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Nr. 452/453 Juli/August 2009 € 4,– INTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ Sri Lanka Keine Zukunft ohne eine politische Lösung Ein gnadenloser Krieg hat keine politische Lösung gebracht Europa Der Neoliberalismus, flankiert von der populistischen Rechten Pakistan Hilfsaufruf im Kampf gegen die Taliban und die Operationen des pakistanischen Militärs Italien Eine „rückgratlose Linke“ vor den Europawahlen Malaysia Zwi- schen Wandel und politischer Erstarrung Mexiko Erklärung der Revolutionären Arbeiterpartei (PRT) zur Schweinegrippe-Epidemie in Mexiko Ökonomie Die Wirtschaft in einer krisengeschüttelten Welt die Internationale Bericht über den Klimawandel

INTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ · Die Militäroperation im Swat-Tal verschleiert die Tatsache, dass das pa-kistanische Militär die Taliban als ein Faustpfand betrachtet und nicht

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Page 1: INTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ · Die Militäroperation im Swat-Tal verschleiert die Tatsache, dass das pa-kistanische Militär die Taliban als ein Faustpfand betrachtet und nicht

Nr. 452/453 Juli/August 2009 € 4,–

I N T E R N A T I O N A L E P R E S S E K O R R E S P O N D E N Z

Sri LankaKeine Zukunft ohne eine politische Lösung

Ein gnadenloser Krieg hat keine politische Lösung gebracht

Europa Der Neoliberalismus, flankiert von der populistischen Rechten Pakistan Hilfsaufruf im Kampf gegen die Taliban und die Operationen des pakistanischen Militärs Italien Eine „rückgratlose Linke“ vor den Europawahlen Malaysia Zwi-schen Wandel und politischer Erstarrung Mexiko Erklärung der Revolutionären Arbeiterpartei (PRT) zur Schweinegrippe-Epidemie in Mexiko Ökonomie Die Wirtschaft in einer krisengeschüttelten Welt die Internationale Bericht über den Klimawandel

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2 inprekorr 452/453

Liebe Leserinnen und Leser, der Erscheinungsrhythmus unserer Zeitung bringt es gelegentlich mit sich, dass einzelne Beiträge durch den Gang der Ereignisse nicht mehr tagesak-tuell sind. So sind inzwischen die Kämpfe in Sri Lanka abgeflaut und die LTTE scheint nur noch Geschichte zu sein. Nichtsdestoweniger bleibt die Unterdrückung der Tamilen bestehen und ihre Emanzipation auf der Tages-ordnung. Insofern haben wir den Artikel unserer Korrespondentin aus Sri Lanka belassen, da er die zum Verständnis der dortigen Vorgänge notwen-digen Hintergrundinformationen liefert.Übrigens könnt Ihr bei der Redaktion die (günstigen) Konditionen für Wie-derverkäuferInnen erfragen, falls Ihr zur Verbreitung dieser Zeitung beitra-gen wollt. Eure Redaktion

Eure großzügigen Spenden erbitten wir wie immer auf das folgende Konto:

Thies Gleiss Sonderkonto; Kto.Nr. 478 106-507Postbank Köln (BLZ 370 100 50)

IMPRESSUM

Inprekorr ist das Organ der IV. Inter-nationale in deutscher Sprache. In-prekorr wird herausgegeben von der deutschen Sektion der IV. Internatio-nale, von RSB und isl. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit GenossInnen aus Österreich und der Schweiz und unter der politischen Verantwortung des Exekutivbüros der IV. Internatio-nale.

Inprekorr erscheint zweimonatlich (6 Doppelhefte im Jahr). Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung des herausge-benden Gremiums wieder.

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Redaktion: Michael Weis (verantw.), Birgit Al-thaler, Daniel Berger, Wilfried Dubois, Thies Gleiss, Jochen Herzog, Paul Kleiser, Oskar Kuhn, Björn Mertens

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Eigentumsvorbehalt: Die Zeitung bleibt Eigentum des Verlags Neuer Kurs GmbH, bis sie dem/der Gefangenen persönlich ausgehändigt ist. „Zur-Habe-Nahme“ ist keine persön-liche Aushändigung im Sinne des Eigentumsvorbehalts. Wird die Zeit-schrift dem/der Gefangenen nicht persönlich ausgehändigt, ist sie dem Absender unter Angabe der Gründe der Nichtaushändigung umgehend zurückzusenden.

EuropaDer Neoliberalismus, flankiert von der populistischen Rechten, François Sabado ..............3

PakistanAufruf zur Hilfe im Kampf gegen die Taliban und die Operationen

des pakistanischen Militärs, Tariq Ali und Farooq Tariq ..................................................4

ItalienEine „rückgratlose Linke“ vor den Europawahlen, Cinzia Arruzza ......................................7

Sri LankaKeine Zukunft ohne eine politische Lösung, Danielle Sabaï..............................................10Ein gnadenloser Krieg hat keine politische Lösung gebracht,

Büro der IV. Internationale ..............................................................................................15

MalaysiaZwischen Wandel und politischer Erstarrung, Danielle Sabaï ............................................16

MexikoErklärung der Revolutionären Arbeiterpartei (PRT) zur

Schweinegrippe-Epidemie in Mexiko .............................................................................36

ÖkonomieDie Wirtschaft in einer krisengeschüttelten Welt, Robert Brenner .....................................43

NachrufHoang Khoa Khoi (1917–2009), Jean-Michel Krivine .......................................................50

die InternationaleBericht über den Klimawandel an das IK der Vierten Internationale, Daniel Tanuro ........19

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EuROPA

Der Neoliberalismus, flankiert von der populistischen RechtenFrançois Sabado

Die jüngsten Europawahlen haben in erster Linie eine weitgehende Stimm-enthaltung bestätigt. Fast 60 % der Wahlberechtigten sind nicht an die Ur-nen gegangen.

Diese Enthaltung kann nur ein ver-zerrtes Bild der realen Kräfteverhältnisse in Europa wiedergeben. Aber sie bestätigt die Legitimationskrise der Europäischen Union und der Regierungsparteien, die ihre Politik in diesem Rahmen durchfüh-ren.

Andere bedeutende Tendenzen zeich-nen sich ab, vor allem ein Aufstieg der Rechten in ganz Europa.

Die Rechte gewann in den großen Län-dern, in denen sie regiert: in Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, den Nieder-landen, Polen, Österreich, Ungarn. In Bul-garien, Litauen, Lettland, Slowenien und Zypern kamen die rechten Parteien eben-falls auf den ersten Platz.

Dieser Rechtsruck wird in einer Reihe von Ländern vom Aufschwung der Kräf-te der populistischen Rechten und der ex-tremen Rechten begleitet, vor allem in den Niederlanden, wo die islamophobe und antieuropäische rechtsextreme Partei des Abgeordneten Geert Wilders 16,4 % der Stimmen und 4 Abgeordnete erreicht hat. In Österreich, in Finnland, in Un-garn konnten rechtsextreme Kräfte, die an Kampagnen gegen Immigranten beteili-gt waren, ebenfalls Gewinne verbuchen. In Großbritannien hat die BNP mit 6,7 % der Stimmen zwei Abgeordnete erhal-ten. Auch in Griechenland gab es einen Durchbruch für die extreme Rechte mit 7,2 % für die Organisation LAOS.

Die Sozialdemokratie der PSE ging zurück, vor allem in den Ländern, in de-nen sie regiert: in Großbritannien, in Spa-nien, in Portugal. Sie erlebte ein echtes Wahldebakel in Deutschland, wo sie nur auf 21 % kam, eines der schwächsten Wahlergebnisse der SPD, vom Zusam-menbruch der PS in Frankreich nicht zu reden. Stimmen gewonnen hat sie nur in Griechenland, Schweden, Dänemark, der Slowakei und Malta. In einigen Ländern

hat die Krise der großen traditionellen Apparate der Rechten und der sozialde-mokratischen Linken große Spielräume für eine Reihe von Kräften geschaffen, die von Grünen bis zur radikalen Linken reichen, mit verschiedenen linksreformi-stischen Kräften dazwischen.

Die Grünen gehen mit fast 60 ge-wählten Europaabgeordneten gestär-kt aus den Wahlen hervor. Einer der be-merkenswertesten Erfolge ist der von Cohn-Bendits Europe Ecologie in Fran-kreich, der zwei Faktoren geschuldet ist: der „Krise der Politik“ und dem zentralen Stellenwert der Umweltfrage.

Die dänische Organisation Folkebe-vægelsen mod EU (Volksbewegung ge-gen die EU), deren Kampagne sich in er-ster Linie gegen die EU, sogar gegen Eu-ropa richtete, schaffte die Wiederwahl eines Abgeordneten, Søren Søndergaard, der auch Mitglied von Enhedslisten – de rød-grønne (Red Green Alliance) und der Vierten Internationale ist.

Parteien oder Bündnisse wie DIE LINKE in Deutschland, die Socialis-tische Partij (SP) in den Niederlanden oder die Front de Gauche (Linksfront) in Frankreich konnten ihre Positionen halten oder zulegen, ohne neue Durchbrüche zu erzielen. Die Partei der kommunistischen Neugründung (Partito della rifondazione comunista, PRC) in Italien hat mit 3,23 % keine Abgeordnete mehr im Europä-ischen Parlament.

In Großbritannien sind die Ergeb-nisse der radikalen Linken enttäu-schend, wobei die Liste NO2EU 1 % er-reichte, ebenso wie die SLP von Arthur Scargill.

SYRIZA, das Bündnis der radikalen Linken in Griechenland, erzielte 4,7 % der Stimmen und einen Abgeordneten im Europaparlament; das Ziel von 3 Ab-geordneten wurde somit nicht ereicht.

Die NPA in Frankreich hat ihre Wählerbasis konsolidiert. Sie machte Fortschritte im Vergleich zu den Ergeb-nissen der Listen von LCR und LO bei den letzten Wahlen zum Europäischen

Parlament im Jahr 2004 (+2,3 Prozent-punkte), ohne Abgeordnete zu erhal-ten.

Für eine Anzahl von Organisati-onen der antikapitalistischen Linken war dies hinsichtlich der Beteiligung an Wahlen ihre Feuertaufe: Die Pol-nische Partei der Arbeit (PPP), Izquier-da Anticapitalista im Spanischen Staat, die Arbeiterinitiative in Schweden, die Liste LCR-PSL in Belgien, die Scottish Socialist Party (SSP) in Schottland, Antarsya in Griechenland – sie führten gute Kampagnen, aber ihre Resultate gingen nicht über 1 % hinaus.

Was die antikapitalistische Linke betrifft, ist das Ergebnis der Socialist Party (SP) in Irland hervorzuheben, die nach der Kampagne des irischen Nein zum Lissabon-Vertrag einen Abgeord-neten nach Brüssel senden kann.

Tatsächlich gab es den einzigen wirklichen Durchbruch der antikapita-listischen Linken in Portugal mit dem Bloco de Esquerda (Linksblock), der 10,73 % der Stimmen und 3 Abgeord-nete erreichte.

Es ist stets schwierig, globale Leh-ren zu den sozialen und politischen Kräfteverhältnissen zu ziehen, wenn die Wahlenthaltung fast 60 % beträgt. Doch die ersten sozialökonomischen Auswirkungen der Krise – Entlas-sungen, Explosion der Erwerbslosig-keit, sinkende Kaufkraft – haben keine Radikalisierung beim Wahlverhalten in einem linken oder antikapitalistischen Sinn gebracht. Der Durchbruch des Linksblocks stellt eine Ausnahme dar.

Es gibt das Paradoxon, dass die rechten neoliberalen politischen For-mationen, die die antisozialen Angriffe eingeleitet haben, von populistischen oder extrem rechten Kräften flankiert werden, die aus den Europawahlen ge-stärkt hervorgegangen sind. Man hätte meinen können, dass die Krise antika-pitalistische Ideen begünstigt. Die Si-tuation ist komplizierter. Der soziale Widerstand, der noch nicht zu Kämp-

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PAKISTAN

fen der Gesamtheit der Lohnabhängi-gen und der Jugend geführt hat, produ-ziert nicht automatisch eine antikapita-listische Alternative. Die Sozialdemo-kratie versinkt in der Krise, wodurch neue Räume frei werden, aber die Ent-wicklung der antikapitalistischen Lin-ken bleibt ungleich. Die Anfänge für eine Reihe von Organisationen sind vielversprechend.

Es ist jetzt erforderlich, eine Poli-tik fortzusetzen, die die sozialen Mobi-lisierungen gegen die Wirtschafts- und Umweltkrise sowie die Akkumulation von Kräften stimuliert, damit die anti-kapitalistischen Lösungen zunehmend glaubwürdiger werden – und zwar bei völliger Unabhängigkeit von den alten Führungen der traditionellen Linken. Dies ist der Weg für den Aufbau eines europäischen antikapitalistischen Pols.

Aus dem Französischen übersetzt von Hans-Günter Mull

Quelle: „Dans toute l’Europe... “ http://www.npa-europeennes2009.org/spip.php?article726Englisch: „European elections: Neolibera-lism flanked by the populist right – Portu-guese breakthrough a welcome exception“ http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article1677Siehe auch:Verschiedenes deutschsprachiges Materi-al über Aktivitäten der europäischen antikapi-talistischen Linken und über die EAL: http://www.islinke.de/„Europe-wide anti-capitalist campaign for Eu-ropean elections takes off“ http://www.interna-tionalviewpoint.org/spip.php?article1663Einzelheiten zu den Ergebnissen der NPA: http://www.npa-europeennes2009.org/spip.php?article728http://www.npa-europeennes2009.org/http://www.npa2009.org/content/déclaration-du-npahttp://www.npa2009.org/content/le-«-cens-»-dun-vote-en-france http://www.npa2009.org/content/front-de-gauche-absence-de-dyna-mique http://www.npa2009.org/content/euro-pe-ecologie-score-en-surchauffe- http://www.npa2009.org/content/parti-socialiste-grande-claque-et-gueule-de-bois

Internationaler Spendenaufruf

Aufruf zur Hilfe im Kampf gegen die Taliban und die Operationen des pakis tanischen MilitärsPakistan’s Labor Relief Campaign bittet dringend um Spenden

Tariq Ali und Farooq Tariq

kand einzuführen. In den von ihr kon-trollierten Regionen führten die Tali-ban mittelalterliche Gesetze ein, die vor allem auf die Einschränkung der Rechte von Frauen und Minderheiten abzielen. Das Abkommen gab darüber hinaus den Taliban die Möglichkeit, in andere Ge-genden vorzudringen.

Dann änderte die Regierung radi-kal ihre Taktik, fiel in ein anderes Ex-trem und startete die Militäroperation. Das Ergebnis ist ein gewaltiger Flücht-lingsstrom in andere Teile des Landes. Laut Armee sollen die religiösen Fana-tiker vernichtet werden und das brauche Zeit. Aber die Extremisten halten der Militäroffensive stand und ihr Einfluss in Pakistan wächst.

Fanatismus kann nicht mittels Mili-täraktionen ausgelöscht werden. Im Ge-genteil: Dies trägt eher zu einer Verbrei-tung ihrer Ideen bei. Die Taliban haben nach der Besetzung Afghanistans durch die NATO 2001 die Macht verloren. Trotzdem sind sie nach ein paar Jahren zunächst in Pakistan, später in Afgha-nistan wieder erstarkt. Die Situation ist recht komplex.

Die Militäroperation im Swat-Tal verschleiert die Tatsache, dass das pa-kistanische Militär die Taliban als ein Faustpfand betrachtet und nicht gewillt ist, dieses zu opfern, um den USA zu gefallen. Während die Armee die Tali-ban aus dem Swat-Tal vertreibt, lässt sie die Dschihad-Infrastruktur (Training-scamps, Schulungszentren, Zeitungen, Wohltätigkeitsstrukturen; die verschie-denen Aktivitätsbereiche der Taliban) in anderen Teilen Pakistans unangetastet.

Das Ausmaß dieses Aufstands wird durch die 1,5 Mio. Menschen verschärft, die nun in unterfinanzierten Flüchtlings-lagern oder ungenügenden Notunter-

Dies ist eine offizielle Bitte der Labor Relief Campaign1 um Unterstützung im Kampf gegen die Taliban und die Ope-rationen des pakistanischen Militärs. Ziel des Aufrufs ist es, sofortige Hilfe den mehr als 1,5 Mio. Flüchtlingen aus der Malakand Region, der Nordwest-lichen Grenzprovinz Pakistans, zukom-men zu lassen.

MAZDOOR JEDDOJUHD

Die Vertreibung ist das Ergebnis der Kämpfe zwischen den Taliban und der pakistanischen Regierung. Wir planen Mazdoor Jeddojuhd häufiger in Pasch-tu2 zu veröffentlichen. Momentan er-scheint die Zeitung wöchentlich in Ur-du und monatlich in Paschtu. Ziel ist, sowohl dem religiösen Fanatismus als auch der staatlichen Repression entge-genzuwirken. Wir wollen die Arbeite-rInnen- bzw. die sozialen Bewegungen in der Region unterstützen, indem wir ihre Aktivitäten und Anliegen veröffent-lichen und ihnen eine Plattform bieten, sich auszutauschen und neue Netzwerke zu bilden.

DIE SITUATION

Die Taliban haben die Kontrolle über ei-nige Regionen von Pakistan erlangt. Sie drohen andere Teile ebenfalls zu beset-zen. Um die Situation zu befrieden, traf die pakistanische Regierung im April mit den Taliban ein Abkommen, das den Taliban ermöglichte, das so genannte ‚Nizam Adl‘ (Rechtssystem)3 in Mala-

1 [Hilfskampagne der Arbeiterbewegung Paki-stans]

2 Anm. d. Übersetzerin: Sprache der Paschtunen

3 Anm. d. Übers.: Die Sprachregelung in ‚hiesigen‘ Medien ist, dass die Scharia eingeführt wurde.

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PAKISTAN

künften ausharren ohne die Möglich-keit, den eigenen Lebensunterhalt zu be-streiten. Diese Vertreibung erzeugt kein Vertrauen in die Fähigkeiten des paki-stanischen Staates, die Probleme der Flüchtlinge anzugehen.

Ein anderes zentrales Problem sind die Drohnenangriffe der USA. Seit 2006 starben über 700 Menschen bei diesen Militäraktionen, darunter 164 während der 14 Angriffe, die seit Obamas Regie-rungsantritt stattfanden. Diese Drohnen-angriffe schüren die gegen die USA ge-richteten Ressentiments. Insgesamt ist die Besetzung von Afghanistan durch die NATO und die USA eine Gefahr für die Stabilität der Nordwestlichen Grenz-provinz Pakistans.

UNSERE PERSPEKTIVE UND STRATEGIE

Der Kampf gegen religiösen Extremis-mus kann nur Erfolg haben, wenn die grundlegenden Probleme der arbeiten-den Klasse in sozialer, politischer und ökonomischer Hinsicht gelöst werden. Es gilt darüber hinaus, ein frei zugäng-liches Bildungssystem mit einem sä-kularen Lehrplan aufzubauen. Ziel ist es, den Feudalismus zu beenden, eine Landreform durchzuführen und die Be-setzung Afghanistans durch die USA zu beenden. Unsere Strategie ist es, religi-öse Fanatiker mit lokalen Verteidigungs-komitees zu bekämpfen.

DIE ALTERNATIVEN

Sowohl die Taliban als auch das paki-stanische Militär handeln zerstörerisch. Weder die Taliban noch die Militärak-tion dürfen von uns unterstützt werden. Unsere Position ist radikaler und geht über die bloße humanitäre Unterstüt-zung für die Binnenflüchtlinge hinaus, obwohl diese Arbeit absolut notwendig ist. Es geht um mehr als nur eine Ver-urteilung der Drohnenangriffe, die zi-vile Opfer verursachen und die Souve-ränität Pakistans verletzen. Wir sind un-missverständlich gegen den Krieg, da diese Militärkampagne mit Sicherheit die Menschenrechte auf Generationen hinaus beeinträchtigt.

Eines der Hauptanliegen unserer Kampagne ist der ideologische Kampf gegen den wachsenden Einfluss der Ta-liban. Unsere Strategie ist es, die Arbei-terschaft und sozialen Organisationen der von den Taliban besetzten Region

aufzubauen und zu stärken. Seit 2004 war es uns möglich, bedeutende Kräf-te unter der Arbeiterschaft, den Frauen und den Landwirten in progressive Or-ganisationen einzubinden. In Murdan wurde 2004 ein eigenes Büro eröffnet, das bei der Organisation von progres-siven Aktionen, vor allem von Frauen, in verschiedenen Gegenden der Nord-westlichen Grenzprovinz eine entschei-dende Rolle spielte. Verschiedene neue Gewerkschaften und Bauernorganisa-tionen wurden gegründet. Diese und viele andere Organisationen wurden zusammengebracht, um sich gegensei-tig zu unterstützen und sich auf einer gemeinsamen Plattform zusammenzu-schließen.

Wichtige Voraussetzung dieser Ent-wicklung war die Veröffentlichung der Mazdoor Jeddojuhd in Paschtu, der lo-kalen Sprache in der Nordwestlichen Grenzprovinz. Die Zeitung begann ge-stützt auf die ehrenamtliche Arbeit von über 200 DichterInnen, Schriftstelle-rInnen und AktivistInnen aus Gewerk-schaften, Sozial- und Frauenorganisa-tionen. Mazdoor Jeddojuhd ist die er-ste progressive Zeitung von Gewerk-schafterInnen und anderen progres-siven AutorInnen, die in Paschtu er-scheint. Es wurden bisher fünf Ausga-ben gedruckt und auch online zugäng-lich gemacht (http://jeddojuhd.com/in-tro.html). Um den religiösen Fanati-kern zu begegnen, bedarf es dieser Zei-tung in der Sprache, die die Mehrheit der paschtunischen ArbeiterInnenklas-se lesen kann. Daher ist es zwingend notwendig, die Zahl der Auflagen in Paschtu zu erhöhen.

Die Taliban wurden zu einer großen Gefahr für unsere Existenz und wir müs-

sen ihnen entgegentreten. Einige pro-gressive Strömungen erklärten die Tali-ban zu Antiimperialisten, aber sie sind eher Neofaschisten. Im Moment wendet sich die allgemeine Öffentlichkeit gegen die Taliban. Grund für den Umschwung in der öffentlichen Wahrnehmung ist ein Video, das die pakistanische Bevöl-kerung geschockt hat. Dieses zeigt die Auspeitschung eines Mädchens durch die Taliban. Ein Sprecher der Taliban verteidigte diese Strafe und beteuerte, dass das Mädchen eigentlich eine Stei-nigung verdient hätte.

WAS IST DIE LABOR RELIEF CAMPAIGN (LRC)?

Nach dem verheerenden Erdbeben in Kaschmir und anderen Gegenden im Oktober 2005 haben fünf Organisa-tionen die Initiative ergriffen, um ge-meinsam die Bewältigung der Katastro-phe anzugehen, die über 100 000 Tote und sehr viel mehr Verletzte und Vertrie-bene mit sich gebracht hat. Bei den fünf Organisationen handelte es sich um die Women Workers Help Line, Labour Ed-ucation Foundation, Labour Party Paki-stan, National Trade Union Federation und die Progressive Youth Front. Inner-halb von zwei Monaten konnte die LRC über eine halbe Million Dollar zusam-menbringen, gespendet aus dem In- und Ausland. Dieses Geld sicherte eine so-fortige Hilfe für die betroffenen Men-schen.

Sofort nach dem Beginn der Mili-täroperationen in der ersten Mai woche startete die LRC wieder eine Kampa-gne, um die Flüchtlinge zu unterstützen. Es wurden LRC Hilfscamps aufgebaut, und Freiwillige sammelten bedeutende

Tariq Ali und Farooq Tariq

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PAKISTAN

Spendensummen. Zwischen dem 16. und 18. Mai kaufte die LRC Lebensmit-tel und verteilte sie an unterschiedliche Flüchtlingslager in der Nordwestlichen Grenzprovinz.

DIE POSITION DER LRC

Wir glauben, dass es unerlässlich ist, sowohl eine kurzfristige als auch eine langfristige radikale Vorgehensweise gegen den religiösen Fundamentalismus zu entwickeln. Im Folgenden werden ei-nige wenige Punkte aufgeführt, wie wir sie in unseren Veröffentlichungen pro-pagieren.

Die LRC besteht auf einer Trennung •von Staat und Religion.Wir glauben, dass mindestens 10 Pro-•zent des Staatshaushaltes für das Bil-dungssystem benötigt werden. Die staatlichen Unterstützungen für Kor-anschulen müssen eingestellt werden. Alle privaten, religiösen Bildungsin-stitutionen müssen verstaatlicht und in ein neu ausgerichtetes öffentliches Bildungssystem, das allen offen zu-gänglich ist, integriert werden.Die LRC fordert ein effektives und •sofortiges Programm für eine radika-le Landreform.

Die Ausgaben für die Armee sollten •radikal reduziert und das Nuklear-programm beendet werden. Mili-tärgebiete sollten aufgelöst und das Land aufgeteilt werden.Die LRC setzt sich für ein übergrei-•fendes Rechts- und Verfassungsre-formpaket ein, das die Dekolonisie-rung der FATA4 und den Schutz von Minderheiten und Frauen mit einbe-zieht. Die LRC setzt sich für die Ein-berufung eines Komitees ein (an dem besonders Minderheiten und Frauen beteiligt werden sollen), um ein neues Bildungskonzept zu entwerfen und für die Einberufung einer verfas-sungsgebenden Versammlung, um eine neue, Minderheiten-freundliche, säkulare Verfassung auszuarbeiten.Die LRC fordert die Durchsetzung •einer Politik, die das Existenzmini-mum garantiert.Die LRC verlangt das Ende der Be-•setzung von Afghanistan durch die

4 Anm. der Übers.: FATA: Federal Administered Tribal Areas: Stammesgebiete unter Bundes-verwaltung. FATA und die Nordwestliche Grenzprovinz, diese überwiegend von Pasch-tunen bewohnten Gebiete im Norden Pakistans wurden bei der Staatsgründung 1947 seitens der britischen Kolonialmacht Pakistan ‚zuge-sprochen‘.

NATO und die US-amerikanischen Streitkräfte sowie den Rückzug der USA aus dem Irak und anderen Ge-genden der Welt.

WIR BITTEN UM SPENDEN!

Die Labor Relief Campaign fordert so-ziale Organisationen, Individuen, Ge-werkschaften, politische AktivistInnen und Parteien auf diese wichtige Kam-pagne zu unterstützen. Wir bitten um Spenden für diese Kampagne und sich der LRC anzuschließen. Um der LRC beizutreten, bitten wir um eine Spende von mindestens 300 US-Dollar.

Im Folgenden finden sich Infor-mationen über die Bankverbindungen, wie man der LRC die Spenden zukom-men lassen kann. Über Neuigkeiten der Kampagne und darauffolgende poli-tische Entwicklungen werden wir euch regelmäßig informieren.

A/C Title: Labour Education Foundation A/C Number: 01801876Bankverbindung:Bitte stellt die Zahlungsanweisung an die Citi Bank, New York, USA Swift CITI US 33 zur weiteren Überweisung zur BANK ALFALAH LTD., KARA-CHI, PAKISTAN A/C No. 36087144 und für den letzten Transfer zur BANK ALFALAH LTD., LDA PLAZA, KASHMIR ROAD, LAHORE, PAKISTAN Swift: ALFHPKKALDA for A/C No. 01801876 OF LABOUR EDUCATION FOUNDATION.

Mitgliedsorganisationen der LCR1. Women Workers Help Line [email protected] www.wwhl.org.pk 2. Labour Party Pakistan [email protected] www.laborpakistan.org 3. Labour Education Foundation [email protected] www.lef.org.pk 4. National Trade Union Federation Pakistan [email protected]. Progressive Youth Front [email protected]ützt von Tariq Ali (GB)

Übers.: Lucie Billmann

Dankenswerter Weise hat sich die „Internati-onal Workers’ Aid“ bereit erklärt, die Spen-den zentral zu sammeln und weiterzuleiten. Wir empfehlen dringend zur Vermeidung gi-gantischer Gebühren im transatlantischen Bankenverkehr die Spenden auf das Konto der IWA zu überweisen:IWA, Kto: 7020716BLZ 520 604 10 (EKK-eG Kassel)Kennwort: LRC Pakistan.Eure Spende ist steuerlich absetzbar.

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ITALIEN

Eine „rückgratlose Linke“ vor den EuropawahlenCinzia Arruzza

Nach nur einem Jahr ist die Bilanz der Regierung Berlusconi zwar nicht frei von Widersprüchen, insgesamt jedoch recht deprimierend.

Durch neue Gesetze wurden letztes Jahr das Grundschulsystem radikal umgestülpt und die Finanzmittel der Universitäten beschnitten, um da-durch das gesamte Erziehungs- und Bildungswesen der Marktlogik unter-zuordnen. Die Maßnahmen der Regie-rung haben die Deregulierung in den Betrieben, die Prekarisierung und die Ausbeutung noch weiter vorangetrie-ben und somit die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen nochmals verschärft. Gegen die öffentlich Be-schäftigten wurde von Seiten der Poli-tiker und der Medien eine regelrechte Kampagne betrieben, um sie als Fau-lenzer zu brandmarken und somit den Tarifvertrag aushebeln zu können.

Am meisten jedoch haben die Im-migrantInnen unter der Regierungs-politik zu leiden, indem nämlich die Klassenwidersprüche zu ethnischen und kulturellen Konflikten umgedeu-tet werden, um so die Wählerbasis bei der Stange zu halten und der Wirt-schaftskrise entgegen zu treten. Bei-spielsweise bewilligte der Senat An-fang Februar ein Paket von „Sicher-heitsmaßnahmen“, in dem die heim-liche Einwanderung kriminalisiert und die Schaffung von Bürgerwehren durch die lokalen Behörden erlaubt wird und Ärzte sowie medizinisches Personal verpflichtet werden, illegale Einwanderer zu denunzieren, wenn sie um medizinische Versorgung nach-kommen. Damit wird eine Form des Rassismus institutionalisiert, die sich mit dem ohnehin immer stärker gras-sierenden und parallel zu den Auswir-kungen der Wirtschaftskrise wachsen-den Rassismus und Fremdenfeindlich-keit vermengt.

Bemerkenswert ist, dass die Regie-rung letztlich nur die Fortschreibung der gesetzlichen Maßnahmen in der

Bildungs-, Arbeits- und Einwande-rungspolitik betreibt, die bereits unter der letzten Regierung Berlusconi ab-gesegnet und von der nachfolgenden sozialliberalen Regierung Prodi we-der aufgehoben noch wenigstens mo-difiziert worden sind. Die Mitte-Links-Regierung hat im Gegenteil sogar die Einwanderungsgesetze noch weiter verschärft.

Die Politik der Regierung wird na-türlich durch die Wirtschaftskrise be-einflusst. Mag Berlusconi noch so sehr die Auswirkungen der Krise auf Ita-lien mithilfe der Medien herunterzu-spielen versuchen und behaupten, dass „die italienische Wirtschaft bei bester Gesundheit“ sei – die Fakten und al-le Wirtschaftsdaten, etwa der OECD, belegen das Gegenteil. Die bisher zur Bekämpfung der Krise getroffenen Maßnahmen waren nur eine Art Sozi-alfürsorge, während den Banken und Unternehmen bedarfsweise Subventi-onen ohne Gegenleistung entgegenge-bracht wurden.

Durch die inzwischen spürbaren Auswirkungen der Krise auf die Le-bensbedingungen, aber auch infol-ge der starken Mobilisierungen der Studierenden im vergangenen Herbst ist die Popularität der Regierung ins Wanken geraten. Seit Januar ist das Vertrauen der Bevölkerung unter die 50%-Marke gerutscht und lag im März bei 44 %, während Berlusconis Popu-larität als Ministerpräsident noch bei 52 % liegt – nach triumphalen 62 % im letzten Oktober. Trotzdem war die Regierung in der Lage, ihre Wählerba-sis bei der Stange zu halten, wie die Kommunal- und Regionalwahlen der letzten Monate gezeigt haben. Na-mentlich in Sardinien, das früher von Mitte-Links-Parteien regiert wurde, hat die Rechte gewonnen.

Im Zuge der Regierung Berlusconi ist Italien zum Versuchsfeld eines au-toritären Neoliberalismus mit teilwei-se populistischen Zügen geraten. Man

versucht hier, der Krise des kapitali-stischen Systems mit Maßnahmen ent-gegenzutreten, in denen neoliberaler Rigorismus in wirtschaftspolitischen Fragen einhergeht mit der Beschrän-kung demokratischer Freiheiten und bürgerlicher sowie gewerkschaftlicher Rechte. Das Ganze wird getränkt in einem common sense aus Fremden-feindlichkeit, Ergebenheit in eine cha-rismatische Führungsfigur und Ver-zicht auf kollektives Handeln.

Insofern war die Gründung einer neuen großen Rechtspartei – der Par-tei der Freiheit PDL – durch den Zu-sammenschluss von Berlusconis For-za Italia und der postfaschistischen Alleanza Nazionale, deren Vorsitzen-der Fini gegenwärtig Parlamentspräsi-dent ist, ein Meilenstein auf dem Vor-marsch der Rechten. Selbst wenn Gi-anfranco Fini auf dem Kongress ver-sucht hat, sich als Vertreter einer ge-mäßigten Variante der neoliberalen Rechten darzustellen, der mit dem Zentrum liebäugelt und die Unab-hängigkeit des Staates von der katho-lischen Kirche beibehalten möchte, ist die von den paar Tausend Delegierten verabschiedete politische Linie offen rechtsreaktionär und strikt an der Füh-rungsfigur Berlusconi ausgerichtet.

Die Fähigkeit der Regierung und namentlich ihres Chefs, eine stabi-le Wählerbasis zu bewahren, ergibt sich proportional zu der Unfähigkeit der Linken in ihrer Gesamtheit, ei-ne glaubwürdige Alternative zu prä-sentieren. Ganz augenscheinlich sind die Nachwirkungen der Irritation und Desillusionierung zu spüren, die die Regierung Prodi und die Beteiligung der so genannten radikalen Linken da-ran hinterlassen haben.

Die Politik der „sanften“ Oppositi-on, die die Demokratische Partei (PD) unter Veltroni vergangenes Jahr betrie-ben hat, indem sie z. B. noch nicht ein-mal den von Der CGIL ausgerufenen vierstündigen Generalstreik am 12.

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Dezember unterstützt und stattdessen gleichberechtigte Beziehungen zu allen drei großen Gewerkschaften (CGIL, UIL u. CISL) unterhalten hat, war selbstmörderisch. Mit dieser Linie kam sie nur der Rechten entgegen und ver-tiefte noch den Vertrauensverlust der ei-genen Wählerbasis. Nach der jüngsten Wahlschlappe der Partei in Sardinien nahm Veltroni endlich den Hut. Dario Franceschini, der neue Generalsekretär der PD, gibt sich im Verhältnis zu sei-nem Vorgänger kämpferischer und we-niger nachgiebig, was freilich nur rhe-torisch begründet liegt und keinem ech-ten Richtungswandel entspricht. Viel-mehr ist gegenwärtig die CGIL noch immer die einzige Kraft innerhalb der reformistischen Opposition, die we-nigstens halbswegs mobilisierungsfä-hig ist, wie die Großdemonstration am 4. April zeigte. Die CGIL ist gezwun-gen, gelegentlich und entgegen der ei-genen Absicht, radikalere Töne anzu-stimmen, da die Regierung nicht locker lässt und sich jedweder Konzertation entzieht, um die CGIL damit in die Iso-lation zu treiben.- Die Umfragen vom März, die die PD bei 25 % und die PDL bei 38,6 % bei den bevorstehenden Eu-ropawahlen sahen, belegen den Erfolg dieser Linie.

Die so genannte radikale Linke bleibt unter diesen Umständen weiter-hin schwach, zersplittert und unfähig, eine glaubwürdige Alternative anzu-bieten, was einen Bruch mit der An-biederung an den Sozialliberalismus voraussetzen würde.

Die Wahlniederlage des ver-gangenen Jahres, die zu einem Aus-scheiden aller Parteien der so genann-ten radikalen Linken aus dem Parla-ment geführt hatte, war symbolisch für das Scheitern des von Fausto Ber-tinotti anvisierten Aufbauprojekts ei-ner neuen politischen Kraft – des „Re-genbogens“. Bertinotti hatte sich vom Modell der „Linken“ in Deutschland inspirieren lassen. Beim letzten Kon-gress der PRC im Juli 2008 hatte sei-ne Strömung, repräsentiert durch den derzeitigen Gouverneur von Apulien: Nichi Vendola, mit 47,3 % eine rela-tive Stimmenmehrheit erhalten, aber die Kontrolle über die Partei verloren, da sich alle anderen Strömungen hin-ter Paolo Ferrero, den jetzigen Partei-sekretär und vormaligen Minister der Regierung Prodi, zusammen geschlos-sen hatten. Die von Ferrero repräsen-tierte Linie beinhaltete eine partielle Selbstkritik in Bezug auf die Regie-rungsbeteiligung und die Mandatsfi-

xiertheit der Partei sowie eine Vertei-digung des kommunistischen Selbst-verständnisses. Freilich wurden mit diesem Richtungsschwenk nicht die politischen und organisatorischen Prä-missen, die erst zu der Regierungs-teilnahme geführt hatten, infrage ge-stellt, und es bleibt die Linie bezüg-lich des Verhältnisses zum Soziallibe-ralismus weiterhin höchst ambivalent, wovon die Beteiligung der PRC an di-versen Kommunal- und Regionalver-waltungen auf Seiten der PD zeugt. Zudem spricht der Umstand, dass aus-gerechnet ein ehemaliger Minister der Regierung Prodi und dazu noch der einzige, den die PRC damals stell-te, neuer Generalsekretär der Partei geworden ist, nicht gerade für einen wirklichen Bruch mit oder wenigstens ein Abrücken von der Vergangenheit.

Die Differenzen innerhalb der PRC führten schließlich zur Abspaltung der Strömung um Vendola. Auf einer nati-onalen Konferenz am 24./25. Januar in Chianciano gab sie ihren Austritt aus der Partei und die Gründung der „Be-wegung für die Linke“ bekannt. Das Ausmaß dieser Spaltung ist noch nicht komplett übersehbar. Verlässliche Zahlen existieren nur auf der Ebene des Parteivorstands CPN, wo 90 von insgesamt 281 Mitgliedern beschlos-sen haben, am Aufbau dieser neuen politischen Bewegung mitzuwirken und die Partei zu verlassen. Dies be-deutet, dass 47 Mitglieder der Strö-mung Vendola sich zum Verbleib ent-schlossen haben und somit weiterhin die entsprechenden politischen Posi-tionen dieser Plattform teilen und le-diglich nicht den Austritt mittragen wollen. Wahrscheinlich wird sich et-wa ein Viertel der Parteimitglieder für einen Austritt entscheiden – mit-hin deutlich weniger als die 47 %, die die Plattform auf dem Kongress unter-stützt hatten.

Die „Bewegung für die Linke“ hält an dem Konzept fest, das mit dem Auf-bau des „Regenbogens“ vergangenes Jahr beschlossen worden war – wenn auch in abgeschwächter Form. Die Absicht ist ganz klar, jeden Bezug auf die kommunistische Tradition jedwe-der Couleur hinter sich zu lassen und eine politische Umgruppierung zu be-treiben, die letztlich zu einer refor-mistischen Formation führt, die sich selbst als linken Flügel des Sozialli-

Berlusconi und Neofaschist Fini

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beralismus begreift. Dieses Konzept steht und fällt mit dem Verhältnis zur PD. Konsequenterweise hat die „Be-wegung“ eine Liste – „Linke und Frei-heit“ – für die Europawahlen präsen-tiert, die außerdem noch die „Demo-kratische Linke“ (eine Abspaltung der DS anlässlich deren Fusion mit der christdemokratischen Margherita von Prodi und Gründung der PD), die Grü-nen und die PS umfasst.

Auf der anderen Seite hat die PRC ebenfalls eine Bündnisliste aufgestellt, auf der außer der PdCI noch zwei klei-ner Organisationen mit vertreten sind – die „Vereinigten Verbraucher“ und So-zialismus 2000, gleichfalls eine Abspal-tung der DS anlässlich der Gründung der PD. Diese Liste beruft sich in erster Linie auf die Verteidigung ihres Selbst-verständnisses und will auch künftig an einem kommunistischen Konzept fest-halten – wenn auch in der Tradition Togliattis, wie die wochenlangen Dis-kussionen in der Tageszeitung der PRC Liberazione anlässlich des Jahrestags der Gründung der PCI zeigen.

Für beide Listenverbindungen wird das Überspringen der 4%-Hürde, die die Rechtsregierung in Einvernehmen mit der PD für diese Wahlen festgelegt hat, zum ersten Problem werden. Kei-ne der beiden hat eine tatsächliche Dis-kussion über die falschen politischen Analysen und Entscheidungen, die zu dem gegenwärtigen Desaster der radi-kalen Linken in Italien geführt haben, begonnen. Beiden geht es nicht um den überfälligen Wiederaufbau auf der Grundlage einer klaren Distanzierung von diesen Fehlentscheidungen in der Vergangenheit. Genau so wenig um die Frage, wie die Kräfte der anti-neolibe-ralen Linken wieder die Glaubwürdig-keit in ihrer sozialen Basis gewinnen können, die sie infolge ihrer Beteili-gung an der Regierung Prodi verloren haben. Dieses Verhalten ist nicht nur selbstmörderisch, sondern politisch unverantwortlich, da eine weitere Nie-derlage der Linken bei den anstehen-den Wahlen nur noch mehr Verwir-rung und Desillusionierung erzeugen und zum weiteren Erstarken der Rech-ten beitragen würde. Den passenden Ausdruck dafür hat Perry Anderson in einem kürzlich erschienen Artikel über die politische Lage in Italien ge-prägt, als er von einer „rückgratlosen Linken“ gesprochen hat.

Vor diesem Hintergrund hatte Si-nistra Critica vor zwei Monaten eine gemeinsame Debatte über die Euro-pawahlen vorgeschlagen, um darüber eine gemeinsame anti-neoliberale Li-ste auf klar definierter Grundlage zu präsentieren, nämlich Unabhängigkeit vom Sozialliberalismus, was auch die bestehenden Koalitionen auf Kommu-nal- und Regionalebene infrage stel-len würde; ein neues Emblem, mit dem der Wille zum Bruch mit der jüngsten Vergangenheit klar zum Aus-druck kommt; Kandidatur von Vertre-tern der sozialen Kämpfe und Bewe-gungen mit einer demonstrativen Re-präsentanz von ImmigrantInnen. Nach mehrwöchigen Diskussionen mit der PRC und anderen interessierten Orga-nisationen wurde keine dieser Forde-rungen akzeptiert.

Daher war Sinistra Critica zwangs-läufig gehalten, an keiner Liste teilzu-haben, die nicht explizit für den Bruch mit den Fehlern der Vergangenheit und einer belastbaren Strategie für den Wiederaufbau der antikapitalistischen Linken eintritt. Insofern kandidiert Si-nistra Critica nicht zu den Wahlen, was nicht heißt, dass sie auf eine po-litische Kampagne in Zusammenar-beit mit der Europäischen Antikapi-talistischen Linken verzichten wird. Hingegen wird sie bei den Kommu-nalwahlen mit antikapitalistischen Li-

sten antreten, die sich klar vom Sozi-alliberalismus distanzieren und die so-zialen Kämpfe und Bewegungen un-terstützen.

Es gibt auch ein positives Ele-ment in der ansonsten düsteren poli-tischen Landschaft Italiens: Die Kam-pagne zur Einführung eines Mindest-lohns, die Sinistra Critica initiiert hat, brachte 70 000 Unterschriften ein. Jetzt geht es darum, weiteren Druck auszuüben und Initiativen zu ergrei-fen, um das Parlament zu zwingen, ein entsprechendes Gesetz zu diskutie-ren. Nach unserer Überzeugung kann die antikapitalistische Linke in Italien nicht durch fragwürdige Allianzen aufgebaut werden, deren Sinn einzig im Fortbestand der parlamentarischen Präsenz liegt. Wie in Frankreich geht es darum, ein neues Konzept zu entwi-ckeln, ein neues Programm und neue Organisationen, die in den Kämpfen verankert sind und die den verloren-gegangenen Kredit wieder gewinnen können.

Cinzia Arruzza, ehem. Mitglied von Sinistra Critica und des IK der IV. Internationale, lebt jetzt in Deutschland und ist in der isl aktiv.

Übersetzung: MiWe

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SRI LANKA

Der seit über 30 Jahren währende Bür-gerkrieg im Norden und Osten Sri Lankas ist Mitte Januar eskaliert, in-dem die Regierung unter Mahinda Ra-japaksa das gesamte Offensivpotential ihrer Armee eingesetzt hat, um der ta-milischen Befreiungsbewegung unter der LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam) endgültig den Garaus zu ma-chen. Erstmals seit 30 Jahren sieht es danach aus, dass die LTTE am Boden sind.

Unter dem Vorwand der „Terroris-musbekämpfung“ hat die Armee pau-senlos die wenige Quadratkilometer große Zone bombardiert, in die sich die Tigers geflüchtet und dabei Zehn-tausende ausgehungerte und verängsti-gte ZivilistInnen mitgeschleppt hatten. Auch wenn die Regierung die Nichtre-gierungsorganisationen (NRO) daran hindern, den in der Kampfzone festsit-zenden ZivilistInnen zu Hilfe zu kom-men und JournalistInnen ferngehalten werden, stimmen die Zeugenaussagen darin überein, dass in diesem Krieg die internationalen Konventionen mit Fü-ßen getreten werden. Bereits zu Be-ginn der Militäroperation wurden sei-tens der Armee bedenkenlos Kranken-häuser, Schulen und selbst die von ih-nen eigens ausgewiesene Sicherheits-zone bombardiert. Nach UN-Schät-zungen liegt die Zahl der Todesopfer seit Jahresbeginn bei 6500 und die der Verletzten bei mindestens 15 000. Di-ese Zahlen werden leider noch weiter steigen, da die Regierung unter Raja-paksa einen Waffenstillstand rundum ablehnt und somit verhindert, dass Hil-fe für die eingeschlossenen Zivilisten und die Zehntausende von Flüchtlin-gen, die von den Behörden in Lagern festgehalten werden, organisiert wer-den kann. Die Flüchtlinge werden zum Bleiben gezwungen und jeglicher Au-ßenkontakt untersagt.

DIE URSPRüNGE DES KON-FLIKTS

Sri Lanka liefert ein Musterbeispiel für die politischen, ökonomischen und re-ligiösen Probleme, die der Kolonialis-mus hinterlassen hat.1 Der Blick auf die koloniale Vergangenheit Sri Lan-kas erlaubt, den gegenwärtigen Bür-gerkrieg in seiner ethnischen Dimensi-on, aber auch dessen ökonomische und soziale Wurzeln zu verstehen.

Vor Ankunft der ersten Siedler war die Insel in drei verschiedene König-reiche geteilt: eines der Tamilen im Norden und zwei singhalesische im Süden. Die buddhistischen Singhalesen bildeten damals wie heute die mit Ab-stand größte Volksgruppe der Insel. Bei der letzten Volkszählung 1981 stellten sie ca. 75 % der Gesamtbevölkerung. Die inselstämmigen Tamilen mit 18 % sind mehrheitlich hinduistisch, aber ca. 7 % von ihnen sind sunnitische Mos-lems und 3 % Christen. Zu dieser tami-lischen Gemeinde kommen noch mal über eine Million so genannter Planta-gentamilen hinzu, die von den Englän-dern aus Tamil Nadu in Indien umge-siedelt wurden, um auf den Plantagen im Innern der Insel zu arbeiten.

Obwohl sich die tamilischen und singhalesischen Volksgruppen in Spra-che, Religion und kulturellen sowie ge-schichtlichen Traditionen unterschei-den, bestand eine der ersten Maßnah-men der britischen Kolonialherrn darin, diese Königreiche, die sich bis dahin getrennt voneinander entwickelt hat-ten, in ein und derselben Verwaltungs-struktur zusammenzufassen. Die Kon-flikte, die zwischen den unterschied-

1 Zu diesem Thema: Grappling with the Past, Coping with the Present, Thinking of the fu-ture: Culture, Tradition and Modernisation in Sri Lanka, K. M. De Silva, South Asian Survey 2001.

lichen Religionen , besonders der bud-dhistischen, und der westlichen Kultur mit der christlichen Religion der aufei-nander folgenden Kolonialmächte ent-standen, sind mit verantwortlich für die politischen Probleme, vor denen Sri Lanka noch heute steht.

Seit Beginn des 16. Jahrhunderts wurden christliche Religionen unter der Herrschaft der Portugiesen und Holländer, später der Briten „impor-tiert“ – erst katholische, später prote-stantische. Wer diese Religion prak-tizierte, genoss privilegierte Bezie-hungen zur jeweiligen Kolonialmacht. Obwohl sie nur 10 % der Bevölkerung unter der britischen Herrschaft und in den ersten Jahren der Unabhängigkeit ausmachten, stellten die Christen das Gros der Elite und der Besitzenden des Landes.

Auf der anderen Seite wurde die Ausübung der buddhistischen, hindu-istischen und islamischen Religion be-hindert oder gar bestraft. Unter der bri-tischen Kolonialherrschaft wurden die jahrhundertealten traditionellen Bin-dungen zwischen der buddhistischen Religion und dem singhalesischen Staat des Königreichs Kandy unterbun-den. Dadurch waren die bekennenden Buddhisten gezwungen, gegen die Ko-lonialmacht zu opponieren, um ihre re-ligiösen Werte und die traditionelle sin-ghalesische Kultur zu schützen und zu bewahren. Den Kolonialherrn erschien es insofern praktikabler, zwar nicht den status quo ante wiederherzustellen, aber den Buddhisten Privilegien oder gar eine Sonderstellung einzuräumen.

Auch mit der Unabhängigkeit wa-ren diese Erwartungen nicht erfüllt. Die singhalesischen Nationalisten glaubten, dass ihre Volksgruppe unter der Koloni-alherrschaft zugunsten der christlichen Minderheit und der von der britischen Kolonialmacht bevorzugten Tamilen

Keine Zukunft ohne eine politische LösungDanielle Sabaï

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benachteiligt worden wäre. In der Tat bestanden nach der Unabhängigkeit er-hebliche Ungleichheiten bezüglich Bil-dung, Einkommen und Arbeitsplätzen zwischen der tamilischen Bevölkerung im Norden der Insel und der singhale-sischen Bevölkerung. Der mehrheitlich tamilische Norden besaß das fortge-schrittenere Bildungssystem, und der dortige Anteil unter den Hochschul-absolventen und gehobenen Berufen in der Gesellschaft war weit überpro-portional. 49 % der Medizinstudenten, 48 % der Ingenieurstudenten und 40 % der Jurastudenten waren 1970 Tami-len. Zum „Ausgleich“ beanspruchten die singhalesischen Nationalisten die politische Vorherrschaft in der postko-lonialen Gesellschaft. Und aus wahla-rithmetischen Gründen fiel ihnen auch die Kontrolle über die politischen In-stanzen des Landes zu.

Bereits im ersten Jahr nach der Un-abhängigkeit entzog die Regierung un-ter Senanayake einer Million „Planta-gentamilen“ das Wahlrecht und schickte sie nach Indien zurück, um sich damit eines Stimmenpotentials für die Ar-beiterparteien zu entledigen. 2 Mit der Wahl von Solomon Bandaranaike 1956 und dem Regierungsantritt der „Par-tei der Freiheit“ SLFP verschärfte sich dieser Konflikt. Singhalesisch wurde per Dekret einzige Amtssprache. Mit-hilfe zweier Verfassungsänderungen in den siebziger Jahren konnten die poli-tische Dominanz der singhalesischen Elite festgeschrieben werden.

Statt auf die Möglichkeit der posi-tiven Diskriminierung zurückzugreifen und dadurch mehr Gleichberechtigung zwischen den Volksgruppen herzustel-len, erließ die Regierung Maßnahmen zur Diskriminierung der Minderheiten. Im Bildungswesen beispielsweise wur-den in den siebziger Jahren Zugangs-voraussetzungen zu den Hochschulen eingeführt, die die tamilische Bevölke-rung benachteiligten.3

Nicht minder kam das koloniale Er-be in der wirtschaftlichen Entwicklung der Insel zum Tragen. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung am 4.

2 Kadirgama Ahilan, Pirani Cenan, The Tragedy of Politics in Sri Lanka : Http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article13514

3 1971 wurde eine Quotierung nach Sprachzu-gehörigkeit eingeführt, ersetzt 1974 durch eine Quotierung nach Distrikten, die in zwei Kate-gorien eingeteilt waren, die eine unterschiedli-che Behandlung beim Zugang zur Hochschule festlegten.

Februar 1948 war Ceylon – so der of-fizielle Name der Insel bis 1972 – im Vergleich zu den Nachbarstaaten wirt-schaftlich relativ wohlhabend. Im We-sentlichen beruhte dies auf dem Sy-stem der Großplantagen in exportorien-tierten Anbaubereichen, was zugleich die Abhängigkeit von Marktschwan-kungen beförderte. Diese Plantagen gehörten mehrheitlich singhalesischen Eigentümern. Abgesehen von der Wei-terverarbeitung von Tee, Kautschuk und Kokosnüssen gab es keinerlei In-dustrie auf der Insel, so dass die Ver-sorgung mit Nahrungsmitteln – beson-ders mit Reis – auf Importe angewiesen war. Die Infrastruktur des Landes war gut entwickelt, und die Kennziffern der gesellschaftlichen Entwicklung (Sterb-lichkeitsrate, Kinderkrankheiten, Le-benserwartung, Alphabetisierungsgrad der Erwachsenen) lagen klar über dem Niveau der übrigen asiatischen Länder. Insofern galt Ceylon als ein wirtschaft-lich vielversprechendes Land, und die singhalesischen Eliten, die 1956 die er-

ste Regierung nach der Unabhängigkeit stellten, sahen keinen Grund, an die-ser aus der Kolonialära ererbten wirt-schaftlichen Struktur zu rütteln.

In den sechziger Jahren gerie-ten die Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung und der Steigerung des Wachstums in eine neue Dimensi-on. Durch die abnehmende Rentabili-tät der Plantagen im Verein mit der Im-portabhängigkeit im Nahrungsmittel-sektor sah sich der Staat gezwungen, unbewirtschafteten staatlichen Grund an die Bauern abzutreten. Mit dieser Landverteilung, die bereits in den drei-ßiger Jahren begonnen hatte und nach der Unabhängigkeit fortgesetzt worden war, sollte die Nahrungsmittelversor-gung auf Sri Lanka gesichert werden. Dies führte zu einer Art Parzellenwirt-schaft, die lediglich eine Subsistenzsi-cherung ermöglichte. Immerhin konn-ten die Reisimporte dadurch entfallen und Sri Lankas Autarkie in der Nah-rungsmittelversorgung hergestellt wer-den.

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In der Plantagenwirtschaft wurden durchgreifende Umstrukturierungen durchgeführt – besonders 1956–1964 und 1970–1977. Zugleich wurden ab den sechziger Jahren Impulse für eine industrielle Entwicklung gesetzt. Die-ser ständige politische und wirtschaft-liche Kurswechsel konnte sich kaum positiv auf das Wirtschaftswachstum auswirken.

Seit der Unabhängigkeit war das soziale Sicherungssystem erheblich ausgebaut worden. Die Verjüngung der Gesellschaft infolge der hohen Gebur-tenziffern in den Jahren 1940–1970 ging einher mit einem Ausbau der So-zialmaßnahmen, namentlich einem ko-stenlosen Bildungswesen bis hin zur Universität. Leider zeitigte diese Sozi-alpolitik nicht die erwarteten Auswir-kungen in Zeiten wirtschaftlicher Sta-gnation. Die Arbeitslosigkeit stieg bis Ende der neunziger Jahre auf nahezu 20 %.

Besonders die jungen Hochschul-absolventen waren davon stark betrof-fen. Während die Jugendlichen aus den benachteiligten sozialen Schichten und besonders der Bauernschaft in der Bil-dung das einzige Mittel zum sozialen Aufstieg sahen, mussten sie als Hoch-schulabgänger erleben, wie sie auf dem Arbeitsmarkt zuhauf leer ausgin-gen. Die Nutznießer dieser Bildungsre-formen waren hauptsächlich junge Sin-ghalesen, die sich in der Kolonialära als zu kurz gekommen wähnten. Sie wett-eiferten mit ihren tamilischen Kommi-litonen um die zunehmend rarer wer-denden Stellen. Die ständig steigende Nachfrage in der Gesellschaft konn-te unter den gegenwärtigen wirtschaft-lichen Umständen unmöglich befrie-digt werden. Dies führte unter den jun-gen Singhalesen des Südens zur Entste-hung einer revolutionären Bewegung mit fremdenfeindlichen Tendenzen, der „Volksbefreiungsfront“ JVP (Jana-tha Vimukthi Peramuna). Zugleich ra-dikalisierte sich die tamilische Jugend, die beim Hochschulzugang benachtei-ligt wurde. Die srilankische Regierung reagierte darauf mit scharfer Repressi-on.

DIE ENTSTEHUNG EINER SEPA-RATISTISCHEN BEWEGUNG4

4 Als weiterführende Darlegungen über die Zeit-spanne von 1983 bis 2002 sei empfohlen: Eric Meyer, Quel avenir pour le Sri Lanka ?, Lett-re du Réseau Asie, Mai 2009 : http://www.re-

In den ersten dreißig Jahren nach der Unabhängigkeit verfolgte die Regie-rung in erster Linie eine Politik zur Fe-stigung ihrer eigenen Herrschaft. Die ethnischen Minderheiten wurden po-litisch, wirtschaftlich und kulturell an den Rand gedrängt. Diese Art inne-rer Kolonialpolitik besonders im Os-ten der Insel, wo die moslemischen Ta-milen wohnten, hatte zum Ziel, das tra-ditionelle Gleichgewicht zwischen den einzelnen Volksgruppen ins Wanken zu bringen.

Zunächst kämpften die Tamilen mit friedlichen und parlamentarischen Mit-teln für Gleichberechtigung in einem vereinigten Staat. Anschließend traten sie für eine föderative Lösung ein. Die Reaktion bestand im weiteren Ausbau des Zentralstaats, militärischer Repres-sion und der Durchführung von Po-gromen gegen die Tamilen seitens ex-tremistischer singhalesischer Gruppie-rungen, die von der Regierung unter-stützt wurden.

In dieser Situation und infolge feh-lender wirtschaftlicher Perspektiven begann ein Teil der tamilischen Ju-gend, militärische Formationen auf-zubauen, die sich in ihrer Vorgehens-weise eindeutig von den jahrzehnte-langen fruchtlosen Verhandlungen di-stanzierten. Im Laufe der siebziger Jah-re entstanden bewaffnete Gruppen wie die PLOTE (Volksbefreiungsorganisa-tion des tamilischen Volkes), die TELO (Befreiungsorganisation des tamili-schen Volkes), die EPRLF (Revoluti-onäre Volksfront zur Befreiung des ta-milischen Volkes), die EROS (Revolu-tionäre Studentenorganisation der Ta-milen) und die LTTE (s. o.). EPRLF, EROS und PLOTE waren marxistisch geprägte Organisationen. Die LTTE hingegen berief sich niemals wirklich auf eine kommunistische Tradition. Ih-re erklärten Ziele lagen stets im Un-abhängigkeitskampf des tamilischen Volkes und der Anerkennung eines ei-genen tamilischen Staates, als Krönung gewissermaßen der nationalen Befrei-ung. Wenn man den Worten ihres An-führers Velupillai Prabhakaran glau-ben darf, lag das Ziel darin, „eine wirt-schaftlich autarke und autonome Ge-sellschaft“ zu errichten, die „auf einem

seau-asie.com/cgi-bin/prog/index.cgi ; Rain-ford, Charan, „Tamil nationalist struggle for Eelam“, The International Encyclopedia of Revolution and Protest, Immanuel Ness (Ed), Blackwell Publishing, 2009

demokratischen System“ beruht, „in dem das Volk das Recht hat, sich selbst zu führen. Und zwischen den Arbei-tern sollte wirtschaftliche Gleichheit bestehen“.5 Jenseits ihrer ideologischen Bezüge zeichnete diese Gruppierungen eine gemeinsame Guerillataktik gegen-über der Regierung aus. Die LTTE for-mulierten dies so: „Die nationale tami-lische Armee, auch unter der Bezeich-nung LTTE bekannt, wurde gegründet, nachdem jahrzehntelange friedliche Bemühungen der tamilischen Führer gescheitert waren, von den jeweiligen singhalesischen Regierungen Frei-heitsrechte zu erhalten, und sich die Regierung den Forderungen der Tami-len gegenüber taub gestellt hat. Die LT-TE wurde unter der Führung von Herrn Velupillai Prabhakaran am 5. Mai 1976 gegründet, um das durchzusetzen, was 28 Jahre lang nicht mit friedlichen Mit-teln durchsetzbar war“.6

Die Militarisierung des Konflikts ging einher mit einer Radikalisierung der politischen Positionen. Die man-gelnde Bereitschaft der Regierung, ei-ne multiethnische Gesellschaft unter Wahrung der Minderheitenrechte zu errichten, führte dazu, dass die jungen tamilischen (Hoch)schulabsolventen aus der Region von Jaffna einen tamili-schen Separatstaat forderten.

Bis zu dem Massaker im Juli 1983 fanden die o. g. Gruppen wenig Zu-strom. Als die LTTE 13 Armeeangehö-rige in einem Hinterhalt tötete, veran-staltete die Regierung ein regelrechtes Pogrom unter der tamilischen Gemein-de in Colombo. Binnen etwa zehn Ta-gen wurden mehrere Tausend Tami-lInnen getötet, Häuser abgefackelt und Land konfisziert. Die Gewalt gegen die tamilische Bevölkerung erreichte ein bis dahin unbekanntes Ausmaß. Die Folge davon waren eine Migrations-welle in den Norden des Landes und ins Ausland sowie ein massenhafter Eintritt junger Tamilen in die verschie-denen kämpfenden Formationen, die in den siebziger Jahren gegründet worden waren.7 Fast 100 000 TamilInnen emi-grierten und wurden anschließend zu

5 Eelam Web, Is Tamil Eelam a Commu-nist Idea ? Interview de Prabhakaran par The Sunday Times du 8 avril 1990 : http://www.ee-lamweb.com/faq/

6 Eelam Web : http://www.eelamweb.com/ltte/

7 Kadirgama Ahilan, Pirani Cenan, The Tragedy of Politics in Sri Lanka : Http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article13514

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den glühendsten Verfechtern des tami-lischen Separatismus.

DIE LTTE SETZT AUF KRIEG STATT VERHANDLUNGEN

In den achtziger Jahren versuchte die indische Regierung zwischen den be-waffneten Gruppen (die sie ausbil-dete und wahrscheinlich auch bewaff-nete) und der Regierung Sri Lankas zu vermitteln. Die verschiedenen tamili-schen Gruppen einigten sich schließ-lich auf folgender Grundlage: Aner-kennung des tamilischen Volkes als vollständig eigenständige Nation mit dem Recht auf Selbstbestimmung; Ge-währleistung der territorialen Integri-tät eines unabhängigen tamilischen Staates; volle Grundrechte für die au-ßerhalb ihres unabhängigen Staatsge-bietes lebenden TamilInnen. Im Mai 1987 einigten sich die Regierung und die tamilischen Parteien auf eine Rei-he von Vorschlägen, nach denen den mehrheitlich tamilischen Regionen im Norden und Osten ein Sonderstatus zu-erkannt werden sollte. Der Zusammen-halt der Gruppen war nicht auf Dauer angelegt und abhängig davon, dass das Abkommen durch eine Volksabstim-mung in der Ostprovinz gebilligt wür-de. Die LTTE, die gegen das Referen-dum und die Entwaffnung war, brach diese Einheit und die Feindseligkeiten lebten wieder auf.

Parallel hierzu begann die LTTE, die Leitungskader der anderen bewaff-neten Organisationen in den achtziger Jahren zu liquidieren.. Zugleich wur-den zahlreiche gemäßigte tamilische Aktivisten ermordet. Ende der achtzi-ger Jahre waren die meisten der „kon-kurrierenden“ Organisationen ver-schwunden oder von der LTTE aufge-sogen worden, und ihre Kader waren entweder geflohen oder tot oder hat-ten resigniert. Damit konnte die LTTE von sich behaupten, „die einzige reprä-sentative Organisation des tamilischen Volkes zu sein“.

In den neunziger Jahren verlagerte sich die LTTE zunehmend auf Selbst-mordattentate. Fast 200 Attentate wur-den ihnen zugeschrieben – gegen Zi-vilpersonen und Politiker, darunter zwei Staatschefs (Sri Lankas Präsident Predamasa 1993 und der indische Pre-mier Rajiv Gandhi 1991). Dabei be-schränkte die LTTE ihre Angriffe nicht auf Personen; auch Flughäfen, Tempel

und Bürogebäude gerieten in ihr Vi-sier. Die Methoden dabei wurden „ver-feinert“: Als erste erfand und benutzte sie „lebende Bomben“ bei den Selbst-mordattentaten, und dabei besonders Frauen. Nach 1989 rief sie den 27. No-vember zum nationalen „Heldenge-denktag“ aus, in Erinnerung an das er-ste Selbstmordattentat, von dem sie be-hauptete, dies sei „der Tag, an dem der erste LTTE-Kämpfer sein Leben für die Freiheit des tamilischen Volkes ge-opfert hat“.8

Im Namen ihres Kampfes für einen tamilischen Staat gebrauchte die LT-TE massive Gewalt gegen alle ande-ren Volksgruppen in der von ihnen be-anspruchten Region. Auch schreckte sie nicht vor Massakern an singhale-sischen ZivilistInnen zurück, um einen Gegenschlag des Staates gegen die Ta-milen zu provozieren, den sie wiede-rum zur Festigung der eigenen Reihen nutzen konnte.

Auch gegen Tamilen richtete sich ihre Gewalt. Diese stellen keine ein-heitliche Volksgruppe dar und haben

8 Eelam Web, National Heroes Day, An Intro-duction : http://www.eelamweb.com/maveer-ar/introduction/

auch historisch begründet unterschied-liche Interessen. Die Plantagentamilen, die im Innern und im Süden leben, ha-ben bis heute die von den Tamilen aus Jaffna getragene separatistische Be-wegung nie unterstützt. Im Osten des Landes bilden die tamilischsprachigen Moslems eine starke Gemeinde, die in den achtziger Jahren ihre eigene poli-tische Partei gegründet hat: den Mos-lemischen Kongress von Sri Lanka (SLMS). Die LTTE verhielt sich dieser Partei gegenüber feindlich, da sie ih-ren Alleinvertretungsanspruch für alle Tamilen im Norden und Osten infrage stellte. Zwischen 1984 und 1990 wur-den moslemische Volksgruppen, die in dem von der LTTE kontrollierten Nor-den lebten, Opfer zahlreicher Gewalt-akte.9 Ihren Höhepunkt erreichte die Situation im Oktober 1990, als die Ti-gers eine ethnische Säuberung durch-führten. Es wurden 75 000 Moslems von der Halbinsel Jaffna vertrieben. Siemussten das Gebiet binnen 48 Stun-den verlassen. Die meisten von ihnen

9 University teachers for Human Rights (Jaff-na), The War of June 1990, Report 4, Chapter 7 : http://www.uthr.org/Reports/Report4/chap-ter7.htm

Velupillai Prabhakaran, Führer der Tamilen-Tiger in Sri Lanka

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leben noch heute in Auffanglagern im Distrikt von Puttalam im Westen der Insel.10

Nach einer erneuten gescheiterten Verhandlungsrunde setzte die Regie-rung nach 1995 auf eine militärische Lösung. Ein eher konventioneller Krieg begann. Die Tigers, die sich aus der Di-aspora finanzierten, hatten sich mit mo-dernen Kommunikationsmitteln, einer Flotille von Schnellbooten und bom-benbestückten Charterflugzeugen aus-gerüstet. Die Familien hatten wenig-stens ein Kind der „Befreiungsarmee“ zu stellen, wobei die LTTE auch vor der Rekrutierung von Kindersoldaten nicht halt machte. Nach jahrelangem Krieg hatten weder die Armee noch die LTTE einen entscheidenden Sieg errin-gen können.

Unter Druck akzeptierten die LT-TE und die Regierung einen neuer-lichen Waffenstillstand im Febru-ar 2002 und die Wiederaufnahme von Verhandlungen ab September. Erstmals in ihrer Geschichte akzeptierte die LT-TE, eine politische Lösung in Form eines Bundesstaats innerhalb eines ei-nigen Staates Sri Lanka ins Auge zu fassen. Aber 2003 verließen die Ti-gers erneut den Verhandlungstisch, da sie sich mit der Regierung nicht über die provisorische Verwaltungsstruktur zur Entwicklung des Nordostens eini-gen konnten. Während der darauf fol-genden Präsidentschaftswahlkampa-gne 2005 zwangen sie die tamilische

10 Exploring the right to secession, The South Asian Context, Neera Chandhoke, South Asia Research 2008

Bevölkerung zum Boykott und provo-zierten damit den knappen Wahlsieg des gegenwärtigen Präsidenten Mahin-da Rajapaksa.

Diese rein militärische Logik führte zu zahlreichen Verlusten sowohl an Menschenleben als auch in ökono-mischer Hinsicht. In erster Linie je-doch verbaute sie den Weg zu poli-tischen Lösungen und machte einen brutalen Krieg zum Sprachrohr der ta-milischen und singhalesischen Natio-nalinteressen.

Bei Betrachtung der Ereignisse zeigt sich, wie wenig Willen auf Sei-ten der LTTE bestand, ein wirkliches Friedensabkommen auszuhandeln. Zu keiner Zeit haben die Tigers unabhän-giges politisches Engagement inner-halb der von ihnen kontrollierten ta-milischen Bevölkerung toleriert. Eine breite Friedensbewegung beeinträch-tigte ihr Hegemonialstreben und wur-de daher nicht hingenommen. Ihr po-litisches Überleben gründete auf der Fortsetzung des Krieges und daher war die einzig für sie gangbare Alternative ein tamilischer Separatstaat. Waffen-stillstände und Verhandlungen waren für sie nur taktisches Kalkül, um ihre Waffenlager für neue Feindseligkeiten wieder auffüllen zu können.

DIE REGIERUNG IM DIENST DER SINGHALESISCHEN Ex-TREMISTEN

Letztlich hat diese Politik die LTTE geradewegs an die Mauer gefahren und mit ihnen die tamilische Bevölkerung

und die sri lankische Gesellschaft im Ganzen.

Der jetzige Präsident kam mithil-fe der singhalesischen Extremisten ins Amt. Die Sprache der Regierung ver-rät deren Einfluss auf die Entourage des Präsidenten. Zum Beispiel ließ der Oberbefehlshaber der Armee, Sarath Fonseka verlauten: „Ich glaube fest da-ran, dass dies Land den Singhalesen gehört; aber es gibt Minderheiten und wir behandeln diese wie die unseren … Sie können mit uns in diesem Land le-ben, dürfen jedoch nicht versuchen, un-ter dem Deckmantel ihres Minderhei-tenstatus unbegründete Forderungen zu stellen“.

Verteidigungsminister Gotabaya Rajapaksa, ein Bruder des Präsidenten, hat seinerseits erklärt, dass „in jedem demokratischen Land die Mehrheit das Land lenken sollte. Dieses Land wird von der singhalesischen Volksgruppe geführt werden, die mit 74 % die Mehr-heit der Bevölkerung repräsentiert“.11

Nachdem Karuna, der Komman-deur der LTTE-Streitkräfte im Osten der Insel abtrünnig geworden war und diese übergeben hatte, drängten die Ex-tremisten die Regierung zu einer mili-tärischen Lösung. Schon 2006 begann die Regierung, das 1980 erzielte Ab-kommen zu torpedieren und sich zu-gleich auf ihre politische Verhand-lungsbereitschaft zu berufen. Dabei beauftragte sie den obersten Gerichts-hof, die Fusion zwischen den Provin-zen im Norden und im Osten für nich-tig zu erklären. Zugleich begann sie ei-nen „Krieg gegen den Terrorismus“, um somit die LTTE für immer auszu-schalten. Die Armee belegte die Regi-on von Muttur im Osten der Insel mit intensiven Bombardements und zwang die tamilische Bevölkerung zur Um-siedlung in Lager. Anschließend wur-den die Häuser in der traditionell tami-lischen Gegend um Sampoor zerstört, um dem Bau eines Wärmekraftwerks durch Indien Platz zu machen.12

Seit der Wiederaufnahme der Feind-seligkeiten hat die srilankische Armee unzählige Kriegsverbrechen an der ta-milischen Zivilbevölkerung begangen, indem sie unterschiedslos Schulen,

11 Zitate aus dem Artikel von Vasantha Raja, Is this the End of the tamil Struggle? (7. Mai 2009) : http://lankaeye.xuan.co.uk/

12 Rajan Hoole, Tamils of Sri Lanka, A People on the Run : http://www.europe-solidaire.org/ecrire/?exec=articles&id_article=13609

Fahne der Tamilen-Tiger LTTE

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SRI LANKA

Moscheen, Tempel und Krankenhäu-ser bombardiert hat, in die sich die Zi-vilisten geflüchtet hatten.

Dieser „Krieg gegen den Terroris-mus“ hat der Regierung auch als Vor-wand dazu gedient, die demokratischen Freiheiten aller Landesbewohner ein-zuschränken. Auf ihre Kappe gehen zahlreiche außergerichtliche Morde, Verschleppungen, willkürliche Verhaf-tungen und Einsätze von Todesschwa-dronen gegen regierungskritische Sin-ghalesen. Medien wurden in die Kritik genommen, Journalisten bedrängt, be-droht und ermordet sowie Zeitungsver-lagsgebäude abgebrannt und bombar-diert.13 Sri Lanka führt wieder einmal vor, dass die Eingriffe gegen Minder-heiten mit der Einschränkung der Frei-heiten für Alle enden.

DIE MILITäRISCHE NIEDERLA-GE WIRD ZU KEINEM DAUER-HAFTEN FRIEDEN FüHREN

Die militärische Zerschlagung der letz-ten Tigers in dem 10 Quadratkilome-ter großen Streifen, in dem sie sich ver-schanzt haben, wird keineswegs zur Lösung eines mehr als 60 Jahre alten politischen Konflikts führen. Ein dau-erhafter Friede wird nicht möglich sein ohne die Anerkennung des Rechts des tamilischen Volkes auf Selbstbestim-mung. Ohne dem Ausgang einer un-abhängigen Volksabstimmung über die Frage der Unabhängigkeit vorzugrei-fen, muss den Regionen mit nicht-sin-ghalesischer Mehrheit in jedem Fall die Autonomie zugestanden werden, weil nur dadurch Frieden und Demokratie in einem multirassischen und multikultu-rellen Staat gewährleistet werden kön-nen. Die Gleichheit aller BürgerInnen ungeachtet ihrer Herkunft muss garan-tiert werden.

Wir müssen ad hoc alle Initiativen unterstützen, die die Regierung zu einem Waffenstillstand zwingen wollen, um so die Massaker an der Zivilbevölkerung und die massiven Zerstörungen zu stop-pen. Zugleich muss die LTTE die Zivili-stInnen ziehen lassen, die die Kampfzo-ne verlassen wollen. Die TamilInnen, die dort eingekesselt sind, und diejenigen in den Internierungslagern der Regierung

13 Death of a Journalist, 13 janvier 2009, Asia Sentinel: http://www.asiasentinel.com/index.php?option=com_content&task=view&id=1664&Itemid=183

brauchen dringend Nahrung, ärztliche Behandlung und Medikamente.

Die UN und die gesamte internatio-nale Gemeinschaft – und besonders die EU – müssen der srilankischen Regie-rung und der LTTE eindeutig zu verste-hen geben, dass sie für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Verant-wortung gezogen werden, die sie an

der tamilischen Zivilbevölkerung be-gehen.

9. Mai 2009

Danielle Sabaï, Aktivistin der NPA (Nouveau parti anticapitaliste) und der IV. Internationale, ist Asienkorrespondentin für die Inprecor.

Übersetzung: MiWe

Ein gnadenloser Krieg hat keine politische Lösung gebrachtBüro der IV. Internationale

Am Sonntag, den 7. Mai, wurden die Waffen der Liberation Tigers of Ta-mil Eelam (LTTE) zum Schweigen gebracht, und sie hörten vom Tod ihres Anführers Vilupillai Prabhakaran. So endete eine brutale und gna-denlose militärische Offensive der chauvinistisch-nationalistischen singhalesischen Regierung unter Führung von Präsident Mahinda Ra-japaksa.

Mehrere Monate lang hatte das Re-gime in seinem so genannten „Krieg gegen den Terrorismus“ tamilische Re-bellInnen und ZivilistInnen unablässig bombardiert. Krankenhäuser, Schulen, Wohnhäuser wurden bombardiert; da-bei starben über 7000 Menschen, über 15 000 wurden verwundet. Tamilen und Tamilinnen wurden vertrieben und in Lagern interniert, die sie nicht verlassen dürfen. Sie alle sind unschuldige Zivi-listen, die nur deshalb des Terrorismus verdächtigt werden, weil sie zur tamili-schen Minderheit im Norden und Osten der Insel gehören.

Trotzdem wird der militärische Sieg einen militärischen Konflikt, der seit mehreren Jahrzehnten andauert, nicht beenden. Seit 1948, als Sri Lanka un-abhängig wurde, war die Minderheit in Sri Lanka einer systematischen sprach-lichen, kulturellen und ökonomischen Diskriminierung ausgesetzt. Bis in die 1970er Jahre forderten die Tamilen und Tamilinnen im Nordosten wieder-holt und erfolglos mit friedlichen Mit-teln die Achtung ihrer Rechte und Kul-tur. Dies führte zu einer Radikalisierung der tamilischen Jugend und zum Ent-stehen eines bewaffneten Kampfes, der fast dreißig Jahre andauerte. Während wir die Selbstmordanschläge und die

Gewalt der Tamil Tigers nur verurteilen können, ist der Kampf für die Achtung der tamilischen Rechte und Kultur im-mer noch aktuell.

Dieser Krieg gegen die Tamil Tigers hat für das autoritäre Regime Rajapak-sas als Vorwand gedient, die demokra-tischen Freiheiten nicht nur für die eth-nischen Minderheiten im Land, son-dern für alle BürgerInnen einzuschrän-ken. Die Regierung hat unabhängigen JournalistInnen und KritikerInnen ihrer Kriegspolitik ihre Todesschwadronen geschickt.

Eine dauerhafte Politik wird oh-ne die Anerkennung des Selbstbestim-mungsrechts des tamilischen Volkes nicht möglich sein. Den Regionen mit einer nicht-singhalesischen Mehrheit muss Autonomie gewährt werden, und als einzige Garantie für Frieden und De-mokratie muss die Gleichberechtigung aller BürgerInnen in einem multieth-nischen und multikulturellen Staat gesi-chert werden.

Ohne dass die Rechte der ethnischen Minderheiten geachtet werden, kann es keine wirkliche Demokratie geben.

18. Mai 2009

Übersetzung: HGM

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MALAySIA

Zwischen Wandel und politischer ErstarrungDanielle Sabaï

Die Wahlen vom 8. März 2008 haben das politische Leben Malaysias schwer erschüttert. Die Koalitionsregierung aus dem Nationalen Bündnis Barisan Nasional (BN) und seinem wichtigsten Bestandteil, der United Malays Natio-nal Organisation (UMNO), haben die schwerste Niederlage seit der 1957 er-langten Unabhängigkeit erlitten.

Bislang hatte die Koalition 198 der 220 Abgeordnetensitze inne, dies-mal erhielt sie nur 127 Sitze und verlor zudem in fünf der 13 Bundesstaaten. Die Opposition unter dem Volksbünd-nis (Pakatan Rakyat, PR) konnte ei-nen bedeutenden Erfolg erzielen. Die Zweidrittelmehrheit, die Barisan Na-sional seit 40 Jahren innehatte und ihr erlaubte, nach Gutdünken alle Gesetze durch das Parlament durchzubringen, wurde gekippt. Es ist auch ein Zei-chen dafür, dass die malaysische Ge-sellschaft tiefgreifende Veränderungen ersehnt.

DER MALAySISCHE GESELL-SCHAFTSVERTRAG

Die aus der britischen Kolonialzeit ge-erbte Gesellschaftsordnung Malaysias beruht auf rassisch-ethnischen, wenn nicht rassistischen Grundlagen. Die verschiedenen Gruppen, von denen die Malaien, die Chinesen und die In-der mit 60, 25 und 8 Prozent die drei größten Ethnien stellen, leben nahezu vollständig getrennt voneinander in un-terschiedlichen Stadtteilen mit eigenen Schulen, Läden, Klubs etc.

Während der Kolonialzeit holten die Briten Zehntausende Inder als Ar-beitskräfte für die Kautschukplan-tagen und Eisenhütten nach Malay-sia. Die Chinesen kamen von sich aus als arme MigrantInnen aus Südchina, gelangten aber so weit zu Reichtum, dass sie heute den Großteil des Han-dels des Landes kontrollieren. Wäh-rend der Entkolonialisierung handel-ten die Briten für die Chinesen und In-

der die Staatsbürgerschaft aus, die ein-heimischen Bumiputeri, in ihrer groß-en Mehrheit malaiische Muslime, er-hielten im Gegenzug andere Vergün-stigungen. Malaysia wurde eine kon-stitutionelle Monarchie, in der sich die neun Erbsultane er Halbinsel ab-wechselnd den Thron teilen. Die ma-laiischen Bräuche bildeten ein bedeu-tendes Verbindungsglied für den Auf-bau der Föderation und der Islam wur-de zur Staatsreligion. Die UMNO war seit der Unabhängigkeit die Partei, die die Interessen der malaysischen Be-völkerung vertrat. Sie beherrschte das politische Leben und stellte damit die wichtigste Kraft im Land dar.

1969 musste das Wahlbündnis un-ter Führung der UMNO einen bedeu-tenden Einbruch bei den Wahlen hin-nehmen. Zwischen den zwei wich-tigsten ethnischen Gruppen, den Ma-laien und den Chinesen, brachen Ras-senunruhen aus. Die Unruhen nahmen am 13. Mai 1969 ihren Ausgang und endeten mit dem Sturz des regierenden Ministerpräsidenten Tunku Abdul Rah-man, der die alte malaiische Aristokra-tie vertrat. Vertreter der aufstrebenden malaiischen Kapitalistenklasse kamen an die Macht.

Die Ereignisse leiteten eine neue Phase in der Geschichte des Landes ein, in der diese neue Kapitalistenklas-se insbesondere durch Einführung der Neuen Wirtschaftspolitik (NEP) ihre Macht festigte. Diese Politik, von der nur ein Teil der malaysischen Bevölke-rung profitierte, konnte nach den Unru-hen mittels Repression und Schreckens-herrschaft gegen die nichtmalaiische Bevölkerung durchgesetzt werden. Seit dieser Zeit konnten die UMNO und ihr Jugendflügel mit dem Schreckgespenst der Rassenunruhen alle Bürgerrechts-bewegungen einschüchtern.1

1 Mehr Details zum Thema unter „Racial Conflict in Malaysia: Against the Official History“, Kua Kia Soong, Race and Class 2008 , 49 ; 33.

DIE VORHERRSCHAFT DER MALAIEN

Ende der 1960er-Jahre waren nur 2,4 Prozent der Unternehmensaktien in Händen der Bumiputeri, während die chinesische Gemeinschaft 27,2 Pro-zent besaß und nahezu 60 Prozent in der Hand von Ausländern waren. Die 1971 eingeführte NEP wurde als Poli-tik dargestellt, die zum Ziel habe, durch positive Diskriminierung den Reich-tum gerecht zu verteilen, die Armut in allen Gemeinschaften zu überwinden und die nationale Einheit zu fördern. Sie konzentrierte sich im Wesentlichen auf die Landwirtschaft und brachte der nichtmalaiischen Bevölkerung ein we-sentlich schwächeres Angebot im Bil-dungsbereich und im Wirtschaftsleben. Das galt insbesondere für die Chinesen, während vor allem die Bumiputeri von den Maßnahmen profitierten wie Zu-gang zu Land, Beamtenposten, Vergabe gewisser Berufsbewilligungen, Stipen-dien, Zugang zu Wohnungen etc.. Die Maßnahmen waren als vorübergehend gedacht, doch die NEP wurde 1990 durch die Nationale Entwicklungspo-litik (NDP) und 2000 durch die Poli-tik der Nationalen Vision abgelöst, die demselben Geist folgten wie die NEP.

Die verschiedenen positiven Dis-kriminierungsmaßnahmen ließen einen malaiischen Mittelstand entstehen. Sie wurden aber auch zu einem Synonym der malaiischen Privilegien und brach-ten eine immer offener rassistische Ide-ologie hervor.

Die Vorherrschaft der UMNO fand ihren Ausdruck im rassistischen Kon-zept der malaiischen Vorherrschaft (Ketuanan Malayus). Gleichzeitig wur-den immer repressivere Gesetze ein-geführt, um diese Vorherrschaft zu si-chern und die immer tiefer gespaltene Gesellschaft streng zu kontrollieren.2

2 Touching the Heart of Malaysian Race Rela-tions, Kim Quek. http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article11966.

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MALAySIA

Sie stand im Dienst eines autoritären Staates, der sich hauptsächlich der ra-schen Wirtschaftsentwicklung ver-schrieben hatte. Unter der Führung von Mahathir Mohamad, der von 1981 bis 2003 Regierungschef war, wur-de das Konzept des „asiatischen Mo-dells“ ausgearbeitet und entwickelt. Es wurden liberale Maßnahmen zur Inve-stitionsförderung eingeführt, beglei-tet von einem ausgesprochen restrik-tiven Arbeitsrecht. Der politische Plu-ralismus wurde gleichzeitig als Bedro-hung der politischen Stabilität wahrge-nommen und die individuellen Rech-te den wirtschaftlichen Interessen un-tergeordnet. Im Namen der wirtschaft-lichen Entwicklung wurden die Justiz gleichgeschaltet und die „asiatischen Werte“ gegen die als „westlich“ de-klarierten Menschenrechte ausgespie-lt. Die Meinungsfreiheit wurde stark eingeschränkt und alle Medien streng durch die Regierung überwacht. Re-pressive Gesetze über die innere Si-cherheit, über Medien, Aufruhr, Staats-geheimnisse, Universitäten, Religi-onen und interethnische Beziehungen erlaubten die straffe Kontrolle der Per-sonen und Organisationen.

SPANNUNGEN ZWISCHEN DEN VOLKSGRUPPEN

Während alle Umfragen und Unter-suchungen zeigten, dass die Ziele der NEP seit Langem erreicht sind, will kei-ne Regierung diese „verbürgten Privile-gien“ und die Sonderrolle der Malaien in der Gesellschaft in Frage stellen. Di-ese Politik der „verbürgten Privilegien“ hat zur Verschärfung der Spannungen zwischen den Volksgruppen beigetra-gen. Die ChinesInnen wollen nicht mehr für die Privilegien der Malaisen bezahlen, wenn sie sich gleichzeitig sowohl im Zugang zu Bankkrediten als auch zu Stellen im öffentlichen Dienst und im Bildungsbereich eingeschränkt fühlen. Ende 2007 lehnten sich die In-derInnen gegen die ihnen zugewiesene Stellung als BürgerInnen zweiter Klas-se auf. Seit 1950, dem Jahr der Unab-hängigkeit Malaysias, hat sich die Re-gierung kaum um die Anliegen der in-dischen Gemeinschaft gekümmert und die Zerstörung von Hindu-Tempeln (im Interesse der Bodenspekulation) unge-straft zugelassen. Anstatt die Forde-rungen der InderInnen, die erstmals in der Geschichte des Bundesstaates pro-

testierten, ernst zu nehmen, reagierte die Regierung mit Gewalt und verhaf-tete die FührerInnen der Hindu Rights Action Force (HINDRAF), die die De-monstration vom 25. November orga-nisiert hatte. Seither sitzen drei Führer der Bewegung auf der Basis des Ge-setzes über die innere Sicherheit (Inter-nal Security Act ISA), das die willkür-liche und unbegrenzte Haft ohne Ge-richtsurteil von Personen erlaubt, die als Bedrohung für die Staatssicherheit angesehen werden, im Gefängnis.3

Auch unter den Malaien ist nicht allen das Glück beschert, gute Bezie-hungen zu haben und von den staat-lichen Zuwendungen zu profitieren. Nicht alle Malaien konnten sich durch die NEP bereichern. Die malaiischen Bauern sind relativ arm geblieben. Die NEP hat eher eine Kaste einflussreicher Geschäftsleute in der UMNO hervor-gebracht, die von staatlichen Aufträgen profitieren. Geschäfte und Politik sind aufs Engste miteinander verbunden, und die der NEP zu verdankenden Vor-teile werden von den UMNO-Mitglie-dern genutzt, um sich eine Anhänger-schaft unter den Malaien zu schaffen, sich persönlich zu bereichern und Posi-tionen in der Partei zu sichern.

DIE SOZIALEN BEWEGUNGEN

Die Opposition zur BN ist im Anschluss an die als „Reformasi“ bekannte Pro-testbewegung von September 1998 entstanden. Die Absetzung und Ver-haftung des damaligen Vizeregierung-schefs und UMNO-Präsidenten Anwar

3 Über die Menschenrechtslage in Malaysia sie-he Alice Nah, „Human Rights in Malaysia un-der International Review“, http://www.europe-solidaire.org/ecrire/?exec=articles&id_artic-le=12926.

Ibrahim gab den Ausschlag für mäch-tige Mobilisierungen und die Bildung eines Bündnisses aus Oppositionskräf-ten zur Regierungskoalition, dem Bari-san Alternativ (BA, Alternativbündnis). Am Bündnis beteiligten sich die wich-tigsten Oppositionsparteien, die Ma-laysische Islamische Partei (PAS, Par-ti Se Islam Malaysia), die neu gegrün-dete Partei der Volksgerechtigkeit (Par-ti Keadilan Rakyat) unter Führung von Anwars Frau Wan Azazah Wan Ismail und die Demokratische Aktionspartei (DAP), eine auf die chinesische Volks-gruppe orientierte Partei.

Die Reformasi-Bewegung wurde durch die knallharte Absetzung An-wars ausgelöst, der sich gegen Maß-nahmen von Regierungschef Maha-thir aussprach, mit denen befreundeten Unternehmen unter die Arme gegrif-fen werden sollte, um sie vor den Fol-gen der Krise von 1997 zu bewahren. Die Protestbewegung drängte auf de-mokratische Veränderungen und mehr Gerechtigkeit in Malaysia. Die Forde-rungen der DemonstrantInnen drückten auch den Willen zu echtem politischem Pluralismus aus. Auch wenn die Be-wegung die Regierung Mahathir nicht stürzen konnte, wurde dessen Anse-hen doch nachhaltig getrübt und sei-ne Macht deutlich untergraben. Bei den Gesamtwahlen von 1999 im Ge-folge der Wirtschafts- und Finanzkri-se von 1997 und der Reformasi-Bewe-gung gelang es der BA, den Einfluss der BN und der UMNO insbesondere in deren Wählerbastionen, d. h. in den ländlichen Bundesstaaten mit malai-ischer Mehrheit, zurückzudrängen. Der schwindende Einfluss der UMNO be-stärkte den Widerstand gegen Maha-thir innerhalb der Partei und zwang ihn 2003 nach 22-jähriger Amtszeit als Re-

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MALAySIA

gierungschef zum Rücktritt. Auf ihn folgte Abdullah Ahmad Badawi.

WECHSELNDE REGIERUNGEN

Die Wahlen von 1999 eröffneten eine Phase der Infragestellung der ethnisch-rassischen Gesellschaftsstruktur und zeigten den Willen der Malaysier, de-mokratische Fortschritte zu erringen. Das äußerte sich insbesondere darin, dass seither bei jeder Wahl die Regie-rung wechselte.

1999 verlor die UMNO ihren An-spruch auf Vertretung der malaiischen Sache, den sie seit ihrer Gründung 1946 in Anspruch nahm. In den Augen der Malaysier war die ultrakonservative is-lamische PAS die Alternative zur UM-NO und nicht Anwars Partei Keadilan Rakyat. Die PAS gewann die Wahlen, doch es war ein kurzlebiger Sieg, da sie bei den darauffolgenden Wahlen 2004 die Macht wieder abtreten musste. Was die PAS-Politiker für Akzeptanz ihrer proislamischen Politik hielten, war für die Malaysier vermutlich nur eine Art, ihre Unzufriedenheit gegenüber Maha-thir und seiner Politik auszudrücken.4 Der Wahlerfolg der PAS 1999 hatte al-lerdings zur Folge, dass die UMNO im Gegenzug immer mehr Elemente des islamistischen Diskurses in den traditi-onell nationalistischen Diskurs der Par-tei mischte. Während die wichtigsten Streitpunkte bislang kultureller und ethnischer Natur gewesen waren, trug die politische Instrumentalisierung der Religion durch die UMNO dazu bei, das Verhältnis zwischen den Religions-gemeinschaften zu vergiften und dem islamischen Recht mehr Gewicht über das Leben der Malaysier muslimischen Glaubens zu geben.5

2004, ein Jahr nach dem Rück-tritt von Mahathir, ging sein Nachfol-ger Abdullah Badawi mit dem Verspre-chen, die Korruption zu bekämpfen und sich für mehr Transparenz und Demo-kratie einzusetzen, als deutlicher Sieger aus den Parlamentswahlen hervor. Es blieb allerdings beim leeren Verspre-chen, ohne dass irgendein Versuch un-ternommen wurde, die verschiedenen

4 Siehe Khadijah MD Khalid, Voting for Change? Islam and Personalised Politics in the 2004 Ge-neral Election. In Politics in Malaysia — The Malay Dimension, hg. von Edmund Terence Gomez (Routledge, 2007).

5 Siehe Arnaud Dubus, La Malaisie à la recher-che d’un nouveau modèle, EDA 6, Januar 2009.

antidemokratischen Gesetze wie jenes über die innere Sicherheit zu revidieren und die Pressefreiheit zu fördern.

Bei den darauffolgenden Wahlen im März 2008 wurde der wenig cha-rismatische Regierungschef Abdullah sowohl in der UMNO, insbesondere von Mahathir, der ihn zum Nachfolger auserkoren hatte, als auch an der Urne missbilligt.6

Die Wahlen 2008 brachten den tief-greifendsten Einbruch, den das Regie-rungsbündnis Barisan Nasional und dessen wichtigste Partei, die UMNO, je erlebt haben. Die BN kam auf 52 Pro-zent der Stimmen, gegenüber 60 Pro-zent im Jahr 2004. Erstmals seit 40 Jah-ren hatte die BN die Zweidrittelmehr-heit im Parlament eingebüßt, die ihr er-laubt hatte, nach Belieben die Verfas-sung zu ändern und diskussions- und widerstandslos alle Reformen durch-zuboxen.

Um die WählerInnen zu gewinnen, hatte die Regierung den verschiede-nen Gemeinschaften allerdings diverse Wahlversprechen gemacht: mehr Sti-pendien für Bauernkinder und die ärm-sten Schichten der Malaien, erhöhte Infrastrukturinvestitionen in den Dör-fern, die Schaffung von zwei Millionen Stellen in fünf Jahren. Den ChinesIn-nen versprach sie mehr Gelder für die Schulen und den InderInnen Land, auf dem sie ihre Tempel wieder errichten könnten. Gegenüber den Reformfor-derungen der nicht-malaiischen Volks-gruppen bekräftigte sie ihre Willen, die NEP fortzuführen.

Letztlich überwog offensichtlich aber der Wille, mit der Amtsführung durch die UMNO zu brechen: Die Op-position gewann die Wahlen in den in-dustrialisiertesten Bundesstaaten Pen-ang, Perak, Selangor und in der Haupt-stadt Kuala Lumpur.

Die malaiischen WählerInnen brachten ihr Missfallen über die UM-NO, die angeblich ihre Interessen ver-treten sollte, ebenfalls zum Ausdruck: Die Hälfte der WählerInnen der Halbin-sel stimmten für Pakatan Rakyat (PR), ein extra für diese Wahlen gegründetes Oppositionsbündnis aus den drei wich-tigsten Oppositionsparteien PAS, PKR und DAP. Die PAS gewann die Wah-len in den Staaten Kedah und Kelantan

6 Barisan Alternatif, bei den Wahlen 1999 und 2004 die Opposition zum Barisan Nasional, lö-ste sich nach Rückzug der DAP aus dem Zu-sammenschluss auf.

(Letzterer wird seit 1990 von der PAS regiert).

ZURüCK ZUM „MAHATHIR- SySTEM“?

Seit den Wahlen von März 2008 ha-ben weitere Teilwahlen stattgefunden, die alle von der Opposition gewonnen wurden. Diese Wahlniederlagen und die politische Instabilität in der UM-NO trugen dazu bei, einen Flügel in der Partei zu stärken, sich gegen Verän-derungen sträubt, und zwangen Abdul-lah Badawi, für den Parteikongress im März 2009 seinen Rückzug bekannt zu geben. Najib Razak, sein Nachfolger als Parteichef, wird Ende März 2009 das Amt des Regierungschefs überneh-men, da der Parteivorsitzende der UM-NO automatisch auch das wichtigste Amt im Barisan Nasional übernimmt, der als stärkste Parlamentspartei den Regierungschef stellt.

Najibs Aufstieg zum Regierungs-chef scheint zu zeigen, dass die UM-NO die Botschaft des Wahlvolks – der Ruf nach Transparenz, Integrität, Kom-petenz und Gerechtigkeit – ungehört verhallen lässt und zum autokratischen System wie zu Zeiten von Mahathir zu-rückzukehren scheint.7 Die Amtsüber-nahme durch Najib droht den Graben zwischen der UMNO und der malai-ischen Zivilgesellschaft zu vertiefen, da Najib mit Korruption und politi-schen Machtspielen assoziiert wird.8 Durch ein politisches Manöver wurden im Januar Mitglieder, der von der Op-position gestellten Parlamentsmehrheit im Bundesstaat Perak ausgebootet, um einen neue Regierung zu bilden, die hinter Barisan Nasional steht. Daran beteiligt war auch der Sultan von Pe-rak, der die Bildung einer neuen Regie-rung unter der BN zuließ, obwohl nach den Wahlen die PR gleich viele Ab-geordnete stellte wie die BN. Letzte-re versuchte jüngst, eine Beraterin der PR und Staatsratsabgeordnete von Se-langor durch Verbreitung von Bildern im Internet, die sie nackt schlafend zei-

7 Siehe Jean-Claude Pomonti, Sclérose et chan-gement: réflexions sur une gestion, EDA 6, Ja-nuar 2009.

8 Er ist auch in einen Skandal rund um die Er-mordung einer mongolischen Übersetzerin im 2006 verwickelt.

Fortsetzung auf Seite 35

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dieinternationale die 4

internationale 2009

Inhalt I. KLIMA IN GEFAHRII. RAHMENBEDIN-

GuNGENIII. DIE KAPITALI-

STISCHE ANTWORTIV. AuFBAu EINER BE-

WEGuNGV. ANTIKAPITALI-

STISCHE ALTER-NATIVE

I. KLIMA IN GEFAHR: UR-SACHEN, VERANTWORT-LICHKEITEN, SOZIALE UND ÖKOLOGISCHE FOLGEN

1. Der Klimawandel ist eine Tatsache ohne

Beispiel.Der Klimawandel ist ei-

ne Tatsache Im 20. Jahrhun-dert hat sich die durchschnitt-liche Oberflächentemperatur der Erde um 0.6 °C erhöht, ist der Meeresspiegel um 10 bis 20 cm gestiegen, haben sich die Gletscher fast überall in erheblichem Ausmaß zurück-

gezogen, hat die Gewalt von Tiefdruckgebieten im Nordat-lantik zugenommen und mehr extreme Wetterereignisse wie Stürme, Überschwemmungen und Dürren wurden aufge-zeichnet.

Es handelt sich nicht um periodische Schwankungen (wie beispielsweise das „El Nino“-Phänomen), sondern um eine tiefgreifende lang-fristige Veränderung, die ei-ne erhebliche Destabilisie-rung des Klimasystems wi-derspiegelt. Die Triebfeder dieser Destabilisierung – der Anstieg der mittleren Erd-oberflächentemperatur – ist von einem Ausmaß, das seit mindestens 1300 Jahren bei-spiellos ist. Dieser Anstieg ist mit einem anderen Phäno-men stark korreliert, das seit 800 000 Jahren ohne Beispiel ist: dem Anstieg des Kohlen-stoffgehalts in der Atmosphä-re in der Form von Kohlendi-oxid und Methan – zwei Ga-sen, deren Beitrag zum Treib-

hauseffekt in der Physik seit langem unbestritten ist.

Die Erklärung der aktu-ellen Erwärmung durch den Anstieg der Emission von Treibhausgasen ist zu mehr als 90 % gesichert und wird auf wissenschaftlicher Ebene nicht mehr ernsthaft bestrit-ten. Es ist unbestritten, dass die derzeitige globale Erwär-mung ohne Beispiel ist und sich radikal von anderen Pha-sen globaler Erwärmung un-terscheidet, die die Erde in ihrer Geschichte erlebt hat. Im Verlaufe der Interglazial-perioden [Zwischeneiszeiten] der Vergangenheit haben na-türliche Veränderungen der Position der Erde gegenüber der Sonne oder der Sonnen-aktivität eine globale Erwär-mung verursacht, die die Ent-wicklung von Leben begün-stigte, die ihrerseits zu einem Anstieg der atmosphärischen CO2

-Konzentration führte, die dann die globale Erwär-mung weiter verstärkte. Heu-te hat sich die Kausalitätsket-te umgekehrt: Die natürlichen Faktoren erklären nur einen sehr begrenzten Teil der Er-wärmung (ungefähr 5 % bis 10 %), während der Großteil direkt aus einem sehr schnel-len Anstieg des CO

2- und Me-

than-Gehalts in der Atmo-sphäre herrührt, der auf Ak-tivitäten des Menschen zu-rückgeht. Anders ausgedrückt: Früher verursachte die Klima-erwärmung eine Verstärkung des Treibhauseffekts, wäh-rend heute die Verstärkung des Treibhauseffekts direkt zu ei-ner Klimaänderung führt.

2. Der Ausdruck „Kli-mawandel“ ist irre-

führend: Wir sind mit einem brutalen Umkippen kon-frontiert, das in mensch-lichen Zeiträumen unum-kehrbar ist

Der Ausdruck „Klimawan-del“ ist irreführend: Er er-weckt die Vorstellung einer allmählichen Veränderung, während wir mit einem bru-talen Umkippen konfrontiert sind, dessen Geschwindigkeit ständig zunimmt. Dies ist drei Arten wirtschaftlicher Aktivi-tät geschuldet, die den Gehalt von Treibhausgasen in der At-mosphäre steigen lassen:a) Wälder, Naturweiden, Bö-den und Torfmoore speichern Kohlenstoff in Form orga-nischer Materie. Abholzung, Umwandlung von Naturwei-den in Kulturland, Trocken-legung von Feuchtgebieten und schlechte Kultivierungs-methoden führen zur Frei-setzung dieses Kohlenstoffs. Außerdem führt der übermä-ßige Einsatz von Kunstdün-ger (17,9 % der Emissionen) zur Freisetzung von Lachgas (N

2O), einem anderen Treib-

hausgas.b) Jede Verbrennung [von Kohlenstoff, d.Üb.] führt zur Emission von Kohlendioxid (CO

2). Aber es gibt einen groß-

en Unterschied zwischen dem CO

2, das aus der Verbrennung

von Biomasse stammt auf der einen, und dem CO

2 aus der

Verbrennung fossiler Energie-träger (Kohle, Öl, Erdgas). Er-steres wird von den Ökosyste-men (grüne Pflanzen, Ozea-ne), die ständig CO

2 absorbie-

ren und aussondern, problem-

Bericht über den Klimawandel an das IK der Vierten InternationaleNachstehend veröffentlichen wir eine überarbeite-te Version des Berichts, den Daniel Tanuro dem Inter-nationalen Komitee (IK) der Vierten Internationale im Februar 2009 gegeben hat. Dieser Bericht wurde an-genommen und soll als Grundlage für die Erstellung einer Resolution „Klima“ für den nächsten Weltkon-gress der Vierten Internationale dienen.Wir würden es begrüßen, wenn dieser Bericht weitere Beiträge auslösen würde – sowohl aus den Reihen der Mitglieder des IK, die an der Diskussion des Textes be-teiligt waren, als auch von Aktiven, die sich im Kampf gegen den Klimawandel engagieren und dabei beson-ders an der Verzahnung ökologischer und sozialer Fra-gen arbeiten. Durch die Veröffentlichung dieser Beiträ-ge hoffen wir, einen kollektiven Denkprozess in Gang zu setzen.

Daniel Tanuro

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dieinternationale

los wiederverwertet (der Koh-lenstoffkreislauf). Das zwei-te hingegen kann nur in be-stimmten Grenzen wieder-verwertet werden. Seit zwei Jahrhunderten bringt die Ver-brennung fossiler Energieträ-ger jetzt schnell und kontinu-ierlich beträchtliche Mengen CO

2 in die Atmosphäre ein

(56,6 % der Emissionen); c) Bestimmte industrielle Pro-zesse, die für die Emission von Treibhausgasen (fluorierte Gase) verantwortlich sind, die in der Natur unbekannt sind.Natürlich kommt Kohlenstoff in der Atmosphäre nur in sehr geringen Konzentrationen vor. Dies ist genau der Grund, wa-rum menschliche Aktivitäten einen derartigen Einfluss auf das Klimasystem haben kön-nen. Derzeit ist die Gesamt-menge an Treibhausgasen, die wir in die Atmosphäre frei-setzen, doppelt so hoch wie die natürliche Absorptionsfä-higkeit. Der Rest akkumuliert sich, was zur Steigerung des Treibhauseffekts und deshalb der Temperatur führt; diese Akkumulation, tendiert dazu,

mit der globalen Erwärmung zu steigen. Der Hauptmecha-nismus der Klimaerwärmung kann also als Sättigung des Kohlenstoffkreislaufs durch die Emission von Gasen aus menschlicher Aktivität zusam-mengefasst werden.

Diese Erwärmung ist nach menschlichen Maßstäben un-umkehrbar. Selbst wenn der Gehalt von Treibhausgasen in der Atmosphäre augenblick-lich stabilisiert würde, wird man die Folgen noch in den nächsten fast tausend Jahren spüren, weil die Temperatur der enormen Massen des Oze-anwassers sehr lange braucht, um sich anzugleichen. Bei Fehlen jeder Stabilisierung wird sich dieser Mechanis-mus unweigerlich beschleu-nigen und zu äußerst gefähr-lichen Phänomenen wie dem Verschwinden der Polkappen oder der Freisetzung enormer Mengen Methan, die im Per-mafrostboden oder sogar auf dem Boden der Ozeane ge-bunden sind, führen.

Es wäre falsch und gefähr-lich, darauf zu setzen, dass die

Vorräte an Kohle, Erdöl und Erdgas rechtzeitig erschöpft wären, um die Menschheit vor diesem massiven Risiko zu schützen. Tatsächlich sind die gesicherten Vorräte fos-siler Energieträger (nament-lich Kohle) mehr als ausrei-chend, um den Klimawandel bis zum Punkt des unkontrol-lierten Durchgehens zu trei-ben. In diesem Fall riskiert die Erde Verhältnisse zu erleben, wie es sie seit 65 Millionen Jahren nicht mehr gegeben und die die Menschheit daher auch noch nie erlebt hat: eine Welt ohne Eis, wo der Mee-resspiegel etwa hundert Meter höher als heute läge.

3. Das Umkippen des Klimas ist nicht der

„Aktivität des Menschen“ im Allgemeinen geschuldet, sondern der Form dieser Ak-tivität seit der kapitalistisch-industriellen Revolution.

Das Umkippen des Klimas ist nicht der „Aktivität des Menschen“ im Allgemeinen geschuldet, wie Medien und IPCC-Bericht sagen, sondern eher der Form dieser Aktivität seit der kapitalistisch-industri-ellen Revolution, insbesondere der Verbrennung fossiler En-ergieträger. Die Ursache die-ser Erscheinung liegt funda-mental in der kapitalistischen und produktivistischen Logik der Akkumulation, deren hi-storischer Schwerpunkt in den imperialistischen Metropolen liegt.

Die ökonomische Entfal-tung der industriellen Revolu-tion wäre in großem Maßstab nicht möglich gewesen ohne Kohle. Es wäre jedoch zu stark vereinfachend, die Schuld am Klimawandel einfach unter-schiedslos dem „Fortschritt“ im Allgemeinen zu geben. Tatsächlich sind rechtzeitig neue Möglichkeiten der Aus-beutung erneuerbarer Ener-gien entstanden, die es erlau-ben, eine vernünftige Ent-wicklung und den Schutz der Umwelt miteinander zu ver-einbaren. Sie sind systema-tisch ausgebremst worden von

der kapitalistischen Akkumu-lationslogik. In dieser Bezie-hung gibt es einen scharfen Kontrast zwischen dem dauer-haften Desinteresse am photo-voltaischen Effekt (1839 ent-deckt) und der sofortigen Be-geisterung für die Kernspal-tung in den kapitalistischen (und nichtkapitalistischen) Ländern. Die Entwicklung der Atomenergienutzung wä-re nicht möglich gewesen oh-ne beträchtliche öffentliche Investitionen, die trotz der schrecklichen Gefahren dieser Technologie gebilligt wurden. Das Potenzial der Sonnene-nergie genoss niemals irgend-welches Interesse.

Im Laufe der kapitali-stischen Entwicklung haben die großen Energiekonzerne ein entscheidendes Gewicht erlangt, das es ihnen erlaubt, das Energiesystem nach ihren Interessen zu gestalten. Die Macht dieser Konzerne be-ruht nicht nur auf der Tatsa-che, dass Energie unverzicht-bar für jede wirtschaftliche Aktivität ist und Energieinve-stitionen langfristigen Cha-rakter haben, sondern auch auf der Tatsache, dass der be-grenzte und aneigenbare Cha-rakter der Lagerstätten fossiler Energieträger die Möglichkeit bietet, Monopolpreise durch-zusetzen und damit einen be-deutenden Superprofit zu si-chern, stabilisiert in Form ei-ner Energierente.

Die Schlüsselrolle des Erdöls als reichlich verfüg-barem und preiswertem ener-giereichen Flüssigtreibstoffs hat es dem mehr und mehr konzentrierten und zentra-lisierten Kapital, das diesen Sektor kontrolliert, insbeson-dere erlaubt, eine strategische Position auf ökonomischer wie auf politischer Ebene zu erreichen. Zusammen mit den Produktionsgesellschaften für Kohle, Elektrizität und den großen, vom Erdöl ab-hängigen Sektoren (Automo-bil-, Schiffs- und Flugzeug-bau sowie Petrochemie) ha-ben die multinationalen Erd-ölkonzerne systematisch die

PKW-Verkehr muss eingedämmt werden

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Nutzung alternativer Energie-ressourcen, -technologien und -verteilung blockiert, bis hin zur Erzwingung von Mehrver-brauch und Begrenzung der Fortschritte bei der Energieef-fizienz auf Ebene von Syste-men und Produkten.

Um die Mechanismen des Klimawandels zu verstehen, muss man die Analyse ver-vollständigen durch Einbezie-hen der allgemeinen Tendenz des Kapitalismus zur Kon-zentration und Zentralisati-on, zur Ersetzung lebendiger durch tote Arbeit, zur Verein-heitlichung der Technik und zur Überproduktion von Mas-senverbrauchsgütern für den Weltmarkt. Nach dem zweiten Weltkrieg führte diese Ten-denz insbesondere zur Fabri-kation von Millionen individu-eller Automobile. Während da-mit die expansive lange Welle der „dreißig goldenen Jah-re“ [1945-1974, d.Üb.] „aus-gelöst“ wurde, trug diese Pro-duktion gleichzeitig zur Ex-plosion der Emissionen bei.

In jüngerer Zeit haben die kapitalistische Globalisierung, der massive Kapitalexport in die Schwellenländer, die Pro-duktion für den Weltmarkt, der Abbau des öffentlichen Transports (insbesondere der Bahn) und die Explosion des Luft- und Seetransports die-sem Phänomen einen neuen Schub gegeben.

4. Auch die Länder des „real existierenden

Sozialismus“ tragen eine schwere Verantwortung: Sie schworen der Weltrevoluti-on ab, äfften den Produkti-vismus nach und kopierten kapitalistische Technolo-gien.

Bei der Analyse des Klima-wandels kann der Verantwor-tung der Länder, die versucht haben, sich für eine Alternati-ve zum Kapitalismus zu enga-gieren, nicht ausgewichen wer-den. Hauptsächlich wegen ih-rer bürokratischen Degenerie-rung kehrten diese Länder zum Produktivismus zurück und trieben die Verschwendung

von natürliche Ressourcen, ins-besondere von Energie, auf ein beispielloses Niveau.

Das zaristische Russland war ein zurückgebliebenes Land. Nach Krieg, Revolution und Bürgerkrieg wäre es nicht möglich gewesen, das Land ohne Rückgriff auf fossile Brennstoffe wieder auf die Fü-ße zu stellen. Dies erklärt zu-mindest zum Teil das völlige Fehlen eines vorausschauen-den Durchdenkens der unver-meidlichen Sackgasse einer auf nichterneuerbaren Quellen basierenden Systems durch die sowjetischen Theoretiker, aber auch andere Elemente müssen wahrscheinlich berücksichti-gt werden (vgl. unten). Doch es erscheint sicher, dass die spätere wirtschaftliche Ent-wicklung der UdSSR es mög-lich gemacht hätte, andere Al-ternativen zu erforschen, aber die stalinistische Diktatur und die Degeneration des „Sozia-lismus in einem Land“ diese Möglichkeit blockierten.

Durch das Aufgeben der Perspektive der Weltrevoluti-on, durch das Setzen auf eine friedliche Koexistenz mit dem Imperialismus in der Hoff-nung, die eigenen Privilegien zu schützen, und durch das Er-würgen jedweden kreativen Denkens entschied die stalini-stische Bürokratie sich, eng den Spuren der technologischen Entwicklung der entwickelten kapitalistischen Länder – vor-wärts getrieben durch die Mili-tärtechnologie – zu folgen und auch das kapitalistische En-ergiesystem zu kopieren, das doch maßgeschneidert für die Bedürfnisse des Kapitals ent-standen war. Dieses Denken erreichte seinen Höhepunkt un-ter Chruschtschow in der Illu-sion vom Einholen und Über-holen der USA. Es führte ins-besondere zur sinnlosen Ent-wicklung der Kernenergie, die in die Katastrophe von Tscher-nobyl führen sollte.

Die auf einem Bonussystem für Materialverbrauch in Ton-nen basierende bürokratische Form materieller Anreize für Manager für die Produkti-

onsergebnisse, bildete einen spezifischen Faktor der Ver-schwendung. Ergebnis war ein Energiesystem, das von noch mehr Verschmutzung und Ver-schwendung geprägt war als das kapitalistische Modell, das als Referenz diente, und sogar noch ineffizienter.

Schließlich führten die Ge-ringschätzung der Bedürf-nisse der Massen, ihr Aus-schluss von politischen Ent-scheidungen und der Wille, sie in einem Zustand gesell-schaftlicher Atomisierung zu halten, zu weitgehend irrati-onalen Entscheidungen in ei-ner ganzen Reihe von Fragen (Stadt- und Landesplanung, Architektur, Stadtplanung, ... ganz zu schweigen von der erzwungenen Kollektivierung der Landwirtschaft). Ergebnis dieser Entscheidungen war es, Verschwendung und Energiei-neffizienz des ganzen Systems noch weiter zu verschärfen, ganz zu schweigen von den ernsten Konsequenzen der Verschmutzung für die öffent-liche Gesundheit.

So kam es, dass die Emis-sionen der UdSSR und der an-deren Länder Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg be-gannen, einen signifikanten Teil der Weltemissionen zu repräsentieren. Der Vergleich der Tonnen Kohlendioxide-missionen pro Kopf und Jahr in diesen Ländern mit den ent-sprechenden Werten in den entwickelten kapitalistischen Ländern zeigt deutlich die spezifische Verantwortung des „real existierenden Sozialis-mus“ bei der Zerstörung des Klimas. Direkt vor dem Fall der Berliner Mauer emittierte beispielsweise die Tschecho-slowakei 20,7 Tonnen CO2

pro Kopf und Jahr und die DDR 22 Tonnen pro Kopf und Jahr. Zum Vergleich: USA, Kanada und Australien – die größten CO

2-Freisetzer in der entwi-

ckelten kapitalistischen Welt – emittierten damals jeweils 18.9, 16.2 und 15 Tonnen CO

2

pro Kopf und Jahr, bei einem bedeutend höheren BIP pro Kopf.

5. Der Klimawandel hat katastrophale Kon-

sequenzen sowohl für die Menschheit als auch für die Ökosysteme.

Der Klimawandel hat ka-tastrophale Konsequenzen so-wohl für die Menschheit als auch für die Ökosysteme. Un-ter dem Strich übersteigen die negativem Auswirkungen die positiven, selbst bei einem be-grenzten Temperaturanstieg. Wir zitieren den IPCC:1

Für jeden Temperaturanstieg zwischen +1 °C und +5 °C würden die Dürren in subtro-pischen Gebieten und in den tropischen semi-ariden Re-gionen zunehmen. Ab einem Temperaturanstieg von 2 °C könnten Millionen von Men-schen mehr jedes Jahr Opfer von Überflutungen der Küsten werden. Ab einem Temperatu-ranstieg von +3° wären etwa 30 % der feuchten Küstenregi-onen verloren.

Bereits jetzt reduziert die globale Erwärmung die Ern-teerträge von Kleinbauern und die Fänge von Kleinfischern, die Lebensmittel für die ört-liche Bevölkerung produzie-ren. Von +1 °C an werden in den Tropen zunehmende Pro-duktivitätsverluste bei eini-gen Getreidearten erwartet und ab +3.5 °C Produktivitäts-verluste für alle Getreide in diesen Breiten. In den gemä-ßigten Regionen (hohe Brei-ten), schätzt man ab +1 °C ei-ne Produktivitätssteigerung für einige Getreidearten, doch ab +3.5 °C einen zunehmend verallgemeinerten Produktivi-tätsrückgang.

Die Gesundheitssysteme sehen sich schon jetzt zu-sätzlichen Belastungen durch Mangelernährung, Durch-fallerkrankungen, Herz- und Atemwegserkrankungen und Infektionskrankheiten, deren Zunahme eine Konsequenz des Klimawandels ist. Eine

1 SPM, IPCC 2007. Hinweis: Tem-peraturänderungen sind angege-ben im Verhältnis zu 1999 und müssen deshalb um 0.7 °C erhöht werden, um die Änderung im Ver-gleich zur vorindustriellen Zeit auszudrücken

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Zunahme von Morbidität und Mortalität aufgrund von Hitze-wellen, Überschwemmungen, und Dürren ist bereits jetzt of-fenkundig wie auch die verän-derte Verbreitung der Überträ-ger einiger Infektionskrank-heiten (Anopheles als Über-träger der Malaria, Zecken als Überträger der Borreliose ...). Darüber hinaus trägt die Ver-brennung fossiler Energieträ-ger zur Luftverschmutzung bei, insbesondere durch Fein-staub, der eine wichtige Ursa-che für den äußerst besorgnis-erregenden Anstieg von Atem-wegserkrankungen wie Asth-ma.

Von +1 °C an wird ge-schätzt, dass für ca. 20–30 % der Tier- und Pflanzenarten ein erhöhtes Risiko des Aus-sterbens besteht. Für einen Anstieg von +5 °C würde das ein signifikantes Artensterben in allen Regionen der Welt be-deuten. Diese Projektionen sind um so alarmierender, als andere Faktoren (wie Land-nutzung) zu einem Artenster-ben beitragen, die größer und schneller ist als das, was die Er-de zur Zeit des Verschwindens der Dinosaurier vor 60 Milli-onen Jahren erlebt hat. Über ihre wichtigen ästhetischen, emotionalen und kulturellen Effekte hinaus bedeutet die-se radikale Verarmung an le-bender Materie vor allem ei-ne ernste Bedrohung. Tatsäch-lich ist biologische Vielfalt Vorbedingung für die Anpas-sungsfähigkeit von Ökosyste-men, insbesondere kultivierter Ökosystemen; beispielsweise durch Auswahl von Pflanzen zur Kultivierung, die dem Kli-mawandel angepasst sind.

Ab etwa +2.5 °C begin-nen 15 bis 40 Prozent der ter-restrischen Ökosysteme mehr CO2

zu emittieren als sie ab-sorbieren können; diese be-deutet, dass die Sättigung des Kohlenstoffkreislaufs wachsen und die globale Erwärmung sich selbst in einem unkontrol-lierbaren Lawineneffekt ver-stärken würde („runaway cli-mate change“ – „Durchgehen des Klimawandels“).

Was die Menschen be-trifft, wächst die Zahl zusätz-licher Opfer von Katastro-phen, Krankheiten und Man-gellagen tendenziell immer schneller mit steigender Tem-peratur. Bei einen Anstieg von +3,25 °C (gegenüber der vor-industriellen Zeit), der mehr oder weniger in der Mitte der IPCC-Projektionen liegt, wür-den von heute bis 2050 etwa 100 bis 150 Millionen Men-schen Opfer von Küstenüber-flutungen, bis zu 600 Milli-onen Opfer von Hungersnö-ten und 300 Millionen Op-fer der Malaria werden, wäh-rend 3.5 Milliarden Menschen mehr von Wassermangel be-troffen wären.

Diese Schätzungen unter-liegen natürlich einer mehr oder weniger großen Unsi-cherheit. Darüber hinaus sind die Folgen abhängig von so-zialen Faktoren, die sie in ge-wissen Grenzen vergrößern oder verkleinern können, vor allem wenn die Erwärmung begrenzt bleibt. Sicher ist je-doch, dass ohne Änderung der Politik das Ausmaß der Be-drohung beträchtlich ist.

6. Die Menschen des Südens zahlen heute

schon einen hohen Preis für den Klimawandel. dessen Hauptopfer sie sind.

Durchschnittlich 326 kli-mabedingte Katastrophen wurden zwischen 2000 und 2004 jährlich verzeichnet, die 262 Millionen Opfer for-derten – fast dreimal mehr als zwischen 1980 und 1984. Mehr als 200 Millionen da-von lebten in Ländern, die nicht Mitglied der OECD sind und die nur einen margi-nalen Teil der Verantwortung für das Anwachsen der Treib-hausgase tragen. In den Jah-ren 2000–2004 war einer von 19 Bewohnern von einer kli-mabedingten Katastrophe in den Entwicklungsländern be-troffen. Die entsprechende Zahl für die OECD-Länder war einer von 1500 (79-mal weniger).2

2 UNDP, World Report on Human

Ohne Durchführung einer angemessenen Politik wird sich diese Klimaungerechtig-keit verschärfen und drama-tische Verhältnisse erreichen. Dies wird vom UN-Entwick-lungsprogramm (UNDP) an-erkannt, weil wegen des Kli-mawandels nicht einmal die „Millennium-Ziele“ umge-setzt werden werden, obwohl selbst sie schon offensichtlich unzureichend sind. Beim Ein-treten einer klimabedingten Katastrophe laufen einige der ärmsten Länder Gefahr, in ei-ne ausweglose Spirale sozialer und wirtschaftlicher Regres-sion einzutreten. Beispiels-weise lebt die große Mehrheit der vom Meeresspiegelan-stieg bedrohten Menschen in China (30 Millionen), Indien (30 Millionen), Bangladesh (15–20 Millionen), Ägypten (10 Millionen) und anderen Deltas – insbesondere an Me-kong und Niger (10 Millio-nen) ... Für jeden Meter Mee-resspiegelanstieg müsste ein Viertel der Bevölkerung Viet-nams umgesiedelt werden.

Die zunehmende Nah-rungsunsicherheit ist ein wei-teres grelles Beispiel für die Klimaungerechtigkeit. Nach verschiedenen Quellen könnte das landwirtschaftliche Pro-duktionspotenzial der entwi-ckelten Länder bis 2080 um 8 Prozent steigen, während das der Entwicklungslän-der um 9 Prozent fallen wür-de. Lateinamerika und Afri-ka wären die am schlimmsten betroffenen Kontinente mit Produktivitätsverlusten von über 12 oder sogar 15 Pro-zent. In einigen Gebieten Schwarzafrikas und Asiens könnte die Produktivität auf nicht bewässerten Landwirt-schaftsflächen in den näch-sten 20 Jahren halbiert wer-den, so der IPCC. Die Fol-gen wären wahrscheinlich ei-ne erneut verstärkte Abhän-gigkeit vom kapitalistischen Agrobusiness, zunehmende Beherrschung durch Groß-grundbesitzer, Verarmung und Hunger bei den Kleinbauern,

Development, 2007/2008.

Landflucht und ökologische Verschlechterung.

7. Das Beispiel des Wir-belsturms Katrina be-

leuchtet auch die Gefahren für die arbeitenden und ar-men Menschen in den entwi-ckelten Ländern.

Im September 2005 zeigte der Wirbelsturm Katrina, der über New Orleans herein-brach, dass die ärmsten Teile der arbeitenden Klasse in den entwickelten Ländern kaum besser auf die Folgen des Kli-mawandels vorbereitet sind, als die Massen der vom Impe-rialismus beherrschten Län-der: Sie leben in Gebieten, die am stärksten von Kata-strophen bedroht sind; sie ha-ben keine Mittel zum Fliehen (oder schrecken davor zurück auf Angst, nicht zurückkehren zu können und alles zu verlie-ren); ihre Habseligkeiten sind nicht oder nicht ausreichend versichert.

Katrina führte zum Tod von 1500 Menschen und machte 780 000 obdachlos. 750 000 von ihnen waren ohne jeden Versicherungsschutz. 28 Pro-zent der Bevölkerung lag un-ter der Armutsgrenze (US-Durchschnitt: 12 Prozent), und 35 % war afroamerikanischer Herkunft (US-Durchschnitt: 25 Prozent). Die Stadtvier-tel, in denen sie lebten, waren die am stärksten betroffenen: 75 Prozent der Bevölkerung in den überfluteten Bezirken waren Schwarze.

Da die Behörden keine Evakuierung organisierten, saßen 138 000 der 480 000 Bewohnerinnen und Bewoh-ner der Stadt in der Falle. Oh-ne Trinkwasser, Strom und Telefon warteten sie mehr als fünf Tage, bis Hilfe kam. Die übergroße Mehrheit wa-ren schlecht verdienende Ar-beiterinnen und Arbeiter, Ar-beitslose, arme Kinder und mittellose Alte. Diese Bilanz ist untrennbar verbunden mit der rassistischen und imperi-alistischen Klassenpolitik der herrschenden Klasse der USA im Allgemeinen und der Re-

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gierung Bush im Besonde-ren. Seit 2003 hatte der Bun-desstaat zur Finanzierung des „Kriegs gegen den Terro-rismus“ dem für den Unter-halt der Deiche zuständigen Amt systematisch die Geld-er gekürzt; im Jahr 2005 hat-te dieses Amt kaum ein Sech-stel der beantragten Mittel be-kommen. Diese arrogante und brutale Politik wurde nach der Katastrophe fortgesetzt, indem die Wiederaufbaustra-tegie darauf abzielte, die Ar-men aus der Stadt zu vertrei-ben und die sozialen Errun-genschaften der Arbeitenden anzugreifen (insbesondere durch Streichen des Mindest-lohnes).

Diese Bilanz ist ebenfalls untrennbar verbunden mit anderen sozialen Ungleich-heiten, die die kapitalistische Gesellschaft charakterisieren, vor allem die ungleiche Be-handlung von Frauen. Es ist kein Zufall, dass afroamerika-nische Frauen (und ihre Kin-der) den höchsten Preis für die Katastrophe zahlten. Einer-seits stehen Frauen den Kli-magefahren gegenüber in der ersten Reihe, weil sie 80 Pro-zent der 1,3 Milliarden Men-schen unterhalb der Armuts-grenze ausmachen. Auf der anderen Seite sind Frauen we-gen ihrer Unterdrückung in spezifischer Weise betroffen. In den am geringsten entwi-ckelten Ländern bedeuten Kli-maänderungen beispielswei-se mehr Aufwand beim Holz-sammeln und weniger Ein-kommen aus landwirtschaft-licher Tätigkeit, zwei haupt-sächlich von Frauen erledigte Tätigkeiten. In den höher ent-wickelten Ländern treffen pre-käre Beschäftigung, Teilzeit- und Niedriglohnarbeit vor allem die Frauen, mit dem Er-gebnis, dass sie weniger Mög-lichkeiten haben, sich gegen die Folgen des Klimawandels zu schützen. In beiden Fällen sind alleinerziehende Frauen noch gravierender von den Folgen betroffen, darunter vor allem junge Frauen.

II. PHySIKALISCHE UND MENSCHLICHE RAH-MENBEDINGUNGEN DER KLIMARETTUNG

8. Es besteht höchste Dringlichkeit. Es

scheint, dass nicht einmal ei-ne schnelle und radikale Re-duzierung der Treibhausga-semissionen es uns ermög-lichen würde, die Gefah-renschwelle nicht zu über-schreiten.

Dem IPCC zufolge würde das Beibehalten der jetzigen Emissionstrends von heute bis zum Jahr 2100 zu einem An-stieg der durchschnittlichen Oberflächentemperatur zwi-schen 1,1 und 6,4 °C gegen-über 1990 führen. Die Streu-breite der Schätzungen erklärt sich aus der doppelten Unsi-cherheit die einerseits aus den Klimamodellen und anderer-seits aus den Szenarien der menschlichen Entwicklung herrührt.

Zwischen 1990 und 2006 lag der beobachtete Tem-peraturanstieg eher im obe-ren Bereich der verschie-denen Projektionen. Auf die-ser empirischen Basis liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Menschheit bei unverän-

derter Politik wahrscheinlich schon auf kurze Sicht einen Temperaturanstieg von minde-stens +4,5 °C gegenüber dem Ende des 18. Jahrhunderts er-leben wird.

Ein solcher Anstieg würde einer Änderung der Existenz-bedingungen entsprechen, die mindestens so bedeutend ist wie der Abstand der gegen-wärtigen Epoche von der letz-ten Eiszeit vor 20 000 Jahren. Aber statt im Laufe von Jahr-tausenden könnte diese Än-derung innerhalb von Jahr-hunderten oder noch schnel-ler stattfinden. Diese Schnel-ligkeit verringert die Möglich-keiten zur Anpassung erheb-lich, sowohl für die mensch-lichen Gesellschaften als auch für die Ökosysteme.

1996, hatte die EU einen Maximalanstieg von 2 °C als Ziel ihrer Klimapolitik festge-legt. Die Entscheidung war auf Basis der damaligen Schät-zungen zur Gefahrenschwel-le getroffen worden. Seit da-mals sind die Schätzungen nach unten korrigiert wor-den; heute sehen Experten die Schwelle eher bei 1,7 °C. Tat-sächlich sind die Risiken be-reits für einen solchen Anstieg hoch, insbesondere auf drei

Gebieten: Abnahme der bio-logische Vielfalt, Anstieg des Meeresspiegels und die Land-wirtschaftsproduktivität in tropischen und subtropischen Ländern.

Die mittlere Erdoberflä-chentemperatur hat sich seit der vorindustriellen Zeit um 0,7 °C erhöht, und eine wei-tere Erwärmung um 0,6 °C ist wahrscheinlich bereits vorpro-grammiert. Entsprechend ist der Manövrierspielraum zur Rettung des Klimas extrem klein. Die Dringlichkeit der Situation muss als maximal betrachtet werden.

Treibhausgase haben eine mehr oder weniger lange Le-benszeit in der Atmosphäre (etwa 150 Jahre für CO2

). Da-raus ergibt sich, dass eine Sta-bilisierung der Temperatur ei-ne Reduzierung der Emissi-onen voraussetzt, und zwar umso stärker und schneller, je niedriger das Stabilisierungs-ziel ist.

Das radikalste vom IP-CC im Rahmen seines vierten Sachstandsberichts (2007) ge-testete Szenario besteht aus ei-ner Stabilisierung der CO

2-

Konzentration in der Atmo-sphäre zwischen 350 und 400 Teilen pro Million (ppm), ent-

Explosion des Luftverkehrs

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sprechend 445-490 ppm CO2-

Äquiv.3 Dieses Szenario er-fordert: a) Reduzierung der Gesamtemissionen um 50 bis 85 Prozent zwischen heu-te und 2050; und b) dass die Menge emittierter Treibhaus-gase weltweit spätestens 2015 zu fallen beginnt.

Die entwickelten Län-der sind für mehr als 70 Pro-zent des Klimawandels ver-antwortlich, weil sie fossile Energieträger seit über 200 Jahren verbrennen. Die An-strengungen der entwickelten Länder und der vom Impe-rialismus beherrschten Län-der müssen daher im Verhält-nis zu ihrer historischen Ver-antwortung verifiziert werden. Die erstgenannten sollten da-her ihre Emissionen von heu-te bis 2050 um 80 bis 95 Pro-zent absenken, beginnend mit einer Reduzierung um 25 bis 40 Prozent zwischen heute und 2020. Für die letztgenannten müssten sich die Emissionen zwischen heute und 2020 ge-genüber dem Referenzszena-rio „substanziell ändern“, so das IPCC (2050 für Afrika).4

CO2 ist unvermeidliches

Produkt jeder Art von Ver-brennung, und das Verfeu-ern fossiler Brennstoffe lie-fert 80 Prozent der Energie auf Weltebene. So stellen die oben genannten Ziele eine ko-lossale Herausforderung dar. Sie bedeuten nicht weniger als eine quasi totale Aufgabe der Nutzung fossiler Brennstoffe innerhalb eines Zeitraums von weniger als einem Jahrhun-dert, was einen tiefgreifenden sozioökonomischen Umbau erfordert.

Selbst wenn die oben ge-nannten Ziele erreicht wür-den, würde der Temperaturan-stieg bei etwas über 2 °C lie-gen: dem IPCC zufolge wür-de sich die Zahl zwischen 2 und 2.4 °C einpendeln (über etwa ein Jahrtausend). Mit an-

3 „CO2 Äquivalente“ berücksichti-

gen alle Treibhausgase, als wären sie alle CO

2.

4 Eine „substanzielle Änderung“ entspricht einer Abweichung von 15 bis 30 Prozent gegenüber dem Referenzszenario.

deren Worten: Es scheint nicht mehr möglich zu sein, die Ge-fahrenschwelle nicht zu über-schreiten. Es gibt nur eine plausible Schlussfolgerung: Die einschneidendsten Re-duktionsziele sind notwendig, nicht als vage Umschreibung eines soweit möglich anzu-strebenden Ziels, sondern als unumstößliches „Muss“.

9. Die einzuhaltenden Ziele sind umso zwin-

gender, als die IPCC-Re-ports einige Parameter des Klimawandels unterschät-zen.

Um das Ausmaß der Auf-gaben vollständig bewerten zu können, muss man sich daran erinnern, das die Schlussfol-gerungen des IPCC auf kon-servativen Hypothesen beru-hen; die Vorsicht sollte uns al-so raten, die pessimistischsten Projektionen zur Basis der zu ergreifenden Schritte zu ma-chen und sie als absolutes Mi-nimum zu betrachten.

Zwei Punkte sind es beson-ders, die diese Vorsicht gera-ten erscheinen lassen:a) Der IPCC unterschätzt nichtlineare Phänomene. Ei-ne der Hauptursachen für die Unsicherheit der Projektionen liegt in der großen Komple-xität der so genannten nicht-linearen Phänomene wie dem möglichen Verschwinden der Eiskappen Grönlands und der Antarktis. Anders als das Ab-schmelzen des Eises, das eine kontinuierlicher Prozess ist, schreitet das Verschwinden der Eiskappen in Sprüngen voran und konnte bisher noch nicht in einem Modell erfasst werden. Dies wird zweifellos zu erklären helfen, warum der beobachtete Anstieg des Mee-resspiegels zwischen 1990 und 2006 mit 3 mm pro Jahr um 60 Prozent über den Projekti-onen der Modelle lag. Die Ge-samtmenge des in Grönland und der Antarktis akkumu-lierten Eises entspricht einem Meeresspiegelanstieg von et-wa 6 beziehungsweise 60 Me-tern. Einigen Spezialisten zu-folge ist die atmosphärische

CO2-Konzentration dabei, die

qualitative Schwelle, die der Bildung der antarktischen Eis-kappe vor 35 Millionen Jah-ren entspricht, – in umgekehr-ter Richtung – zu überschrei-ten. Ein teilweiser plötzlicher Kollaps ist entsprechend kurz- oder mittelfristig möglich. Er könnte zu einem Meeresspie-gelanstieg von einigen Me-tern innerhalb von weniger als einem Jahrhundert füh-ren. Dies ist kurz- und mittel-fristig eine der ernstesten Be-drohungen durch den Klima-wandel.b) Der IPCC überschätzt die spontane Abnahme der Koh-lendioxidintensität der Wirt-schaft. Eine Einheit des BIP zu produzieren erfordert ei-ne gewisse Menge an fos-siler Energie, also auch ein gewisses Volumen an Emis-sionen. Man beobachtet, dass Energie- und Kohlendioxidin-tensität der Wirtschaft seit der industriellen Revolution mehr oder weniger regelmäßig zu-rückgegangen sind. Wenn sich diese Tendenz fortsetzt, wa-ren die Anstrengungen zur Verringerung der Emissionen um ein gegebenes Verhältnis selbstverständlich kleiner, als wenn die Intensität stabil blei-ben oder anwachsen würde. Die Arbeiten des IPCC basie-ren auf dieser Hypothese. Di-es widerspricht jedoch der in den letzten Jahren beobachte-ten Realität: Seit 2000 sehen wir einen Anstieg im Verhält-nis zu den Projektionen. Di-es liegt zum Teil an massiven Kapitalinvestitionen in China und Indien, die in diesen Län-dern zum Bau vieler kohlebe-feuerter Elektrizitätswerke ge-führt haben, die billigen Strom – und billige Produkte für die westlichen Märkte – produ-zieren. Einigen Quellen zufol-ge gehen 17 Prozent des An-stiegs der weltweiten Emis-sionen seit 2000 auf den An-stieg der Kohlendioxidintensi-tät der Wirtschaft zurück, mit anderen Worten auf die Be-nutzung stärker verschmut-zender Technologien.

10. Die Verringerung der Emissionen an

der Quelle ist die einzige strukturelle Strategie. Er-ste Priorität hat die Redu-zierung der Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energieträger.

Theoretisch kann die Min-derung des CO

2-Gehalts der

Atmosphäre auf drei Wegen erreicht werden: Schutz und Entwicklung von Wäldern („Kohlenstoffsenken“), Ab-scheidung und Einlagerung von CO

2 in geologischen For-

mationen (Sequestration), Re-duzierung von Emissionen an der Quelle. Nur die Reduzie-rung der Emissionen bietet ei-ne strukturelle Lösung.

Da Entwaldung die zweite Ursache von Treibhausgase-missionen ist. lässt sich durch den Schutz bestehender Wäl-der erreichen, dass der Klima-wandel wenigstens nicht noch verschärft wird. Aber das ist keine strukturelle Lösung: a) weil ausgewachsene Wäl-der ebenso viel Kohlenstoff (durch Atmung) emittieren wie sie (durch Photosynthe-se) absorbieren; b) weil die globale Erwärmung, wie wir gesehen haben, ab einem ge-wissen Punkt dazu führt, dass die Wälder mehr emittieren als sie absorbieren.

Wachsende Bäume ab-sorbieren mehr Kohlenstoff als sie emittieren. Unter be-stimmten sozialen und öko-logischen Bedingungen kann das Anpflanzen von Bäumen ein Mittel im Kampf gegen den Klimawandel sein. Aber das ist auch keine strukturelle Lösung; denn: a) ist die Aus-weitung von Wäldern durch die verfügbaren Flächen be-grenzt, und b) wird der ge-speicherte Kohlenstoff wie-der freigesetzt, wenn die Bäu-me gefällt werden (oder eini-ge Zeit später, je nach Nut-zung des Holzes).

Die „Kohlenstoffabschei-dung und -einlagerung“ (cap-ture and sequestration of car-bon – CSC) besteht darin, dass CO2

aus dem Rauch zu isolieren, wenn es die ver-

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schmutzenden Anlagen ver-lässt, um es anschließend in luftdichte geologische Reser-voirs in großer Tiefe einzu-pressen. Die möglichen La-gerstätten scheinen eine er-hebliche Kapazität zu haben. Die Begeisterung über die Technologien erklärt sich aus der Tatsache, dass sie es er-möglichen, die Kohlereserven zu erschließen, die weit grö-ßer als die Vorräte an Öl und Gas sind. Es ist jedoch klar, dass auch CSC keine struktu-relle Lösung ist: Die Reser-voirs haben notwendigerwei-se eine begrenzte Kapazität, und nur das von Großunter-nehmen emittierte CO

2 kann

eingefangen werden.Die einzige strukturelle

Antwort auf das Problem der Sättigung des Kohlenstoff-kreislaufs ist es, die Emissi-onen der Treibhausgase an der Quelle zu reduzieren. Minderungsstrategien kön-nen für alle betroffenen Gase verfolgt werden, aber die ra-dikale Minderung der CO

2-

Emissionen aus der Verbren-nung fossiler Energieträger bildet die strategische Ach-se zur Rettung des Klimas: a) weil die Verbrennung fossiler Energieträger die wichtigste Ursache der globalen Erwär-mung ist; b) weil CO

2 das bei

weitem wichtigste Treibhaus-gas ist; und c) weil seine Le-bensdauer in der Atmosphäre relativ lang ist.

Zusätzlich zu diesen tech-nischen Argumenten sollten wir betonen, dass wir aus so-zialen Gesichtspunkten die Minderung fossiler CO

2-

Emissionen aus dem Auto-mobil- und Luftverkehr einer-seits und die Minderung von Methan-Emissionen aus dem Reisanbau oder von nicht-fos-silen CO

2-Emissionen aus der

Brandrodungslandwirtschaft in Wäldern lebender indigener Völker andererseits nicht auf eine Stufe stellen können.

11. Die absolute Sen-kung des Energie-

verbrauchs in den entwi-ckelten Ländern ist die Vor-

bedingung für den Über-gang zu erneuerbaren En-ergien und die Rettung des Klimas.

Die radikale Minderung fossiler CO

2-Emissionen er-

fordert, an zwei Hebeln gleich-zeitig anzusetzen: a) fossile Energien durch erneuerbare Energien zu ersetzen; b) den Energieverbrauch zu senken.

Das technische Potenzi-al der Sonnenenergie in ihren verschiedenen Formen (Wind, solarthermisch [Kollektoren], solarelektrisch [Photovoltaik], Wasser, Gezeiten) entspricht etwa dem 7- bis 10-fachen des globalen Energieverbrauchs.5 Es könnte in den nächsten Jahrzehnten dank wissen-schaftlicher und technischer Fortschritte noch beträchtlich zunehmen. Eine völlig koh-lendioxidfreie Weltwirtschaft ohne Rückgriff auf Kernener-gie ist somit keine Utopie.

Doch dieses enorme tech-nische Potenzial erlaubt trotz-dem kein Szenario, in dem er-neuerbare Quellen die fossi-len Quellen einfach ersetzen würden, während ansonsten

5 Wir sollten auch die geothermi-sche Energie (Erwärme) als ein-zige nicht-solarer Energiequelle hinzufügen, aber ihr Potenzial ist nur marginal

alles beim alten bleibt. Denn a) ist Solarenergie verteilt; b) kommt sie in verschiedener, mehr oder weniger nutzbarer Gestalt und Form und c) ste-hen die meisten dieser For-men nur zeitweise zur Verfü-gung, so dass ihre Nutzung die Entwicklung von Speichersy-stemen und die Nutzung neu-er Übertragungseinrichtungen und ad-hoc-Infrastrukturen er-fordert.

Das bedeutet, dass der Übergang zu erneuerbaren En-ergien die Entwicklung eines neuen internationalen Ener-giesystems erfordert – dezen-tralisiert, diversifiziert, öko-nomisch und auf Effizienzma-ximierung ausgerichtet –, das ausschließlich auf der Aus-nutzung des Sonnenenergie-potenzials basiert. Dies ist ein gigantisches Unterfangen, das bedeutende Investitionen er-fordert; deshalb benötigt es Energie, die, zumindest in den ersten Phasen des Übergangs, hauptsächlich nur fossilen Ur-sprungs sein kann – also ei-ner Quelle zusätzlicher Emis-sionen – oder ... aus Kernener-gie stammen könnte – also ei-ner Quelle inakzeptabler öko-logischer, sozialer und poli-tischer Gefahren (siehe un-ten).

Wie wir gesehen haben sollten, um einen Temperatu-ranstieg von 2 °C nicht zu sehr zu überschreiten, die weltwei-ten Emissionen spätestens ab 2015 zu fallen beginnen. Da-raus ergibt sich, dass die durch den Umbau verursachten zu-sätzlichen Emissionen unbe-dingt anderswo kompensiert werden müssen. Konkret und mit anderen Worten: Die Kli-masituation ist so ernst und so dringend, dass der Über-gang zu erneuerbaren Ener-gien nach unserem heutigen Wissensstand nur dann einen Ausweg eröffnet, wenn er von einer drastischen Minderung des Energieverbrauchs in den am meisten „energieverschlin-genden“ Ländern begleitet wird. Solch eine Minderung setzt umgekehrt auch eine – nicht proportionale, aber den-noch erhebliche – Minderung des stofflichen Austauschs, d.h. von Produktion und Ma-terialverbrauch.

Der Kampf gegen den Kli-mawandel bestätigt daher ein-deutig einmal mehr die allge-meinere ökologische Sicht, dass der sich immer mehr be-schleunigende Rhythmus, in dem die kapitalistische Öko-nomie der natürlichen Um-welt Ressourcen entnimmt,

BUND macht Klimakiller CO2 sichtbar

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ohne die Zeit für ihre Erneue-rung zu berücksichtigen, nicht nachhaltig ist.

12. Die Minderung des Energieverbrauchs

in den entwickelten Län-dern muss drastisch sein. Sie kann nicht nur mit dem Erhalt des Erreichten, son-dern auch mit sozialem Fort-schritt einher gehen.

Die Minderung des En-ergieverbrauchs betrifft vor allem die entwickelten kapi-talistischen Länder, wo das Emissionsminderungspoten-zial durch Energieeinsparung beträchtlich ist. Unterschiede zwischen den Ländern bezeu-gen dies: Ein Bewohner der USA verbraucht beispielswei-se das Äquivalent von 8 Ton-nen Öl jährlich, ein Bewohner der Schweiz 4 Tonnen, jeweils bei vergleichbarem Lebens-standard.

Die derzeitigen Schät-zungen der Minderungspoten-ziale sind hoch, aber immer noch deutlich unterschätzt. Unberücksichtigt bleibt der Großteil der strukturellen Me-chanismen, die die kapitali-stische Gesellschaft zu einer Verschwendungsmaschine für Energie und Ressourcen ma-chen: Tendenz zur Überpro-duktion und Überkonsumti-on, nutzlose oder schädliche Produktion (Werbeindustrie, Waffenproduktion usw.), ge-trennte Produktion von Wär-me und Elektrizität, niedrige Energieeffizienz von Geräten aller Art, massive Produkti-onsverlagerung in die Schwel-lenländer, die für die Mär-kte der entwickelten kapitali-stischen Länder produzieren, Aufblähung des Verkehrs we-gen der Just-in-time-Produkti-on für den Weltmarkt und die Flexibilisierung der Arbeit, be-schleunigtes Veralten von Pro-dukten, Fehlentwicklungen durch kriegsbedingte Zerstö-rung/Wiederaufbau, absurde kapitalistische Landnutzung (Expansion der Vororte und Industriegebiete usw.), ganz zu schweigen von der wahn-witzigen Gier der Reichen

nach materiellem Besitz und die Kompensation des sozi-alen Elends der Massen durch zwanghaften Konsum.

Den Energiebedarf der EU und Japans durch zwei und den der USA durch vier zu teilen, ist ein technisch realisierbares Ziel. Im Hinblick auf konkrete Mechanismen der Energiever-schwendung können wir zu-mindest sagen, dass dieses Ziel mit dem Erhalt sozi-aler Errungenschaften verein-bar ist: Es kann sogar gleich-bedeutend mit beträchtlichem sozialen Fortschritt sein. Dies ist eine Frage politischer Ent-scheidungen.

13. Es ist nicht länger möglich, das Klima

ohne Beteiligung des Südens zu retten. Das Recht der Völ-ker des Südens auf Entwick-lung kann nur durch Rück-griff auf saubere Technolo-gien konkretisiert werden.

Selbst die drastischsten Anstrengungen auf Seiten der entwickelten Länder könnten nicht mehr ausreichen, um das Klima zu retten. Schon nach einem Zeitraum von nur weni-gen Jahren wird ein gewisser Beitrag der vom Imperialis-mus beherrschten Länder, vor allem der großen Schwellen-länder, unverzichtbar sein. Die Zahlen des IPCC schrei-ben auf Basis differenzierter historischer Verantwortlich-keiten fest, dass diese Län-der ihre Emissionen bis 2020 (2050 für Afrika). „gegenüber dem Referenzszenario sub-stanziell ändern“ müssen Ei-ne Änderung der Emissionen von 15 bis 30 Prozent im Ver-hältnis zu einem „business as usual“-Szenario könnte durch Schutz von Wäldern gemein-sam mit einer Steigerung der Energieeffizienz erreicht wer-den. Aber unabhängig von so-zialen Strategien erfordert die Konkretisierung des Grund-rechts auf soziale und öko-nomische Entwicklung einen massiven Transfer von sau-beren Technologien, so dass diese Länder das auf fossi-len Brennstoffen basierende

Wirtschaftsmodell übersprin-gen können.

14. Es reicht nicht, ge-gen den Klimawan-

del zu kämpfen, man muss sich auch an den jetzt unver-meidlichen Teil des Phäno-mens anzupassen. Dies ist ei-ne bedeutende Herausforde-rung für die Menschen des Südens.

Selbst eine schnelle und ra-dikale Reduzierung der Treib-hausgasemissionen würde es uns nicht mehr ermöglichen, den Klimawandel zu verhin-dern, dessen Auswirkungen bereits zu spüren sind. Jegliche Kampfstrategie muss daher so-wohl die Eingrenzung (Minde-rung) des Phänomens als auch die Anpassung an den nunmehr unvermeidlichen Teil der Aus-wirkungen ansprechen und auf Weltebene entsprechend han-deln, entsprechend der histo-rischen Verantwortlichkeiten der Länder und deren Mög-lichkeiten. Generell sind Min-derung und Anpassung so mit-einander verknüpft, dass je stärker und schneller die erst-genannte, desto begrenzter die zweite sein muss, und umge-kehrt. Bei einem Tempera-turanstieg von mehr als 2 °C verglichen mit vorindustriel-len Zeiten wird die Anpassung immer problematischer und teurer. Ab einem bestimmten Niveau wird sie ganz unmög-lich werden – außer zum Preis menschlicher Katastrophen mit Hunderten Millionen von Opfern und ökologischen Ka-tastrophen größten Ausmaßes.

Anpassung ist nicht be-grenzt auf die Errichtung oder Verstärkung von Infrastruktur zum Schutz der Bevölkerungen (Dämme gegen Überschwem-mungen oder einen Anstieg des Wasserspiegels, Sturmhä-fen, Entwässerungssysteme usw.) auf der einen und einen Ausbau der Mittel, die bei ei-ner möglichen Katastrophe mobilisiert werden können, auf der anderen Seite. Der Kli-mawandel betrifft alle Sphä-ren des sozialen Lebens und alle Ökosysteme, und er wird

sie in Zukunft wahrscheinlich noch stärker beeinflussen. An-passungsmaßnahmen müssen auf sehr vielen Gebieten er-griffen werden: Verwaltung der Wasserressourcen, Stadt- und Landesplanung, Land-wirtschaft, Forstwirtschaft, öf-fentliche Gesundheit, Umwelt-politik (insbesondere Schutz von Feuchtgebieten und Man-groven), Ernährungsgewohn-heiten, Risikoversicherungen usw.

Anpassung stellt eine grö-ßere Aufgabe für die vom Im-perialismus beherrschten Län-der dar, wo die Auswirkungen des Klimawandels bereits am deutlichsten spürbar sind. Die entwickelten Länder investie-ren bei sich massiv in die An-passung. Da die entwickelten Länder hauptverantwortlich für den Klimawandel sind, ist es an ihnen, die Kosten für die Anpassung in den weniger ent-wickelten Ländern zu bezah-len. Nach einer Schätzung des UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) erfordert dies 2015 einen jährlichen Nord-Süd-Fi-nanztransfer von 86 Milliar-den Dollar.

Jenseits aller technischen Aspekte ist die wichtigste An-passungsmaßnahme in Wirk-lichkeit die Beseitigung der Armut und die drastische Ver-ringerung sozialer Ungleich-heit. Tatsächlich steht die Fä-higkeit zur Anpassung in di-rektem Verhältnis zu Ressour-cen, sozialen Rechten und der Effektivität der sozialen Siche-rungssysteme. Anpassung bil-det eine besonders wichtige Aufgabe für die Frauen in den ärmsten Ländern und als Er-gebnis für die Gesellschaft ins-gesamt, da Frauenarbeit zu et-wa 80 % die Nahrungsmittel-produktion sichert.

15. Die Bevölkerungs-entwicklung ist ein

Parameter der Klimaent-wicklung aber keine Ursa-che des Klimawandels. Die Fortsetzung des demogra-phischen Wandels wäre wün-schenswert, aber keine Poli-tik der Bevölkerungskontrol-

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le kann die Aufgabe des Kli-maschutzes lösen.

Die Entwicklung der Welt-bevölkerung beeinflusst of-fensichtlich die Szenarien zur Klimastabilisierung: Für eine Bevölkerung von sechs Mil-liarden bedeutet eine Halbie-rung der Emissionen, dass je-der Mensch 0.5 Tonnen Koh-lenstoff pro Jahr emittieren kann; bei einer Bevölkerung von neun Milliarden müssten bei ansonsten gleichen Bedin-gungen die Emissionen auf ein Drittel fallen, was die Kohlen-stoffquote auf 0.25 Tonnen pro Kopf und Jahr bringen würde. Aber solch eine zusammenfas-sende Darstellung verschlei-ert die Tatsache, dass ein Land wie beispielsweise die USA mit 5 Prozent der Weltbevölke-rung 25 Prozent der Energie-ressourcen verbraucht und für ein Viertel der Treibhausgase-missionen verantwortlich ist.

Die entwickelten Länder emittieren zwischen acht und zwanzig Mal mehr CO

2 pro

Kopf und Jahr als die [vom Imperialismus] beherrschten Länder. Wenn wir die Perio-de 1950–1990, betrachten, se-hen wir, dass a) der Bevölke-rungszuwachs in den soge-nannten „Entwicklungslän-dern“ definitiv weniger zum Anstieg der CO

2-Emissionen

beigetragen hat als der Kon-sumtionszuwachs in den ent-wickelten Ländern und sogar als Bevölkerungszuwachs in diesen Ländern; b) wenn die Länder des Südens ihre Bevöl-kerungszahl auf dem Niveau von 1950 eingefroren, aber gleichzeitig das Niveau der CO

2-Emissionen pro Kopf des

Nordens übernommen hätten, die globale Erwärmung we-sentlich ernster als heute wäre; c) wenn andererseits die Pro-Kopf-Emissionen der Länder des Nordens denen der Länder des Südens gleich wären, die globale Erwärmung definitiv weniger ernst als heute wäre, auch bei Fehlen jeglicher Be-völkerungskontrolle.

Daher kann man die Demo-graphie, insbesondere die der Entwicklungsländer, nicht als

die Hauptursache, nicht ein-mal als bedeutendere Ursache des Klimawandels bezeichnen. Der Bevölkerungszuwachs, zunächst in den entwickelten Ländern, später in den vom Imperialismus beherrschten Ländern, ist selbst ein Produkt der Produktions- und Konsum-tionsweise, die von der indus-triellen Revolution geschaffen wurde. Relative Überbevölke-rung ist ein wichtiges Kenn-zeichen des Bevölkerungsge-setzes des Kapitalismus, das ständig eine „Reservearmee“ benötigt. Nach den Berichten des IPCC ist klar, dass dieses System droht, eine Klimaka-tastrophe auszulösen. Deshalb sollte es in Frage gestellt wer-den, dringend. Dies ist der ein-zige Weg, um gegen die globa-le Erwärmung vorzugehen – einerseits in der kurzen Zeit-spanne, die uns bleibt, und andererseits bei Berücksich-tigung der Menschenrechte, insbesondere der Rechte von Frauen.

Der demographische Wan-del findet in den Entwicklungs-ländern bereits größtenteils statt, und er schreitet schneller voran als erwartet. Aus einer Reihe von ökologischen Grün-den ist es wünschenswert, dass sich dieser Wandel fortsetzt. Dies setzt sozialen Fortschritt und die Entwicklung sozialer Sicherungssysteme ebenso vo-raus wie Informationen und er-weiterte Rechte für die Frauen zur Kontrolle ihrer eigenen Fruchtbarkeit (einschließlich des Rechts auf Abtreibung un-ter guten Bedingungen). Das ist zwangsweise eine langfri-stige Politik. Ohne Rückgriff auf eine beispiellose Barbarei kann keine Politik der Bevöl-kerungskontrolle die dringende Aufgabe des Klimaschutzes lö-sen.

III. DIE KAPITALISTISCHE ANTWORT

16. Durch Aktionen der kapitalistischen

Lobbys haben wir 30 Jah-re im Kampf für das Klima verloren.

Die ersten wissenschaft-lichen Warnungen hinsicht-lich der Gefahr einer globa-len Klimaerwärmung gab es schon 1957. Im Jahre 1958 wurde das Observatorium von Mauna Loa (Hawai) gegrün-det und seit seiner Inbetrieb-nahme hat es die zunehmende Akkumulation von Treibhaus-gasen in der Atmosphäre be-stätigt. Wir mussten aber mehr als 20 Jahre warten, bis die Vereinten Nationen die erste Weltkonferenz über das Klima (Genf 1979) einberiefen und über 30 Jahre, bis der Zwi-schenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen (Intergo-vernmental Panel on Climate Change – IPCC) eingerichtet wurde. Zwei Jahre nach seiner Gründung hat der IPCC seinen ersten Sachstandsbericht an-genommen (Genf 1990), des-sen Schlussfolgerungen in den drei späteren Berichten immer wieder bestätigt worden sind.

Ein erster symbolischer Schritt in Richtung der vom IPCC geforderten internatio-nal abgestimmten Handlungen wurde anlässlich des Erdgip-fels in Rio de Janeiro (1992) unternommen, als 154 Län-der die „Klimarahmenkonven-tion der Vereinten Nationen“ (UNFCCC) unterschrieben. Die Konvention übernahm das wichtige Prinzip der „gemein-samen, aber differenzierten Verantwortung“ und setzte als „Endziel“, die „Konzentration von Treibhausgasen in der At-mosphäre auf einem Niveau zu stabilisieren, das jede gefähr-liche anthropogene Störung des Klimasystems verhin-dert“. Doch das Niveau wurde nicht konkret angegeben und das Dokument begnügte sich mit dem Gelübde, die Staaten würden freiwillig ihre Emis-sionen senken, so dass sie im Jahr 2000 wieder das Niveau von 1990 erreichten. Wir mus-sten dann bis 1997 warten – 40 Jahren nach den ersten Warnungen von Wissenschaft-lern – bis mit Kyoto der erste verpflichtende Klimavertrag abgeschlossen wurde.

Diese extreme Langsamkeit

bei der Bewusstwerdung der Gefahr konnte man anfänglich mit Unsicherheit und den sehr unterschiedlichen Wirkungen des Klimawandels erklären. Aber später spielten die ka-pitalistischen Lobbys eine Schlüsselrolle. Praktisch seit den 1980er Jahren haben Ver-treter der am stärksten mit fos-silen Energieträgern verbun-denen Sektoren des US Kapi-tals Lobbystrukturen gegrün-det und großzügig finanziert, die skeptische Wissenschaft-ler, Journalisten und politische Vertreter buchstäblich kauf-ten, um zu verhindern, dass der wachsende Konsens unter den Klimatologen auf die Ent-scheidungsträger und die öf-fentliche Meinung übergriff.

Zeitweilig bemühte man „die Wissenschaft“, zeitweilig stellte man sie in Frage, zeit-weilig betonte man die Op-fer, die schon durch das Kyo-to-Protokoll verlangt würden, was man zeitweilig wieder als bedeutungslos hinstellte – die Lobbys taten alles, was sie konnten, um die Realität des Klimawandels systematisch auf den Status einer zweifel-haften und umstrittenen Hy-pothese, ja sogar als religiös-apokalyptische Spinnerei oder als internationale Verschwö-rung gegen den „American way of life“ hinzustellen.

Durch ihre zahlreichen Ak-tionen gewannen diese Lob-bys einen hegemonialen Ein-fluss auf US-amerikanische Entscheidungsträger auf al-len Ebenen. Wenn man die do-minierende Rolle der USA als imperialistischer Supermacht bedenkt, so machte es ihnen diese Hegemonie möglich, a) entscheidenden Einfluss bei Schlüsselmomenten in den in-ternationalen Klimaverhand-lungen zu gewinnen (so bei der Konferenz von Den Haag 2000); und b) vielen pro-ka-pitalistischen Kräften auf in-ternationaler Ebene „Argu-mente“ zu liefern. Doch am Ende hat sich die „unbequeme Wahrheit“ durchgesetzt, auch bei der US-amerikanischen herrschenden Klasse. Doch

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die Aktionen der Lobbys er-möglichten es den multinatio-nalen Konzernen, dreißig Jah-re mit den fossilen Energieträ-gern weiterzumachen, wäh-rend die Menschheit dreißig Jahre verloren hat.

17. Der bis heute einzige Vertrag mit kon-

kreten Vorgaben, das Kyoto-Protokoll, ist nicht nur völlig unzureichend: Es wurde ein Markt für Verschmutzungs-rechte aufgebaut, der die so-ziale und klimatische Unge-rechtigkeit verschärft.

Der erste Versuch von Re-gierungen, eine umfassende Antwort auf den Klimawandel zu geben, nämlich das Kyoto-Protokoll (1997), verpflichtet die Industrieländer, ihre Emis-sionen im Zeitraum 2008-2012 im Vergleich zu 1990 um 5,2 % zu reduzieren. Es wäre banal festzustellen, dass dieser Vertrag völlig unzureichend ist. Diese 5,2 % bringen die Industrieländer nicht auf den Weg zu einer Verminderung von 25 % bis 40 % bis 2020 und zwischen 80 % und 95 % bis 2050 [wie sie eigentlich nötig wäre]. Die Nicht-Rati-fizierung des Vertrages durch die USA bedeutet eine Redu-zierung von kaum 1,7 %. Und die Ziele werden noch weiter aufgeweicht, weil sie struk-turelle Verminderungen der Emissionen auf die gleiche Stufe stellen wie Steigerungen der Absorption von CO

2 durch

Wälder. Außerdem werden die Emissionen des Luft- und See-transports (immerhin 2 % der Gesamtemissionen) gar nicht eingerechnet.

Die für die Staaten vorge-sehenen Reduzierungsquo-ten werden durch drei „Fle-xibilitätsmechanismen“ wei-ter gelockert: durch den Cle-an Development Mechanism (CDM), durch die Joint Im-plementation (JI) und durch den Emissionshandel (Emis-sion Trading). Der Handel mit Rechten ermöglicht es Un-ternehmen entwickelter Län-der, die bestimmte Reduk-tionsziele erreichen müssen

und sie übertreffen, entspre-chende Verschmutzungsrechte (in Tonnen CO

2) zu verkau-

fen. Der CDM (und zusätz-liche die JI) machen es den Industrieländern möglich, ei-nen Teil der notwendigen An-strengungen durch Investiti-onen in Ländern des Südens (und des Ostens) aufzufangen. Diese Investitionen generieren „Emissionsgutschriften“ (oder zertifizierte Rechte), die ge-handelt werden können. Diese ganzen Erfindungen werden als Beweis hingestellt, dass das Klima mithilfe kapitali-stischer Mechanismen geret-tet werden kann, indem man einen Markt für den Handel von Verschmutzungsrechten und -gutschriften schafft. In Wirklichkeit entspricht ein Gutteil dieser Rechte und Gutschriften keinen Bemü-hungen um strukturelle Re-duzierungen und über 50 Pro-zent der CDM-Gutschriften entsprechen überhaupt keiner realen Reduzierung von Emis-sionen. Was nun den Handel mit Verschmutzungsrechten angeht, so zeigt das von der Europäischen Union (EU) seit 2005 eingerichtete Sy-stem (EU-Emissionshandels-system ETS), dass in der Pra-xis das „cap and trade“ (Kür-zen und Handeln) zum Er-gebnis hat, dass die Redukti-onsziele (cap) nach den Ren-ditezielen der Konzerne fest-gelegt werden, und dass die größten Verschmutzer enorme Superprofite machen können (die sie noch nicht einmal in sauberere Technologien inve-stieren müssen).

Durch diese Mechanis-men gehört das Protokoll zur weltweiten Offensive der herr-schenden Klassen gegen die arbeitende Bevölkerung, zur Offensive des Imperialis-mus gegen die von ihm be-herrschten Länder und zur Schlacht der Kapitalisten für die Aneignung und Kommo-difizierung [zur Ware machen] der natürlichen Ressourcen. Die imperialistischen Län-der können zu günstigen Prei-sen CO2

-Gutschriften erwer-

ben, ohne dass sie ihre eigenen Emissionen kürzen, während sie die zukünftigen Möglich-keiten der Entwicklungslän-der beschneiden, ihre Emissi-onen zu reduzieren. CDM und JI, die mit dem Handel von Rechten verbunden sind, ma-chen es den Multis möglich, sich mittels ihrer Investitionen in Entwicklungs- oder Trans-formationsländern6 neue Mär-kte zu eröffnen und die Er-pressung gegen die Arbeiten-den zu verstärken. Die Ent-wicklung eines solchen CO

2-

Marktes eröffnet auch dem In-ternationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank neue Betätigungsfelder. Somit sind die Grundlagen für einen neu-en CO

2-Neokolonialismus ge-

legt; die Verteilung von Ver-schmutzungsrechten auf Ba-sis der Menge der 1990 ausge-stoßenen Treibhausgasemissi-onen besiegelt das Nord-Süd-Gefälle in der Entwicklung; die Privatisierung und Kom-modifizierung des Rechtes auf Kohlendioxidemission sowie die Aneignung von Ökosyste-men, die in der Lage sind CO

2

aufzunehmen, stellt eine kapi-talistische Eroberung des ter-restrischen Kohlenstoffzyklus dar und somit sogar die Mög-lichkeit einer völligen Inbe-sitznahme der Biosphäre, die diesen Zyklus reguliert; im Kyoto-Vertrag werden die Be-mühungen, die großen Ent-wicklungsländer unterneh-men, überhaupt nicht berück-sichtigt. Daher haben die herr-schenden Klassen dieser Län-der einen bequemen Vorwand, so lange es geht, fossile Ener-gieträger zu verbrennen oder Wälder abzuholzen, und dies im Namen der Entwicklung.

Gleichzeitig enthält das Protokoll eine Reihe von Re-gulierungsmaßnahmen: Die Reduzierung der Emissionen wird quantifiziert und mit einem Zeitplan verbunden; für den Fall der Nicht-Respek-tierung sind Sanktionen vor-

6 Als „Transformationsländer wer-den vom IPCC die Länder des früheren Ostblocks bezeichnet – d. Üb.

gesehen, Flexibilitätsmecha-nismen können die einheimi-schen Maßnahmen nur „er-gänzen“, Investitionen in die Kernkraft sind im Rahmen der CDM nicht anrechenbar; der Rückgriff auf Gutschriften, die sich aus Aufforstungen er-geben, ist begrenzt (und wird von einigen Staaten verboten). Der dauernde Druck, den ka-pitalistische Lobbys gegen diese Maßnahmen vollfüh-ren, drückt den Antagonismus zwischen den physikalischen Grenzen, die man beachten muss, um das Klima zu stabi-lisieren einerseits, und der Lo-gik der Profitakkumulation auf der andern Seite aus.

18. Während die in-ter-imperialistische

Konkurrenz verschärft wird, zwingen die Realität des Klimawandels und die Aufgabe der Sicherung der Energieversorgung die herr-schenden Klassen, eine glo-bale Antwort auf den Klima-wandel ins Auge zu fassen.

Angesichts der Breite und der wachsenden Solidität des wissenschaftlichen Konsenses, der zunehmend deutlicheren Manifestation der globalen Er-wärmung und des Drucks der öffentlichen Meinung müssen die herrschenden Klassen ei-ne stärker verpflichtende Stra-tegie entwickeln, die ambitio-nierter und langfristiger ist als das Kyoto-Protokoll.

Dass diese Wende in Eur-opa und Japan früher begann als in den USA, erklärt sich aus der besonderen Lage der drei großen kapitalistischen Blöcke. Japan und die EU ver-suchen, ihre starke Energieab-hängigkeit durch größere En-ergieeffizienz und eine stär-kere Diversifizierung der Res-sourcen zu verringern. Sie hoffen auch, auf dem sich he-rausbildenden CO

2-Markt, auf

dem Markt für „grüne“ Tech-nologien und insbesondere auf dem Markt für Atomtechnolo-gie Wettbewerbsvorteile zu er-zielen. Auf der anderen Seite haben die Öl- und Kohle-Sek-toren ein äußerst großes Ge-

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wicht in der Struktur des US-Kapitalismus, der außerdem mit den Ölmonarchien am Golf eine strategische Allianz geschlossen hat.

Die Europäische Union marschierte voran. Nach dem Gipfel von Den Haag (2000) spielte sie eine treibende Rolle bei der Durchsetzung des Ky-oto-Protokolls ohne die USA durch Aushandeln des Abkom-mens von Marrakesch. 2005 wurde das Europäische Emis-sionshandelssystem gestar-tet, ein Experiment, das wahr-scheinlich als Modell für den kommenden Weltmarkt für Verschmutzungsrechte dienen wird. Im gleichen Jahr stellte Tony Blair auf dem G-8-Gip-fel erstmalig den Vorschlag ei-ner Reduzierung der gesamten Emissionen um 50 % bis 2050 vor, ein Ziel, das auf dem Gip-fel von Tokio 2008 auch ange-nommen wurde.

In diesem Kontext wurde die Position der USA und ih-rer Verbündeten zur Klima-frage zunehmend unhaltbar. Während die Bush-Regierung verbindliche Reduzierungen mit genauen Zeitplänen wei-ter ablehnte und sich einer un-terschiedlichen Behandlung von imperialistischen Län-dern und vom Imperialismus beherrschten Ländern verwei-gerte, plädierte ein wachsen-der Sektor des US-Großkapi-tals für eine Politik der Fest-legung von Emissionsquoten. Für diesen Meinungswandel gab es vier wesentliche Grün-de: a) die Angst, dass die Ko-sten fürs Nichtstun längerfri-stig höher liegen würden als die Kosten fürs Handeln; b) die Überzeugung, dass – da eine Reduzierung der Emis-sionen unvermeidlich ist – es besser ist, gleich damit zu be-ginnen und sie nach interna-tionalen Regeln zu organisie-ren; c) die Angst, dass die Kli-mapolitik der EU und Japans diesen Wettbewerbern einen beträchtlichen Vorsprung im Bereich der „grünen“ Techno-logien verschaffen könnte; d) der von der EU erbrachte Be-weis, dass die „cap and trade“-

Strategie in Verbindung mit dem CDM-System ihre Vor-teile hat.

Diese Umorientierung der herrschenden Klasse der USA wurde durch zahlreiche Initi-ativen auf der Ebene der Fir-men, der Unternehmerverbän-de, der Gemeinden und Bun-desstaaten konkretisiert. Nach und nach verloren die Leugner des Klimawandels ihren Ein-fluss, und schließlich wurden dem Repräsentantenhaus acht Gesetzesinitiativen zugun-sten einer mehr oder weniger starken Begrenzung von Emis-sionen vorgelegt. Mit einigen Unterschieden zeigte sich di-ese Entwicklung auch in den Programmen der beiden Kan-didaten, die die Nachfolge von Bush antreten wollten.

Eine ähnliche Entwicklung fand bei den herrschenden Klassen der großen Schwel-lenländer statt, besonders in China, Brasilien, Südafrika, Mexiko und (deutlich weni-ger) in Indien. Anfänglich be-gnügten sich die Bourgeoi-sien dieser Länder damit, auf ihr Recht auf Entwick-lung zu pochen und die ge-samte Verantwortung für die Aktionen, die zur Rettung des Weltklimas notwendig sind, auf die Industrieländer abzu-schieben. Diese Haltung wur-de wegen des sich beschleu-nigenden Klimawandels und seiner konkreten sozioökono-mischen Auswirkungen, der zunehmenden Bedeutung des Klima-/Energieproblems in der allgemeinen Politik des Imperialismus und der wach-senden Sorge der Bevölke-rung und in der öffentlichen Meinung, besonders in be-stimmten Ländern, unhaltbar. Und wir dürfen auch die un-bestreitbare zweifache Fest-stellung nicht vergessen: Die globale Erwärmung betrifft die [vom Imperialismus] be-herrschten Länder heute und in Zukunft stärker, aber ei-ne Stabilisierung auf einem für die Menschheit ungefähr-lichen Niveau ist unmöglich ohne eine Beteiligung dieser Länder an den Anstrengungen

zur Reduzierung der Emissi-onen. Nachdem sie im Prin-zip eine Beteiligung an den weltweiten Bemühungen ak-zeptiert haben, bereiten sich die herrschenden Klassen der großen Schwellenländer jetzt auf harte Verhandlungen mit dem Imperialismus über die Bedingungen vor, wobei sie natürlich ihre eigenen kapi-talistischen Interessen vertei-digen wollen. Einige Regie-rungen (China, Mexiko) ha-ben die Initiative ergriffen und von sich aus eigene Ziele zur Reduzierung der Emissi-onen festgelegt, um damit so-weit wie möglich zu verhin-dern, dass ihnen von Seiten der kapitalistischen Mächte zu ungünstige Bedingungen aufoktroyiert werden.

Allgemein wird in allen Ländern eine Entwicklung begünstigt, die von wachsen-den Spannungen im Bereich der Zufuhr von Öl und Gas ausgeht, weil deren Reserven abnehmen. Jenseits der Auf und Abs der Konjunktur und der Spekulation werden die-se Spannungen die Wirkung haben, den Ölpreis auf einem hohen Niveau zu halten und dadurch auch zu Preissteige-rungen bei anderen fossilen Energieträgern und bei Biot-reibstoffen und damit letzt-lich auch bei landwirtschaft-lichen Produkten führen wird. Zusammengenommen erklä-ren diese Elemente, dass die Linie der US-Regierung auf der Bali-Konferenz (Dezem-ber 2007) ausgehebelt wurde. Diese Konferenz führte zu ei-ner gewissen Entblockierung der Verhandlungen mit Blick auf einen neuen internationa-len Vertrag, der einst das Ky-oto-Protokoll ablösen soll.

19. Die für den Zeit-raum 2012–2050 ent-

wickelte kapitalistische Poli-tik ist noch liberaler als Ky-oto und führt dazu, dass wir uns auf einen durchschnitt-lichen Anstieg der Erdtem-peratur von 2,8 bis 4 Grad einstellen müssen. Das ist ein schweres Verbrechen an der

Menschheit und der natür-lichen Umwelt.

Die in Bali angenommene „road map“ bezieht sich präzi-se auf die Quantifizierungen, die sich aus dem Bericht des IPCC von 2007 ergeben (vgl. oben Punkt 8). Die Tinte war noch nicht getrocknet, als die G8 den Beschluss fassten, bis 2050 die Treibhausgasemissi-onen um 50 % zu senken – oh-ne den oberen Wert der Spann-weite der vom IPCC empfohle-nen globalen Reduktionsziele (85 %) oder das für die ent-wickelten Länder benannte Reduktionsziel (zwischen 80 und 95 % bis zum Jahre 2050) oder die Zwischenschritte für diese Länder (zwischen 25 % und 40 % bis 2020) oder aber die notwendige Abnahme der globalen Emissionen ab 2015 auch nur zu erwähnen.

Anfang 2008 schlug die Eu-ropäische Kommission ihren Mitgliedstaaten und dem Par-lament ein „Energie- und Kli-mapaket“ vor (bis 2020: 20 % Reduzierung bei den Emissi-onen, 20 % Energieeffizienz-steigerung und 20 % erneuer-bare Energien – darunter 10 % Beimischung von Biotreib-stoffen beim Verkehr). Dieses „Paket“ fällt geringer aus als die Empfehlungen des IPCC und ist unvereinbar mit dem vom EU-Rat 1996 beschlos-senen Ziel, den Temperaturan-stieg auf 2 Grad zu begrenz-en.7 Im Herbst 2008 stellten im Rahmen der von den su-prime-Krediten ausgelösten „Finanzkrise“ und der kapi-talistischen Rezession eini-ge Mitgliedstaaten (besonders Italien, Polen und die Tsche-chische Republik) und auch Industriebranchen (Automo-bil, Eisen und Stahl) diese In-halte und besonders die Me-

7 Das Ziel sollte auf 30% angeho-ben werden, falls es zu einem in-ternationalen Abkommen kom-men sollte, nach dem die ande-ren Industrieländer ähnliche Re-duzierungen vornehmen wollten und auch die Schwellenländer ei-nen erheblichen Beitrag leiste-ten. Dieses Ziel bliebe aber im-mer noch im unteren Bereich der Empfehlungen der Experten.

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thoden des „Paketes“ in Frage. Das Ratstreffen vom Dezem-ber 2008 hielt an der symbo-lischen Formel 20-20-20(10) fest, doch ist sie inzwischen kaum mehr als eine Fassade. Die Unternehmer haben sich in zwei Schlüsselbereichen fast vollständig durchsetzen können: Emissionsrechte für Sektoren, „die der internatio-nalen Konkurrenz ausgesetzt“ sind, sowie für die Kohlekraft-werke der neuen Mitgliedslän-der sollen kostenlos sein und die Bemühungen sollen mit-tels der CDM stark auf die Entwicklungsländer verlagert werden (fast 70 % der Emis-sionsminderungen könnten so auf den Süden verschoben werden).

Eine ähnliche Entwick-lung zeichnet sich in den USA ab. Barack Obamas „Ener-gie und Klima“-Programm sieht vor, bis 2050 die Emis-sionen um 80 % zu reduzie-ren. Dieses Ziel scheint be-eindruckend zu sein, doch es entspricht noch nicht einmal dem unteren Wert der vom IP-CC für nötig geachteten Band-breite von Reduzierungen für die entwickelten Länder (wo-bei sich die USA angesichts ihres Emissionsniveaus natür-lich ganz im oberen Bereich befinden müssten). Obama hat versprochen, die USA 2020 wieder auf das Niveau von 1990 zurückzuführen, was ei-ner Reduzierung von 20 % im Vergleich zum heutigen Stand entspräche. Wiederum scheint das Ziel beeindruckend zu sein. Doch es liegt deutlich niedriger als die Zahlen des IPCC und auch niedriger als die Zahlen, die die USA be-reits 2012 erreichen müssten, wenn sie das Kyoto-Protokoll ratifiziert hätten. Auch Oba-ma hat ein System des „cap and trade“ verkündet, wo-bei die Verschmutzungsrechte verkauft werden sollen; mit den Einnahmen sollen einer-seits ein Umbau des Energie-systems finanziert werden, an-dererseits Programme, um die Kosten dieses Umbaus für die sozial schwächsten Schichten

zu senken. Wir können vor-hersagen, dass wie in Euro-pa die Unternehmer möglichst großen Druck gegen das Pro-jekt ausüben und damit Erfolg haben werden, weil es ja um ihre „Wettbewerbsfähigkeit“ geht. Daher kann die soziale Rechnung der „Energie und Klima“-Politik nur steigen und ihre ökologische Wirk-samkeit nur sinken, ganz wie bei der Entwicklung des eu-ropäischen „Pakets“. Ebenso werden wahrscheinlich, wie in Europa, die Möglichkeiten der US-Unternehmen zunehmen, eigene Bemühungen zur Emis-sionsminderung durch den Kauf von CDM-Verschmut-zungsrechten zu ersetzen – ein Mechanismus, der noch zu-nehmen wird, wenn die Kli-maziele anspruchsvoller und enger werden. Der von Din-gell/Boucher vorgelegte Ge-setzesvorschlag z.B. würde es den Unternehmen ermögli-chen, so viele CO2

-Rechte zu kaufen, dass sie jegliche Emis-sionsminderung bis 2029 auf-schieben könnten.

Die von Barack Obama während seiner Präsident-schaftswahlkampagne vorge-stellte Energie- und Klimapo-litik stellt ein entscheidendes Element in einer Orientierung dar, die versucht, die nieder-gehende Hegemonie des US-Imperialismus zu retten. Die Wende im Vergleich zur Bush-Politik lässt sich in folgenden Punkten zusammenfassen: a) das Streben nach Energieun-abhängigkeit vom Erdöls aus dem Nahen Osten und den in-stabilen Regimen der Regi-on; b) die Entwicklung eines Mixes von alternativen Lö-sungen, deren Achsen Koh-le, Biotreibstoffe, Kernenergie und Energieeffizienz sind; c) die Anerkennung der Notwen-digkeit für verbindliche und quantifizierte Ziele der Emis-sionsminderung in den USA als eine wesentliche Bedin-gung, bei den internationalen Verhandlungen über ein Kli-maabkommen, in die auch die großen Schwellenländer mit einbezogen sind, eine Rolle

spielen zu können; d) das Ziel eines Bündnisses mit der EU gegen die Schwellenländer bei der Frage der Beteiligung dieser Länder bei den Bemü-hungen zur Klimastabilisie-rung, sowie mit den Schwel-lenländern gegen die EU in anderen Fragen wie Energie-technologien; e) eine massive Unterstützung für das US-Ka-pital im Bereich von Energie-technologien, die als „CO2

-arm“ bezeichnet werden.

20. Für den Kapitalis-mus laufen die Be-

dingungen, die erreicht wer-den müssen, um das Kli-ma zu retten, auf eine Qua-dratur des Kreises hinaus. Weil er nicht in der Lage ist, das Problem zu lösen, stürzt er sich in eine Flucht nach vorn, die mit einer weiteren Ausdehnung des Bereichs der Warenwirtschaft ver-bunden ist.

Spätestens 2015 mit einer Reduzierung der Gesamtemis-sionen zu beginnen, die Emis-sionen der entwickelten Län-der in gut 40 Jahren um 80 bis 95 Prozent zu verringern, den Energiebedarf dieser Länder radikal zu kürzen, einen mas-siven Transfer von sauberen Technologien in die Entwick-lungsländer zu organisieren und in diesen Ländern die un-abdinglichen Anpassungen zu finanzieren: Diese Bedin-gungen müssen erfüllt wer-den, um das Klima auf dem bestmöglichen Level zu stabi-lisieren, doch für das produkti-vistische System läuft dies auf die Quadratur des Kreises hi-naus.

Da der Kapitalismus unfä-hig ist, diese Schwierigkeit zu lösen, bereitet er sich auf ei-ne Flucht nach vorne vor. Auf technologischer Ebene stützt sich seine Antwort auf fol-gende Elemente:a) Ausbeutung der bedeu-tenden bekannten Kohlevor-räte (die beim jetzigen Ab-bau noch 200 Jahre reichen würden) als einer zunehmend wichtigen Energiequelle für die Stromproduktion (unter

Einsatz von Technologien, das CO2

aufzufangen und zu ver-pressen); und sogar zur Pro-duktion von Ölersatztreib-stoffen im Verkehrssektor.b) Massive Entwicklung der ersten Generation von Biot-reibstoffen (Ethanol auf Zu-ckerbasis, Diesel auf Pflanzen-ölbasis etc.) sowie der zweiten Generation (Ethanol auf Zel-lulosebasis) für den Verkehrs-sektor, was zu einer bedeu-tenden Veränderung der Land-nutzung, besonders in den produktiveren tropischen und subtropischen Regionen, und zum verstärkten Einsatz von Gentechnik führen wird.c) Ausweitung der Ölgewin-nung auf hoher See und Aus-beutung nicht-konventioneller Ölreserven (Schweröle, Öl-sande und Ölschiefer);d) Ausbeutung der Energie-sparreserven, die in einer Steigerung der Energieeffizi-enz liegen, besonders in der Stromgewinnung und in der Industrie (es gibt ein großes Potenzial für Emissionsmin-derungen in den Schwellen- und Transformationsländern), aber auch im Bau- und Ver-kehrssektor (in Abhängigkeit von der kaufkräftigen Nach-frage). Aber die Fähigkeit des Kapitalismus, dieses Potenzial zu nützen, durch die kaufkräf-tige Nachfrage begrenzt; e) Parallele Entwicklung von Kernenergie, Wind- und Son-nenenergie (thermisch und photovoltaisch). De facto wird die Kernenergie unter die er-neuerbaren Energien gerech-net, es sollen eine Vielzahl von neuen Kraftwerken gebaut und neue Technologien ent-wickelt werden (vierte Kraft-werksgeneration, Brüter), was es ermöglichen würde, mit dem Problem der begrenzten bekannten Uranvorräte um-zugehen (die beim gegenwär-tigen Verbrauch nur noch etwa 60 Jahre reichen würden).f) Maximaler Einsatz von CO2

-Senken (Aufforstungen, Schutz bestehender Wälder und Feuchtgebiete, Acker-baumethoden mit geringem CO

2-Ausstoß), sowie Ein-

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satz von Abfällen als Energie-quelle. Die Umsetzung die-ser technologischen Möglich-keiten erfordert den Aufbau eines Weltmarktes für CO

2 mit

einem einheitlichen Preis, eine Einigung über die Gleichwer-tigkeit von Steigerung der Ab-sorption und Verringerung der Emissionen, Handelsabkom-men, die Einführung von Nor-men und Quoten (einschließ-lich handelbarer individueller Quoten, falls nötig), Steuern und Anreize, sowie Mecha-nismen der Messung und Be-richterstattung. Sie braucht besonders einen neuen inter-nationalen Vertrag, der noch neoliberaler ausfällt als das Kyoto-Protokoll, bei dem die imperialistischen Länder, die Schwellenländer und die üb-rige Welt mitmachen, in dem der Beitrag eines jeden Landes bei den globalen Bemühungen festgehalten ist, und der eine maximale Delokalisation der Reduzierung von Emissionen der kapitalistischen Länder in Richtung Entwicklungsländer ermöglicht.

Diese Delokalisation bil-det eine Schlüsselkomponen-te in der kapitalistischen Kli-mapolitik. Für den Imperialis-mus geht es darum, die Kosten der Energiewende maximal abzuschwächen, indem die beherrschten Länder als Ex-porteure von Biotreibstoffen und billigen Verschmutzungs-rechten benützt werden. Letz-tere können durch Schutz be-stehender Wälder oder Neu-anpflanzungen von Bäumen oder insbesondere durch „sau-bere“ Investitionen in erneu-erbare Energien oder Ener-gieeffizienz generiert werden. Dieses Projekt steht im Ein-klang mit der allgemeinen Of-fensive des Imperialismus in Richtung Entwicklungslän-der, wie sie vom Internatio-nalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der Welt-handelsorganisation (WTO) durchgeführt wird. Doch die Umsetzung stößt auf Schwie-rigkeiten angesichts der Kräf-teverschiebungen auf interna-tionaler Ebene, die sich aus

dem gewachsenen Gewicht der großen Schwellenländer ergibt.

Obwohl man zögernd zu-gestehen muss, dass der Kli-mawandel „das größte Schei-tern des Marktes ist“ (Nicho-las Stern), tendiert die kapi-talistische Antwort, die auf noch mehr Markt und damit auf noch mehr Waren basiert, dazu, die Prioritäten gänzlich umzudrehen: Die Entwick-lung erneuerbarer Energien und die Verbesserung der En-ergieeffizienz werden nicht genutzt, um den Energiever-brauch für die Befriedigung realer menschlicher Bedürf-nisse zu reduzieren, sondern als neue kapitalistische Akku-mulationsmöglichkeiten, also für eine Steigerung des Ener-gieangebots. Die Emissions-minderung wird dem Profit-streben untergeordnet. In der Praxis führt dies dazu, dass das Ziel einer Steigerung des Anteils der erneuerbaren En-ergien dasjenige einer absolu-ten Senkung der CO2

-Emissi-onen ersetzt.

21. Abgesehen von der Tatsache, dass die

kapitalistische Antwort für die Stabilisierung des Klimas völlig unzureichend ist, hat

sie weitere ökologische Kon-sequenzen, die die Mensch-heit sehr stark bedrohen.

Die nukleare Option bein-haltet eine große Bedrohung für das Überleben der Mensch-heit. Die Frage der Endlage-rung bleibt ungelöst, das Risi-ko nuklearer Lecks kann kei-neswegs völlig ausgeschlos-sen werden, und die Gefahr der Weitergabe von Atomwaf-fen – und somit auch der Ein-satzes solcher Waffen – ist mit dieser Technologie untrennbar verbunden. Wir sollten hinzu-fügen, dass die Entscheidung für die Atomkraft auch tech-nisch unvernünftig ist; dass sie unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Klimas ineffizi-ent ist, und dass sie auch mit der nötigen Energierevoluti-on nicht zusammenpasst. Die Energieeffizienz eines Atom-kraftwerkes (30 %) ist gerin-ger als bei einem gasbetrie-benen Kraftwerk, und auch die CO

2-Bilanz, die für die ge-

samte Produktionskette nur mittelmäßig ausfällt, kann sich nur verschlechtern, weil immer mehr Lagerstätten mit geringem Urangehalt ausge-beutet werden müssen; auch sind die Erzreserven begrenzt (die bekannten Uranreserven entsprechen 60 Jahren des ge-

genwärtigen Verbrauchs) eine auf der Atomkraft beruhende Antwort auf den Klimawandel ist überhaupt nicht umsetzbar, wenn man nur die Zahl der Atomkraftwerke betrachtet, die gebaut werden müssten (eines pro Woche etwa 50 Jah-re lang!), die Zeit, die man dafür bräuchte, und die Ko-sten; eine allgemeine Energie-versorgung aus Atom ist un-möglich, denn diese Techno-logie (2,7 % des weltweiten Energieverbrauchs, 17 % des Stroms) wird nie mehr als ei-nen begrenzten Teil des Be-darfs der Menschheit decken können; schließlich kann die Achse für eine Energiealterna-tive nur auf erneuerbaren En-ergien und der Energieeffizi-enz beruhen, doch dies setzt ei-ne radikale Dezentralisierung der Energieversorgung voraus, was in diametralen Gegensatz zur Hyperzentralisierung des auf Uran beruhenden Systems steht. Dies gilt auch für das sehr teure Projekt der Kernfu-sion (ITER). Es handelt sich um ein völlig nutzloses Pro-jekt, denn die Menschheit hat das Glück, von einem völlig gefahrlosen Atomkraftwerk zu profitieren, das sie umsonst nützen kann, das noch min-destens 4,5 Mrd. Jahre funk-

Reisanbau wichtige Quelle von Treibhausgasen

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tionieren wird und das seinen Müll selbst recycelt: die Son-ne.

Obwohl die Biotreibstoffe bislang nur einen vernachläs-sigbaren Anteil des Energie-bedarfs des Verkehrssektors decken, haben sich ihre per-versen Folgen bereits gezeigt. Die Logik der Produktion um des Profits willen führt unwei-gerlich zur Produktion von Ethanol und Biodiesel für ei-ne kaufkräftige Nachfrage, die wichtiger ist als das Grund-recht auf Nahrung, wichtiger als die Rechte der indigenen Gemeinden und wichtiger als der Schutz der Umwelt. Auch hier erhebt die technische Ir-rationalität ihr Haupt, inso-weit die globale Energiebi-lanz der Produktion von Biot-reibstoffen in den meisten Fäl-len negativ ist. Der Übergang zu einer zweiten Generation von Biotreibstoffen wird die-se Gefahren an sich nicht be-seitigen. Selbst wenn man da-von ausgeht, dass strenge Re-geln für die Landnutzung für die Ethanolproduktion auf der Grundlage von Zellulose auf-gestellt werden, ist die Nach-frage durch die Transportin-dustrie so groß, dass man rie-sige Flächen Land (oder Mee-resgebiete) für diese produkti-vistischen Monokulturen be-reitstellen müsste, mit allen Konsequenzen, die dies im Hinblick auf die Verseuchung durch Pestizide und die Zer-störung der biologischen Viel-falt haben würde.

Diese Kritik an Biotreib-stoffen gilt mutatis mutandis auch für die nicht-konventio-nellen Ölreserven: Die Aus-beutung von Schwerölen, Öl-sanden und Ölschiefern ver-langt enormen Energieeinsatz und führt zu einer großen Ver-nichtung von Ressourcen (be-sonders Wasser); die Auswir-kungen auf die Umwelt sind erheblich. Darüber hinaus werden die Abfälle in Gebie-ten gelagert, die von indigenen Gemeinschaften bewohnt wer-den, deren Rechte dadurch be-droht sind.

Angesichts der Dringlich-

keit und aus sozialen Grün-den kann das Abscheiden von CO2

und seine Lagerung eine akzeptable Maßnahme für ei-nen Übergang sein, im Rah-men einer Strategie einer ra-schen Aufgabe des Einsatzes von fossilen Brennstoffen: Sie könnte es insbesondere ermöglichen, die Umsetzung von Bergleuten zu planen. Doch im Augenblick wird nicht so verfahren. Im Gegen-teil, handelt es sich um einen neuen kapitalistischen Ver-such, physischen Grenzen zu verschieben, ohne dass man sich um die Konsequenzen scherte. Die Regierungen sprechen von „sauberer Koh-le“, doch dies stellt einen My-thos dar, wenn wir die groß-en Schwierigkeiten der För-derung, die Verschmutzung, die Gesundheitsschäden und die ökologischen Folgen des Kohleabbaus betrachten.

Der Kampf gegen den Kli-mawandel wird wohl auch der „Gentechnik“ Auftrieb ver-schaffen und zu einer quali-tativen Zunahme der Risiken führen, die dieser Technolo-gie inhärent sind. Genetisch veränderte Bäume (schnell-wachsende Bäume, die mehr CO

2 einlagern können oder

solche mit niedrigem Li-gnin- oder hohem Zellulose-gehalt) beinhalten hohe Aller-gierisiken. Die größte Gefahr kommt jedoch aus der Gen-technik bei der Produktion der zweiten Generation von Biot-reibstoffen, wo die Entwick-lung von Bakterien und ge-netisch veränderten Algen die Gefahren in Form unkontrol-lierter Ausbreitung und Hybri-disierung vervielfacht.

22. Die kapitalistische Antwort erfordert

scharfe Angriffe gegen die Arbeitenden, die armen Bauern, Frauen, indigene Gemeinschaften und die Ar-men allgemein; sie führt zu einer Zuspitzung sozialer Ungleichheit.

Welcher „Energiemix“ auch immer zum Einsatz kommt – er wird zu Preisstei-

gerungen bei der Energie füh-ren und die arbeitende Bevöl-kerung doppelt treffen: Einer-seits auf der Ebene ihres eige-nen Energiebedarfs, anderer-seits beim Konsum, denn die Produzenten werden die hö-heren Energiepreise auf die Waren umschlagen.

Da Energie Teil des kon-stanten Kapitals ist, wird ihr Preisanstieg auf die Profitrate drücken, was die Unterneh-mer dazu führen wird, ihre Angriffe gegen die Löhne, die Indexklauseln [zur automa-tischen Anpassung der Löhne an Preissteigerungen] und die soziale Sicherung zu verstär-ken; allgemeiner gesagt wer-den sie sich ermutigt fühlen, mit allen Mitteln die Ausbeu-tungsrate wieder zu steigern.

Bereits jetzt lässt sich erse-hen, dass der CO

2-Weltmarkt

den Kapitalisten neue Mög-lichkeiten zu Steigerung der Konkurrenz zwischen den Ar-beitenden bietet. Insbesonde-re werden ArbeiterInnen einer neuen Form von Erpressung hinsichtlich der Jobs und der Investitionen unterworfen, mit dem Ziel, dass sie entwe-der den neoliberalen Diktaten der Multis nachgeben sollen, oder dass man sie manipuliert, dass sie für die Unternehmen protektionistische Maßnah-men oder Subventionen ver-langen. Auf der andern Sei-te begünstigen die vielen An-reize und andere Marktinstru-mente, die den Markt für er-neuerbare Energien öffnen und die Energieeffizienz ver-bessern sollen, nicht nur die Unternehmer, sondern auch die besser gestellten Mittel-schichten, die lohnabhängi-ge Kleinbourgeoisie und die oberen Schichten des Pro-letariats, was die Einkom-mens- oder die Mobilitätsun-terschiede verstärkt.

Die immer noch hypothe-tische Einführung von indivi-duellen und handelbaren CO

2-

Quoten würde diese Tendenz in Richtung Ungleichheit ver-stärken, weil die Ärmsten ihre Quoten verkaufen müssten, um Konsumgüter zu erwerben.

In den vom Imperialismus beherrschten Ländern ver-schafft die kapitalistische Kli-mapolitik der Tendenz zur Trennung der ProduzentInnen von ihren traditionellen Pro-duktionsmitteln – vor allem dem Land – einen neuen Auf-trieb, was eine neuerliche Ab-wanderung vom Land oder ih-re Verwandlung in ein länd-liches Proletariat zu Folge hat (Beschäftigung auf Ener-gieplantagen usw.), oder aber den Umzug in ungünstigere Gebiete oder den Einsatz in der „Tourismusindustrie“. Al-le diese Möglichkeiten füh-ren für die Masse der Bevöl-kerung zu geringerer Auto-nomie und schlechteren Le-bensbedingungen – besonders für Frauen, da sie in der Nah-rungsmittelproduktion eine Schlüsselstellung einnehmen – wie auch zu zunehmenden Angriffen auf indigene Ge-meinschaften und ihre Rechte.

23. In ihrer Unfähigkeit, die gesellschaftlichen

Bedingungen für eine struk-turelle Emissionsminderung zu schaffen, benützen die ka-pitalistischen Regierungen der entwickelten Länder den Kampf gegen den Klimawan-del als einen Vorwand für ih-re Sparpolitik.

Für die Bourgeoisie kommt die These des „vom Men-schen“ verursachten Klima-wandels genau zum richtigen Zeitpunkt, um zu versuchen, die Sparpolitik und die Opfer im Namen der Wissenschaft zu rechtfertigen, während die Po-pularisierung der Bedrohung durch die Klimaerwärmung ein günstiges Terrain schafft, die Güter des „grünen“ Sektors der Wirtschaft zu promoten. Wenn die bürgerliche Propa-ganda aber etwas „dem Men-schen“ zuschreibt, was das Er-gebnis der kapitalistischen in-dustriellen Revolution ist, lei-stet sie ihren Beitrag zur Schaf-fung eines morbiden und irra-tionalen Umfeldes, in dem Mi-santhropie, Fatalismus, indivi-dueller Zynismus und reaktio-näre Nostalgie sich miteinan-

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der verbinden.Das gefährlichste Ergeb-

nis von dieser willentlich er-zeugten Konfusion ist das Wie-derauftauchen des (Neo-)Mal-thusianismus, der die „ökolo-gische Krise“ hauptsächlich oder ganz der Bevölkerungs-entwicklung zuschreibt – be-sonders aber den Armen, weil diese mehr Kinder haben als die Reichen; und somit vor allem den Entwicklungslän-dern, weil dort die Fertilitäts-rate der Frauen höher ist als in den Industrieländern. Früher in religiöse Betrachtungen einge-kleidet, werden diese Thesen heute in Form verschiedener Konzepte wissenschaftlicher Ökologie in Pseudo-Wissen-schaft verpackt (wie die „Trag-fähigkeit“ (carrying capacity), um soziale Beziehungen zu na-turalisieren. Desweiteren kön-nen einige dieser Kampagnen auf die Unterstützung von Wis-senschaftlern zählen, die im Bereich der Ökologie arbeiten und deren Arbeiten im Wesent-lichen auf den Ausdruck bür-gerlicher Vorurteile hinaus-laufen, was wir deutlich an der These von der „Tragik der Allmende“8 sehen können. Ul-trareaktionäre politische Kräf-te versuchen daher, der Angst vor dem Klimawandel ein grö-ßeres Echo zu verschaffen, in-dem sie sie in ihren Kampa-gnen gegen die Einwanderung, gegen Asylsuchende, die Rech-te der Frauen, ihren Körper zu kontrollieren, oder auch ge-gen Hilfe für Entwicklungslän-der einsetzen. Religiöse Sekten und reaktionäre religiöse Strö-mungen integrieren den dro-henden Klimawandel in ihren Endzeitdiskurs, der die Unter-werfung unter die vorgegebene Ordnung verlangt.

Es ist zu befürchten, dass das absehbare Scheitern der

8 Garrett Hardin beschrieb 1968 in einem Essay „The Tragedy of the Commons“ am Beispiel von Hir-ten, die eine gemeinsame Weide-fläche (Allmende) nutzen, das Di-lemma, dass jeder einzelne den Vorteil von der Vergrößerung seiner Herde hat, die Nachteile durch die Überweidung sich aber auf alle verteilen – d. Üb.

Klimapolitik den Kapitalis-mus schließlich zur Option des starken Staates greifen lassen könnte, der eine dirigistische Politik ausführt, um wie in Kriegszeiten alle zur Verfü-gung stehenden Mittel zu mo-bilisieren. Eine solche Politik würde unvermeidlich neue An-griffe gegen soziale und demo-kratische Rechte beinhalten.

24. Die kapitalistische Antwort auf die Auf-

gabe des Klimaschutzes ver-vielfacht das Risiko von Krie-gen um Rohstoffe.

In den von der kapitali-stischen Globalisierung und den Strukturanpassungen am meisten betroffenen Ländern erhöhen die Auswirkungen des Klimawandels die Wahrschein-lichkeit von Krisen, die zu cha-otischen Situationen, z.B. be-waffneten Kämpfen zwischen Warlords, führen können. An-gesichts der sich verschär-fenden Knappheiten in eini-gen Regionen, die bereits jetzt einem deutlichen Wasserman-gel ausgesetzt sind, erhöht der Klimawandel die Bedeutung der Kontrolle der Wasserres-sourcen und schafft auch die Bedingungen, dass es zwischen Staaten zu Wasserkriegen kom-men könnte. Doch die größ-te Gefahr entsteht wohl durch die Verschärfung der Konkur-renz über die Aneignung nicht nur der zur Neige gehenden fossilen, sondern auch der neu-en Energieressourcen. Das En-ergie- und Klimaproblem steht auch im größeren Rahmen des graduellen Übergangs von ei-ner bipolaren Welt (Imperi-alismus – vom Imperialis-mus beherrschte Länder) un-ter US-Hegemonie zu einer tri-polaren Welt (Imperialismus – Schwellenländer – unterentwi-ckelte Länder), in dem sich der Kampf um die imperialistische Führung abspielt.

IV. AUFBAU EINER BEWE-GUNG ZUM KAMPF GE-GEN DEN KLIMAWANDEL

25. Der Kampf ge-gen den Klimawan-

del wird nicht mittels einer

Kombination aus Lobbyar-beit, spektakulären Medien-aktionen und Kampagnen zugunsten einer Verhaltens-änderung der individuellen Konsumenten gewonnen werden, sondern nur durch Massenmobilisierungen.

Der Kampf fürs Klima ist ein politischer Kampf und verlangt vor allem den Aufbau eines ge-sellschaftlichen Kräfteverhält-nisses. Dieser Kampf kann ge-wonnen werden, wie das Bei-spiel Australien zeigt, wo eine Massenmobilisierung (150 000 Demonstrierende im Novem-ber 2007) zu einem Teilerfolg geführt hat: die Niederlage der konservativen Regierung, die die Politik von George W. Bu-sh unterstützte, und die Ratifi-zierung des Kyoto-Protokolls durch die neue Regierung. An-gesichts der Dringlichkeit der Klimafrage und der kriminellen Politik der kapitalistischen Re-gierungen arbeiten wir in al-len Ländern am Aufbau einer machtvollen und einheitlichen Massenbewegung mit, die sich weltweit koordiniert, und di-es in der Tradition der Mobili-sierungen gegen den Krieg und den Rüstungswettlauf („Ein-Punkt-Bewegung“).

Das Ziel dieser Bewegung ist es nicht, ausgefeilte Platt-formen zu erarbeiten, sondern die Regierungen zum Handeln zu zwingen, und zwar wenig-stens in Übereinstimmung mit den vorsichtigsten Schluss-folgerungen, wie sie sich aus

den IPCC-Berichten ergeben, sodann die Anerkennung des Prinzips der „gemeinsamen, aber differenzierten Verant-wortung“ sowie der sozialen und demokratischen Rechte und des Rechts aller Erdenbür-ger auf eine menschliche Exi-stenz, die diesen Namen ver-dient. Wir verteidigen dieses Ziel gegen Strömungen, die die Ziele der Emissionsminderung im Namen eines Realismus heruntersetzen möchten, aber auch gegen jene, die sie als un-genügend hinstellen (letztere versuchen wir zu überzeugen, dass das „Minimum“ die An-erkennung der „vorsichtigsten Schlussfolgerungen“ des IPCC sein muss). Wir möchten die Legitimität des IPCC nutzen, um eine möglichst breite Ak-tionseinheit zu erreichen, wäh-rend wir die Doppelzüngigkeit der Regierungen anprangern – die auf internationalen Konfe-renzen „Zusammenfassungen für Entscheidungsträger“ über die Klimafrage verabschieden, sie dann aber nicht in die Pra-xis umsetzen.

Der Aufbau von Massen-bewegungen zur Verteidigung des Klimas ist eine schwierige Aufgabe. Die Schwierigkeiten ergeben sich aus den Beson-derheiten des Klimawandels, vor allem dass er sich heute erst nach und nach einstellt und dass Ursachen und Wirkungen sowohl räumlich wie auch zeit-lich auseinanderfallen. Daher ist es notwendig, eine breit an-

Weltweite Proteste gegen den Klimakiller: hier über dem Perito-More-no-Gletscher im südlichen Argentinien

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gelegte Unternehmung zur Ver-breitung wissenschaftlicher In-formationen über die globale Erwärmung und ihre Auswir-kungen zu starten. Ihre Ziel-richtung müssen vor allem die Aktivengruppen der verschie-denen sozialen Bewegungen und die politischen Organisa-tionen der Linken sein. Diese Gruppen spielen in der Tat ei-ne entscheidende Rolle: Nur sie sind in der Lage, eine kon-krete Verbindung zwischen der globalen Bedrohung des Kli-mas und den besonderen so-zialen Problemen, besonders vor Ort, zu erstellen. Daraus können sie Strategien ableiten, die die sozialen Kämpfe mit dem Kampf für die Rettung des Klimas verbinden. Das be-deutet, dass der Aufbau der Bewegung als ein Teil des so-zialen Widerstandes, wie er in verschiedenen Bereichen exi-stiert, begriffen werden muss, mit koordinierten Aktionen und gelegentlichen plurali-stischen Demonstrationen auf einer gemeinsamen Minimal-plattform. Die Arbeit des Auf-baus eines Netzes kann durch Komitees, Zusammenschlüs-se oder Bündnisse für das Kli-ma erleichtert werden, so wie sie sich im Rahmen der Glo-bal Climate Campaign entwi-ckeln können.

26. Innerhalb der Be-wegung für das Kli-

ma müssen wir eine linke Strömung aufbauen, die den Kampf ums Klima mit der sozialen Gerechtigkeit ver-bindet.

Die Veränderung, die not-wendig ist, hat ein solches Ausmaß, dass man sie nicht ohne Mobilisierungen und ak-tive Beteiligung der Ausge-beuteten und Unterdrückten erreichen kann, die die große Mehrheit der Bevölkerung stellen. Kapitalistische Kli-mapolitik macht diese Beteili-gung unmöglich, weil sie auf der sozialen Ebene inakzep-tabel und auf der Umweltebe-ne schädlich ist. Diese Politik trägt die Verstärkung der im-perialistischen Beherrschung

und der kapitalistischen Kon-kurrenz und Gewalt in sich, somit also Ausbeutung, Unter-drückung, soziale Ungleich-heit, Konkurrenz zwischen den Arbeitenden und Verlet-zung ihrer Rechte sowie pri-vate Aneignung von Ressour-cen.

Insbesondere gibt die kapi-talistische Strategie keine Ant-wort auf das große Problem der Arbeitsplätze, der Löh-ne und der sozialen Sicherheit von Millionen von Arbeiten-den, die in Bereichen arbeiten, die riesige Mengen von Treib-hausgasen emittieren, etwa Öl-, Kohle-, Zement-, Glas-, Ei-sen- und Stahlindustrie, sowie der ganze Verkehrssektor. Ei-ne solche Politik kann nur auf legitimen gesellschaftlichen Widerstand treffen. Statt die Bevölkerung zu ermutigen, sich der Gefahren des Klima-wandels bewusst zu werden, wird sie eher bestimmte Teile der Bevölkerung in die Arme der Skeptiker des Klimawan-dels treiben. Das Risiko ist bei jenen Teilen der arbeitenden Bevölkerung beträchtlich, die vom Anstieg der Energiepreise heftig betroffen sind oder wo das gesellschaftliche Gewicht von Kleinunternehmern (Bau-ern, Fischer, LKW-Fahrer) zu heftigen und verzweifelten korporatistischen Reaktionen führen kann, die starken Druck auf die Regierung ausüben.

Die großen Umwelt-NGOs versuchen, die Klimaziele der Regierungen zu radikalisie-ren, ohne zu sehen, dass die-se Radikalisierung gleichzei-tig zu einer Verschärfung der Angriffe gegen die Ausgebeu-teten und die Unterdrückten führt. Hier handelt es sich um eine Sackgasse. Wir verteidi-gen die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes für Klimas und soziale Gerech-tigkeit. Innerhalb der breiten Bewegung arbeiten wir an der Herausbildung eines linken Pols, der diese beiden Dimen-sionen verbindet und der sich daher gegen Vorschläge wen-det, die auf Marktmechanis-men (CO2

-Preise, Boni und

Zeitschrift der Sozialistischen Alternative (SOAL)

www.dielinke.at

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steuerliche Anreize zugun-sten erneuerbarer Energien, Verkauf von Rechten und Gutschriften usw.), auf Ak-kumulation, auf neokoloni-aler Beherrschung oder tech-nologischer Flucht nach vor-ne beruhen. Dieser Pol ver-sucht auch Teile der Gewerk-schaften, Ökologen, Globali-sierungsgegner, Feministen, für die Dritte Welt arbeitende Linke, die „zerbröckelnde“ Linke, Mitglieder von Orga-nisationen der radikalen Lin-

ken, kritische Wissenschaftler usw. zusammenzuführen. Er trägt praktisch und auf poli-tischer Ebene zum Aufbau ei-ner breiten Bewegung bei und ergreift jede Initiative, die es ermöglicht, die Idee einer al-ternativen Klimapolitik vor-anzubringen.

Übersetzung aus dem Franzö-sischen: Paul B. Kleiser, Björn Mertens

(wird fortgesetzt)

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MALAySIA

gen, zu diskreditieren. Diese von ih-rem ehemaligen Freund ohne ihr Wis-sen aufgenommenen Bilder schlugen in diesem konservativen Land wie ei-ne Bombe ein und zwangen sie, ihren Rücktritt anzubieten, was möglicher-weise zu Neuwahlen führen könnte.

An weiteren Beispielen solcher Ma-növer fehlt es nicht. Alles Mittel sind recht, um Quäntchen der an der Ur-ne verlorenen Macht zurückzuerobern und die Opposition unter Führung des charismatischen Anwar Ibrahim zum Schweigen zu bringen.

Auf der anderen Seite scheint Paka-tan Rakyat eher ein Zweckbündnis zu sein, da zwischen den Parteien riesige Divergenzen bestehen. Anwars Keadi-lan Rakyat ist eine multiethnische Par-tei, während die PAS eine islamistische Partei ist, die für die Scharia eintritt, und die DAP die Interessen der chine-sischen Gemeinschaft vertritt. Einig-keit besteht im Wesentlichen vor allem in der Notwendigkeit eines System-wechsels weg von der seit mittlerwei-le 40 Jahren regierenden UMNO, um Korruption und Klientelismus zu über-winden und mit einem Gesellschafts-system zu brechen, das auf Privilegi-en entlang ethnischer Zugehörigkeit beruht. Die insbesondere in Religions-angelegenheiten bestehenden Differen-zen zwischen PAS und DAP hinderten die Parteien des Bündnisses nicht dar-an, in den Bundesstaaten, wo sie 2008 den Sieg errungen hatten, gemeinsam zu regieren und eine besser auf die In-teressen der Bevölkerungsgruppen ab-gestimmte Politik zu verfolgen. Zudem genießt die Pakatan Rakyat den Bonus als neue Kraft an der Macht und ihre Mitglieder leiden noch nicht unter Ab-nutzungserscheinungen und sind nicht wegen Korruption diskreditiert.

DIE SOZIALISTISCHE PARTEI MALAySIAS

Seit der Unabhängigkeit ist die malay-sische Politik nahezu vollständig do-miniert von der Logik der ethnischen Volksgruppen. Von der Politik der „ma-laiischen Vorherrschaft“ hat allerdings nicht die gesamte muslimische malai-ische Volksgruppe profitiert, sondern sie kam hauptsächlich der Regierungs-koalition und ihrem Netzwerk an ma-

laiischen Großunternehmern zugu-te. Unter der Regierung von Abdullah wurde die unter Mahathir eingeleitete neoliberale Politik verstärkt. Die glo-bale Wirtschaftskrise ging auch an Ma-laysia nicht vorüber, der Stellenabbau ist spürbar. Die Ausbeutung der malai-ischen ArbeiterInnen unterscheidet sich nicht von jener der ChinesInnen und InderInnen Malaysias. Wirtschaftsfra-gen und der Klassenkampf, die bisher durch die ethnischen Fragen und die Bildung eines islamistischen Staates überlagert wurden, könnten an Bedeu-tung gewinnen. Das hat sich die Sozi-alistische Partei Malaysias (Parti Sosi-alis Malaysia PSM) zum Ziel gesetzt. Während die malaysische Linke seit Ende der 80er-Jahre völlig danieder-liegt oder verschwunden ist, ist es der 194 gegründeten PSM gelungen, sich in einfachen Schichten zu verankern. Ihr Hauptziel ist, „die verschiedenen Ethnien, aus denen sich Malaysia zu-sammensetzt, in einer Bewegung der Arbeiterklasse zusammenzuführen, um den Krieg gegen den Kapitalismus zu gewinnen“.9

Seit der Parteigründung hat die PSM in verschiedenen Bündnissen Kämp-fe namentlich gegen die Privatisierung der Krankenhäuser, die Erhöhung der Treibstoffpreise und gegen den Irak-krieg geführt. Sie ist die einzige Partei, die sich gegen die Freihandelsverträge zwischen Malaysia und den Vereinig-ten Staaten ausspricht. Bis letztes Jahr war die PSM nicht als Partei anerkannt, obwohl sie sich seit zehn Jahren in ei-nem juristischen Kampf um offizielle Registrierung bemühte. So trat die Par-tei bei den Wahlen 2004 und 2008 unter dem Banner von Anwars Partei Keadi-lan Rakyat an. Bei den Wahlen im Jahr 2008 wurden zwei Parteimitglieder ge-wählt. Dr. Jeyakumar, Mitglied des Zentralkomitees der PSM, errang einen Parlamentssitz gegen ein prominentes Mitglied der Regierungskoalition, der

9 Siehe S. Arutchelvan, Socialism is Here to Stay in Malaysia. http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article6878.

zugleich Arbeitsminister war. Dr. Na-sir Hashim, Vorsitzender der PSM, ge-wann einen Sitz im Staatsrat von Se-langor. Es ist das erste Mal seit 40 Jah-ren, dass sozialistische Kandidaten ins Parlament oder in den Staatsrat gewählt wurden. Obwohl sie für die PKR kan-didierten, führte die PSM einen Wahl-kampf mit eigenem Material und stell-te ihr eigenes Programm in den Vorder-grund. Die Wahl der beiden Genossen ist vor allem das Ergebnis einer realen aktiven Verankerung unter den Plan-tagenarbeitern, der armen städtischen Bevölkerung und den Industriearbeite-rInnen.

Seit Anerkennung der PSM ar-beitet sie mit der Pakatan Rakyat auf der Grundlage der Minimalforderung „Nein zu Barisan Nasional“ zusam-men. Sie unterstützt die Forderung nach Beendigung der NEP, nach Ab-schaffung des Gesetzes zur inneren Si-cherheit und alle Initiativen, die den ArbeiterInnen zugute kommen. Im Par-lament gehört Dr. Jeyakumar der Op-position an, er fühlt sich aber keinem Beschluss verpflichtet, der den Interes-sen der ArbeiterInnen oder die soziali-stischen Prinzipien, die er vertritt, wi-dersprechen würde.

Die Wahl von zwei Parteimitglie-dern stellt für die PSM, die sich unter-dessen in sieben der 13 Bundesstaaten angesiedelt hat und rund 10 000 Perso-nen in ihren Komitees zählt,10 ein aus-gezeichnetes Sprungbrett dar.

Diese Entwicklungen in der malay-sischen Linken sind ausgesprochen er-freulich, und man kann nur hoffen, dass die PSM stärker wird.

Danielle Sabaï ist Inprekorr-Korrespondentin für Südostasien.

Aus dem Französischen: Tigrib

10 Weitere Informationen auf der Website der PSM, http://parti-sosialis.org.

Fortsetzung von Seite 18

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Erklärung der Revolutionären Arbeiterpartei (PRT) zur Schweine-grippe-Epidemie in MexikoDer wegen der Schweinegrippe-Epi-demie entstandene Gesundheitsnot-stand hat neben den Folgen für die Ge-sundheit der Bevölkerung große poli-tische und soziale Auswirkungen, die einer Erklärung bedürfen. Dies vor allem deshalb, weil die widersprüch-lichen Regierungserklärungen zu gro-ßer Verwirrung und zu einem Vertrau-ensverlust geführt haben. Auch der wissenschaftlichen Information, der Wahrheit und der politischen Kritik muss der Weg geebnet werden.

EINE VERMEIDBARE EPIDEMIE

Am 24. April 2009 erklärten der Ge-sundheitsminister, José Angel Cór-doba Villalobos, und Felipe Calderón den Gesundheitsnotstand wegen einer Schweinegrippe-Epidemie. Ihr waren bereits viele Menschen zum Opfer ge-fallen, und sie breitet sich in mehre-ren Staaten Mexikos aus. Diese Erklä-rung erfolgte spät. Die angeordneten Maßnahmen gingen zwar in die rich-tige Richtung, sind aber ungenügend und bedrohen demokratische Grund-rechte (z. B. mögliche Hausdurchsu-chungen bei Verdacht auf Grippekran-ke). Zudem zeugen sie von einer au-toritären Haltung von Seiten der Po-litik und des Gesundheitswesens. Wie die Regierung bei Katastrophen ist auch das Gesundheitswesen nicht in der Lage, in kritischen Situationen ad-äquat zu reagieren, das heißt mit um-fassenden und wirksamen Maßnah-men (Erdbeben 1985, Überschwem-mungen und Wirbelstürme, die Can-cún, Tabasco, Chiapas und Sinaloa heimgesucht haben).

Vor der gegenwärtigen Schweine-grippe-Epidemie haben zahllose Ex-pertInnen und BewohnerInnen von Dörfern gewarnt, in denen sich aus-gedehnte Schweine- und Hühner-farmen befinden, vor allem in La Glo-ria im Staat Veracruz. Die Regie-

rung überhörte diese Warnungen und ging sogar hart gegen jene vor, die es wagten, Kritik zu üben, und die Hy-gienekontrollen und die Durchsetzung der Vorschriften bezüglich Produkti-on und epidemiologische Kontrollen in Schweine- und Geflügelfarmen for-derten.

Zu Beginn der Epidemie spielte die Regierung deren Ausmaß herun-ter, indem sie erklärte, es bestehe kein Grund zur Beunruhigung. Noch ei-nen Tag vor der Erklärung des Ge-sundheitsnotstandes hatte sie erklärt, es handle sich lediglich um nicht an-steckende Grippefälle (ein weiterer „Schnupfen“ wie die wirtschaftliche „Lungenentzündung“). Sie gab Infor-mationen heraus, die im krassen Wi-derspruch zu Daten der Weltgesund-heitsorganisation standen, die die Pan-demie Alarmstufe 3 ausgerufen hatte [Pandemie bedeutet, dass sich das Vi-rus weltweit ausgebreitet hat, Anm. d. Übers.].

Die Bevölkerung ist einmal mehr getäuscht worden und misstraut den Regierungserklärungen und den an-geordneten Maßnahmen. Das ist nicht ohne Folgen geblieben. Parallel da-zu entstanden ein breites Aktionsnetz und ein großer Erfahrungsaustausch wie nach den Erdbeben von 1985 in Mexiko-Stadt. Damit zeigt sich einmal mehr der hohe Grad an Solidarität, zu dem dieses Land und seine Bewohne-rInnen, vor allem jene „von unten“, fä-hig sind. Eine andere Welt bahnt sich an, eine solidarische, humanistische Welt, voller Respekt für die Unter-schiede und extrem kreativ, die sich der Welt der korrupten Magnaten und Regierenden widersetzt. Die Betrof-fenen, die ArbeiterInnen, Hausfrauen, StudentInnen und das Gesundheitsper-sonal unterstützen sich in den Wohn-vierteln und den sozialen Organisati-onen gegenseitig, diskutieren und tau-schen ihre Erfahrungen aus. Aus die-

sen Aktionen und Erfahrungen ent-steht das Bewusstsein, dass es einen Wechsel braucht, dass ein neues Ge-sundheitssystem, eine neue Ordnung aufgebaut werden muss. Dass es ein anderes Mexiko braucht und dass ein Mexiko möglich ist, wo vorrangig die Bedürfnisse der Mehrheit befriedigt werden, wo das Leben über die Profite gestellt wird, wo eine Kultur und Or-ganisationsmethoden gepflegt werden und wo die kollektive Initiative geför-dert wird, um einer Welt zu widerste-hen, in der „die da oben“, die Groß-unternehmer und ihre Regierung, uns tagtäglich angreifen.

Der Partido Revolucionario de los Trabajadores (Revolutionäre Arbeiter-partei) unterstützt deshalb die Vorbeu-gemaßnahmen zur Eindämmung der Epidemie, hält aber auch unwiderruf-lich an der Respektierung der Men-schenrechte und der demokratischen Freiheiten fest. Wir rufen zum Aufbau eines neuen Gesundheitswesens auf, das dieser Herausforderung gewach-sen ist. Wir rufen dazu auf, jene zu be-strafen, die für die späte Reaktion ver-antwortlich sind, was Menschenleben gekostet hat, die hätten gerettet wer-den können und was zu Leid geführt hat, das hätte vermieden werden kön-nen. Der Sekretär für das Gesund-heitswesen muss abgesetzt werden, und es braucht eine tiefgreifende Un-tersuchung der Ursachen, die zu dieser Krise geführt haben. Es braucht Vor-beuge- und Kontrollmaßnahmen, um zu verhindern, dass diese und weitere Gesundheits- und „Natur“-Katastro-phen weiterhin Menschenleben kosten und tausenden Menschen großes Leid verursachen, wie dies vor allem in den letzten drei Jahrzehnten seit Beginn des neoliberalen Modells in Mexiko und weltweit die Norm war.

VORGESCHICHTE

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Am 4. April 2009 erschien in La Jor-nada ein Artikel über den Kampf im Ort La Gloria mit einem Bild eines Kindes, das in einer Demonstration ei-ne Tafel mittrug, auf dem ein Schwein gezeichnet war und unter dem fol-gende Legende stand: „Achtung Ge-fahr: Granja Carrolls“ (granja= Bau-ernhof, Farm). Dieser Demonstrati-on war eine Kontrolle der lokalen Ge-sundheitsbehörde vorausgegangen, bei der Ende 2008 festgestellt wurde, dass über 60 % der Bevölkerung an ei-ner untypischen Infektion der Atem-wege litt, deren Herkunft unbekannt war. Ab März wurden auch Fälle ei-ner untypischen Infektion der Atem-wege in Perote und dann in Jalapa be-kannt, die von den Alarmsystemen un-beachtet blieben. Nach Ansicht von María Montoya vom Forschungszen-trum für die Gesundheit von Tieren in Barcelona konnte es für die Zahl der Todesfälle und die Ausbreitung der Epidemie entscheidend sein, wie viel Zeit für die Identifizierung der Grip-peart gebraucht wurde.1 Erst anfangs April, also sehr spät, wurden die er-sten Fälle von Schweinegrippe aner-kannt. Zuerst war die Diagnose falsch, dann wurde die Krankheit als Infekti-on der Atemwege mit dem Virus des Typs A:H2N3 diagnostiziert. Bei der erneuten Untersuchung des konser-vierten Blutes eines vierjährigen Kin-des musste die Diagnose korrigiert werden. Es handelte sich um das Virus des Typs A:H1N1, der für die heutige Epidemie verantwortlich ist. Noch vor diesen Entdeckungen wurde die Nach-richt über Geflügelgrippespuren in Hühnerfarmen der Firma Granjas Ba-choco verschwiegen.2

Heute weiß man, dass das Schwei-negrippevirus Erbgutbestandteile von Mensch, Schwein und Huhn ent-hält. Das lässt vermuten, dass das Vi-rus genetisch auf verschiedene Spezi-es übertragen wurde. Bei den Produk-tionsbedingungen, die auf den großen Schweine- und Geflügelfarmen herr-schen, ist dies mehr als wahrschein-lich. Diese befinden sich abgeschie-den im Gebiet von Perote in Veragruz.

1 Maria Sainz, „Por qué sólo están muriendo personas por gripe porcina en Mexiko“, in El Mundo, 28. April 2009

2 Piden cerco sanitario ante epidemia, SPI/El-Golfo.Info, 24. April 2009:

h t tp : / /www.e lgo l fo . in fo /web/ lo -mas-nuevo/37017-piden-cerco-sanitario-ante-epi-demia-.html)

Doch davor wurde schon an verschie-denen Orten auf der Welt gewarnt. Ist dieses Virus lokalen Ursprungs oder wurde er importiert, ist dies nicht so schlimm. Tatsache ist, dass auf diesen Farmen die Bedingungen zur Repro-duktion und zur genetischen Übertra-gung dieses Virus gegeben sind. Da-durch sind die Voraussetzungen für die Entstehung solcher Epidemien ge-geben. Trotz der beiden Alarmrufe aus diesem Gebiet, wo die Bewohne-rInnen auf eine abnorme Erkrankung der Atemwege in der Nähe der Gran-jas Carrol und auf den Beginn der Hühnergrippe auf den Hühnerfarmen aufmerksam machten, reagierte das Epidemiewarnsystem des Gesund-heitswesens erst, als sich die Krank-heit bereits ausbreitete und es bereits zu schweren Fällen untypischer Lun-genentzündung mit mehreren Todes-fällen an anderen Orten, insbesonde-re in Mexiko-Stadt, gekommen war. In dieser Metropole mit ihrer großen Be-völkerungsdichte kann sich die Epide-mie wegen fehlender Vorbeugemaß-nahmen rasch ausbreiten.

DIE BEHÖRDEN REAGIERTEN SPäT

Der Sekretär für Gesundheit zögerte mit seiner Erklärung, wonach es sich um eine saisonale Grippe handle und die Krankheitsfälle zu keinerlei Sor-ge Anlass gäben, die Reaktion auf den bereits eingetretenen Gesundheitsnot-stand hinaus. Die in Mexiko veröffent-lichten Zahlen wichen von den von der Weltgesundheitsorganisation spä-ter veröffentlichten Zahlen ab, nach-dem auch in anderen Ländern, vor allem in Kanada und den USA, aber auch im spanischen Staat, in Großbri-tannien und Neuseeland Krankheits-fälle aufgetreten waren. Das Auftre-ten der Krankheit außerhalb Mexikos führte dann zur Ausrufung der Pande-mie Alarmstufe 3 und dann Alarmstu-fe 4. Diese Stufe bedeutet, dass sich die Epidemie weltweit ausbreitet, die Krankheitsfälle nicht mehr nur im-portiert sondern die Folge lokaler An-steckung sind - was vor allem für die USA und den Spanischen Staat zu-trifft – und dass die Krankheit min-

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destens in zwei Weltregionen aufge-treten ist. Beim Ausbruch des Zahlen-krieges, angesichts des internationalen Drucks und des öffentlichen Drucks in Mexiko selbst, blieb der mexika-nischen Regierung und dem Sekre-tär für Gesundheit schließlich nichts mehr anderes übrig als den Gesund-heitsnotstand auszurufen und mit ver-schiedenen Maßnahmen die Ausbrei-tung der Krankheit einzudämmen.

All dies zeigt klar, dass Profi-te wichtiger sind als Menschenleben. Die großen internationalen und natio-nalen Konzerne, die Schweinefleisch, Geflügelfleisch und Eier produzieren, können sich über Normen und Vor-schriften hinwegsetzen, auch wenn da-mit die Gesundheit und das Leben der Bevölkerung gefährdet werden. Die Kritik und die Forderungen der Be-troffenen nach Untersuchung und Di-agnose ihrer Krankheit gelten nichts und werden nicht gehört. Das Gesund-heitssystem, die Kontrolle sowohl bei Menschen wie bei Tieren, wird large gehandhabt, damit die Konzerne bei ihren Geschäften möglichst nicht ge-stört werden. Deshalb können wir sa-gen, dass die gegenwärtige Gesund-heitskrise auch Ausdruck der kapitali-stischen Irrationalität und einer Zivili-sationskrise ist.

FEHLENDES VERTRAUEN DER BEVÖLKERUNG

Angesichts der vergangenen Manipu-lationen und Betrügereien (man erin-nere sich nur an die „Wahl“ Calderóns oder an das Gerede von einem “kleinen Katarrh” in Bezug auf die Wirtschafts-krise), nicht zu reden von den Fias-kos bei der Vorbeugung und Kontrolle übertragbarer Krankheiten in unserem Land (Cholera, Dengue, Tuberkulo-se und Malaria), misstraut die Bevöl-kerung den offiziellen Darstellungen, lehnt sie ab und sucht eigene Antwor-ten, zumal die Regierungserklärungen widersprüchlich waren und die Zah-len geheim gehalten wurden. Aus die-sem Grund war die Reaktion der Be-völkerung exemplarisch, insbesondere in Mexiko-Stadt, und dies trotz Angst-macherei und der Tatsache, dass unter den Vorbeugemaßnahmen auch sol-che waren, die die Menschenrechte und demokratischen Freiheiten verlet-zen (wie die Möglichkeit von Haus-durchsuchungen bei Verdacht auf An-

steckung, um eine Untersuchung und Isolierung in die Wege zu leiten). Die Zweifel in der Bevölkerung haben et-was mit dem erklärbaren und berech-tigten Misstrauen gegenüber den Re-gierungserklärungen zu tun, speziell gegenüber dieser illegitimen Regie-rung. Das legitime Misstrauen brach-te einige dazu zu glauben, es handle sich bei der ganzen Sache um eine Er-findung, um manipulieren zu können. Oder es wurde geglaubt, dass falls es sich um eine echte Epidemie handelt, diese dazu benutzt wird, um die Po-lizei- und Repressionsmaßnahmen zu verstärken, und dass die Informationen manipuliert werden, um zu demobili-sieren und die Leute dazu zu bringen, die Probleme individuell zu lösen und sich zum Beispiel in Haus oder Woh-nung isoliert einzuschließen.

Als die Epidemie endlich offizi-ell anerkannt und der Gesundheitsnot-stand erklärt worden war, wurden die Präventions- und Kontrollmaßnahmen von der Bevölkerung befolgt. Die In-formationen wurden in den Gemein-den und den sozialen Organisationen verbreitet und entsprechende Akti-vitäten vorangetrieben. Insbesonde-re in Mexiko-Stadt war das Verhal-ten von Engagement und Solidarität geprägt und das löste eine Dynamik aus, die auf eine andere Form der Or-ganisierung des täglichen Lebens und des zwischenmenschlichen Umgangs zielte. Aber auch in kleineren Kom-munen ist das so gelaufen. Jedenfalls haben die Kontrollmaßnahmen ent-sprechend dem für Hygienemaßnah-men zur Verfügung stehenden Bud-get der Distriktsregierung und zusam-men mit der konsequenten Reakti-on der Verwaltung der Hauptstadt da-zu geführt, dass die weitere Ausbrei-tung verhindert werden konnte. Al-lerdings gab es auch einige Schwie-rigkeiten und Nachlässigkeiten, unter anderem die Diskriminierung einiger prekär beschäftigter ArbeiterInnen in der ausgelagerten Stadtreinigung und in den Sicherheits- oder Reparatur-diensten. Dieser Teil der arbeitenden Bevölkerung, der nur über wenig Mit-tel verfügt und sozial nicht abgesichert ist, hatte die schlechtesten Aussichten auf Versorgung im Erkrankungsfall. Schließlich ist auch der Zugang zum Gesundheitswesen und dessen Quali-tät je nach sozialer Lage höchst unter-schiedlich.

Als Folge der Angstkampagne gab es in einigen Gebieten des Landes ei-ne „antichilanga“-Reaktion [chilan-gos werden die BewohnerInnen von Mexiko-Stadt genannt, Anm. d. Ü.] Beispielsweise wurden im Distrikt Guerrero einige Autos mit Kennzei-chen des Distrikts Mexiko mit Stei-nen beworfen. Im Ausland wurden MexikanerInnen Opfer diskriminie-render Maßnahmen. Diese Reaktion ist falsch und hat klar reaktionäre und rassistische Wurzeln. Es muss deut-lich gesagt werden, dass es sich um die Entstehung einer Pandemie han-delt, die sich nicht auf eine Stadt, ein Land oder eine Ethnie zurückführen lässt sondern auf die Irrationaliät des Kapitalismus, der den Gewinn über die Gesundheit der Bevölkerung stellt, und für die auch die Regierung mit ih-rer Ineffizienz verantwortlich ist. Oh-ne Legitimität und entgegen den Inte-ressen der Bevölkerungsmehrheit ord-net sie sich den Interessen einer Min-derheit nationaler und internationaler Kapitalisten unter und begegnet der Krise mit noch autoritäreren und re-pressiveren Polizeimaßnahmen.

Anfangs gab das Gesundheitsmi-nisterium Communiqués mit Zahlen über die bestätigten und Verdachts-fälle heraus. Das heißt, dass ein Teil – die Verdachtsfälle – zwar Zeichen und Symptome einer Influenza bzw. deren Komplikationen aufwiesen – z. B. atypische schwere Lungenent-zündung –, dass aber ein Beweis in Form einer Blutuntersuchung fehlt, das heißt eine Immunanalyse mit spe-zieller Typisierung des Serotyps, wo-mit das Virus im Individuum nach-gewiesen werden kann. Dies erklärt die unterschiedlichen Zahlen betref-fend Erkrankungen und Todesfälle. Jetzt wird nur noch die Zahl der ge-sicherten Fälle veröffentlicht, womit das Ausmaß der Epidemie verschleiert wird und Informationen zurückgehal-ten werden. Trotzdem kann man sa-gen, dass der Prozentsatz an Todesfäl-len unter den Erkrankten (Letalitätsra-te) unterschiedlich hoch ist, sowohl in verschiedenen Gegenden des Landes wie auch weltweit. Die niedrigste Le-talitätsrate findet sich in Mexiko im Distrikt Mexiko-Stadt, die höchste in San Luis Potosi, soweit sich das der-zeit beurteilen lässt. In den USA und in Europa ist die Rate erheblich nied-riger als in Mexiko. Weil es sich bei

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dieser Epidemie um einen neuen Vi-rustyp handelt, ist schwer zu beurtei-len, ob diese Unterschiede auf eine unterschiedliche Empfänglichkeit der Bewohner unterschiedlicher Länder und Regionen zurückzuführen sind. Näherliegend ist es, dass diese Unter-schiede auf mangelhafte medizinische Versorgung zurückzuführen sind, das heißt auf erschwerten Zugang (was dazu führt, dass die Menschen erst in fortgeschrittenem Stadium zur Be-handlung kommen) und auf Mängel in der Versorgung selbst (entweder Per-sonalmangel oder fehlende diagnos-tische und therapeutische Mittel für den sofortigen Behandlungsbeginn: Im Distrikt Mexiko-Stadt wurde von Fällen berichtet, wo Kinder – dies ge-schah auch mit Erwachsenen und auch in anderen Distrikten, aber in Mexiko-Stadt zirkulieren die Informationen schneller – diagnostisch schlecht ab-geklärt und nicht rechtzeitig stationär aufgenommen wurden und dann in er-heblich schlechterem Zustand wieder-kamen. Mindestens zwei von ihnen starben).

DAS NEOLIBERALE MODELL UND SEINE AUSWIRKUNGEN AUF DIE GESUNDHEIT

Bei der Schweinegrippe ist das Im-munverhalten des Erregers neu, und es muss ein neuer Impfstoff produ-ziert werden. Tatsache ist, dass seit der Regierung von Salinas de Gorta-ri eine eigene, nationale Antwort auf einen solchen Notfall verhindert wur-de. Die staatseigene Impfstoffproduk-tion wurde eingestellt. In den fünfzi-ger und sechziger Jahren verfügte Me-xiko über Laboratorien, die die Mehr-heit der benötigten Impfstoffe her-stellten. Die Institute für Hygiene und Virologie hatten diese Produktionska-pazität, aber seit den Zeiten von Sali-nas und danach in der Zeit von Erne-sto Zedillo wurde diese Kapazität ab-gebaut, die Laboratorien zusammen-gelegt und schließlich eine halbstaat-liche Institution (Laboratorios de Bi-ológicos y Reactivos de Mexiko, SA de CV (Birmex)) gegründet. Diese In-stitution produziert nur noch zwei der zwölf Basisimpfstoffe.3

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass

3 Thelma Gomez: „Mexiko hörte nicht auf die WHO“; El Universal, 30.4.2009

in Mexiko sowohl bezüglich des Volu-mens wie bezüglich der Qualität der Forschung auf dem Gebiet der Viro-logie, Immunologie, Genetik und Mo-lekularbiologie die wissenschaftliche und technologische Kapazität vorhan-den ist, um die notwendigen Impf-stoffe zu produzieren. Aber die Regie-rung hat sie lieber importiert, um da-mit transnationale Laboratorien zu be-lohnen – eine offene Politik der tech-nologischen und wissenschaftlichen Unterordnung, die offensichtliche ge-sundheitspolitische Auswirkungen hat. Länder wie Brasilien und Kuba haben im Gegensatz dazu investiert, um die Selbstversorgung auf diesem Gebiet aufrechtzuerhalten und damit gezeigt, dass diese Form von Abhän-gigkeit und „Drittwelt“-Verhältnis die klare Folge der Wahl einer bestimmten Wirtschaftspolitik und entsprechender Prioritäten ist, nämlich der Anbindung an das neoliberale Modell.

Derzeit ist die Produktion eines Impfstoffes dringlich, auch wenn das mehrere Monate dauern wird und die aktuelle Epidemie nicht verhindern kann. Trotzdem braucht es dies unbe-dingt, um sowohl in anderen Ländern als auch hier in Mexiko zukünftige Ausbrüche solcher Krankheiten und die Ausdehnung auf andere Staaten und damit eine erneute Epidemie zu verhindern. Zudem müssen die Bemü-hungen verstärkt werden, um die Nor-

men zur Überwachung und Überprü-fung der Hygienevorschriften bei der Fleischproduktion (natürlich nicht nur bei Schweinen und Geflügel) durch-zusetzen. Denn diese Phänomene könnten sich auf das gesamte Agro-business ausweiten, das den Markt über die Gesellschaft stellt, beispiels-weise bei der Produktion von Zucker-rohr und Mais für die Ethanolproduk-tion zur Stromerzeugung und bei der Einführung transgener Pflanzen in ein Land, das wegen des Freihandelsab-kommens gezwungen ist, Mais und andere Agrarprodukte zu importieren.

Auch in diesem Bereich erleben wir die Folgen neoliberalerer Poli-tik der vergangenen Jahre, die als Teil eines auf den Markt ausgerichteten Bildungsmodells die Investitionen in die Wissenschaft reduziert und Ge-sundheitswesen und Sicherheitsor-gane privatisiert hat.

Aber nicht alles ist negativ. Zahl-reiche Arbeiterorganisationen haben die Bemühungen zur Kontrolle und Vorbeugung der Epidemie unterstützt, nicht ohne dabei Kritik an den tadelns-werten Aspekten des Verhaltens der Regierung und des Gesundheitsmi-nisteriums zu üben. Am diesjährigen 1. Mai, an dem normalerweise Tau-sende von ArbeiterInnen auf die Stra-ße gehen, um ihre Unzufriedenheit mit den desolaten Folgen der Wirtschafts-krise und den Regierungsmaßnahmen

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zu zeigen, wurde entschieden, die Prä-ventionsmaßnahmen zu respektieren – mit denen in erster Linie der Kontakt mit Erregern bei Menschenansamm-lungen, aber auch in kleineren Grup-pen, verhindert werden sollen -, die Mobilisierungen zu verschieben oder alternative Protestaktionen durchzu-führen. In anderen Städten wie Cuer-navaca hingegen konnten Demonstra-tionen durchgeführt werden. Die teil-weise Stilllegung der Wirtschaft rief ganz unterschiedliche Solidaritätsak-tionen in der Bevölkerung hervor. So wurde zum Beispiel zwischen Nach-barn turnusmäßig die Kinderbetreu-ung gemeinsam wie in einer Großfa-milie organisiert. Die Supermärkte hin-gegen weigerten sich zu schließen und wiesen auf ihre Rolle als Versorger mit lebenswichtigen Gütern hin. Wie wenn alle schon vergessen hätten, was vor ei-nigen Monaten geschah: die Supermär-kte erklärten sich damals „solidarisch“ mit den „Maßnahmen“ dieser Betrugs-regierung und bereit, die Preise zu sen-ken oder zumindest konstant zu halten. Sie taten dies allerdings erst, nachdem sie ihre Produkte umetikettiert hatten. Bei der Aufregung, die durch die Lage in einigen Bereichen ausgelöst wurde, gab es vor vielen Supermärkten große Menschenansammlungen, die „Panik-käufe“ tätigen wollten und damit gegen eine der wichtigsten Präventionsmaß-nahmen verstießen.

Zweifellos werden sich die Maß-nahmen negativ auf die eh schon schlechte Wirtschaftslage auswirken. Die unterschiedlichen sozialen Klas-sen und Schichten werden davon je-doch unterschiedlich betroffen sein. Besonders jene trifft es hart, die nur von einem Tag zum anderen leben. Andere wiederum werden profitieren (die Supermärkte, die von den Panik-käufen profitieren, die Produzenten und Lieferanten von Arzneimitteln und anderer Produkte, die für Behand-lung und Prävention gebraucht wer-den - Mundschutz beispielsweise oder Desinfektionsmittel).

Besondere Aufmerksamkeit ge-bührt den Einschränkungen der de-mokratischen Freiheiten, wie die Re-lativierung der Privatsphäre oder des

Demonstrations- und Versammlungs-rechts, die unter dem Vorwand des ge-sundheitspolitischen Ausnahmezu-stands in Frage gestellt werden. Damit erfolgt ein weiterer Schritt in Rich-tung Einschränkung der Grundrechte. Das Vorgehen von Armee und Polizei, das bis anhin mit der Bekämpfung des Drogenhandels und des organisier-ten Verbrechens gerechtfertigt wurde, wird jetzt als Präventionsmaßnahme gegen die Epidemie verkauft. Wir Re-volutionäre erklären unseren entschie-denen Widerstand gegen die Verlet-zung und Einschränkung der Frei-heitsrechte, während wir uns gleich-zeitig mit den Vorbeuge- und Kontroll-maßnahmen gegen die Epidemie ein-verstanden erklären. Dabei muss aber die Würde und die Freiheit der Per-son ohne jede Einschränkung respek-tiert werden. Denn vor allem ande-ren tragen wir die Verantwortung da-für, dass unsere Kinder, Jugendlichen und Schwangeren geschützt werden, die von der Epidemie am meisten ge-fährdet sind. In dieser wie in jeder po-litischen oder gesundheitspolitischen Frage kämpfen die RevolutionärInnen für die Verlängerung des Lebens, für ein Leben in Würde, Freiheit, Ge-rechtigkeit und Gleichheit. Wir stre-ben nach Glück und wollen eine Welt aufbauen, die von Harmonie mit der Natur geprägt ist und in der sich al-le Welten wiederfinden. Und wir se-hen es als unsere Pflicht an, die Maß-nahmen zu unterstützen und voranzu-treiben, die nötig sind, um die Auswir-kungen dieser bereits weltweiten Epi-demie einzudämmen.

In diesem Gesundheitsnotstand und sicherlich unmittelbar danach wer-den sich neue soziale Kämpfe entwi-ckeln. Sie müssen unterstützt und zum Aufbau einer breiten und einigen Or-ganisation genutzt werden. Wir müs-sen unsere Anstrengungen zur Vertei-digung der Menschenrechte verdop-peln. Zum Kampf gegen vergangene straflose Verbrechen und Ungerech-tigkeiten, belegt durch die hohe Zahl an politischen Gefangenen, Verfolgten und Verschwundenen, muss jetzt der nötige Widerstand gegen die Gesetze-sinitiativen der Legislative und der Re-

gierung kommen, die in diesen Tagen beschlossen werden, um die demokra-tischen und politischen Rechte weiter einzuschränken. Aber auch im Sozial-bereich und beim Widerstand gegen die Angriffe auf die Rechte und den Lebensstandard der ArbeiterInnen, die sich angesichts der Rezession ab-zeichnen, gegen die Arbeitslosigkeit und den dramatischen Kaufkraftver-lust droht sich die Lage in Verbindung mit der Gesundheitskrise zuzuspitzen. Gleichzeitig finden exemplarische Kämpfe statt, die dringend Unterstüt-zung brauchen, wie der schon 21 Mo-nate andauernde Streik der Minenar-beiter von Cananea.

Die Protagonisten der Globalisie-rung stehen derzeit vor einer riesigen Herausforderung. Ihr Wirtschaftsmo-dell ist gescheitert und Naturkatastro-phen häufen sich (Tsunamis, Über-schwemmungen wie in New Orleans, Erdbeben, Ausbruch von Krank-heiten). All dies stellt das kapitali-stische System selbst und seine Fähig-keit in Frage, für Sicherheit, Ernäh-rung, Arbeit, für ein Leben in Würde und manchmal sogar für das Überle-ben zu sorgen. Insgesamt wird es je-den Tag offensichtlicher, dass dieses System nicht in der Lage ist, auch nur die elementaren Bedürfnisse der Mas-se der Bevölkerung zu befriedigen. Ei-ne andere Welt ist nötig, ein Modell, das die Bedürfnisse der jetzt ausge-schlossenen Masse der Bevölkerung an die erste Stelle setzt. Eine ande-re Welt entsteht aus dieser Krise, ei-ne solidarische Welt, die sich dem Le-ben und seiner Anmut zuwendet, die zeigt, dass es einen anderen Weg gibt, ein anderes Mexiko, das sicher mög-lich, vor allem aber dringend nötig ist. Eine Welt, die auf dem Respekt und der Solidarität zwischen Männern und Frauen und zwischen den Völkern be-ruht.

Mexiko, D.F., 30.4.09

Politisches Komitee der Revolutionären Ar-beiterpartei (PRT)

Übersetzung: Ursi Urech und Thade-us Pato

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ÖKONOMIE

Seongjin Jeong: Die meisten Medien und AnalytikerInnen bezeichnen die gegenwärtige Krise als eine „Finanz-krise“. Stimmen Sie dieser Einschät-zung zu?

Robert Brenner: Es ist verständlich, dass die AnalytikerInnen der Krise den Ausgangspunkt in der Krise des Bank-wesens und der Wertpapiermärkte aus-gemacht haben. Aber die Schwierigkeit liegt darin, dass sie nicht weiter gegan-gen sind. Vom Finanzminister Henry Paulson bis zum Notenbankchef Ben Bernanke vertreten sie die Auffassung, dass die Krise einfach mit Problemen im Finanzsektor erklärt werden kann. Gleichzeitig behaupten sie, dass die ei-gentliche Realwirtschaft stabil ist, also die so genannten Grundlagen in guter Verfassung sind. Nichts könnte irrefüh-render sein.

Hauptsächlich entspringt die heu-tige Krise der abnehmenden Dyna-mik der hoch entwickelten Volkswirt-schaften seit 1973 und vor allem seit 2000. Die wirtschaftliche Leistungsfä-higkeit in den USA, in Westeuropa und in Japan hat sich von Konjunkturzy-klus zu Konjunkturzyklus in Hinblick auf die makroökonomischen Stan-dardindikatoren wie das Bruttoinlands-produkt, die Investitionen, die Reallöh-ne usw. stetig verschlechtert. Die mei-sten sagen, dass der Konjunkturzyklus von 2001 bis 2007, der gerade zu Ende gegangen ist, trotz der größten staatlich unterstützten wirtschaftlichen Anreize der USA in Friedenszeiten mit Ab-stand der schwächste der Nachkriegs-zeit war.

Wie würden Sie die lang anhaltende Schwäche der Realwirtschaft seit

1973 erklären – das, was Sie in Ih-rer Arbeit „den langen Abschwung“ nennen?

Hauptsächlich verantwortlich dafür ist der tiefe und anhaltende Rückgang der Rendite auf Kapitalanlagen seit dem Ende der 60er Jahre. Dass sich die Pro-fitrate nicht erholen konnte, ist umso bemerkenswerter, wenn man den ho-hen Rückgang des Wachstums der Re-allöhne in diesem Zeitraum betrach-tet. Die Hauptursache, wenn auch nicht die einzige Ursache des Rückgangs der Profitrate war die anhaltende Ten-denz zur Überkapazität in der verarbei-tenden Industrie. Eine Industriemacht nach der anderen drängte auf den Welt-markt – Deutschland, Japan, die neu-industrialisierten Länder in Nordost-Asien (NICS), die Tiger in Südost-Asien und schließlich der chinesische Drache.

Diese später entwickelten Volks-wirtschaften produzierten die gleichen Waren wie die zuvor entwickelten – allerdings billiger. Das Ergebnis war, dass in einem Industriezweig nach dem anderen ein viel zu hohes Angebot ei-ner zu geringen Nachfrage gegenüber-stand. Dies zwang die Preise und dem-entsprechend die Profite in die Knie. Die Gesellschaften, die den Druck auf ihre Profite erlebten, haben aber nicht widerspruchslos den Markt geräumt. Sie haben vielmehr versucht, die Stel-lung zu halten, in dem sie sich auf ihre Fähigkeit zur Innovation besannen und die Investitionen in neue Technologien beschleunigten. Aber das hat natürlich die Überkapazitäten nur noch schlim-mer gemacht.

Aufgrund des Rückgangs der Ren-tabilität erwirtschafteten die Kapita-

listen nur noch weniger Überschüsse aus ihren Investitionen. Deshalb hat-ten sie gar keine andere Wahl, als das das Wachstum ihrer Produktionsstät-ten, der Anlagen und der Belegschaft zu verringern. Gleichzeitig hielten sie die Löhne niedrig, um die Erträge zu steigern. Währenddessen senkten die Regierungen die Sozialausgaben. Aber die Konsequenz dieser Kürzungen der Ausgaben ist ein langfristiges Problem mit der gesamtwirtschaftlichen Nach-frage. Und die anhaltende Schwäche der Gesamtnachfrage führte unmit-telbar zur langfristigen Schwäche der Wirtschaft.

Die Krise wurde eigentlich durch das Platzen der historischen Immo-bilienblase ausgelöst, die sich über ein ganzes Jahrzehnt ausgedehnt hat. Wie schätzen Sie deren Bedeu-tung ein?

Die Immobilienblase muss im Zusam-menhang mit der Folge von spekula-tiven Blasen bei Anlageobjekten ge-sehen werden, die die Wirtschaft seit Mitte der 90er Jahre erlebt hat. Man muss vor allem die Rolle der US-No-tenbank sehen, wie sie diese Blasen ge-nährt hat.

Seit dem Beginn des langen Ab-schwungs haben die staatlichen Wirt-schaftsbehörden versucht, das Problem der mangelnden Nachfrage durch För-derung der Erhöhung der Kreditauf-nahme zu bewältigen – öffentlich wie auch privat. Zuerst wandten sie sich der Staatsverschuldung zu. Auf diese Art konnten sie in der Tat wirklich tiefe Rezessionen verhindern. Aber im Lau-fe der Zeit konnten die Regierungen immer weniger Wachstum aus der glei-chen Summe an Kreditaufnahme errei-chen. Der Effekt war, dass sie die Tal-fahrt hin zur Wirtschaftsflaute akzep-tierten, um jede Art von tiefgreifenden Krisen abzuwehren, die historisch ge-sehen das kapitalistische System im-mer wieder heimgesucht haben. In den frühen 90er Jahren haben die Re-

Die Wirtschaft in einer krisenge-schüttelten WeltRobert Brenner, einer der Herausgeber von Against the Current (ATC) und Autor von „The Economics of Global Turbulence“, New Left Re-view 229, 1998; als Paperback bei Verso, 2006), wurde von Seongjin Jeong für die führende koreanische Tageszeitung Hankyoreh inter-viewt. Wir veröffentlichen hier das am 22. Januar 2009 erschienene Interview in einer für ATC leicht überarbeiteten Form.

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gierungen in den USA und in Euro-pa, allen voran die Regierung Clinton, ganz famos versucht, mit ihrem Hang zur Verschuldung aufzuräumen, indem sie sich zusammen in Richtung ausge-glichene Haushalte bewegt haben. Die Idee dahinter war, den freien Markt die Wirtschaft regieren zu lassen. Aber weil die Rentabilität sich immer noch nicht wieder erholt hatte, versetzte der Abbau des Defizits der Nachfrage ei-nen großen Schock und trug so zum Entstehen der Rezessionen und zum langsamen Wachstum zwischen 1991 und 1995 bei.

Um die Wirtschaft wieder zum Ex-pandieren zu bringen, verfielen die US-Behörden auf ein Konzept, dem Japan in den späten 80er Jahren den Weg be-reitet hatte. Indem man die Zinsen nied-rig hielt, vereinfachte die Notenbank die Kreditaufnahme und die Investiti-onen in Finanzanlagen. Als die Immo-bilienpreise hochschnellten, erlebten die Unternehmen und Haushalte einen starken Anstieg ihres Vermögens – zu-mindest auf dem Papier. Demzufolge waren sie in der Lage, in einem gigan-tischen Maßstab Kredite aufzunehmen, ihre Investitionen und Konsumausga-ben erheblich zu steigern und somit die Wirtschaft anzukurbeln.

Die privaten Haushaltsdefizite er-setzten also die öffentlichen. Dies könnte man „Keynesianismus des Ver-mögenskurswerts“ nennen, der den tra-ditionellen Keynesianismus abgelöst hat. Wir waren also in den letzten Jahr-zehnten Zeugen eines außergewöhn-lichen Schauspiels in der Weltwirt-schaft, in der die Fortführung der Kapi-talakkumulation buchstäblich von den historischen Wellen der Spekulationen abhing, sorgfältig genährt und ratio-nalisiert durch die staatliche Politik - und die Aufsichtsbehörden! Zuerst die historische Börsenblase in den späten 90er Jahren, und dann die Immobilien- und Kreditmarktblase der ersten Jahre des neuen Jahrtausends.

Sie haben sich als Prophet erwie-sen mit der Voraussage der jetzigen Krise, genauso wie bei der Rezessi-on 2001. Was sind Ihre Prognosen für die Weltwirtschaft? Wird es noch schlimmer oder erholt sie sich noch bis Ende des Jahres? Erwarten Sie, dass die gegenwärtige Krise heftiger als die große Weltwirtschaftskrise sein wird?

Die jetzige Krise ist viel schwerwie-gender als die schlimmste frühere Re-zession der Nachkriegszeit zwischen 1979 und 1982. Es ist vorstellbar, dass sie die große Weltwirtschaftskrise ein-holt. Aber man kann es natürlich nie ge-nau wissen. Die Konjunkturbeobachter haben unterschätzt, wie schlimm es ist, da sie die Stärke der Realwirtschaft überschätzt und es zugleich versäumt haben, das Ausmaß der Abhängigkeit der Realwirtschaft von einem Schul-denfundament zu berücksichtigen, das sich im Vertrauen auf völlig aufgebläh-te Vermögenswerte gebildet hatte.

Das BIP wuchs während des jüngsten Konjunkturzyklus zwischen 2001 und 2007 in den Vereinigten Staaten am langsamsten seit der Nach-kriegszeit. Es gab keinen Beschäfti-gungsanstieg in der Privatwirtschaft. Die Zunahme von Fabriken und Anla-gen war nur ein Drittel dessen der vor-herigen Nachkriegsdepressionen. Real-lohnzuwächse gab es nahezu nicht. Das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg fand kein Anstieg der durchschnitt-lichen Familieneinkommen statt. Das wirtschaftliche Wachstum wurde aus-schließlich durch den privaten Ver-brauch und Investitionen in Woh-nungen angekurbelt. Dies wiederum war möglich durch billige Kredite und steigende Hauspreise.

Trotz des enormen Schubs durch die Immobilienblase und des hohen Staatsdefizits der Bush-Regierung war die wirtschaftliche Leistungsfähig-keit sehr schwach. Auf die Immobili-enwirtschaft entfielen nahezu ein Drit-tel des BIP und nahezu die Hälfte des Beschäftigungsanstiegs in den Jahren 2001 bis 2005. Es war also zu erwar-ten, dass bei einem Platzen der Immo-bilienblase der Konsum und die Woh-ninvestitionen zurückgehen und die Wirtschaft zusammenbrechen würde.

Viele behaupten, dass die gegen-wärtige Krise eine typische Finanz-krise ist, und nicht etwa eine „mar-xistische“ Krise der Überproduk-tion und fallender Profitraten. Es wird argumentiert, dass das Plat-zen der Finanzspekulationsbla-se die zentrale Rolle in der Krise gespielt hat. Was sagen Sie dazu?

Ich denke nicht, dass es hilfreich ist, die realwirtschaftlichen und die finanz-wirtschaftlichen Aspekte der Krise so

gegenüber zu stellen. Wie ich schon be-tont habe: Es ist eine Krise im marxi-stischen Sinne, denn sie hat ihre Wur-zeln im lang anhaltenden Fall der Pro-fitrate und dem Unvermögen, dass sie sich wieder erholt. Das ist die we-sentlichste Ursache des ausgedehnten Rückgangs der Kapitalakkumulation, der bis heute reicht. Die Profitrate der US-Unternehmen außerhalb der Fi-nanzwirtschaft war 2001 die niedrigste in der Nachkriegszeit – außer 1980. Die Unternehmen hatten deshalb gar keine andere Möglichkeit, als mit In-vestitionen und Einstellungen zurück-haltend zu sein und das Geschäftskli-ma weiter abzukühlen.

Das hat das ultra-langsame Wachs-tum des letzten Konjunkturzyklus aus-gemacht, der gerade zuende ist. Den-noch, um die jetzige Krise zu verste-hen, muss man den Zusammenhang zwischen der Schwäche der Realwirt-schaft und dem Finanzkollaps aufzei-gen. Das hauptsächliche Bindeglied ist die immer größer werdende Abhängig-keit der Wirtschaft von Krediten, um sie am Laufen zu halten, und das noch größere Vertrauen der Regierung auf das Steigen des Immobilien-Wert-Zu-wächse, um die Kreditvergabe weiter-hin zu ermöglichen.

Die Grundvoraussetzung für die Immobilien- und Kreditmarkblase war die Beibehaltung der niedrigen Kosten bei Krediten. Die Schwäche der Welt-wirtschaft, besondern nach den Kri-sen zwischen 1997 und 1998, sowie zwischen 2001 und 2002, und die rie-sigen Dollarankäufe der ostasiatischen Regierungen, um ihre Währungen bil-lig zu halten und den wachsenden US-Konsum zu ermöglichen, sorgten für einen ungewöhnlich niedrigen langfri-stigen Zinssatz. Zur gleichen Zeit hielt die US-Notenbank die kurzfristigen Zinssätze auf dem niedrigsten Stand seit den 50er Jahren. Weil sie sich so billig refinanzieren konnten, waren die Banken zunehmend bereit, Kredite an Spekulanten zu gewähren, deren Inve-stitionen in Anlageobjekte jeder Art de-ren Preise wiederum immer höher trieb während die Gewinn an den Darlehen (Zinssatz von Anleihen) immer weiter sanken.

Symptomatischerweise stiegen die Immobilienpreise und die Zinserträ-ge auf US-Staatsanleihen stürzten ab. Aber weil die Renditen immer weiter sanken, hatten Institute auf der ganzen

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Welt, die auf Erträgen aus dem Kre-ditgeschäft angewiesen waren, im-mer größere Mühe, ausreichende Ge-winne zu erzielen. Private Rentenver-sicherungen und Versicherungsfirmen waren besonders stark angeschlagen, aber auch Hedgefonds und Investment-banken waren betroffen.

Diese Einrichtungen waren somit allzu bereit, massive Investitionen in Wertpapiere zu tätigen, die durch frag-würdige, zweitklassige Hypotheken gesichert waren, weil sie ungewöhn-lich hohe Erlöse boten, und ignorierten dabei das ebenfalls ungewöhnlich hohe Risiko. Tatsächlich konnten sie nicht genug davon bekommen. Die verbrie-fung von Hypothekendarlehen machte es möglich, Kredite an Kunden mit im-mer schlechterer Bonität zu vergeben. Die Immobilienblase erreichte histo-rische Ausmaße, und das wirtschaft-liche Wachstum konnte sich fortset-zen.

Natürlich konnte das nicht lange so weiter gehen. Als die Immobilienpreise fielen, geriet die Realwirtschaft in eine Rezession und der Finanzsektor erlebte einen Kollaps, da beide ihre Dynamik von der Immobilienblase abhängig ge-macht hatten. Zurzeit verschlimmert die Rezession den Kollaps, weil sie die Immobilienkrise verschärft. Der Kol-laps intensiviert die Rezession, da der Zugang zu den Krediten dadurch so schwierig ist. Es ist die sich gegensei-tig verstärkende Wechselwirkung der Krise in der Realwirtschaft und dem Finanzsektor, die die Abwärtsfahrt für die politischen Entscheidungsträger so unlösbar gemacht hat – und die Mög-lichkeit der Katastrophe so offensicht-lich.

Selbst wenn man einräumt, dass der Nachkriegskapitalismus in eine Pe-riode des langen Abschwung in den 70er Jahren eingetreten ist, so scheint es doch unbestreitbar, dass die neoli-berale kapitalistische Offensive die Verschlimmerung des Abschwungs seit den 80er Jahren verhütet hat.

Wenn Sie mit Neoliberalismus die Wen-de zur Finanzwirtschaft und Deregulie-rung meinen, kann ich nicht sehen, wie das der Wirtschaft geholfen hat. Aber wenn Sie damit die Zunahme der An-griffe der Arbeitgeber und der Regie-rungen auf die Löhne, die Arbeitsbe-dingungen und den Sozialstaat meinen,

Robert Brenner ist Professor für Geschichte und Direktor des Zentrums für vergleichende Geschichtsforschung und Gesellschaftstheo-rie an der Universität von Kalifornien (UC-LA) in Los Angeles. Er ist Mitglied der mar-xistischen Organisation „Solidarity“ und ei-ner der Herausgeber der Zweimonatszeit-schrift Against the Current. Sein neuestes Buch The Economics of Global Turbulence – The Advanced Capitalist Economies from Long Boom to Long Downturn, 1945-2005 (Verso, 2006) ist noch nicht in andere Spra-chen übersetzt worden. Auf Deutsch liegen von ihm vor: das Buch Boom & Bubble – Die USA in der Weltwirtschaft (VSA, 2003), mit einem Nachwort von Frieder Otto Wolf zur „zweiten Brenner-Debatte“, sowie zwei Es-says: als Supplement zu Sozialismus 4/2004, Neuer Boom oder neuer Bubble? Ist der ge-genwärtige Aufschwung der US-Wirtschaft eine Seifenblase? sowie, als Supplement zu Sozialismus 5/2007, Gesellschaftliche Klas-sen und politischer Karneval – Die Kongress-wahlen 2006 und die Rechtsverschiebung in den Vereinigten Staaten.

Nebenbei:Die Angaben in dem deutschen Wikipedia-Artikel zu der „ersten Brenner-Debatte“ sind kompletter Unsinn. Diese bezogen sich auf ein völlig anderes Thema als das dort genann-te. Sie waren eine Fortsetzung der berühmten Debatte über den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, die in den frühen 1950er Jahren in Science and Society geführt wor-den ist.

Siehe:http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Paul_Brennerhttp://en.wikipedia.org/wiki/Robert_BrennerAston, T. H. / Philpin, C. H. E. (Hrsg.), The Brenner Debate. Agrarian Class Structure and Economic Development in Pre-Indus-trial Europe, mit einer Einleitung von R. H. Hilton, Cambridge, London, New York, New Rochelle, Melbourne, Sydney: Cambridge University Press, 1985, (Past and Present Publications, hrsg. von Paul Slack). – VIII, 339 S., mit Register. Paperback-Ausgabe 1987. 10 Beiträge, zuerst erschienen in Past & Pre-sent, Oxford, zwischen 1976 und 1982. Beiträge von Robert Brenner, M. M. Postan u. John Hatcher, Patricia Croot u. David Par-ker, Heide Wunder, Emmanuel Le Roy La-durie, Guy Bois, R. H. Hilton, J. F. Cooper, Arnost Klima.Der Übergang vom Feudalismus zum Ka-pitalismus, aus dem Englischen übersetzt von Hans-Günter Holl u. Hans Medick, Frankfurt/M.: Syndikat, 1978. – 276 S. Mit Beiträgen von Paul Sweezy, Maurice Dobb, Kohachiro Takahashi, Rodney Hilton, Christopher Hill, Georges Lefebvre, Giuliano Procacci, Eric Hobsbawm, John Merrington. Originalausgabe: The Transition from Feu-dalism to Capitalism, London: New Left Books, 1976.

Brenner, Robert: The Economics of Global Turbulence. The Advanced Capitalist Eco-nomies from Long Boom to Long Down-turn, 1945-2005, London u. New York: Ver-so, 2006. – XXIX, 369 S.

Robert Brenner

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dann gibt es keinen Zweifel, dass dies den noch stärkeren Fall der Profitrate verhinderte.

Allerdings hat die Offensive der Ar-beitsgeber nicht bis zur so genanten neo liberalen Ära der 80er Jahre ge-wartet. Sie begann im Kielwasser der fallenden Rentabilität der frühen 70er Jahre und ging einher mit dem Keyne-sianismus. Darüber hinaus führte sie nicht zu einem Aufschwung der Pro-fitrate, sondern verschärfte nur noch das Problem der gesamtwirtschaft-lichen Nachfrage. Die Schwäche der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage brachte schließlich die Wirtschaftsbe-hörden dazu, sich schlagkräftigeren und gefährlicheren Formen der Wirt-schaftsanreize zuzuwenden: dem Im-mobilien-Preis-Keynesianismus, der zu dem augenblicklichen Desaster führte.

Manche behaupten, dass ein neues Modell der „Finanzialisierung“ oder eines „finanzwirtschaftsgesteuerten Kapitalismus“ zwischen den 80er Jahren und heute eine „Wiederbe-lebung des Kapitals“ gestützt hat. Was denken Sie über solche Behaup-tungen?

Die Idee eines von der Finanzwirt-schaft gesteuerten Kapitalismus ist ein Widerspruch in sich, da im Gro-ßen und Ganzen – es gibt wichtige Ausnahmen, wie Verbraucherkredite – nachhaltige finanzwirtschaftliche Ge-winne von nachhaltigen Gewinnen in der Realwirtschaft abhängen. Um auf den Fall der Profitrate in der Realwirt-schaft zu reagieren, unterstützten eini-ge Regierungen, allen voran die Ver-einigten Staaten, den Schwenk zur Fi-nanzwirtschaft, indem sie die den Fi-nanzsektor liberalisierten. Aber da die Realwirtschaft weiter dahindümpelte, war das Hauptergebnis der Liberalisie-rung die Steigerung des Wettbewerbs im Finanzsektor, was es noch schwerer machte, Gewinn zu erzielen, und zu noch größeren Spekulationen und noch stärkerer Risikobereitschaft ermutigte.

Die Geschäftsführungen bei Invest-mentbanken und Hedgefonds konnten ein sagenhaftes Vermögen machen, da ihre Gehälter an kurzfristige Profite ge-koppelt waren. Sie konnten sich zeit-weise hohe Einkünfte sichern, indem sie die Vermögenswerte ihrer Firmen ausbauten und das Risiko vermehrten. Aber diese Art Geschäfte zu machen,

musste früher oder später auf Kosten der langfristigen wirtschaftlichen Ge-sundheit der eignen Firmen der Ge-schäftsführungen gehen, was schließ-lich zum eindrucksvollen Fall der füh-renden Investmentbanken an der Wall Street führte.

Jede so genannte Finanzerweiterung seit den 70er Jahren endete sehr schnell in einer verheerenden Finanzkrise und erforderte eine gewaltige Rettungsakti-on des Staates. Das war so beim Boom der Dritte-Welt-Kredite in den 70er und frühen 80er Jahren; die Sparein-lagen und Darlehen stiegen, der Wahn der Firmenaufkäufe mit Krediten und die gewerbliche Immobilienblase der 80er Jahre; die Aktienmarktblase in der zweiten Hälfte der 90er Jahre; und na-türlich die Wohnimmobilien- und Kre-ditmarktblase im 21. Jahrhundert. Der Finanzsektor erschien nur deshalb dy-namisch, weil die Regierungen bereit waren, alles Erdenkliche zur Unterstüt-zung zu tun.

Keynesianismus oder Dirigismus scheint als neuer Zeitgeist zurück zu kehren. Was ist Ihre generelle Einschätzung zur Wiederauferste-hung des Keynesianismus oder Di-rigismus? Kann dies die augenblick-liche Krise lösen oder zumindest mil-dern?

Die Regierungen haben heutzutage ei-gentlich keine andere Wahl, als zum Keynesianismus und dem Staat zu-rück zu kehren, um die Wirtschaft zu retten. Im Grunde genommen hat sich der freie Markt als komplett unfähig erwiesen, wirtschaftliche Katastrophen zu vermeiden bzw. zu bewältigen, ge-schweige denn Stabilität oder Wachs-tum zu sichern. Das ist der Grund, wa-rum die politischen Eliten, die gestern noch den liberalisierten Finanzmarkt feierten, nun plötzlich alle Keynesia-ner sind.

Aber es gibt berechtigte Zweifel da-ran, dass der Keynesianismus im Sinne von hohen Haushaltsdefiziten und Kre-diterleichterungen, um die Nachfrage anzukurbeln, die Wirkung hat, die viele erwarten. Tatsächlich waren wir in den letzten sieben Jahren aufgrund der Kre-ditaufnahmen und Ausgaben, die durch die Immobilienblase der US-Noten-bank und das Haushaltsdefizit der Bu-sh-Regierung angespornt waren,

Zeugen des faktisch vielleicht größ-

ten keynesianistischen Impulses in Friedenszeiten. Doch wir haben den schwächsten Konjunkturzyklus im Nachkriegszeitraum gehabt.

Heute ist die Herausforderung viel größer. Da die Immobilienblase ge-platzt ist und Kredite schwerer zu be-kommen sind, kürzen die Haushalte den Verbrauch und die Wohninvestiti-onen. In der Konsequenz erleben die Unternehmen den Rückgang der Profi-te. Aus diesem Grunde kürzen sie mit einem rasenden Tempo die Löhne, ent-lassen Beschäftigte und lösen damit eine Abwärtsspirale der rückläufigen Nachfrage und der rückläufigen Renta-bilität aus.

Die Haushalte haben lange Zeit auf die steigenden Immobilienpreise ge-setzt, die es ihnen ermöglichten, mehr Geld zu leihen und ihre Ersparnisse auszugeben. Aber jetzt, genau zu der Zeit, da die Wirtschaft es am nötigsten hätte, dass sie konsumieren, werden sie wegen der zunehmenden Verschuldung die Geldaufnahme einschränken und mehr sparen müssen. Wir können davon ausgehen, dass viel von dem Geld, das die Regierung in die Hände der Haus-halte gibt, gespart und nicht ausgege-ben wird. Was können wir von Keyne-sianismus in der schlimmsten Rezessi-on seit den 30er Jahren erwarten, wenn er während des Booms die Wirtschaft gerade noch antreiben konnte? Um ei-nen signifikanten Effekt auf die Wirt-schaft zu haben, muss die Regierung Obamas voraussichtlich eine große Welle von direkten oder indirekten Re-gierungsinvestitionen in Betracht zie-hen – faktisch eine Form des Staatska-pitalismus. Um das zu schaffen, wäre allerdings die Überwindung von unge-heuerlichen politischen und wirtschaft-lichen Hindernissen nötig.

Die US-amerikanische politische Kultur steht Staatsbetrieben extrem feindlich gegenüber. Gleichzeitig könnte das hierfür notwendige Maß an Ausga-ben und Staatsverschuldung den Dollar gefährden. Bis jetzt waren ostasiatische Regierungen sehr zufrieden damit, die US-amerikanischen Auslandsschulden und Regierungsdefizite zu finanzieren, um den US-Konsum und ihre eigenen Exporte zu stützen. Wenn die Krise so-gar China einholen sollte, könnten die-se Regierungen vielleicht ihre Möglich-keit verlieren, die US-Defizite zu finan-zieren. Besonders wenn sie auf ein bei-spielloses Maß anwachsen. Die wirklich

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Schrecken erregende Aussicht auf einen run auf den Dollar leuchtet bereits im Hintergrund auf.

Was ist Ihre grundsätzliche Ein-schätzung zum Sieg von Obama bei der letzten Präsidentschaftswahl? Viele behaupten, er sei der Fran-klin D. Roosevelt des 21. Jahrhun-derts und werde einen „neuen New Deal“ bringen. Sind Sie der Ansicht, dass die fortschrittlichen Antikapita-listInnen ihn bei einigen seiner poli-tischen Vorhaben kritisch unterstüt-zen können?

Der triumphale Sieg von Obama ist zu begrüßen. Ein Sieg für McCain wäre ein Sieg für die Republikaner gewesen, und hätte einen enormen Aufschwung für die reaktionärsten Kräfte in der po-litischen Szene der Vereinigten Staaten bedeutet. Es hätte wie eine Bestätigung für den Hyper-Militarismus und Impe-rialismus der Bush-Regierung ausge-sehen. Es wäre auch wie eine Bestäti-gung für seine ausdrückliche Absicht gewesen, alles zu beseitigen, was links von den Gewerkschaften ist, sowie für seine Absicht den Wohlfahrtsstaat und den Umweltschutz zu beseitigen.

Das heißt, Obama ist, ebenso wie Roosevelt, ein gemäßigter Demokrat, von dem man nicht erwarten kann, dass er von selbst viel für die Verteidigung der Interessen der großen Mehrheit der arbeitenden Menschen tut, die einem beschleunigten Angriff der Unterneh-men ausgesetzt sein werden, die sich in Erwartung ihrer einstürzenden Pro-fite vorbereiten, indem sie die Beschäf-tigtenzahlen senken, die Zahlungen re-duzieren usw.

Obama unterstützt das gigantische Hilfsprogramm für den Finanzsek-tor, das vielleicht den größten Raub an den US-amerikanischen Steuerzahlern in der amerikanischen Geschichte dar-stellt. Besonders, da es für die Banken an keine Bedingungen geknüpft war. Er unterstützte außerdem das Hilfspro-gramm für die Autoindustrie, obwohl es mit massiven Einschnitten bei den Löhnen der Automobilarbeiter gekop-pelt ist.

Die Quintessenz ist (wie bei Roose-velt), dass man bei Obama nur erwar-ten kann, dass er zum Schutz der arbei-tenden Menschen rigoros durchgreift, wenn er von organisierten Protestakti-onen von unten auf den Weg gebracht

wird. Die Regierung Roosevelt verab-schiedete die weitestgehend fortschritt-liche Gesetzgebung des New Deal, ein-schließlich des Wagner Act und des Sozialversicherungssystems auch nur, weil sie durch eine große Welle von Massenstreiks unter Druck gekommen war. Bei Obama können wir das Glei-che erwarten.

Krise und Expansion

Laut Rosa Luxemburg und in neue-rer Zeit David Harvey kann der Ka-pitalismus seine Krisentendenzen durch geographische Ausdehnung überwinden. Nach Harvey wird das oft durch massive staatliche Investiti-onen in die Infrastruktur erleichtert, die private Kapitalinvestitionen un-terstützen. Dabei handelt es sich oft-mals um ausländische Direktinvesti-tionen. Glauben Sie, dass der Kapi-talismus durch eine zeitlich-räum-liche Ausdehnung seine gegenwär-tige Krise überwinden kann?

Das ist ein komplexes Problem. Zu-nächst einmal denke ich, dass es wahr und sehr wichtig ist, darauf hinzuwei-sen, dass die geographische Ausdeh-

nung von wesentlicher Bedeutung für jede große Welle kapitalistischer Ak-kumulation war. Man kann sagen, dass das Anwachsen des Arbeitskräftereser-voirs und die geographische Ausdeh-nung des Systems wesentlich für das kapitalistische Wachstum sind. Der Nachkriegsboom ist ein gutes Beispiel: spektakuläre Ausdehnung des Kapitals in den Süden und Südwesten der USA und in die kriegszerstörten Gebiete von West-Europa und Japan.

In dieser Epoche spielten die Inve-stitionen von US-Konzernen sowohl in den USA als auch in West-Europa eine entscheidende Rolle. Ohne Frage wa-ren dieser Zuwachs an Arbeitskräften und diese geographische Ausdehnung unerlässlich für die hohen Profitraten, die den Nachkriegsboom so dynamisch machten. Vom marxistischen Stand-punkt gesehen handelte es sich um ei-ne klassische Welle der Kapitalakkumu-lation. Sie beinhaltete notwendiger Wei-se die Einbeziehung einer großen Mas-se von Arbeitskräften von außerhalb des Systems – vor allem aus den vorkapita-listischen ländlichen Gebieten Deutsch-lands und Japans – und die Eingliede-rung oder Wiedereingliederung eines großen geographischen Gebietes.

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Ich glaube allerdings, dass sich im Großen und Ganzen das Muster des langen Abschwungs seit den späten 1960er und frühen 1970er Jahren da-von unterscheidet. Tatsächlich hat das Kapital auf die sinkende Profitabilität mit weiterer Expansion nach außen re-agiert. Es setzte auf eine Kombination fortgeschrittener Technologie mit billi-ger Arbeitskraft. Es handelt sich natür-lich wesentlich um Ost-Asien und frag-los um einen welt-historischen Augen-blick, einen fundamentalen Wandel für den Kapitalismus.

Aber obwohl die Expansion nach Ost-Asien eine Antwort auf die sinken-de Profitabilität war, glaube ich nicht, dass es sich um eine zufriedenstellende Lösung handelt. Wenn man genau hin-schaut, dann dupliziert die in Ost-Asien so spektakulär entstandene Industrie-produktion zum großen Teil die Indus-trieproduktion, die es anderswo schon gibt; sie ist nur billiger. Vom Stand-punkt des Systems wird dadurch das Problem der Überkapazität verschärft statt gelöst.

Mit anderen Worten: die Globali-sierung war eine Antwort auf die sin-kende Profitabilität, aber da die neuen Industrien bezüglich der Weltarbeits-teilung keine ergänzende Funktion hat-ten, sondern überflüssig waren, gab es weiterhin das Problem mit der Profita-bilität.

Um das Problem der Profitabilität zu beseitigen, das das System schon so lange quält – es verlangsamt die Ak-kumulation und führt zu immer mehr Kreditaufnahme, um die Stabilität zu erhalten – benötigt es die Krise, die so lange hinausgeschoben wurde. Da die Überkapazität, die durch die Verschul-dung massiv verschärft wurde, das Pro-blem ist, ist es nötig, wie es die klas-sische Lehre sieht, dass das System um kostenintensive, wenig profitable Fir-men bereinigt wird, was in der Folge dazu führt, dass die Produktionsmittel billiger werden und der Preis der Ar-beitskraft reduziert wird.

Durch die Krise hat der Kapitalis-mus historisch die Profitrate wieder hergestellt und die notwendigen Be-dingungen für eine dynamischere Ka-pitalakkumulation geschaffen. Wäh-rend der Nachkriegsperiode wurden Krisen abgewehrt, aber der Preis dafür war, dass es nicht gelang, die Profita-bilität wiederherzustellen, was zu einer immer schlimmer werdenden Stagnati-

on führte. In der gegenwärtigen Krise geht es um diese Bereinigung, die nie stattgefunden hat.

Dann gehen Sie also davon aus, dass die Krise nur durch die Krise gelöst werden kann? Das ist eine klassisch marxistische Antwort.

Ich denke, dass das wahrscheinlich der Fall ist. Die Analogie wäre diese: Zu-erst, in den frühen 1930er Jahren, er-wiesen sich der New Deal und der Keynesianismus als ineffektiv. Es ist eine Tatsache, dass es während der ge-samten 1930er Jahre nicht gelang, die Bedingungen für einen neuen Boom zu schaffen. Das wurde durch die tiefe Wirtschaftsrezession von 1937–1938 demonstriert. Aber schließlich wur-den im Verlauf der langen Krise in den 30er Jahren die kostenintensiven, we-nig produktiven Produktionsmittel ab-geschüttelt und dadurch die Basis für hohe Profitraten geschaffen.

Am Ende der Dreißigerjahre konn-te man sagen, dass die potentielle Pro-fitrate hoch war, und alles was fehl-te, war ein Anschub der Nachfrage. Er wurde natürlich durch die massiven Rüstungsausgaben für den 2. Weltkrieg geliefert. Während des Krieges gab es also hohe Profitraten, und diese ho-hen Profitraten waren die notwendige Bedingung für den Nachkriegsboom. Aber ich glaube nicht, dass die keyne-sianische Defizitwirtschaft funktioniert hätte, selbst wenn man sie 1933 aus-probiert hätte, weil zuerst – in marxi-stischer Ausdrucksweise – eine Berei-nigungskrise notwendig war.

Gehen Sie davon aus, dass die gegen-wärtige Krise die US-Hegemonie in Frage stellen wird? Weltsystemthe-oretiker wie Immanuel Wallerstein, der auch von der Zeitung Hankyoreh interviewt wurde, argumentieren, dass die Hegemonie des US-Imperi-alismus schwächer wird.

Das ist wiederum eine sehr komplexe Frage. Vielleicht liege ich falsch, aber ich denke, dass viele derjenigen, die glauben, dass es eine Schwächung der US-Hegemonie gegeben hat, sie haupt-sächlich als Ausdruck der geopoli-tischen Macht, letztlich Gewalt, der USA sehen. Von diesem Standpunkt ist es hauptsächlich die Vorherrschaft der USA, die deren führende Rolle begrün-

det. Es ist die Gewalt der USA über und gegen andere Länder, die sie an der Spitze hält.

Ich sehe die Hegemonie der USA nicht so. Ich denke, dass die Welte-liten, insbesondere die Eliten des ka-pitalistischen Zentrums im weitesten Sinn, sehr froh über die Hegemonie der USA sind, weil es für sie bedeutet, dass die Vereinigten Staaten die Rol-le und Kosten des Weltpolizisten über-nehmen. Ich denke, dass das auf die Eliten selbst der ärmsten Länder heu-te zutrifft.

Was ist das Ziel des US-Weltpo-lizisten? Es geht nicht darum, ande-re Länder anzugreifen – hauptsächlich handelt es sich darum, die soziale Ord-nung zu erhalten und stabile Bedin-gungen für die globale Kapitalakku-mulation zu schaffen. Das Hauptziel ist es, alle Bedrohungen des Kapitalismus durch Volksbewegungen auszuschalten und die existierenden Klassenstruk-turen zu stützen.

Während des größten Teils der Nachkriegsperiode gab es nationa-listisch-etatistische Bedrohungen der freien Kapitalherrschaft, hauptsächlich von unten. Fraglos wurden sie mit der brutalst möglichen Gewalt der USA konfrontiert, dem nacktesten Ausdruck der Vorherrschaft der USA. Während es innerhalb des Zentrums des Systems die Hegemonie der USA gab (generelle Übereinstimmung, die nur in der letz-ten Analyse durch die Drohung mit mi-litärischer Macht erzwungen wurde – die Herausgeber), wurde sie nach au-ßen mit Gewalt durchgesetzt.

Aber mit dem Fall der Sowjet Uni-on, dem Einschlagen des kapitali-stischen Weges durch China und Viet-nam und der Niederlage von nationalen Befreiungsbewegungen in Gebieten wie dem südlichen Afrika und Zen-tralamerika wurde der Widerstand ge-gen das Kapital in der sich entwickeln-den Welt sehr geschwächt, zumindest für den Augenblick. Heutzutage wür-den die Regierungen und Eliten nicht nur West- und Ost-Europas, Japans und Koreas sondern auch Brasiliens, Indi-ens und Chinas – fast jedes beliebigen Landes – die Fortdauer der Hegemonie der USA begrüßen.

Die Hegemonie der USA wird nicht fallen, weil eine andere Macht auf-stiege, die fähig wäre, um die Weltherr-schaft zu kämpfen. Vor allem China zieht die Hegemonie der USA vor. Die

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ÖKONOMIE

Vereinigen Staaten planen keinen An-griff auf China und haben bis jetzt ih-re Märkte für chinesische Exporte weit offen gehalten. Mit dem US-Weltpo-lizisten, der immer freiere Handels- und Kapitalbewegungen sichert, war es China möglich, durch Produktions-kosten auf gleicher Ebene zu konkur-rieren, was unglaublich vorteilhaft für China war und ist – es könnte nicht besser sein.

Kann die Hegemonie der USA in der gegenwärtigen Krise bestehen blei-ben? Das ist eine schwierigere Frage. Aber ich denke, dass die Antwort zu-nächst einmal ein Ja ist. Die Welteliten wollen nichts mehr, als die gegenwär-tige globalisierte Ordnung bewahren, und die Vereinigten Staaten sind der Schlüssel dazu. Keine der Welteliten versucht, die Krise oder die enormen ökonomischen Probleme der Vereini-gten Staaten auszunutzen, um ihre He-gemonie in Frage zu stellen.

China sagt immer wieder: „Wir werden nicht weiterhin die USA dafür bezahlen, dass sie so wie bisher wei-ter machen können“, und dabei bezieht es sich darauf, wie China während des letzten Jahrzehnts die Rekorde bre-chenden Handelsbilanzdefizite und die jetzt entstehenden gigantischen Haus-haltsdefizite der USA stützte. Meinen Sie, dass China die Verbindung zu den Vereinigten Staaten abgebrochen hat? Keineswegs. China steckt nach wie vor soviel Geld in die US-Wirtschaft wie es kann, um sie am Funktionieren zu hal-ten, damit China sich so weiterentwi-ckeln kann wie bisher.

Natürlich ist das Gewünschte nicht immer möglich. China kann so tief in die Krise rutschen, dass es sich nicht mehr länger leisten kann, die US-De-fizite zu finanzieren. Oder die Aufblä-hung dieser Defizite und das Drucken von Geld durch die Federal Reserve führen zum Verfall des Dollars und lö-sen eine wahre Katastrophe aus.

Wenn so etwas geschieht, dann müsste eine neue Ordnung geschaffen werden. Aber unter den Bedingungen einer tiefen Krise wäre das extrem schwierig. Unter solchen Bedingungen könnten die Vereinigten Staaten und auch andere Staaten leicht auf ökono-mischen Protektionismus, Nationalis-mus und selbst Krieg zurückgreifen. Ich denke, dass die Welteliten zurzeit noch versuchen, das zu vermeiden – sie sind dafür nicht bereit. Was sie wollen

ist, die Märkte und den Handel offen zu halten.

Sie haben begriffen, dass die Staaten zuletzt zur Zeit der Großen De-pression auf das Mittel des Protektio-nismus zurückgegriffen haben, um das Problem zu lösen, wodurch die Depres-sion nur schlimmer wurde. Denn wenn einige Staaten auf den Protektionis-mus zurückgreifen, dann tun das auch die anderen, und es gibt keinen Welt-markt mehr. Danach kamen natürlich Militarismus und Krieg. Das Schließen der Weltmärkte wäre heutzutage offen-sichtlich eine Katastrophe, und so tun die Regierungen alles in ihrer Macht Stehende, um ein protektionistisches, etatistisches, nationalistisches und mi-litaristisches Ergebnis zu verhindern.

Aber Politik besteht nicht da-raus, was die Eliten wollen; und was die Eliten wollen, ändert sich im Ver-lauf der Zeit. Außerdem sind die Eliten im Allgemeinen uneins, und die Poli-tik ist autonom. So kann es zum Bei-spiel schwerlich ausgeschlossen wer-den, dass Sie eine Rückkehr zu einer äußerst rechten Politik mit Protektio-nismus, Militarismus, Fremdenfeind-lichkeit, Nationalismus sehen werden, wenn die Krise sehr schlimm wird – was keine große Überraschung wäre.

Diese Sorte Politik könnte nicht nur für breite Teile der Bevölkerung anzie-hend sein. Wachsende Teile der Wirt-schaft könnten sie in Anbetracht ihrer wegbrechenden Märkte, der Depressi-on des Systems, des Bedürfnisses nach Schutz vor Konkurrenz und staatlicher Unterstützung durch Militärausgaben als den einzigen Ausweg ansehen. Das war natürlich die Antwort, die während der Krise in der Zwischenkriegsperio-de im größten Teil Europas und in Ja-pan vorherrschte. Zurzeit ist die Rechte wegen der Misserfolge der Bush Admi-nistration und der Krise in der Defensi-ve. Aber wenn sich die Obama-Admi-nistration nicht in der Lage sieht, den wirtschaftlichen Zusammenbruch zu verhindern, kann die Rechte sich leicht wieder erholen – insbesondere deshalb, weil die Demokraten wirklich keine ideologische Alternative bieten.

Die Situation in Asien

Sie haben von einer möglichen Kri-se in China gesprochen. Was denken Sie über den gegenwärtigen Zustand der chinesischen Wirtschaft.

Ich denke, dass die chinesische Krise viel schlimmer sein wird, als die Leu-te erwarten, und zwar aus zwei Haupt-gründen. Zunächst ist die amerika-nische und allgemein die globale Kri-se viel schwerer, als die Leute glauben, und in letzter Analyse ist das Schicksal der chinesischen Wirtschaft untrennbar mit dem Schicksal der US- und der glo-balen Wirtschaft verbunden. Und das nicht nur, weil China in einem so groß-en Ausmaß von Exporten in den US-Markt abhängig ist. Der größte Teil des Rests der Welt ist auch abhängig von den Vereinigten Staaten, und das trifft insbesondere auf Europa zu.

Wenn ich mich nicht täusche, dann wurde Europa kürzlich zum größten Exportmarkt Chinas. Aber da die Kri-se, die ihren Ursprung in den Verei-nigten Staaten hat, auch Europa nach unten zieht, wird auch der europä-ische Markt für chinesische Exporte schrumpfen. Daher ist die Situation für China viel schlimmer, als die Leute er-warteten, weil die ökonomische Krise viel schlimmer ist, als die Leute erwar-teten.

Zweitens haben die Leute in ih-rem Enthusiasmus für Chinas wirklich spektakuläres wirtschaftliches Wachs-tum die Rolle der Blasen übersehen, die Chinas Wirtschaft antrieben. Chi-na ist hauptsächlich durch Exporte ge-wachsen, insbesondere durch einen wachsenden Handelsüberschuss mit den Vereinigten Staaten. Wegen dieses Überschusses musste die chinesische Regierung politische Schritte unter-nehmen, um den Wechselkurs der chi-nesischen Währung niedrig und die chinesische Produktion konkurrenzfä-hig zu halten. Insbesondere hat sie in gigantischem Ausmaß auf den Dollar gestützte Werte gekauft und dafür in großem Stil Renminbi, die chinesische Währung, gedruckt. Aber das Ergebnis war, dass große Geldmengen in die chi-nesiche Wirtschaft gepumpt wurden, was über eine lange Periode zu einem immer leichteren Zugang zu Krediten führte.

Auf der einen Seite haben Unter-nehmen und örtliche Regierungen die-sen leichten Kredit dazu verwendet, um massive Investitionen zu finanzie-ren. Aber das hat zu immer größerer Überkapazität geführt. Auf der anderen Seite haben sie diesen leichten Kredit dazu verwendet, um Land, Häuser, Ak-tien und andere Arten finanzieller An-

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ÖKONOMIE

lagen zu kaufen. Aber das hat zu mas-siven Preisblasen geführt, die, wie in den Vereinigten Staaten ihren Teil da-zu beigetragen haben, mehr zu leihen und auszugeben.

Wenn die chinesischen Blasen plat-zen, dann wird das ganze Ausmaß der Überkapazität klar werden. Wenn die chinesischen Blasen platzen, dann wird das, wie im größten Teil der restlichen Welt, zu einem schweren Schlag für die Konsumnachfrage und zu einer zerstö-rerischen Finankrise führen. Die zen-trale Aussage ist daher, dass die chine-sische Krise sehr ernst ist, und dass sie die globale Krise bedeutend tiefer ma-chen kann.

Sie gehen also davon aus, dass die kapitalistische Überproduktionslo-gik auch für China gilt?

Ja, wie in Korea und großen Teilen Ostasiens in den späten 90er Jahren. Es ist nicht so unähnlich. Das einzige, was bisher noch nicht geschehen ist, ist ei-ne solche Neubewertung der Währung wie in Korea, die die Industrieexpan-sion im wahrsten Sinne des Wortes er-stickt hat. Die chinesische Regierung tut alles, um das zu verhindern.

Sie stimmen also nicht zu, wenn die chinesische Gesellschaft als eine Art nicht-kapitalistischer Marktwirt-schaft charakterisiert wird?

Nicht im Mindesten.

Dann gehen Sie davon aus, dass das heutige China kapitalistisch ist?

Ich denke, dass es völlig kapitali-stisch ist. Man könnte sagen, dass Chi-na in den 80er Jahren eine nicht-kapi-talistische Marktwirtschaft hatte, die aufgrund von städtischen und dörf-lichen Unternehmen (town and villa-ge enterprises – TVE) ein eindrucks-volles Wachstum aufwies. Sie befan-den sich in öffentlichem Eigentum, im Eigentum örtlicher Regierungen, agier-ten aber auf Marktbasis. Man könnte sagen, dass durch diese ökonomische Form der Übergang zum Kapitalismus initiiert wurde. Vielleicht handelte es sich bis in die frühen 90er Jahre um ei-ne Art nicht-kapitalistischer Marktge-sellschaft, insbesondere weil es da noch einen sehr großen industriellen Sektor

gab, der dem Zentralstaat gehörte und nach Planungsgrundsätzen arbeitete. Aber ab diesem Zeitpunkt gab es einen Übergang zum Kapitalismus, der jetzt mit Sicherheit abgeschlossen ist.

Was denken Sie über die Schwe-re der kommenden koreanischen Wirtschaftskrise? Meinen Sie, dass sie schwerer sein könnte als die IMF-Krise von 1997/1998? Um der kommenden Krise zu begegnen, wiederbelebt die Lee Myung-Re-gierung jetzt die staatlich geführte Investitionspolitik zur Durchfüh-rung großer gesellschaftlicher In-frastrukturprojekte im Stile von Park-Chung-hee. Es handelt sich insbesondere um den „Großen Ka-nal“ auf der koreanischen Halbin-sel. Gleichzeitig kopiert sie Obamas grüne Wachstumspolitik. Gleichzei-tig versucht die Lee Myung-Regie-rung aber, die neoliberale Deregu-lations-Politik der Periode nach der Krise von 1997 fortzuführen; insbe-sondere geht es ihr um den Freihan-delsvertrag zwischen den USA und Korea. Man könnte das als ein hy-brides Vorgehen charakterisieren, bei dem eine anachronistisch an-mutende Rückkehr zur staatlich gelenkten Entwicklungspolitik im Stile Park Chung-hees kombiniert wird mit zeitgenössischem Neolibe-ralismus. Wird das bei der Bekämp-fung oder Abmilderung der Krise effektiv sein?

Ich bezweifle, dass das effektiv sein wird. Nicht notwendiger Weise weil es einen Rückgriff auf den staatlich geführten organisierten Kapitalismus Park Chung-hees darstellt, oder weil es den Neoliberalismus einschließt. Wie immer er intern organisiert ist, so ist er doch abhängig von der Globali-sierung und zwar zu einem Zeitpunkt, wo die globale Krise zu einer extremen Schrumpfung des Weltmarkts führt. Wir haben gerade über China gespro-chen und ich habe argumentiert, dass China wohl in große Schwierigkeiten kommt. Aber China hat niedrige Löh-ne, einen potentiell sehr großen Bin-nenmarkt, und es ist vorstellbar, dass es so im Laufe der Zeit die Krise besser meistern könnte als Korea. Aber da bin ich mir gar nicht sicher.

Ich denke, dass Korea hart getrof-

fen werden wird. 1997–1998 wurde es schwer getroffen, aber es wurde geret-tet durch die Aktienmarktblase in den USA und das dadurch hervorgerufene Anwachsens des Leihens, Geldaus-gebens und der Importe. Aber als die Wall-Street-Aktienmarktblase 2000–2002 platzte, geriet Korea in eine Kri-se, die schwerer zu sein versprach als die von 1997/1998. Die Immobilien-blase in den USA rettete Korea in der jüngsten Periode. Jetzt ist die zweite US-Blase in sich zusammengebrochen und es gibt keine dritte Blase, um Ko-rea aus der Krise zu helfen.

Es geht weniger darum, dass Ko-rea falsch handelt. Es geht vielmehr darum, dass ich nicht glaube, dass es einen einfachen Ausweg für irgendei-nen Teil des kapitalistischen Systems gibt, das sich zu einem wirklich globa-len System entwickelt hat, in dem alle Teile voneinander abhängig sind.

Sie meinen also, dass das externe Umfeld sehr viel schlechter ist als je-mals vorher.

Das ist der Hauptpunkt.

Was sind also die dringlichsten Auf-gaben der fortschrittlichen Kräfte in Korea? Die koreanischen Progres-siven sind gegenüber Lee Myung-bak sehr kritisch eingestellt, weil Lee sehr reaktionär ist. Normaler-weise unterstützen sie das Wachstum des Wohlfahrtstaats und die Umver-teilung von Einkommen als Alter-native zu Lees Projekt der Investi-tion in den Kanalbau. Das ist heu-te das zentrale Thema in der kore-anischen Gesellschaft. Die korea-nischen Progressiven weisen darauf hin, dass Lee Myung-bak zwar über grünes Wachstum redet, dass aber seine Bauprojekte ganze Lebensmi-lieus zerstören würden. Stimmen sie mit ihnen überein?

Wir sollten solche ökologisch zerstöre-rischen Projekte ablehnen.

Glauben Sie, dass es eine angemes-sene Strategie für koreanische Pro-gressive wäre, inmitten der wirt-schaftlichen Krise zu versuchen, ei-nen Wohlfahrtsstaat nach schwe-dischem Vorbild aufzubauen?

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ÖKONOMIE

Ich glaube, das Wichtigste, was korea-nische Progressive tun können, ist die Stärkung der koreanischen Arbeiteror-ganisationen. Nur durch den Wieder-aufbau der koreanischen Arbeiterbewe-gung kann die Linke die Kraft entfal-ten, die sie benötigt um durchzusetzen, was immer sie fordert. Die arbeiten-de Bevölkerung kann ihre Macht nur entwickeln, in dem sie im Verlauf des Kampfes neue Organisationen aufbaut, und nur im Verlauf des Kampfes wird sie zu fortschrittlicher Politik finden bzw. entscheiden, was fortschrittliche Politik im gegenwärtigen Moment ist.

Ich denke, der beste Wege eine lin-ke politische Antwort aufzubauen, ist es, den Leuten, die am meisten betrof-fen sind, zu helfen, die Organisation und die Macht zu erringen, die es ih-nen ermöglicht, zu entscheiden, was in ihrem gemeinsamen Interesse ist. An-statt zu versuchen, in technokratischer Weise herauszufinden, was die beste Antwort ist, ist es für die Linke zentral, sich auf den Wiederaufbau der Macht der arbeitenden Bevölkerung zu kon-zentrieren.

Die koreanische Arbeiterbewegung ist seit der Krise von 1997/1998 sehr geschwächt. Als Minimum, als zen-trale Aufgabe müssen die Progressiven alles in ihrer Macht stehende tun, um das Umfeld für die Organisierung der ArbeiterInnen und das Wiedererstar-ken der Gewerkschaften zu verbessern. Das gilt nicht nur für Korea, sondern überall in der Welt. Das ist die zen-trale Aufgabe. Ohne den Aufschwung der Kampfkraft der Arbeiterbewegung, wird die Linke sehr schnell herausfin-den, dass die meisten Fragen von Re-gierungspolitik rein akademisch sind. Ich meine, wenn die Linke die staatli-che Politik beeinflussen will, dann be-darf es einer Veränderung, einer großen Veränderung des Kräfteverhältnisses der Klassen.

Erwarten Sie, dass es für Progressive in der Welt einen Durchbruch geben wird nach den Fehlschlägen für den Neoliberalismus in letzter Zeit?

Die Niederlage des Neoliberalismus erzeugt definitiv bedeutende Möglich-keiten, die die Linke vorher nicht hat-te. Der Neoliberalismus hatte für große Teile der Bevölkerung nie eine große

Anziehungskraft. Arbeitende Men-schen identifizierten sich nie mit freien Märkten, freier Finanzwirtschaft und dem ganzen Kram. Aber ich denke, dass ein großer Teil der Bevölkerung von TINA (There is no Alternative – es gibt keine Alternative) überzeugt war.

Aber jetzt hat die Krise den totalen Bankrott der neoliberalen Wirtschafts-organisation offengelegt. Und Sie kön-nen bereits den Wandel sehen, wie er sich machtvoll in der Gegnerschaft der arbeitenden Bevölkerung Amerikas zur „Rettung“ der Banken und des Finanz-sektors manifestiert. Die Leute sagen heute: „ Man sagt uns, dass die Rettung der Finanzinstitute, der Finanzmär-kte der Schlüssel zur Wiederherstel-lung der Wirtschaft und der Prosperi-tät ist. Aber wir glauben das nicht. Wir wollen nicht, dass noch mehr von un-serem Geld in die Hände dieser Leute gelangt, die uns nur ausrauben.“

Es gibt ein ideologisches Vakuum, folglich gibt es eine Offenheit für lin-ke Ideen. Das Problem ist, dass die ar-beitende Bevölkerung nur in geringem Maße organisiert ist, von politischem Ausdruck einmal ganz abgesehen. Man kann sagen, dass die Änderung des po-litischen Umfelds oder des ideolo-gischen Klimas große Möglichkeiten eröffnet hat, aber von selbst wird das nicht zu einem fortschrittlichen Ergeb-nis führen.

Noch einmal, die zentrale Aufga-be von Progressiven – von allen linken AktivistInnen – ist es, aktiv an der Wie-derbelebung der Organisationen der ar-beitenden Bevölkerung mitzuwirken. Ohne den Wiederaufbau der Kraft der Arbeiterklasse wird nur wenig progres-siver Wandel möglich sein, und der ein-zige Weg, diese Kraft wieder aufzu-bauen, ist die Mobilisierung für direkte Aktionen. Nur wenn die arbeitende Be-völkerung kollektive Massenaktionen durchführt, wird sie in der Lage sein, die Organisation und Kraft zu schaffen, die die soziale Basis für die Transfor-mation ihres eigenen Bewusstseins, für politische Radikalisierung ist.

Aus: Against the Current 139, März-April 2009

Übersetzung aus dem Englischen: Sas-kia Schumann u. Wolfgang Weitz

Michel HussonKapitalismus purDeregulierung, Finanzkriseund weltweite RezessionEine marxistische Analyse200 Seiten, 19,80 EuroISBN 978-3-89 900-131-0Eine marxistische Analyse der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise und ihrer politischen und sozialen Verwerfungen

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NACHRuF

Hoang Khoa Khoi (1917–2009)Jean-Michel Krivine

Im Alter von 92 Jahren ist unser viet-namesischer Genosse Hoang Khoa Khoi, der uns sehr viel bedeutet hat, am 9. April gestorben. Eine Woche da-rauf haben sich seine Familie, Freunde und Freundinnen vor dem Krematori-um des Friedhofs Père-Lachaise [in Paris] versammelt, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Er war der älteste noch lebende vietnamesische Trotzkist. Mit 20 000 weiteren ONS (Ouvriers non-spécia-lisés – unqualifizierte Arbeiter) war er 1939 nach Frankreich gekommen; die Kolonialregierung hatte sie zum Ersatz der an die Front geschickten Arbeiter zwangsverpflichtet. Khoi wurde 1942 wegen „kommunistischer Propagan-da“ ins Gefängnis von Sorgues [Klein-stadt bei Avignon] geworfen; erst im Jahr darauf sollte er sich der Vierten Internationale anschließen. Als er aus dem Gefängnis herauskam, begegnete er einem jungen Vietnamesen namens Dang Van Long, der das Verbrechen begangen hatte, eine Petition gegen den Kommandanten seines Lagers zu unterschreiben. Long wurde sein bester Freund und trat vier Jahre danach eben-falls der Vierten Internationale bei.

Ab 1945 beteiligte Khoi sich an den Aktivitäten der „Parti Commu-niste Internationaliste“ (PCI, der fran-zösischen Sektion der Vierten Inter-nationale), später war er auch in der Leitung der PCI; mit einer Reihe von Landsleuten bildete er die „Grou-pe Trotskyste Vietnamien en France“ (Vietnamesische Trotzkistische Grup-pe in Frankreich), erst als Mitglieder der PCI, später der Nachfolgeorgani-sation LCR. Auf dem 5. Weltkongress der Vierten Internationale im Dezem-ber 1957 wurden zwei vietnamesische Mitglieder (einer war Khoi) in das Internationale Exekutivkomitee der Vierten Internationale gewählt.

Ich fühlte mich durch den ersten Vietnamkrieg1 sehr betroffen; ich war

1 Nach der Augustrevolution 1945 und der Pro-klamation der Unabhängigkeit Vietnams von französischer Kolonialherrschaft und japani-scher Besatzung begann im November 1946

ab 1947 politisch aktiv, als ich den „Jeunesses Socialistes“ beitrat (dem sozialdemokratischen Jugendver-band, dessen Leitung zunächst von dem trotzkistischen Kern nichts mit-bekam, der sich in ihr entwickelte). Nachdem der Verband von der Partei-leitung aufgelöst worden war, trat ich der kommunistischen Partei (der „Par-ti Communiste Français“, PCF) bei, die ich auch nach meinem Anschluss an die Vierte Internationale im Jahr 1956 nicht verließ. In den 1960er Jah-ren lernte ich Khoi unter seinem Pseu-donym „Robert“ kennen. Da ich mich von seiner Bildung, seinem Charisma, seiner Güte und seiner internationa-listischen Einstellung angezogen fühl-te, trat ich der „Groupe Vietnamien“ bei, ich war das einzige „weiße“ Mit-glied.

Unsere wöchentlichen Versamm-lungen fanden in Khois Wohnung in der Rue Saint-Ambroise im 11. Arron-dissement von Paris statt. Dass ich eine Leidenschaft für Vietnam entwickelte, habe ich ihm zu verdanken; ich bekam fünf Mal die Gelegenheit, dieses Land zu besuchen. Die beiden ersten Reisen waren die interessantesten, denn sie fanden 1967 – während des US-Kriegs – im Zusammenhang mit dem „Rus-sell-Tribunal“ statt. Da die Nordviet-namesen wussten, dass ich Mitglied der PCF war (aus der ich erst 1970 ausgetrat), brachten sie mich bis zum 17. Breitengrad (zur Grenze mit dem von den USA besetzten Südvietnam)

der erste Indochinakrieg oder „französische Krieg“ gegen den Versuch der französischen Regierung, die ehemalige Kolonie, die 1941 kampflos japanischen Truppen überlassen wor-den war, wieder zu besetzen. Auf vietnamesi-scher Seite wurde der Krieg von der Liga für die Unabhängigkeit Vietnams (Viêt Minh) ge-führt, die unter der Führung der Indochinesi-schen Kommunistischen Partei (mit Ho Chi Minh an der Spitze) stand. Nach der Nieder-lage des französischen Expeditionskorps in der Schlacht von Dien Bien Phu im Mai 1954 und dem Genfer Abkommen vom Juli 1954 endete dieser Krieg mit dem Abzug der französischen Truppen und der Teilung Vietnams entlang des 17. Breitengrads in die Demokratische Re-publik Vietnam im Norden und die Republik Vietnam im Süden.

herunter, was bei Ausländern selten der Fall war. Dann wurde für mich ei-ne Reise mit den Guerillakämpfern und -kämpferinnen im Süden organi-siert.

Die Vietnamesische Gruppe gab eine Zeitschrift mit dem Titel Nghien Cuu in der Sprache ihres Herkunfts-lands heraus, die in einer kleinen Auf-lage verbreitet wurde. 1986 beschlos-sen wir gemeinsam, sie einzustellen und eine französischsprachige Vier-teljahreszeitschrift herauszugeben. Sie erschien unter dem Titel Chro-niques Vietnamiennes und wurde, wie auf dem Umschlag zu lesen war, von der „Groupe Trotskyste Vietnamien en France (LCR)“ herausgegeben. Ro-bert verfasste fast alle Leitartikel, die mit „Ha Cuong Nghi“ gezeichnet wa-ren.

Ich schrieb manchmal unter meinem richtigen Namen, manchmal als „Bui-Thien-Chi“. Die Zeitschrift erschien von September 1986 bis Som-mer 1991 in einer Auflage von 2000 Exemplaren [elf Ausgaben und eine Sondernummer]. Im Herbst 1997 er-schien noch ein Sonderheft mit einem Artikel mit der Überschrift „Wer er-mordete Ta Thu Thâu und die vietna-mesischen Trotzkisten?“, den Robert 1992 unter seinem richtigen Namen geschrieben hatte.2 Zu diesem The-ma war 1987 bereits ein Dossier ver-öffentlicht worden.

Hinzuzufügen wäre, dass wir 1967 nach meiner Rückkehr aus Vietnam auf Bitten des Gesundheitsministers Pham Ngoc Thach eine „Associati-

2 Zu dem südvietnamesischen Lehrer und trotz-kistischen Aktivisten Ta Thu Thâu (1906–1945), der im September 1945 von An-gehörigen der Viêt Minh ermordet wur-de, siehe http://en.wikipedia.org/wiki/Ta_Thu_Thau und die dort verzeichne-te Literatur auf Englisch und Französisch. Zu der Repression der französischen Koloni-almacht und der vietnamesischen Stalinisten siehe auch die Informationen von Lang tu Van im Anhang zu: L’Internationale dans la guerre (1940-1946), hrsg. von Rodolphe Prager, Pa-ris: Editions La Brèche, 1981, (Les congrès de la IVe Internationale. Manifestes, thèses, réso-lutions, Bd. 2), S. 466–469.

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on Médicale Franco-Vietnamienne“ (AMFV) für medizinische Nothilfe bildeten. Darin war ich bis 1973 sehr aktiv. Robert war natürlich weder Arzt noch Krankenpfleger, aber seine Rat-schläge waren für uns sehr wertvoll.

Zu erwähnen ist außerdem, dass in der IV. Internationale in den Siebziger- und Achtzigerjahren eine hitzige De-batte über die Gefahr der Bürokratisie-rung der vietnamesischen Gesellschaft nach dem Modell der Länder des „real existierenden Sozialismus“ stattfand. Eine Reihe von Genossen und Genos-sinnen dachte (und hoffte), dass dieses Risiko in Anbetracht des vorbildlichen Kampfs der vietnamesischen kommu-nistischen Partei „vermeidbar“ sei und dass es nicht zur „Kristallisierung“ ei-ner bürokratischen Kaste wie in der UdSSR oder den Volksdemokratien kommen werde. Robert und seine Ge-nossen waren entgegengesetzter Auf-fassung und erklärten, Vietnam befin-de sich bereits unter einer „bürokra-tischen Diktatur“. Es genügt, den Ar-tikel „Die Bürokratie in Vietnam“ zu lesen, einen ihrer Texte, der 1976 auf Französisch geschrieben und 1985 in Nghien Cuu veröffentlicht worden ist. Ich habe mich unter dem Pseudonym Louis Couturier an diesen Debatten beteiligt.3

3 Vergleichsweise einfach zugänglich ist ein Beitrag vom Juni 1973, der auf Englisch in der Zeitschrift der US-amerikanischen Socia-list Workers Party (SWP) erschienen ist: Louis Couturier, „The Vietnamese Communist Party and Its Leadership“, in: International Socialist Review, New York, Jg. 36 [irrtümliche Angabe: „Vol. 35“], Nr. 2, Februar 1975, S. 28–35.

2001 starb Khois enger Freund Dang Van Long im Alter von 82 Jah-ren. Robert schrieb ihm zu Ehren ei-nen bewegenden Text, der bei der Bei-setzung in Montreuil verlesen wurde. Der Schluss scheint mir die beste Art und Weise zu sein, auch von ihm Ab-schied zu nehmen: „Wenn ich an die-sem Tag des Trauerns und der Betrüb-nis einige Erinnerungen wachrufe, dann tue ich das, um deutlich zu ma-chen, wie wichtig Deine Freundschaft für mich gewesen ist. Dein Tod ist für uns alle ein großer Verlust. Wir haben einen Genossen, einen Freund, einen Bruder verloren. Wir haben ein au-ßerordentliches Wesen verloren, des-sen Eigenschaften uns noch lange als Beispiel dienen werden. Adieu, lieber Bruder, möge Deine Seele in Frieden ruhen.“

Jean-Michel Krivine, ein Bruder Alain Kri-vines, ist Chirurg. Er nahm an einer Delega-tion des Bertrand-Russell-Tribunals teil, die 1967 in Vietnam US-amerikanische Kriegs-verbrechen untersuchte; zwischen 1975 und 1987 reiste er drei weitere Male nach Viet-nam. Er hat hierüber in einem leider be-reits vergriffenen Buch berichtet: Jean-Mi-chel Krivine, Carnets de missions au Viet-nam (1967-1987). Des maquis au „socialis-me du marché“, Paris: Editions Les Indes sa-vantes, 2005.

Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Friedrich Dorn.

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englisch: www.internationalviewpoint.org/

französisch: http://orta.dynalias.org/inprecor/home

spanisch: http://puntodevistainternacional.org

deutsch: www.inprekorr.de/

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Internationales Sommercamp 2009 in Nordgriechenland

Sommerschule 2009 der isl

Wir können auch anders Unsere Antworten auf ihre Krise

Vom 25. bis zum 31. Juli findet das 26. Jugendcamp der IV. Internationale in Griechenland statt. Jugendliche aus verschiedenen Ländern werden Erfahrungen aus sozialen Kämpfen austauschen.

Das Camp bietet Vorträge und Workshops zu Gender-Fragen, Ökologie, Bildung, Krieg, Sozialabbau, interna-tionaler Solidarität, Antifaschismus, politischer Ökono-mie, Basisdemokratie, Geschichte der Arbeiterbewegung usw.

Es gibt natürlich nicht nur Politik und Theorie. Ein vorbeifließender Bach lädt zum Schwimmen ein, in der umliegenden ländlichen Gegend kann mensch wandern

und sich entspannen. Und an der Camp-Bar stundenlang feiern und tanzen.

Beitrag für TeilnehmerInnen aus Deutschland, Öster-reich, Schweiz: 140 Euro.

Wer mitfahren möchte und dies nicht kann, weil ihm oder ihr dieser Betrag plus Fahrtkosten zu hoch sind – überhaupt alle, die mehr wissen möchten, sollten sich mit Aktiven von isl oder RSB in Verbindung setzen.

Wenn ihr Fragen habt, mitfahren wollt oder etwas spenden möchtet, schreibt einfach an [email protected] oder besucht die Homepage www.international-camp.org.

16. bis 19. Juli 2009 in Hann. Münden

Programm:

Ingo Schmidt referiert über die Ursachen der Krise und de-ren Folgen für das BRD-Modell der Exportorientierung.

Paul B. Kleiser skizziert Grundzüge eines Kreditwesens un-ter öffentlicher Kontrolle in einer solidarischen und ökolo-gischen Wirtschaft.

Ein Automobilkollege spricht über die Krise der Autoindus-trie und die Alternativen der sozialistischen Linken.

Reiner Tosstorff behandelt historische Erfahrungen: die Weltwirtschaftskrise ab 1929 und die Rektionen der deut-schen Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik so-wie die Kollektivierung der Betriebe in Katalonien 1936/37.

Angela Klein diskutiert Ansatzpunkte für eine Verbreiterung und Radikalisierung des Widerstands.

Kosten: 120 €; wer ein geringes Einkommen hat, kann eine Ermäßigung erhalten.

Anmeldung und weitere Informationen: [email protected]