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Leseprobe Roth, Joseph Die Geschichte von der 1002. Nacht Roman © Insel Verlag insel taschenbuch 3605 978-3-458-35305-8 Insel Verlag

Insel Verlag - Suhrkamp Verlag · 123456–151413121110. Die Geschichte von der 1002. Nacht. I ImFrhlingdesJahres18..begannderSchah-in-Schah,der ... Lge, sondern Furcht vor Allah,dem

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Leseprobe

Roth, Joseph

Die Geschichte von der 1002. Nacht

Roman

© Insel Verlag

insel taschenbuch 3605

978-3-458-35305-8

Insel Verlag

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W�hrend eines Besuchs in Wien verliebt sich der Schah von Persien indie Gr�fin W. aus M�hren. Es verlangt ihn nach einer gemeinsamenNacht. Er verbringt sie mit der als Gr�fin verkleideten Mizzi, derTochter des Ofensetzers Alois Schinagl aus Sievering. Mizzi wirdeine reiche Frau, doch viel zu schnell fliegt der Schwindel auf . . .

»Joseph Roth beherrschte die Sprache, sie ihn, und sie gab ihm alles.«Heinrich Bçll

Joseph Roth, am 2. September 1894 in Brody/Ostgalizien geboren, istam 27. Mai 1939 in Paris gestorben.

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insel taschenbuch 3605Joseph Roth

Die Geschichte vonder 1002. Nacht

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Joseph RothDie Geschichte von

der 1002. NachtRoman

Insel Verlag

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Die Erstausgabe erschien 1939im Verlag De Gemeenschap, Bilthoven.Umschlagfoto: akg-images/Erich Lesing

insel taschenbuch 3605Erste Auflage 2010

� Insel Verlag Berlin 2010Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,

des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagUmschlag nach Entw�rfen von Willy Fleckhaus

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN 978-3-458-35305-8

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Die Geschichte vonder 1002. Nacht

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I

Im Fr�hling des Jahres 18 . . begann der Schah-in-Schah,derheilige, erhabene und große Monarch, der unumschr�nkteHerrscher und Kaiser aller Staaten von Persien, ein Unbe-hagen zu f�hlen, wie er es noch niemals gekannt hatte.

Die ber�hmtesten �rzte seines Reichs konnten seineKrankheit nicht erkl�ren. Der Schah-in-Schah war aufshçchste beunruhigt.

In einer schlaflosen Nacht ließ er den ObereunuchenPatominos kommen, der ein Weiser war und der die Weltkannte, obwohl er den Hof nie verlassen hatte. Zu diesemsprach er so:

»Ich bin krank, Freund Patominos. Ich f�rchte, ich binsehr krank. Der Arzt sagt, ich sei gesund, aber ich glaubeihm nicht. Glaubst du ihm, Patominos?«

»Nein, ich glaube ihm auch nicht!« sagte Patominos.»Glaubst du also auch, daß ich schwer krank bin?« frag-

te der Schah.»Schwer krank – nein – das glaube ich nicht!« erwiderte

Patominos. »Aber krank! Krank jedenfalls, Herr! Es gibt,Herr, viele Krankheiten. Die Doktoren sehen sie nicht,weilsie darauf abgerichtet sind, nur die Krankheiten der kçrper-lichen Organe zu beachten. Was aber nutzt dem Menschenein gesunder Leib mit gesunden Organen, wenn seine SeeleSehnsucht hat?«

»Woher weißt du, daß ich Sehnsucht habe?«»Ich erlaube mir, es zu ahnen.«»Und wonach sehne ich mich?«»Das ist eine Sache«, erwiderte Patominos, »�ber die ich

eine Weile nachdenken m�ßte.«

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Der Eunuch Patominos tat so, als d�chte er nach, dannsagte er: »Herr, Eure Sehnsucht zielt nach exotischen L�n-dern, nach den L�ndern Europas zum Beispiel.«

»Eine lange Reise?«»Eine kurze Reise, Herr! Kurze Reisen bringen mehr

Freude als lange. Lange Reisen machen krank.«»Und wohin?«»Herr«, sagte der Eunuch, »es gibt vielerlei L�nder in

Europa. Es h�ngt alles davon ab, was man eigentlich in die-sen L�ndern sucht.«

»Und was glaubst du, daß ich suchen m�ßte, Patomi-nos?«

»Herr«, sagte der Eunuch, »ein so elender Mensch wieich weiß nicht, was ein großer Herrscher suchen kçnnte.«

»Patominos«, sagte der Schah, »du weißt, daß ich schonwochenlang keine Frau mehr anger�hrt habe.«

»Ich weiß es, Herr«, erwiderte Patominos.»Und du glaubst, Patominos, das sei gesund?«»Herr«, sagte der Eunuch und erhob sich dabei ein we-

nig aus seiner geb�ckten Stellung, »man muß sagen, daßMenschen meiner besonderen Art nicht viel von derlei Din-gen verstehen.«

»Ihr seid zu beneiden.«»Ja«, erwiderte der Eunuch und richtete sich zu seiner

ganzen f�lligen Grçße auf. »Die anderen M�nner bedaureich von ganzem Herzen.«

»Warum bedauerst du uns, Patominos?« fragte derF�rst.

»Aus vielen Gr�nden«, antwortete der Eunuch, »beson-ders aber deshalb, weil die M�nner dem Gesetz der Ab-wechslung unterworfen sind. Es ist ein tr�gerisches Ge-setz: denn es gibt gar keine Abwechslung.«

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»Wolltest du damit gesagt haben, daß ich dieser bestimm-ten Abwechslung halber irgendwohin fahren sollte?«

»Ja, Herr«, sagte Patominos, »um sich zu �berzeugen,daß es keine gibt.«

»Und dies allein w�rde mich gesund machen?«»Nicht die �berzeugung, Herr«, sagte der Eunuch, »aber

die Erlebnisse, die man braucht, um zu dieser �berzeugungzu gelangen!«

»Wie kommst du zu diesen Erkenntnissen, Patominos?«»Dadurch, daß ich verschnitten bin, Herr!« erwiderte

der Eunuch und verneigte sich wieder.Er riet dem Schah-in-Schah zu einer weiten Reise. Er

schlug Wien vor. Der Herrscher erinnerte sich: »Moham-medaner waren dort schon vor vielen Jahren gewesen.«

»Herr, es gelang ihnen damals leider nicht, in die Stadtzu kommen. Auf dem Stephansturm st�nde sonst heutenicht das Kreuz, sondern unser Halbmond!«

»Alte Zeiten, alte Geschichten. Wir leben in Frieden mitdem Kaiser von �sterreich.«

»Jawohl, Herr!«»Wir fahren!« befahl der Schah. »Die Minister verst�ndi-

gen!«Und es geschah, wie er befohlen hatte.Im Waggon erster Klasse zuerst, sp�ter im r�ckw�rtigen

Teil des Schiffes, herrschend �ber den Frauen, saß der Ober-eunuch Kalo Patominos. Er blickte auf die rotgl�hendeuntergehende Sonne. Er breitete den Teppich aus,warf sichauf den Boden und begann, das Abendgebet zu murmeln.Man erreichte unerkannt Konstantinopel.

Das Meer war sanft wie ein Kind. Das Schiff schwammsacht und lieblich, es selbst ein Kind, in die blaue Nacht hin-ein.

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II

Ein paar Tage kreuzte das br�utliche Schiff des Schahs imblauen Meer. Denn man getraute sich nicht, dem großenHerrn zu sagen, daß man auf eine Antwort des persischenBotschafters in Wien warten m�sse. Nach anderthalb Ta-gen schon wurde der Schah ungeduldig. Obwohl er sichum den Kurs des Schiffes nicht k�mmerte, konnte er dochnicht umhin zu bemerken, daß immer wieder das gleicheSt�ck der K�ste auftauchte, die er eben verlassen hatte.Auch ihm schien es allm�hlich sonderbar, daß ein so star-kes Schiff soviel Zeit brauchte, um ein so kleines Meerzu durchqueren. Er ließ den Großwesir kommen und deu-tete ihm an, daß er unzufrieden sei mit der Langsamkeitder �berfahrt. Er deutete es nur an, er sagte es nicht ge-nau. Denn traute er schon keinem seiner Diener, solangeer sich auf fester Erde befand, so traute er ihnen noch we-niger, wenn er auf dem Wasser umherschwamm. Gewißwar man auch zur See in Gottes Hand, aber auch ein wenigin der des Kapit�ns. �berhaupt, sooft er an den Kapit�ndachte, wurde der Schah unruhig. Ihm gefiel der Kapit�ngar nicht, besonders, weil er sich nicht erinnern konnte,ihn schon jemals gesehen zu haben. Er war n�mlich �ußerstmißtrauisch. Selbst die M�nner, die ihm heimisch undwohlvertraut waren, verd�chtigte er leicht und gerne; wieerst diejenigen, die er nicht kannte oder an die er sich nichterinnerte? Ja, er war dermaßen mißtrauisch, daß er nichteinmal sein Mißtrauen zu erkennen zu geben wagte – inder kindischen und m�chtigen Herrn oft eigenen �berzeu-gung, sie seien noch schlauer als ihre Diener. Deshalb deu-tete er jetzt dem Großwesir auch nur vorsichtig an,daß ihm

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dies lange Herumreisen nicht ganz geheuer vorkomme.Der Großwesir aber, der wohl erkannte, daß der Schah seinMißtrauen nicht ausdr�cken wolle, gab keineswegs zu er-kennen, daß er Mißtrauen sp�re.

»Herr«, sagte der Großwesir, »auch mir erscheint esunverst�ndlich, daß wir so lange Zeit brauchen, um dasMeer zu �berqueren.«

»Ja«, best�tigte der Schah, als ob er selbst erst durchdiese Bemerkung des Großwesirs auf die allzu langsameFahrt aufmerksam gemacht worden w�re, »ja, du hastrecht: Warum fahren wir so langsam?«

»Man m�ßte, Herr, den Kapit�n befragen!« sagte derGroßwesir.

Der Kapit�n kam, und der Schah fragte: »Wann errei-chen wir endlich die K�ste?«

»Großm�chtiger Herr«, erwiderte der Kapit�n, »das Le-ben Eurer Majest�t ist uns allen heilig! Heiliger ist es unsals unsere Kinder, heiliger als unsere M�tter, heiliger alsdie Pupillen unserer Augen. Unsere Instrumente k�ndigeneinen Sturm an, so friedselig das Meer auch im Augenblickerscheinen mag.Wenn Eure Majest�t an Bord sind, m�ssenwir tausendfach achtgeben.Was gibt es Wichtigeres f�r un-ser Leben, f�r unser Land, f�r die Welt als das geheiligte Le-ben Eurer Majest�t? – Und unsere Instrumente k�ndigenleider Sturm an, Majest�t!«

Der Schah sah nach dem Himmel. Er war blau, straff ge-wçlbt, strahlend. Der Schah dachte, daß ihn der Kapit�nbel�ge. Er sagte es aber nicht. Er sagte nur: »Mir scheint,Kapit�n, daß deine Instrumente gar nichts taugen!«

»Gewiß, Majest�t«, antwortete der Kapit�n, »auch In-strumente sind nicht immer zuverl�ssig!«

»Ebenso wie du, Kapit�n«, sagte der Schah.

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Auf einmal bemerkte er ein winziges, weißes Wçlkchenam Rande des Horizonts. Die Wahrheit zu sagen: Es warkaum ein Wçlkchen, es war ein Schleierchen, eigentlichnur der Hauch von einem Wçlkchen. Auch der Kapit�nhatte es im gleichen Augenblick ersp�ht – und schon hoffteer, ein Wunder sei ihm zu Hilfe gekommen und er und seineL�ge und seine verlogenen, umgelogenen Instrumente w�r-den in den Augen des Herrn aller Gl�ubigen plçtzlich ge-rechtfertigt sein.

Aber gerade das Gegenteil war der Fall. Denn: so winzigund hauchd�nn das Wçlkchen auch war, so verst�rkte esdoch den Zorn des Schahs. Er hatte sich schon so daran ge-freut, daß er Großwesir und Kapit�n auf einer niedertr�ch-tigen L�ge ertappt hatte – – und jetzt kam die Naturselbst – – gebar ein Wçlkchen (und wie leicht konnten rich-tige Wolken daraus werden!) und gab am Ende noch denl�genden Instrumenten recht! Mit grimmer Aufmerksam-keit beobachtete der Schah die unaufhçrlich wechselndenFormen des Wçlkleins. Bald lockerte es sich. Der Wind zer-franste es ein bißchen. Dann aber ballte es sich noch festerals vorher zusammen. Nun sah es aus wie ein Schleier, ineinen Kn�uel verdichtet. Dann dehnte es sich in die L�nge.Dann schließlich wurde es dunkler und fester. Der Kapit�nstand immer noch hinter dem R�cken des Schahs. Auch erbetrachtete die wechselnden Formen der kleinen Wolke,aber keineswegs grimmig, sondern mit trçstlichem Her-zen. Ach, aber: wie trog ihn sein Sinn! J�h und w�tendwandte sich der Schah um, und sein Angesicht erschiendem Kapit�n wie eine Art gef�hrlicher, violetter Hagelwol-ke. »Ihr t�uscht euch alle«, begann der m�chtige Herr ganzleise, mit einer Stimme, die, beinahe tonlos, aus unbekann-ten Gr�nden der Seele kam. »Ihr t�uscht euch alle, wenn

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ihr glaubt, daß ich eure Mançver nicht durchschaue. DieWahrheit sagst du mir nicht! Was erz�hlst du mir von dei-nen Instrumenten? Was f�r einen Sturm verk�nden sie?Mein Auge ist noch lange so sicher wie deine Instrumente.Ringsum ist der Himmel klar und blau, selten noch habeich einen so klaren und blauen Himmel gesehen. Machdeine Augen auf, Kapit�n! Sag selbst, siehst du auch ein ein-ziges, noch so geringes Wçlkchen am Horizont?«

Der Schrecken des Kapit�ns war groß, aber gewaltigernoch war sein Erstaunen. Und noch grçßer als sein Schrek-ken und sein Staunen war seine Ratlosigkeit. War der Zorndes Herrn echt oder gespielt? Stellte ihn der Herr auf dieProbe? Wer konnte es wissen? Er hatte niemals in der N�-he des Schahs gelebt, er kannte nicht seine Gewohnheiten.Der und jener hatte dem Kapit�n gelegentlich erz�hlt, daßder Schah manchmal den Erz�rnten spielte, um den Gradder Aufrichtigkeit zu erkennen, dessen seine Diener f�higsein konnten. Ungl�cklicherweise dachte der arme Kapi-t�n gerade jetzt an diesen einen, im allgemeinen durchausnicht kennzeichnenden Charakterzug des Herrn, und erentschloß sich, aufrichtig zu sein. »Herr«, sagte er, »dieAugen Eurer Majest�t haben soeben die Wolke dort am Ho-rizont gesehen.« Und er trieb, der unselige Kapit�n, seineK�hnheit so weit, daß er sogar den Finger ausstreckte undnach dem Wçlkchen wies, das inzwischen eine richtige,schwarzblaue Wolke geworden war, die mit unheimlicherEile dem Schiffe n�her trieb.

»Kapit�n!« donnerte der Schah, »willst du mich lehren,den Himmel anzusehn? Nennst du jenes lichte Nebelchendort eine Wolke? Sp�rst du nicht die Strahlen der Sonne?«

In diesem Augenblick aber ereignete sich etwas Uner-wartetes. Die Wolke, sie war in einigen Sekunden eine tie-

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fe, regentr�chtige, blauschwarze Gewitterwolke geworden,hatte soeben die Sonne erreicht, und sie verfinsterte dieWelt.

Der Kapit�n streckte beide Arme aus, und �ber seine zit-ternden Lippen kam kein Wort mehr. Es sah aus, als wollteer sagen: Herr, zu meinem Bedauern bin ich gezwungen,den Himmel sprechen zu lassen. Er schickt sich eben an,statt meiner Eurer Majest�t zu antworten.

Zwar hatte auch der Schah selbstverst�ndlich gesehn,wie sich die Sonne verfinsterte. Noch wußte er nicht ge-nau, ob er sich freuen sollte �ber die Ehrlichkeit seiner Die-ner, die ihm in der Tat genauen und wahrheitlichen Bericht�ber den nahenden Sturm gegeben hatten, oder ob er sich�rgern sollte dar�ber, daß er seinem eigenen Mißtrauen er-legen war. Er f�hlte, daß er in Gefahr war, seine Verwir-rung zu verraten. Dies durfte auf keinen Fall geschehen –und deshalb befahl er: »Zeig mir deine Instrumente, Ka-pit�n!«

W�hrend sie das Deck entlanggingen, der Schah voran,der Kapit�n hinterdrein,verfinsterte sich der Himmel nochmehr, so weit man sehen konnte, mit Ausnahme einesschmalen, blauen Streifens im Nordosten. Im Westen wa-ren die Wolken ganz bçse und violett, im Zenit des Him-mels wurden sie etwas milder und heller, im Osten lichte-ten sie sich zu einer geradezu als g�tig zu empfindendenBl�sse. Der Kapit�n, drei Schritte hinter dem Schah, gerietin eine wahrhaftige, ehrliche Furcht. Diesmal war es nichtwie vorher Angst vor dem Herrscher und vor der eigenenL�ge, sondern Furcht vor Allah, dem Herrn der Welt, undvor dem Sturm, den er so leichtsinnig vorausgesagt hatte.Zum erstenmal hatte der Kapit�n die Ehre, den Schah-in-Schah auf seinem Schiff zu beherbergen. Was wußte er

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von den Gesetzen der Diplomatie, der brave Kapit�n? Seitzwanzig Jahren kreuzte er die Meere, immer auf diesem kai-serlichen Dampfer ›Achmed Akbar‹. Viele St�rme hatte ererlebt, in seiner Jugend war er noch auf Segelschiffen gefah-ren, und auf Segelschiffen hatte er die Seefahrt zuerst ken-nengelernt. Niemals seit seinem Regierungsantritt hattedieser Schah das Bed�rfnis empfunden, ein Meer zu �ber-queren. Ihn, den armen Kapit�n, traf die gef�hrliche Aus-zeichnung, den m�chtigen Herrn zum erstenmal �ber Was-ser zu f�hren. »Wir d�rfen nicht in der vorgeschriebenenZeit Europas K�ste erreichen«, hatte ihm der Großwesirgesagt. – »Seine Majest�t haben einen hçchst ungeduldi-gen Charakter und wollen ihre W�nsche erf�llt haben,kaum sind sie ausgesprochen. Aber es gibt, verstehn Sie,Kapit�n, diplomatische Hindernisse. Wir m�ssen erst dieAntwort Seiner Exzellenz unseres Botschafters abwarten.So lange m�ssen wir trachten, nahe der K�ste herumzu-kreuzen. Wenn es Seiner Majest�t einfallen sollte, Sie zufragen, so sagen Sie, daß Sie Sturm bef�rchten.«

So hatte der Großwesir gesprochen. Und siehe da: DerSturm war wirklich im Anzug. Und die Instrumente hattenihn doch gar nicht angek�ndigt. Einfach die L�ge hatte ihnangek�ndigt, einfach die L�ge! Gl�ubig war der Kapit�n,und Allah f�rchtete er.

Sie kamen in die Kabine des Kapit�ns. Es gab da wenigInstrumente, insbesondere aber keine, die etwas vom na-henden Sturm aussagen konnten. Es gab nur eine großeBussole, englisches Fabrikat, festgeschraubt auf einer run-den Tischplatte. Der Schah beugte sich dar�ber. »Was istdas, Kapit�n?« fragte er. »Majest�t, eine Bussole!« sagteder Kapit�n. »Aha«, sagte der Schah. »Andere Instrumentehast du nicht?« – »Hier nicht, Majest�t, sie sind daneben,

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im Zimmer des Ingenieurs!« – »Also Sturm?« fragte derSchah. Er hatte keine Lust mehr, andere Instrumente zusehn, und außerdem w�nschte er sich ehrlich einen Sturmherbei. »Wann wird endlich dieser Sturm kommen?« fragteer g�tig. »Ich sch�tze, nach Sonnenuntergang!« sagte derKapit�n.

Der Schah ging, hinter ihm der Kapit�n. Als sie auf dasVerdeck traten, war der Tag bereits fast so finster wie einerichtige Nacht. Der Offizier vom Dienst kam eilig heran,er lief, er galoppierte. Er meldete dem Kapit�n irgend et-was, in Ausdr�cken, die der Schah noch niemals gehçrthatte. Er ging auch weiter, ohne sich um die beiden zu k�m-mern. Er trat an die Reling und betrachtete mit aufrichti-gem Vergn�gen den w�tenden Gischt der anst�rmenden,zur�ckweichenden und immer wieder anst�rmenden Wo-gen. Das Schiff begann zu schwanken. Die Welt begann zuschwanken. Die Wogen waren gr�ne, schwarze, blaue undgraue Zungen, mit schneeweißen R�ndern. Ein gewaltigesUnbehagen ergriff plçtzlich den Schah. Ein unbekanntesUngeheuer w�hlte und wand sich in seinen Eingeweiden.Einmal, er erinnerte sich, er war noch ein Knabe gewe-sen und krank, sehr krank, hatte er ein �hnliches �bel ver-sp�rt.

Den Kapit�n ergriff eine doppelte Aufregung: Erstenswar sein Herr unp�ßlich; und zweitens n�herte sich ebenje-ner Sturm, den er so leichtfertig vorausgelogen hatte. DerKapit�n wußte nicht mehr, um was er sich eifriger k�m-mern m�sse: um den Sturm oder das Unbehagen des Herrn.Er entschloß sich, seine Aufmerksamkeit dem Schah zuzu-wenden. Dies war um so eher angebracht, als er ohnehin be-fohlen hatte, sofort mçglichst dicht an die K�ste zur�ckzu-kehren. Ausgestreckt, in mehrere Decken geh�llt, lag der

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Schah auf dem Verdeck. Der Leibarzt, den er so haßte undder, seiner Meinung nach, der einzige Mensch war, dem ernie mehr in diesem Leben entrinnen konnte, stand gebeugt�ber dem kranken Herrn. Er tat, was selbstverst�ndlichwar: Er flçßte dem Schah Baldrian ein. Die ersten, schwe-ren Regentropfen fielen auf den weichen Samt des Zelts,das man um den Schah gebaut hatte. Der Wind ließ leisedie Ringe erklirren, die des Zeltes W�nde mit den drei me-tallenen St�ben verbanden. Der Schah f�hlte sich wohler.Er wußte, daß es draußen blitzte, und den Donner hçrteer mit wonnigem Behagen. Seine �belkeiten verschwan-den, kein Wunder! Das Schiff stand still, kaum zwei See-meilen von der K�ste. Nur das Meer klatschte in regelm�ßi-ger Wut gegen die Flanken.

Dieser Sturm war dem Großwesir als eine besondereGnade des Himmels geschickt worden. In hurtigen Bootenerreichten Sekret�re Konstantinopel, mitten in der Nacht.In den gleichen hurtigen Booten kehrten sie am n�chstenTage, gegen neun Uhr morgens, zur�ck. Der Schah schliefnoch. Sie brachten das Telegramm des Wiener Botschaf-ters: In Wien erwarte man die Majest�t. Alles w�re zumEmpfang bereit . . .

Auch der Sturm erstarb. Eine neue, gewaschene Sonneleuchtete stark und froh, wie einst, vormals, am erstenTag ihrer Erschaffung.

Auch der Kapit�n leuchtete. Auch der Großwesir leuch-tete. Mit Volldampf glitt das Schiff dahin, Europa entge-gen.

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III

Seine Kaiser- und Kçnigliche Apostolische Majest�t emp-fing die Kunde von dem Besuch des Schahs gegen achtUhr morgens. Es waren gerade knapp zweihundert Jahrevergangen, seitdem der grausamste aller Mohammedanergegen Wien heranger�ckt war. Damals hatte ein wahresWunder �sterreich gerettet. Weit schrecklicher noch alseinst die T�rken bedrohten jetzt die Preußen das alte �ster-reich – und obwohl sie fast ungl�ubiger waren als die Mo-hammedaner – denn sie waren ja Protestanten –, tat Gottgegen sie keine Wunder. Es gab keinen Grund mehr, dieSçhne Mohammeds mehr zu f�rchten als die Protestanten.Jetzt brach eine andere, schrecklichere Epoche an, die Zeitder Preußen, die Zeit der Janitscharen Luthers und Bis-marcks. Auf ihren schwarzweißen Fahnen – beides Farbender strengen Trauer – war zwar kein Halbmond zu sehn,sondern ein Kreuz; aber es war eben ein eisernes Kreuz.Auch ihre christlichen Symbole noch waren tçdliche Waf-fen.

All dies dachte der Kaiser von �sterreich, als man ihmvon dem bevorstehenden Besuch des Schahs berichtete.�hnliches dachten auch die Minister des Kaisers. Manraunte in Wien, man munkelte in den Kanzleien, vor denT�ren, hinter den T�ren, in den Kabinetten, in den Korri-doren, in den Redaktionsstuben, in den Caf�h�usern undsogar in den Chambres s�par�es. Allenthalben bereiteteman sich auf den Besuch des Schahs vor.

Am Tage, an dem der Zug des Schah-in-Schah im WienerFranz-Josefs-Bahnhof einlief, sperrten vier Ehrenkompa-nien und zweihundert Wachleute zu Fuß und zu Pferde

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