philips, sowie ein No-Name Produkt zum Vergleich. Fiir die Auspragungen des Merkmals Energieeffizienzklasse (Energielabel) wahlten wir aus den real existierenden 7 Kategorien A bis G die drei aus, die auf dem Gliihlampenmarkt am haufigsten vorkommen (A, C und F).

Page 482: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

476 Katharina Sammer/ Rolf Wiistenhagen

Tabelle 32: Discrete Choice Design: Attribute und Ausprdgungen

Attribute

Marke

Form

Leistung (Watt)

Lebensdauer

Energieeffizienzklasse (Energielabel)

Preis

Ausprdgungen

Philips

Osram

Stella (no name)

Stab

Bime

Globe

11 Watt

60 Watt

I'OOOh

6'000 h

15'000h

A

C

F

1.90 CHF

9.90 CHF

18.90 CHF

Das experimentelle Design (Choice Tasks) wurde mit der Spezial-Software Sawtooth berechnet, welche minimale Uberlappung (jede Auspragung eines Attributs wird innerhalb einer Choice Task so selten wie moglich gezeigt), Ausgewogenheit der Auspragungen (jede Auspragung eines Attributs wird im Fragebogen insgesamt ungefahr gleich oft gezeigt) und Orthogonalitat sicherstellt (Sawtooth 1999). Die Software erlaubt zudem den Ausschluss besonders unrealistischer Merkmalskombinationen. So wurde beispielsweise die Kombination aus niedrigstem Preis und hochster Lebensdauer als Ausschlusskriterium formuliert. Die Choice Tasks enthielten sowohl ein Bild des Produktes als auch eine textliche Beschreibung der Attribute. Die Befi-agten hatten die Wahl zwischen drei Produktaltemativen und der Option, keines der drei angebotenen Produkte zu kaufen. Sawtooth hat 8 Varianten des Fragebogens mit je 21 Choice Tasks erzeugt. Wir unterteilten die Choice Tasks

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Der Einfluss von Oko-Labelling 477

in solche mit und solche ohne Energielabel. Die hier vorgestellten Ergebnisse beziehen sich auf jene 11 Choice Tasks pro Fragebogen, die das Energielabel als Attribut enthielten.

5 Ergebnisse

5.1 Deskriptive Ergebnisse

Im deskriptiven Teil des Fragebogens stand die Beurteilung nach wahrgenommenen wichtigen Kaufkriterien, der Bekanntheit des Labels und der Relevanz des Energieverbrauchs im Vordergrund. In einer gesttitzten Frage wurden Lebensdauer, Preis und Watt/Leistung als die drei wichtigsten Kriterien genannt (vgl. Tabelle 33). Die Tatsache, dass Lebensdauer ein so prominentes Kaufentscheidungskriterium bei Lampen ist, iiberrascht auf den ersten Blick, wird jedoch in der Discrete Choice Analyse klar bestatigt (siehe unten)

Tabelle 33: Wichtigste Kriterien beim Kauf einer GlUhlampe

Kriterium

Lebensdauer

Preis

Leistung/Watt

Energieeffizienzklasse

Design/Form

Licht gefallt

Bauhohe

Marke

Einzel-ZMehrfachpackungen

Sonstiges

Summe

N

1. Prioritdt

22.5%

2L9%

19.9%

15.9%

11.9%

5.3%

0.7%

0.7%

0.0%

1.3%

100.0%

151

2. Prioritdt

25.2%

23.2%

23.8%

7.9%

6.0%

9.9%

1.3%

0.7%

0.0%

2.0%

100.0%

151

3. Prioritdt

12.7%

24.0%

19.3%

6.0%

12.0%

14.7%

2.0%

3.3%

5.3%

0.7%

100.0%

150

Die Bekanntheit der Energieetikette ist hoch. Die gestiitzte Bekanntheit liegt bei 69.5 %. Um die Kenntnisse der Kunden auf den Prufstand zu stellen, erhielten sie eine Liste von Produkten, die neben den gelabelten Produktkategorien auch solche enthielt, in denen die Energieetikette nicht zur Anwendung kommt (zum Beispiel Fon, PC). Auf die Frage „Kennen Sie die Energieetikette auch von

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478 Katharina Sammer/ Rolf Wustenhagen

anderen Produkten? Wenn ja, von welchen?" gaben 81 % der Befragten an, die Etikette von Kiihl-Gefriergeraten zu kennen (vgl. Tabelle 34). Bei anderen Haushaltgeraten wie zum Beispiel Geschirrspulmaschinen und Waschmaschinen ist die Bekanntheit etwas niedriger (42.9 % bzw. 55.2 %). Derzeit noch relativ gering (26.7 %) ist die Bekanntheit der Energieetikette fiir Autos, was mit der Tatsache zusammenhangen diirfte, dass sie in diesem Bereich erst ktirzlich eingefuhrt wurde. Eine grosse Mehrheit gab zutreffend an, dass sie die Etikette auf Femsehem, Pons und PCs noch nicht gesehen habe, was auf einen guten Informationsstand hinweist.

Tabelle 34: Bekanntheit der Energieetikette (in Prozent der zustimmenden Antworten)

Bekanntheit (ja, ich habe dieses Label schon einmal gesehen)

Davon: Ich kenne das Energie-Label auch von anderen Produkten, undzwar...

Ktihl-Gefriergerate

Waschmaschinen

Geschirrsptiler

Autos

Femseher

Fon

PC

Sonstiges

Kenne kein anderes Produkt mit dem Energie-Label

N=151

69.5%

N=105

81.0%

55.2%

42.9%

26.7%

8.6%

1.9%

1.0%

1.9%

9.5%

Die hohe Bekanntheit der Energieetikette schlagt sich nicht unbedingt in einer hohen Bedeutung fur die Kaufentscheidung nieder. Etwa 50 % der befragten Gltihlampenkaufer gaben an, dass die Energieetikette eine hohe oder sehr hohe Bedeutung flir ihre Kaufentscheidung hat, wobei die Bedeutung bei den mannlichen Befragten etwas hoher ausfiel als bei den weiblichen, und in der deutschsprachigen Schweiz deutlich hoher als in der franzosischsprachigen Schweiz. Eine interessante Einsicht fordert eine Unterscheidung in umweltbewusste und weniger umweltbewusste Kunden zu Tage (vgl. Abbildung 60). Als Indikator wahhen wir die Frage, ob der oder die Befragte im Besitz eines Halbtax- oder Generalabonnements (GA) ist (vergleichbar mit der BahnCard 50 oder Mobility BahnCard 100 in Deutschland), woraus man auf

Page 485: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Der Einfluss von Oko-Labelling 479

eine intensivere Nutzung des offentlichen Verkehrs schliessen kann. Von den 105 befragten Lampenkaufem, die angaben, die Energieetikette zu kennen, besassen 44 Prozent Halbtax oder GA. Der Anteil derer, die angaben, dass die Energieetikette sehr wichtig fiir ihren Kaufentscheid ist, liegt bei diesen Abonnementsbesitzem bei 30.4 Prozent, wahrend er unter jenen, die weder Halbtax noch GA besitzen, lediglich 13.6 Prozent betragt. Allerdings messen jene Personen, die kein Halbtaxabo besitzen mit 28.8% der Energieetikette zumindest eine wichtige Bedeutung bei der Kaufentscheidung bei (Skalen-auspragung 5).

35% n

' c 30% -(U

1 25% -< 1 20% -c

"(0

1 10% -

1 ^ ° / ° " 0% -

" "Welche tjeaeuiung nai Tur bie aie i Energieetikette beim Kauf einer Glulibime?" 1

\ t 1 ^

1

30.4%

1 |i3.6°y

1 2 3 4 5 6 niciit seiir

wiclitig wiclitig

)

Halbtax Oder GA

• Ja ^ • Nein

Abhildung 60: Umweltbewusste Konsumenten messen der Energieetikette beim Kauf einer Lampe hohere Bedeutung bei

5.2 Ergebnisse der Discrete Choice Analyse

Die folgende Tabelle 35 zeigt die Ergebnisse des Discrete Choice Modells fur Gliihlampen. Sie basieren auf 1 '661 Beobachtungen als Ergebnis von jeweils 11 Wahlentscheidungen der 151 befragten Konsumenten. Die Tabelle enthalt vier verschiedene Indikatoren. Der Koeffizient (b) zeigt den Einfluss des entsprechenden Attributes des betrachteten Produkts auf die Wahl. Positive Werte zeigen an, dass die Wahlwahrscheinlichkeit bei zunehmenden Werten fur das jeweilige Attribut steigt, bei negativen Werten ist es umgekehrt -beispielsweise ist der Koeffizient b fiir Preis und Energieverbrauch negativ. Mit anderen Worten, wenn alles andere gleich ist, bevorzugen Konsumenten

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480 Katharina Sammer/ Rolf Wiistenhagen

Produkte mit niedrigerem Preis bzw. niedrigerem Energieverbrauch. Fiir nominal oder ordinal skalierte Attribute (zum Beispiel Marke oder Energieeffizienzklasse) wurde jeweils eine Merkmalsauspragung als Dummy Variable gesetzt (zum Beispiel Energieeffizienzklasse F = 0), fur diese Merkmalsauspragungen existieren daher auch keine weiteren Ergebnisse in den Spalten. Der Koeffizient b zeigt in diesem Fall den relativen Zuwachs des Kundennutzens der entsprechenden Merkmalsauspragung gegentiber der Referenzauspragung (zum Beispiel A- versus F-Label).

Die drei Spalten rechts in der Tabelle nennen verschiedene Gtitemasse. Die Standardabweichung (St.Er.) ist ein Indikator fur die Genauigkeit, mit der der Koeffizient geschatzt wurde. Multipliziert man die Standardabweichung mit dem entsprechenden Wert der Normalverteilung, erhalt man das 95 Prozent Konfidenzintervall des Koeffizienten. Der Quotient aus Koeffizient zu Standardabweichung (b/St.Er.) ist ein standardisierter Wert ftir die Genauigkeit der Schatzung des Koeffizienten, was einen Quervergleich zwischen den Attributen ermoglicht. Je hoher diese Werte, desto besser die Schatzung. Werte mit einem Betrag iiber 2 sind ein Indiz flir eine verlassliche Schatzung. In unserem Modell ergibt sich eine sehr hohe Gtite der Schatzung flir die Attribute Lebensdauer, Preis und Energieeffizienzklasse A. Eine zufrieden stellende Giite ergibt sich fiir das Attribut Marke, wahrend die Energieeffizienzklasse C sowie die Attribute Leistung (Watt) und Form niedrigere Werte aufweisen und somit mit einem hoheren Zufallsfehler behaftet sind. Beim Attribut Leistung fallt zudem auf, dass die Konsumenten einer hohen Leistung (60 Watt) einen hoheren Nutzen beimessen als einer geringen Leistung (11 Watt), obwohl im Fragebogen darauf hingewiesen wurde, dass es sich um Lampen gleicher Helligkeit handelt. Diese Rangfolge ist aufgrund des alltaglichen Sprachgebrauchs einleuchtend („mehr Leistung = besser"), energiepolitisch jedoch wenig wtinschenswert und letztlich als Wissenslticke des Konsumenten einzustufen. Das dritte Giitemass P[|Z|>z] beschreibt das Ergebnis eines zweistufigen Tests der Hypothese, dass der Koeffizient gleich null sei, das entsprechende Attribut also keinen Einfluss auf die Wahlentscheidung habe. Je niedriger dieser Wahrscheinlichkeitswert, desto besser ist die statistische Signifikanz ftir den betrachteten Koeffizienten. Werte unter 0.1 deuten auf eine hohe, Werte unter 0.01 auf eine sehr hohe Qualitat der Schatzung hin.

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Der Einfluss von Oko-Labelling 481

Tabelle 35: Ergebnisse des Discrete Choice Modellsfiir GlUhlampen

Variable

Konstante, EO

Marke: Philips

Marke: Osram

Marke: Stella (no name

Leistung: Watt

Energieeffizienzklasse:

Energieeffizienzklasse:

Energieeffizienzklasse:

Lebensdauer: Stunden

Preis: CHF

Form: Stab

Form: Bime

Form: Globe

0

A

C

F

Coefficient (b)

0.7901

0.0685

0.1073

0

0.0005

0.4647**

0.0501

0

0.000064**

-0.0673**

0.0987

-0.0299

0

Standard Error

(St.Er.)

0.0575

0.6536

0.0645

-

0.0022

0.1448

0.0860

-

0.0000059

0.0055

0.0641

0.0854

_

Ratio of Coefficient to Standard

Error (b/St.Er.)

1.373

1.047

1.663

-

0.239

3.209

0.583

-

10.837

-12.128

1.539

-0.350

_

Proh value P[\Z\>zJ

0.1698

0.2949

0.0963

-

0.8109

0.0013

0.5600

-

0.0000

0.0000

0.1238

0.7262

_

** Koeffizient signifikant auf 99 % Vertrauensniveau

Gegentiber der oben gewahlten Darstellung wird ein Vergleich der Ergebnisse uber verschiedene Attribute hinweg erleichtert, wenn die Nutzenkoeffizienten in Geldeinheiten umgewandelt werden. Diese konnen interpretiert werden als die Zahlungsbereitschaft eines Konsumenten fur eine relative Veranderung der Merkmalsauspragung. Rechnerisch kommt man zu diesen Ergebnissen, indem man den Koeffizienten (b) fiir jede Merkmalsauspragung durch den Betrag des Koeffizienten (b) des Attributs „Preis" dividiert. Bei den ordinal skalierten Attributen mit Dummyvariable ist dabei jeweils ein Niveau automatisch gleich null gesetzt, wahrend bei den anderen Auspragungen desselben Merkmals die relative Zahlungsbereitschaft abgelesen werden kann (zum Beispiel Marke Osram im Vergleich zu „No Name"-Marke Stella). Bei den ordinal skalierten Attributen ergibt sich ein linearer Zusammenhang zwischen den Auspragungen (zum Beispiel Lebensdauer in Stunden) und der Zahlungsbereitschaft. Die

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482 Katharina Sammer/ Rolf Wiistenhagen

Ergebnisse dieser Berechnung sind in der folgenden Abbildung 61 graphisch dargestellt.

Es zeigt sich, dass die Zahlungsbereitschaft fiir die Marke Osram gegenuber einer „No Name"- Lampe bei 1.60 CHF (1.04 EUR) liegt. Dies ist zwar eine ansehnliche Pramie bei konventionellen Gluhbimen, aber wenig im Vergleich zu den typischen Merkmalen von Energiesparlampen, wie zum Beispiel Lebensdauer und Energieeffizienzklasse A. Fiir eine A-gelabelte Gluhlampe sind die Kunden bereit, 6.16 CHF (4.00 EUR) mehr zu bezahlen als fur eine C-Lampe. Dies entspricht einem Au^reis von rund 60 Prozent im Verhaltnis zum durchschnittlichen Preis der zur Auswahl gestellten Lampen. Ein noch deutlicherer Effekt tritt bei der Lebensdauer auf. Im Vergleich zu einer Lampe mit rOOO Stunden Lebensdauer sind Konsumenten bereit, fur eine Lampe mit 15'000 Stunden Lebensdauer einen Aufpreis von iiber 13 CHF (8.50 EUR) zu bezahlen.

1

1 E

1

60 Watt

11 Watt

15000h

6000 h

1000 h

Bar

Globe

B H

A

C

F

Osram

Philips

Stella (no name)

• 0.36

0.00

MMi^M^S

^ ^ ^ ^ S M 0.00

0.00

-0.44

i^MMm^m ^ M O . 7 4

0.00

0.00

S: »Bi^«^Bl

PI "' ' '»^4.75

S^:^» ;T

9

-2.00 0.00 2.00 4.

r

.. . . ^ . 1 > ^

i V •;.. I.... -... . i

p^zxae.go

00 6.00 8.00 10

elative Zahlungsbereitschaft In CHF

^ ^ ^ 1 3 . 3 1

00 12.00 14 00

Abbildung 61: Zahlungsbereitschaft fur Attribute und Merkmalsausprdgungen bei Lampen.

6 Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse unseres Forschungsprojekts bieten wesentliche Erkenntnisse fur den Einsatz von Oko-Labels im Marketing, fiir die Umweltpolitik und fur die weitere Forschung im Bereich Umweltmanagement und Nachhaltigkeitsmarke-ting.

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Der Einfluss von Oko-Labelling 483

6.1 Schlussfolgerungen fur das Marketing mit Oko-Lahels

Die wichtigste Erkenntnis unserer Untersuchung fiir das Nachhaltigkeitsmarketing ist der empirische Nachweis einer signifikanten Zahlungsbereitschaft fiir Produkte, die das Energielabel der Klasse A tragen. Die implizite Mehrpreisbereitschaft fiir eine A- im Vergleich zu einer C-gelabelten Gliihlampe betmg 6.16 CHF (4.00 EUR), was etwa einem Aufpreis von 60 % im Vergleich zum durchschnittlichen Preis einer Gliihlampe in unserer Stichprobe entspricht. Im Vergleich mit den anderen Attributen wird die Bedeutung des Merkmals Energielabel A damit nur noch durch die Lebensdauer tibertroffen, welche eine noch deutlichere Zahlungsbereitschaft ausloste. Das Ergebnis ist in seiner grundlegenden Aussage auch konsistent mit unseren Beobachtungen in einer analogen Befi'agung von Waschmaschinenkaufem in der Schweiz (Sammer und Wiistenhagen, 2006), bei der die Mehrpreisbereitschaft fur das A-Label bei etwa 30 % lag. Die Marke ist ebenfalls ein relevantes Merkmal fiir die Kaufentscheidung, doch lost die Marke allein beim Kunden keine der Energieeffizienz vergleichbare Mehrpreisbereitschaft aus.' Dieses Ergebnis gibt den Herstellem und dem Handel klare Hinweise darauf, dass das Angebot von Energiesparlampen, die das A-Label tragen, dem Kunden einen hohen Nutzen stiftet und mit einer entsprechend hoheren Zahlungsbereitschaft honoriert wird.

6.2 Schlussfolgerungen fur die Umweltpolitik

Aus umwelt- und energiepolitischer Sicht ist ein zentrales Ergebnis die gute Bekanntheit des EU-Energielabels und seines Schweizer Pendants. Auch bietet die erstmalige Quantifizierung des Nutzens, den ein Label der Kategorie A beim Konsumenten stiftet, ein Argumentarium gegenuber Herstellem und Interessensverbanden, wenn es um die Frage der Freiwilligkeit oder Verpflichtung zum Fiihren des Labels geht. Gemass unserer empirischen Untersuchung ist ein verpflichtendes Label, welches eine klare Differenzierung der am Markt angebotenen Produkte bietet, im besten Interesse sowohl des Verbrauchers als auch der Anbieter. Das EU Energielabel kann auf Basis dieser Studienergebnisse als erfolgsversprechende institutionelle Innovation gewertet werden.

Dies im Unterschied zu der genannten Waschmaschinen-Untersuchung, wo beispielsweise die Marke Miele eine etwa doppelt so hohe Zahlungsbereitschaft nach sich zog wie das Energie-Label A.

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484 Katharina Sammer/ Rolf Wiistenhagen

6.3 Weitere Forschung

Unsere Discrete Choice Analyse hat sich als fruchtbarer Ansatz zur Untersuchung der Konsumentenpraferenzen im Hinblick auf Oko-Labels erwiesen. Wir haben erstmalig eine umfassende quantitative Analyse des Konsumentenverhaltens in Bezug auf energieeffiziente Produkte im Lampensektor durchgefiihrt und dabei die Bedeutung des Oko-Labels im Vergleich zu anderen Produktmerkmalen messen konnen. Eine indirekte Messung iiber eine Discrete Choice Analyse hat dabei klare Vorteile gegeniiber einer direkten Abfrage von Zahlungsbereitschaften, die starker den Verzerrungen sozialer Erwiinschtheit unterliegt.

Kiinftige Forschung konnte unseren Ansatz auf weitere Geratekategorien (z.B. Ktihlschranke) und Lander (z.B. verschiedene EU-Mitgliedsstaaten) ausweiten und so auch vergleichende Analysen ermoglichen. Interessant konnte auch der Vergleich zwischen der Wirkung des (obligatorischen) EU-Energie-Labels und freiwilligen Oko-Labels (z.B. Blauer Engel) sein. Insgesamt hat sich der Discrete Choice Ansatz als Analyseform flir die Bedeutung eines Okolabels bewahrt und liesse sich auch auf andere Labelarten bzw. alternative Kennzeichnungsinstrumente anwenden. Auch die Nutzung der Discrete Choice-Analyse flir die Zielgruppensegmentierung bietet interessantes Potential fiir weitere Forschung zum Thema Oko-Labelling.

Danksagung

Dieser Beitrag beruht auf einem Forschungsprojekt, welches durch das Bundesamt fur Energie (Schweiz) unter der Vertrags-Nr. 150575 gefordert wurde. Die Autoren danken dem Bundesamt fiir Energie fiir die fmanzielle Unterstiitzung, sowie Andreas Herrmann, Matthias Gysler, Rolf Iten, Martin Jakob und Gerd Sammer fur methodische Beratung, den Mitgliedem der Begleitgruppe (Rudolf Bolliger, Conrad Brunner, Hanspeter Eicher, Felix Frey, Lorenz Frey-Eigenmann) fiir ihre fachkundigen Hinweise, sowie Stephan Hammer und Maya Jegen fiir wertvolle Kommentare.

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Page 493: Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung

Der Einfluss von Oko-Labelling 487

Anhang 1: Fragebogen (Beispiel fur Choice Task-Teil des Fragebogens)

Im folgenden Teil des Fragebogens werden wir Ihnen jeweils drei Gluhbimen zur Auswahl stellen, die durch verschiedene Merkmale beschrieben sind. Bitte sagen Sie uns jeweils, ftir welches dieser Produkte Sie sich entscheiden wiirden, wenn Sie eine Gliihbime kaufen. (Annahme: gleiche Helligkeit, gleiche Fas-sung)

Frage L4 INT: Karten zeigen Wenn Sie haute eine Gluhbime mit (Iblicher Fassung und gleicher Hel­ligkeit kaufen (warmes Licht), fQr welches Modell wQrden Sie sich ent­scheiden?

Philips Osram Stella

Energieefflzienzklas^ F

Energieeffizienzklasse A

Energieeffizienzklasse A

Letensdauer eoooh

Lebefisdauer 15000h

Lebensdauer 1000h

60 Watt 11 Watt 11 Watt

190 CHF 6.90 CHF 18.90 CHF

Welches dieser drei Modeile wQrden Sie kaufen? Bitte zutreffendes ankreuzen!

1

D n 3

D Keines davon

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Autorenverzeichnis

Dr. rer. pol. habil. Ralf Antes ist Privatdozent an der Carl von Ossietzky Uni-versitat Oldenburg und vertrat bis zum Wintersemester 2005/06 die Professur fur Industriebetriebslehre an der Universitat Koblenz-Landau. Aufsetzend auf Institutionentheorien und den Verhaltenswissenschaften liegen seine konzeptio-nellen und empirischen Arbeitsschwerpunkte in den Feldem Organisation, Per-sonal/Fuhrung, Strategie, Innovation und Nachhaltigkeit. Kontakt: [email protected] Dipl.-Kffr. Marlen Arnold ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forscher-nachwuchsgruppe GELENA (Gesellschaftliches Lemen und Nachhaltigkeit) an der Universitat Oldenburg und wissenschaftliche Projektmitarbeiterin am 10W Berlin (Institut far okologische Wirtschaftsforschung). Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in den Themenfeldem: Nachhaltige Entwicklung, organi-sationales Lemen, kultureller Wandel, strategische Dimension des Umwelt- und Nachhaltigkeitsmanagements. Kontakt: [email protected] Siegfried Behrendt, Diplom-Politologe, Diplom-Biologe, Projektleiter am Institut fur Zukunftsstudien und Technologiebewertung IZT in Berlin, Lehrbe-auftragter an der Fachhochschule fiir Wirtschaft und an der Technischen Fach-hochschule in Berlin. Forschungsschwerpunkte sind: Nachhaltige Informations-gesellschaft, Technologiefolgenabschatzung und -bewertung. Integration von Risiken, Nebenfolgen und Nachhaltigkeitschancen in friihe Phasen von Innova-tionsprozessen, Nachhaltige Zukunftsmarkte Kontakt: [email protected] Dr. Severin Beucker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer Institut fiir Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart. Er koordiniert das Verbund-forschungsprojekt „nova-net: Innovation in der Intemetokonomie. Seine Ar­beitsschwerpunkte sind Innovations- und Technikanalysen, Forschungsstrate-gien fiir neue Technologien und Nachhaltigkeitsbewertung in Innovations-prozessen. Kontakt: [email protected] Prof. Dr. Karl-Werner Brand lehrt Soziologie an der TU MUnchen und war langjahriger Leiter der Munchner Projektgmppe fur Sozialforschung e.V. (MPS). Der Schwerpunkt seiner Forschungsarbeiten liegt im Bereich der Um-weltsoziologie, sozialer Bewegungen, Umweltmentalitaten, Lebensstile und nachhaltiger Konsum, Nachhaltigkeitskommunikation und Politik der Nachhal­tigkeit. Kontakt: [email protected]

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490 Autorenverzeichnis

Dr. rer. pol. Jens Clausen ist Diplomingenieur fiir Maschinenbau und seit 2005 Gesellschafter des Borderstep Instituts fiir Innovation und Nachhaltigkeit. Im Mittelpunkt seiner Forschungsarbeit stehen Fragen der Griindungs- und Innovationsforschung, nachhaltige Zukunftsmarkte, Nachhaltigkeitskommuni-kation und Corporate Social Responsibility. Kontakt: [email protected] Dr. rer. pol. habil. Klaus Fichter ist Privatdozent an der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg und leitet das Borderstep Institut fur Innovation und Nachhaltigkeit. Im Mittelpunkt seiner Forschungsarbeit stehen Fragen des In-novationsmanagements und des Entrepreneurship mit Blick auf die Umsetzung eines nachhaltigen Wirtschaftens und die Initiierung und Durchsetzung von Nachhaltigkeitsinnovationen. Kontakt: [email protected] Dr. rer. pol. habil. Jutta Geldermann (Dipl.-Wi.-Ing.) ist Privatdozentin an der Universitat Karlsruhe (TH) und leitet den interdisziplinaren Forschungs-schwerpunkt „Technikbewertung und Risikomanagement". Ihr Forschungsinte-resse gilt der strategischen Produktionsplanung und der multikriteriellen Ent-scheidungsunterstiitzung. Kontakt: [email protected] Dipl.-Umweltwissenschaftlerin Anne Gerlach ist Doktorandin am Centre for Sustainability Management (CSM) an der Universitat Liineburg. In ihrem Dis-sertationsvorhaben, das von November 2003 bis Oktober 2005 durch ein Sti-pendium des Landes Niedersachsen gefordert wurde, befasst sie sich mit der Frage, warum welche Entscheidungsdefekte die Prozesse von Nachhaltigkeits­innovationen behindem und wie beteiligte Akteure diese Barrieren iiberwinden konnen. Kontakt: [email protected] Dr. Carl Ulrich Gminder ist globaler Umwelt- und Sicherheitskoordinator der Danzer Gruppe, eines Holzuntemehmens mit Werken und Waldem in Europa, Nordamerika und Afrika. Er hat bei Prof. Thomas Dyllick am Institut fiir Wirt-schaft und Okologie der Universitat St.Gallen iiber die Umsetzung von Nach-haltigkeitsstrategien promoviert (veroffentlicht im DUV Verlag). Der Beitrag fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen. Kontakt: [email protected] Univ.-Prof. Dr. rer. pol. habil. Wolfgang Gerstlberger ist Stiftungsprofessor fiir „Innovationsmanagement und Mittelstandsforschung" am Intemationalen Hochschulinstitut (IHI) in Zittau und Bereichsleiter der NETSCI Prof Dr. Kra­mer GmbH fiir das Modul Technology and Innovation Management (TIM) mit Sitz in Jonsdorf Im Mittelpunkt seiner Forschungsarbeit stehen Fragen der nachhaltigen Gestaltung von Innovationssystemen und -netzwerken auf alien Ebenen (vom Betrieb bis zur Volkswirtschaft), besonders mit dem Fokus KMU,

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Autorenverzeichnis 491

sowie von innovationsorientierten Grtindungen aus dem Hochschulbereich. Kontakt: [email protected] Daniel Heubach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer Institut fiir Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart. Er beschaftigt sich dort in For-schungs- und Industrieprojekten mit den Themenfeldem Nachhaltiges Wirt-schaften (Umweltcontrolling, Betriebliche Umweltinformationssysteme (BUIS)) und Nachhaltiges Innovationsmanagement mit Schwerpunkt auf dem Einsatz neuer Technologien wie Nanotechnologie. Kontakt: [email protected] Prof. Dr. Bernd Hansjiirgens hat eine Professur fiir Volkswirtschaftslehre, insbesondere Umweltokonomik, an der Martin Luther-Universitat Halle-Wittenberg inne und leitet das Department Okonomie am UFZ-Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle GmbH. Seine Forschungsschwer-punkte liegen im Bereich der Umweltokonomie und der Neuen Institutioneno-konomik. Kontakt: [email protected] Dr. rer. nat. Reinhard Hohn ist Untemehmensbevollmachtigter Umweltschutz der IBM Deutschland GmbH. In dieser Position ist er verantwortlich fiir den Umweltschutz der IBM in Deutschland, Osterreich, Schweiz, Osteuropa und Naher Osten. Er leitet in BITKOM den Lenkungsausschuss Umwelt und Nach-haltigkeit, sowie den Arbeitskreis Nachhaltigkeit und Internationale Umweltpo-litik. In dieser Funktion vertritt er BITKOM im Europaischen Industrieverband EICTA. Kontakt: [email protected] Dr. rer. pol. Uta Kirschten, freiberufliche Tatigkeiten in Forschung und Lehre mit den Schwerpunkten Nachhaltiges Wirtschaften, Innovationsnetzwerke und Innovationsmanagement, Planungsmethoden und Schlusselqualifikationen. Kontakt: [email protected] Claus Lang-Koetz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer Institut fiir Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart. Er arbeitet dort in den Berei-chen Nachhaltiges Innovationsmanagement fiir neue Technologien, Nachhaltig-keitsbewertung in Innovationsprozessen, Softwareeinsatz im Umweltcontrol­ling, und dem Einsatz von Betrieblichen Umweltinformationssysteme (BUIS) Kontakt: [email protected] Dr. rer. pol. Julia Koplin arbeitet bei der Volkswagen AG in der Konzemfor-schung, Umweltstrategie und Geschaftsprozesse, wo Sie das Projekt "Nachhal­tigkeit in den Lieferantenbeziehungen" betreut. Wesentliche Schwerpunkte ihrer Forschungsarbeit umfassen die Operationalisierung von Nachhaltigkeit sowie die Integration von Umwelt- und Sozialstandards in das Supply Chain Management von Untemehmen. Kontakt: [email protected].

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492 Autorenverzeichnis

Dr. Marco Lehmann-Waffenschmidt ist Professor fur Volkswirtschaftslehre, insbes. Managerial Economics (Angewandte Mikrookonomik), an der Techni-schen Universitat Dresden. Schwerpunkte in der Lehre sind die Gebiete Indust-rieokonomik, Spieltheorie, Innovationsokonomik, Umweltokonomik sowie evolutorische und verhaltensorientierte (experimentelle) Okonomik. Seine For-schungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der evolutorischen Okonmik und der verhaltensorientierten Okonomik. Kontakt: [email protected] Mag. Dr. rer. soc. oec. Andre Martinuzzi ist Projektleitter und stv. Koordina-tor des „Research Institute for Managing Sustainability" der Wirtschaftsuniver-sitat Wien (www.sustainability.at). Seine Forschungsinteressen sind Evaluati-onsforschung, Beratungsforschung, Nachhaltigkeitsstrategien und Corporate Sustainability. Kontakt: [email protected] PD Dr. Martin Miiller vertritt den Lehrstuhl Produktion und Umwelt an der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg. Im Mittelpunkt seiner Forschungs-arbeit stehen Fragen zur Nachhaltigkeit in Wertschopfungsketten, zu Umwelt-und Sozialstandards und zum Informationstransfer im Supply Chain Manage­ment. Kontakt: [email protected] Dipl.-Pol. Ralf Nordbeck ist wiss. Mitarbeiter an der Universitat fiir Bodenkul-tur Wien, Institut fiir Wald- Umwelt- und Ressourcenpolitik. Seine For-schungsschwerpunkte liegen im Bereich der international vergleichenden Um-weltpolitik. Kontakt: ralf [email protected] PD Dr. Niko Paech arbeitet am Lehrstuhl flir Untemehmensfuhrung und Be-triebliche Umweltpolitik an der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg. Er ist zudem Vorstandssprecher des wissenschaftlichen Zentrums CENTOS (Ol­denburg Center for Sustainability Economics and Management). Seine For-schungsschwerpunkte sind u.a. Nachhaltigkeitsforschung, Umweltokonomik, Innovations- und Diffusionsforschung, nachhaltiger Konsum sowie Klima-schutz im Gebaudebereich. Kontakt: [email protected] Reinhard Paulesich; wissenschaftlicher Projektleiter am Institut fur Regional-und Umweltwirtschaft der Wirtschaftsuniversitat Wien; Arbeitsschwerpunkt ist die Ausgestaltung des easeyX Bewertungsmodells und seine Anpassung an Entwicklungs- und Bewertungsbedarfe im Naturschutzmanagement, Infrastruk-turprojekte usw Kontakt: [email protected] Prof. Dr. Reinhard Pfriem ist Inhaber des Lehrstuhls fiir Allgemeine Be-triebswirtschaftslehre, Untemehmensfiihrung und Betriebliche Umweltpolitik (www.laub-net.de) an der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg. Er hat 1985 die Grlindung des Instituts fur okologische Wirtschaftsforschung (10W) gGmbH in Berlin initiiert und war dort funf Jahre geschaftsfuhrender Gesell-schafter. Griindungsgesellschafter der ecco ecology and communication Unter-nehmensberatung GmbH in Oldenburg. Seit Mai 2003 Mitglied des Direktori-

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Autorenverzeichnis 493

urns des Konstanzer Zentrums fiir Wirtschaftsethik (ZfW). Vorsitzender von ONNO e.V., einem nachhaltigkeitsorientierten Untemehmensnetzwerk in Ost-friesland. Kontakt: [email protected] Dr. Siegfried Pongratz ist Direktor Motorola Physical Realization Research Center Europe, mit Sitz in Taunusstein. In dieser Position ist er verantwortlich fiir Forschung und Entwicklung von innovativen Technologien in Europa. Ein Schwerpunktthema ist die Umwelttechnologie und das Umweltlabors REAL (Rapid Environmental Assessment Lab), das sich mit Fragen der integrierten Produktpolitik und der Methodenentwicklung fiir die RoHS befasst. Er ist Vor-stand des Arbeitskreises Internationale Umweltpolitik und Nachhaltigkeit im BITKOM. Kontakt: [email protected] Dr Lutz Preuss MA PhD unterrichtet Untemehmensethik und Nachhaltigkeit am Royal Holloway College der University of London. Seine Forschungsarbeit beschaftigt sich mit Fragen der Nachhaltigkeit in der Beschaffung von Indust-rieuntemehmen und staatlichen Verwaltungen. Von 2002 bis 2005 war er Mit-glied des Vorstandes des britischen Untemehmensethiknetzwerkes EBEN-UK. Kontakt: [email protected] Katharina Sammer ist Doktorandin am Institut fur Wirtschaft und Okologie an der Universitat St.Gallen. In ihrer Dissertation analysiert sie den Einfluss von Okolabelling auf das Kaufverhalten. Seit April 2006 ist sie Umweltrefentin der Grtinen Fraktion im osterreichischen Bundesparlament. Kontakt: [email protected] Dr. Ulf Schrader ist Wirtschaftswissenschaftler und Politologe. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitand am Lehrstuhl Marketing und Konsum der Universitat Hannover. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Nachhaltiger Konsum und Verbraucherpolitik, Nachhaltiges Marke­ting und Untemehmensethik, Produktpolitik und Dienstleistungsmanagement. Kontakt: [email protected] Dr. rer. poL habil. Stefan Seuring ist Privatdozent an der Carl von Ossietzky Unviersitat Oldenburg. Aktuell arbeitet er im Department of Management Sys­tems der University of Waikato, Hamilton, Neuseeland. Seine Forschungs-Schwerpunkte sind Nachhakigkeit in Wertschopfungsketten und Supply Chain Controlling. Kontakt: [email protected]. Prof. Dr. Bernd Siebenhiiner ist Juniorprofessor fiir Okologische Okonomie an der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg und Leiter der Forschemach-wuchsgruppe GELENA-Gesellschaftliches Lemen und Nachhaltigkeit. Zudem ist er stellvertretender Leiter des Global Governance Projekts. Seine For-schungsschwerpunkte umfassen Kollektive Lemprozesse, Okologische Okono-

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mik, Nachhaltigkeitspolitik, Nachhaltigkeitsmanagement, Biodiversitatspolitik und Internationale Umweltpolitik. Kontakt: [email protected]. Prof. Dr. Achim Spiller ist seit dem 01.04.2000 Inhaber des Lehrstuhls „Mar-keting fur Lebensmittel und Agrarprodukte" an der Georg-August-Universitat Gottingen. Schwerpunkte seiner Forschungsarbeit liegen in der Konsumenten-verhaltensforschung, der Marktforschung und dem Qualitatsmanagement. Kontakt: [email protected] Dr. Mario Tobias ist Mitglied der Geschaftsleitung des Bundesverbands In-formationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (BITKOM) in Berlin. Er leitet dort den Geschaftsbereich Technologien und Dienste. Bis 2005 war er fiir den BITKOM-Kompetenzbereich Umwelt und Nachhaltigkeit ver-antwortlich. Schwerpunktthemen dort waren die Umsetzung der EU-Altgeraterichtlinie in deutsches Recht, die umweltfreundliche Produktgestaltung sowie nachhaltiges Wirtschaften in der bzw. durch die ITK-Wirtschaft, Er ist Gastdozent an der FU Berlin und der Universitat St. Gallen. Kontakt: [email protected] Dr. Marcus Wagner ist wissenschaftlicher Assistent und Habilitand am Dr. Theo Scholler-Stiftungslehrstuhl fur Technologie- und Innovationsmanagement an der Technischen Universitat Miinchen. Forschungsschwerpunkte sind Um-weltinnovationen, Entrepreneurship sowie Organisation und Management von Innovationsprozessen in Hochtechnologieindustrien. Kontakt: [email protected] Dr. Rolf Wiistenhagen ist seit 2003 Vize-Direktor des Instituts fflr Wirtschaft und Okologie (IWO-HSG) und Dozent flir Umwelt- und Nachhaltigkeitsmana­gement an der Universitat St. Gallen. Seine Habilitation widmet sich dem The-ma Venturing for Sustainable Energy. Schwerpunkte sind dabei (1) die Erfor-schung des Kundennutzens nachhaltiger Energiesysteme, (2) die Risikokapital-Finanzierung von Junguntemehmen im Energiebereich und (3) das nachhaltige Innovationsmanagement in grossen Energieuntemehmen. Kontakt: [email protected]