18
Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03.2014 Anlässlich der Nunca Mais Brasilientage besuchte die brasilianische Cineastin vom 25.03. bis zum 05.04.20145 Veranstaltungen und Vorführungen ihrer Filme in Frankfurt, Berlin und Köln. Geboren 1948 gehört sie zur Generation des Widerstands gegen die Militärdiktatur. Die Erfahrung der Folter hatte einen starken Einfluss auf ihr um- fangreiches und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnetes film- isches Werk. Anke Spiess, WDR- Journalistin und Lutz Taufer, Vorstandsmitglied des Welt- friedensdienstes sprachen mit ihr. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Mario Schenk Anke: Einleitend würden wir gerne etwas über deine Biographie erfahren. Lúcia: Ich bin 1948 geboren. Meine Familie stammt aus der Mittelschicht. Mein Vater war Arzt, meine Mutter Lehrerin. Die Familie meines Vaters war aus dem Süden Brasiliens zugezogen und meine Mutter kam aus einer der eher traditionellen Familien von Rio de Janeiro. Mein Vater war ein sehr liberaler Mann, also gegen die Diktatur. Im Jahr `64, während des Putsches - wir gehörten zu oberen Mittelschicht und wohnten in Copacabana in einem gut situiertem Haus – hingen am ganzen Haus Fahnen. Außer an unserem Apartment. Es war einfach so, dass die Mittelschicht den Putsch unterstützte, sehr unterstützte. Ausnahmen waren jene mit einer gewissen Tradition. Anke: Wie bist du zur Linken, zu ihren Kämpfen gekommen? Lúcia: Mein Vater kam 1930 zusammen mit Getúlio aus dem Süden. Er wählte stets Getúlio, Prestes, Brizola. 1 Er war kein Kommunist, aber er hatte einige kommunistische Freunde; sie wurden 1964 alle verhaftet. Von Klein auf erfuhr ich eine liberale Erziehung. Das heißt, auf jeden Fall gegen den Militärputsch. Außerdem hatte ich kulturelle Bildung. Ich las viel Simone de Beauvoir, Sartre, das war alles sehr wichtig. Ich wurde stark feministisch geprägt. 1 Getúlio Vargas, Präsident Brasiliens, 1930 - 1945 (diktatorisch) und 1950 – 1954 (gewählt). Nationalist, Populist, Industriepolitiker, Aufbau eines Sozialstaats, Antikommunist; Carlos Prestes, Anführer der anti-oligarchischen Coluna Prestes, kam in den 30er Jahren zum Marxismus, zusammen mit Olga Benario 1935, im Komintern-Auftrag, Aufstandsversuch gegen Vargas-Diktatur, Verhaftung, 1943 – 1980, Präsident der KP Brasiliens, 1945 Begnadigung; Leonel Brizola, linksgerichteter brasilianischer Politiker, Gouverneur der Bundesstaaten Rio Grande do Sul und Rio de Janeiro, 1964 von den Putschisten abgesetzter Vize-Präsident, einer der Organisatoren des Widerstands; Ehrenpräsident der Sozialistischen Internationalen.

Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03.2014

Anlässlich der Nunca Mais Brasilientage besuchte die brasilianische Cineastin vom 25.03. bis zum 05.04.20145 Veranstaltungen und Vorführungen ihrer Filme in Frankfurt, Berlin und Köln. Geboren 1948 gehört sie zur Generation des Widerstands gegen die Militärdiktatur. Die Erfahrung der Folter hatte einen starken Einfluss auf ihr um-fangreiches und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnetes film-isches Werk. Anke Spiess, WDR-Journalistin und Lutz Taufer, Vorstandsmitglied des Welt-friedensdienstes sprachen mit ihr. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Mario Schenk

Anke: Einleitend würden wir gerne etwas über deine Biographie erfahren.

Lúcia: Ich bin 1948 geboren. Meine Familie stammt aus der Mittelschicht. Mein Vater war Arzt, meine Mutter Lehrerin. Die Familie meines Vaters war aus dem Süden Brasiliens zugezogen und meine Mutter kam aus einer der eher traditionellen Familien von Rio de Janeiro. Mein Vater war ein sehr liberaler Mann, also gegen die Diktatur. Im Jahr `64, während des Putsches - wir gehörten zu oberen Mittelschicht und wohnten in Copacabana in einem gut situiertem Haus – hingen am ganzen Haus Fahnen. Außer an unserem Apartment. Es war einfach so, dass die Mittelschicht den Putsch unterstützte, sehr unterstützte. Ausnahmen waren jene mit einer gewissen Tradition.

Anke: Wie bist du zur Linken, zu ihren Kämpfen gekommen?

Lúcia: Mein Vater kam 1930 zusammen mit Getúlio aus dem Süden. Er wählte stets Getúlio, Prestes, Brizola.1 Er war kein Kommunist, aber er hatte einige kommunistische Freunde; sie wurden 1964 alle verhaftet. Von Klein auf erfuhr ich eine liberale Erziehung. Das heißt, auf jeden Fall gegen den Militärputsch. Außerdem hatte ich kulturelle Bildung. Ich las viel Simone de Beauvoir, Sartre, das war alles sehr wichtig. Ich wurde stark feministisch geprägt.

1 Getúlio Vargas, Präsident Brasiliens, 1930 - 1945 (diktatorisch) und 1950 – 1954 (gewählt). Nationalist,

Populist, Industriepolitiker, Aufbau eines Sozialstaats, Antikommunist;

Carlos Prestes, Anführer der anti-oligarchischen Coluna Prestes, kam in den 30er Jahren zum Marxismus,

zusammen mit Olga Benario 1935, im Komintern-Auftrag, Aufstandsversuch gegen Vargas-Diktatur,

Verhaftung, 1943 – 1980, Präsident der KP Brasiliens, 1945 Begnadigung;

Leonel Brizola, linksgerichteter brasilianischer Politiker, Gouverneur der Bundesstaaten Rio Grande do Sul und

Rio de Janeiro, 1964 von den Putschisten abgesetzter Vize-Präsident, einer der Organisatoren des Widerstands;

Ehrenpräsident der Sozialistischen Internationalen.

Page 2: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

Das kam ein bisschen durch meine Mutter. Bei ihr war das zwar ein eher hysterischer Feminismus, ohne theoretischen Unterbau, dafür hatte sie aber einen starken Diskurs, dass die Frau selbstständig sein müsse. Mit dieser Mixtur kam ich 1967 an die Universität. Am Anfang waren meine Freunde Bekannte aus meinem Stadtteil und aufgrund ihrer sozialen Stellung tendenziell rechts. Aber nach und nach, als die Studentenbewegung beginnt, es Demonstrationen gibt und die Repression immer stärker wird, hat sich das verändert. Das Jahr 1964. Das war der Putsch, den habe ich als Jugendliche erlebt, da war ich 13, 14 Jahre alt.

Lutz: Du warst da also schon etwas politisiert?

Lúcia: Ja, auf jeden Fall gegen die Militärs, aber gewaltfrei. Mein Vater war ein sehr offener Mensch. Er hatte mehrere kommunistische Freunde, einige sind festgenommen worden. Die besten Freunde meines Vaters gehörten zu einer Gruppe, die das Thema Öffentliche Gesundheit in Brasilien diskutierten. Mein Bruder hat, als er seine Magisterarbeit geschrieben hat, seine Arbeit jener Gruppe von Freunden gewidmet. Wir nannten sie die Medizinmänner. Sie verfolgten eine soziale Vision.

Aber ich war sehr jung. Als ich zur Universität kam, waren meine Freunde wegen ihrer sozialen Situation politisch rechts. Aber sehr schnell kam ich mit Leuten aus der Linken zusammen. Schließlich ging die Diktatur mit starker Gewalt vor. Die Leute gingen zu den Demonstrationen und als sie zurückkamen, hatten sie viele Schläge abbekommen. Nach so etwas, das ist ja klar, schließt sich jeder Mensch, der ein bisschen humanistisch geprägt ist, der Gruppe an und fühlt sich mehr und mehr dazu gehörig.

Im Jahr ’68 wurde ich bereits zur Vize-Präsidentin des Vorstandes der Studentenschaft der

Wirtschaftsfakultät gewählt. Da gehörte ich schon zur Untergrundorganisation, einer Abspaltung der

Kommunistischen Partei, woraus später die Bewegung MR82 wurde.

Ich gehörte nie zur Kommunistischen Partei. Ich vertrat immer eine sehr starke anti-stalinistische Position, ein bisschen beeinflusst vom Liberalismus. Ich gehörte immer zur Abspaltung. Als ich zur Gruppe kam, hatte diese sich bereits von der Partei getrennt. Ich gehörte also nie einer Partei an. Der große Riss zwischen Abspaltern in Bezug auf die Kommunistische Partei war keineswegs die internationale Frage. Ich erinnere mich, dass es innerhalb der Abspaltung Stalinisten, Trotzkisten, Leute aus allen Strömungen gab. Was uns kennzeichnete, dass wir den Fokus auf die spezifisch brasilianischen Zustände legten. Der große Bruch innerhalb der Kommunistischen Partei – alle die die Partei verließen, auch Marighella3 – resultierte aus der Frage um den bewaffneten Widerstand. Der große Vorwurf, den man der Kommunistischen Partei machte, war, dass diese sich nicht auf einen Staatsstreich vorbereitet, keinen Widerstand geleistet hatte und mit ihrem Diskurs weitermachte, nach dem man sich im Widerstand an die bestehenden Gesetze zu halten habe. In diesem Punkt war die Kommunistische Partei von Beginn an gespalten. Seit dem ich in der Organisation war, wurde diese Frage diskutiert.

3 Carlos Marighella, gründete 1966, zu Beginn der Diktatur, nach einem Bruch mit der Kommunistischen Partei

die Ação Libertadora Nacional, eine Stadtguerillagruppe. 1969 wurde er in einem Hinterhalt erschossen.

Page 3: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

Lutz: 1967 wurden in Cuba auf der Konferenz der Lateinamerikanischen Solidaritätsorganisation OLAS Methoden des revolutionären Kampfes in den lateinamerikanischen Ländern diskutiert, Marighella rief kurz danach, noch in Havanna, zum bewaffneten Kampf gegen die brasilianische Militärdiktatur auf, war das der Beginn des bewaffneten Kampfs?

Lúcia: Wir gehörten nicht zur ALN. Wir gehörten nicht zur Abspaltung von Marighella. In Wirklichkeit gab es mehrere Fraktionen innerhalb der Kommunistischen Partei. Es gab die von Marighella, die von Apolonio, der eine eigene Strömung gründete und danach die PCR4, und es gab unsere Abspaltung. Wir nannten uns sogar entsprechend – Studentische Abspaltung Guanabara5 – und bestanden nur aus Studierenden. Das war ein Zweig, eine Fraktion der Studentenbewegung der Partei. Die hatte weder mit Marighella noch mit Apolonio etwas zu tun. Ich glaube, da ereigneten sich mehrere Abspaltungen, aus denen wiederum unterschiedliche Organisationen hervorgingen. Selbstverständlich gab es auch innerhalb dieser Organisationen Differenzen.

Lutz: Es haben sich darüber noch viele andere Gruppen des bewaffneten Kampfs gebildet?

Lúcia: Das waren viele Gruppen, ich kenne die Anzahl nicht. Einige waren nicht notwendigerweise Abspaltungen der Kommunistischen Partei, wie zum Beispiel die POLOP6, die schon existiert hatte und zu einer divergierenden Bewegung gehörte.

Anke: Was hat dich damals, als 18-Jährige, an diesen Gruppen fasziniert?

Lúcia: Im Jahr ’67 entwickelten sich die Dinge sehr schnell. Ich war jung. Das Jahr ’68 brachte einen großen Wandel im Verhalten, die wachsende Bedeutung der Frau. Meine Familie, so liberal sie auch gewesen sein mag, war eine konservative Familie der Mittelschicht, wo die Frauen in der Kirche zu heiraten hatten, als Jungfrau, mit Schleier und Krone. 1968 war ein Jahr großer Veränderungen der Verhaltensweisen wie es überall auf der Welt so war. Das alles half auch in der internationalen Frage. Beispielsweise als Russland in die Tschechoslowakei einmarschierte, positionierte sich die Partei dazu nicht. Wir haben das nicht unterstützt, allein schon weil wir zum Teil der Abspaltung gehörten. Das war sehr schwierig und sehr kompliziert.

Lutz: Als auf dem XX. Parteitag der KPdSU Chruschtow 1956 die Verbrechen Stalins offenlegte, wollte die Kommunistische Partei in Brasilien das gar nicht glauben. Schickte einen Emissär nach Moskau und als der zurückkehrte und alles bestätigte, weinte Marighella über die Verbrechen, die im Namen des Sozialismus begangen worden waren.

Lúcia: Für mich war allein schon infolge meiner Erziehung der antistalinistische Diskurs sehr wichtig. Das traf für einen Großteil der Personen aus den Abspaltungen zu. Wir lasen von Arraes7 bis zur Sexuelle Revolution8 alles. Das war ein Komplettpaket und ein ungeheurer Fehler. Eine radikale Veränderung des Lebens, des Verhaltens, auch der Selbstbestätigung.

4 Partido Comunista Revolucionário

5 Dissidência Estudantil da Guanabara

6 ORM-Polop, 1961 gegründete Organização Revolucionária Marxista, ihre Zeitung war die Política Operária

7 Miguel Arraes de Alencar, am 1.4.64 als progressiver Gouverneur von Pernambuco abgesetzt, Exil

8 Wilhelm Reich, Die sexuelle Revolution, 1936

Page 4: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

Wir waren revolutionär in jeder Hinsicht. Die Alten, Marighella, Toledo9 und andere waren konservativere Menschen. Sie waren noch mit der Moral der 50er Jahre erzogen worden.

Lutz: Was war für dich die erfolgreiche kubanische Revolution?

Lúcia: Der zentrale Diskurs war die kubanische Revolution. Nach unserer Analyse gab es in Brasilien nicht die Bedingungen um einen Aufstand nach der Vorlage der Oktoberrevolution zu machen. Wir hatten die kubanische Revolution zum Vorbild. Die ganze Diskussion drehte sich um die Frage der Fokus-Theorie10. Es gab einige Organisationen, die die Idee des Fokus unterstützten. Wir zum Beispiel waren keine Anhänger des Fokismus. Wir gingen davon aus, dass man erst Voraussetzungen für einen Guerillafokus schaffen müsste.

Alle hatten mehr oder weniger die kubanische Revolution zum Vorbild, alle die zum bewaffneten Kampf gehörten. Und niemand hatte einen kritischen Blick auf das Verhältnis zu Kuba. Kuba war ein Paradies.

Lutz: Ja, weil sie gewonnen hatten... das Volk will nicht nur kämpfen, das Volk will gewinnen!

Lúcia: Meiner Meinung nach waren alle Organisationen leninistische und marxistisch-leninistische Organisationen, vielleicht mit Ausnahme der ALN, die ein viel dehnbareres Weltbild besaß. Maoisten gab es wenige. Die PCdoB war maoistisch. Araguaia11 ist wieder ein anderes Konzept. Für mich war das überraschend. Ich wusste nicht, dass der PCdoB solch einen Weg vertrat.

Lutz: Che wurde einmal von einem Journalisten gefragt, was das Wichtigste an einem Guerillero sei und er sagte: Die Füße. Er sprach also von den langen Märschen der Landguerilla. Und jetzt tauchte etwas Neues auf, die Stadtguerilla. Das war für uns das Wichtige am Manual der Stadtguerilla von Marighella. Bis dahin war es eigentlich immer Landguerilla gewesen, China, Vietnam, Cuba, Bolivien, Angola, Mozambik, Algerien war es wohl etwas anders, wie habt ihr das diskutiert?

Lúcia: Eigentlich dachten wir, dass die Stadtguerilla den Beginn bilden würde. Die Idee war, dass man mittels der Stadtguerilla die Unterstützung der Arbeiterschaft bekommen würde. Die Rede war von der Arbeiter- und Bauern-Allianz. Man ging davon aus, dass die Stadtguerilla ein Übergang zur Landguerilla war. Ihr kennt das Handbuch des Guerilleros von Marighella.

Die Leute aus meiner Organisation fanden die ALN sehr offen. Er schuf eine Organisation, die nicht marxistisch-leninistisch war. Sie war viel selbstständiger und folgte dem Diskurs der Stadtguerilla auf eine sehr interessante Weise, beschrieben in dem Handbuch der Stadtguerilla12. Wir nicht, wir war viel klassischer. Unsere Gruppe war sehr klein. Später wurden wir sehr bedeutend, als wir den US-amerikanischen Botschafter entführten und ein

9 Joaquim Câmara Ferreira, verliess zusammen mit Marighella die PCB und gründete die ALN. Organisierte 1969

die Entführung des US-Botschafters James Elbrick und wurde 1970, wenige Stunden nach seiner Verhaftung, zu

Tode gefoltert. Vgl. Interview mit seiner Tochter Denise Fraenkel.

10 Fokismus nach Ché Guevara. Vgl. Régis Debray, Revolution in der Revolution?, München 1967

11

Landguerilla im Bundesstaat Para, in Gefangenschaft wurden ca. 75 Militante vom Militär ermordet

12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969

Page 5: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

paar Aktionen durchführten, die sehr berühmt wurden. Aber wir waren eine sehr kleine Gruppe. Ursprünglich müssen wir um 40 bis 50 Personen gewesen sein.

Lutz: Vielleicht willst du mir auf meine Frage nicht antworten: an welchen Aktionen hast du

mitgemacht?

Lúcia: Das ist alles bekannt. Ich habe anfangs mitgemacht, als ich in den Untergrund ging. Das war nach dem AI 513, im Dezember. Marighella hat schon vor dem AI 5 einige Aktionen gemacht, aber nur wenige. Tatsächlich nur zwei oder drei, er machte das Ding mit Chandler14

und sonst nur wenig. Eigentlich machte nur die ALN etwas. Der bewaffnete Kampf gewann dann durch den AI 5 an Auftrieb. Das war die Diskussion, die wir gestern hatten. Wir waren keine Organisation nur gegen die Diktatur. Wir wollten eine sozialistische Revolution. Aber, ganz klar, die Diktatur gab uns die Legitimation. Und der AI 5 führte dazu, dass wir in den Untergrund gingen – wirklich viele Leute. Das war der große Unterschied zu Europa. Unser Kampf war in dem Sinne legitimiert, dass es auf der einen Seite den Repressionsapparat gab und auf der anderen Seite war es emotional sehr schwierig nicht gegen die grausamen Militärs kämpfen zu wollen. Das alles unterschied sich von der Situation in Europa.

Und dann, Folter, Ermordungen… das ist eine andere Geschichte. In der Zeit schließen sich sehr viele der Guerilla an, vor allem Studenten.

Lutz: Wieviel waren es insgesamt, kannst du da was sagen?

Lúcia: Die ALN sagt, dass sie zeitweilig bis zu 10.000 Leute in ihren Organisationen hatten. Das sagen die, ich weiß es nicht.

Wir waren eine kleine Gruppe. Im Kern waren wir etwa 50 und hatten ein Unterstützungsnetzwerk von einigen Hunderten.

An dem Moment, als der AI 5 beschlossen wurde, teilten wir meine Organisation in drei Sektionen auf: eine für den bewaffneten Kampf, deren Ziel es zu diesem Moment war, Waffen, Geld und Logistik zu organisieren; dann die Sektion Arbeiterschaft, zu der ich gehörte, und die Sektion Mittelschicht. Mittels der Sektion Arbeiterschaft wurde der Gedanke verfolgt, dass wir, um die Revolution zu machen, die Arbeiterklasse gewinnen müssten, die aber überhaupt keine Idee davon hatte, was sich eigentlich gerade abspielte.

Die so genannte Sektion Mittelschicht war nach dem AI 5 sehr eingeschränkt. Es gab keine Möglichkeit für legale Arbeit. Alle Leute wurden aus den Universitäten hinausgeworfen. Dabei bestand die Arbeit darin, diese Leute zu gewinnen.

Die Sektion des bewaffneten Kampfes begann zu arbeiten. Die Leute machten ein paar Aktionen, um an Waffen zu kommen. Jeder bewaffnete sich, man lernt, mit dem Revolver umzugehen, bekommt ein Training, sehr oberflächlich übrigens. 13

AI 5, Ato Institucional Nº 5, 1968 von den Militärs erlassenes Dekret, allgemein als Putsch im Putsch

bezeichnet, führte zu Brutalisierung und Verhärtung der Diktatur, zu den „bleiernen Jahren“

13 Exekution des CIA-Agenten Charles Chandler

Page 6: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

In der Sektion Arbeiter, bei der ich mitmachte, organisierten wir „Ausflüge“, sogenannte Betriebsbesuche in Fabriken.

Lutz: War das nicht gefährlich?

Lúcia: Nein, alles lief bewaffnet ab. Es gab einige Schusswechsel. Wir gingen versteckt, bewaffnet und mit einem Auto, das normalerweise gestohlen war. Damit fuhren zu den Fabriken und während der Arbeitspausen, zur Mittagszeit oder früh, bevor die Leute zur Arbeit kamen, verteilten wir Flugblätter. Jeder war bewaffnet, manchmal leisteten sie Widerstand, manchmal kam es zum Schusswechsel. Das war so eine Sache der Linken insgesamt, eine sehr kindische Sache aus heutiger Sicht. Die Idee war, sich mit dem einen oder anderen Arbeiter zu einem Treffen zu verabreden und ihn für die Gruppe innerhalb der Fabrik zu gewinnen.

Die andere Sache war das so genannte Bilden von Betriebsgruppen. Wir bildeten keine Betriebsgruppen, aber andere Organisationen machten das. Sie stellten Personen aus der Sektion Mittelschicht zum Arbeiten in den Fabriken ab, damit diese politische Aufbauarbeit in den Fabriken machen konnten.

Lutz: Wie haben die Arbeiter darauf reagiert?

Lúcia: Ich spreche gerade von der Zeit nach dem AI 5. Bis zur Entführung des Amerikaners hatten wir, hatte man als Student viel Einfluss in der Mittelschicht und in der Bevölkerung generell. Man hatte die Demonstrationen organisiert und es gab eine starke gefühlsmäßige Ablehnung der Militärs. Es gab Sympathie, wir kamen in die Fabriken und wurden mit viel Sympathie empfangen. Das ging dann bis zur Entführung des Amerikaners. Das hielt also nicht lange an, die Entführung war im September `69. Von da an war es ein Chaos. Wenn man früher jemanden traf, der noch nicht in die Bewegung eingetreten war, war der Umgang ganz freundlich. Später sahen die Leute in dir jemanden aus Russland und nahmen verängstigt Reißaus. Als dann Claudio auffliegt, der Namen nennt, legen die so richtig mit Folter los. Da macht sich der Schrecken breit, die Folter beginnt. Seit dem September war es eine ganz neue Situation.

Lutz: Wie seid ihr mit dieser Angst umgegangen?

Lúcia: Wir waren sehr jung und die Leute waren mehr oder weniger mutig. Logisch gab es Unterschiede. Wir mussten das Politische vom Militärischen trennen. Es gab Leute, die weniger gebildet, aber rhetorisch besser waren. Das ist Teil dieser ganzen Geschichte.

Ich war eine der letzten aus meiner Gruppe, die gefangen genommen wurde. Am Ende der Illegalität war es echt hart. Ich bin drei Monate in Bahia untergetaucht, um nicht aufzufliegen, konnte ich nicht einmal die Klospülung benutzen. Weißt du, was „untergetaucht“ bedeutet? Am Ende konnte man den Untergrund nur mit starken Schuldgefühlen verlassen, wegen jemandem, der ermordet worden war, wegen jemand, der ins Exil musste. Denn es war klar, dass alles vorbei war und wir konnten keinen Schlusspunkt setzen. Ich kam nicht raus, ich schaffte es nicht. Es war klar, dass ich hätte aufhören sollen. Es war offensichtlich, dass es 1971 vorbei war. Doch wir haben nicht aufgehört. Ich hörte nicht auf wegen Schuldgefühlen.

Lutz: Toledo ist von Cuba nach Brasilien zurückgekehrt wohlwissend, dass das sein Ende ist.

Lúcia: Sonja, die Frau von Stuart verließ Brasilien mit einem sehr kritischen Blick auf den bewaffneten Kampf dieser Zeit. Als Stuart auf so absurde Weise ermordet wird, kehrt sie ein

Page 7: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

Jahr später nach Brasilien zurück und wird ermordet. Es gab viele solcher Fälle. Wir waren eine große Familie. Es waren Beziehungen von großer Kameradschaftlichkeit entstanden.

Lutz: Auch zwischen Frauen und Männern?

Lucia: Ja

Lutz: Du hast von deiner feministischen Haltung gesprochen, es war also eine emanzipierte

Situation?

Lúcia: Ja. Ja!

Anke: Auch in der Praxis?

Lúcia: Wir entschieden, was wir wollten. Wir waren ziemlich arrogant aus heutiger Sicht.

Anke: Wie war es praktisch in den Beziehungen?

Lúcia: Mit den Männern? Wir bestimmten in sexuellen Fragen, man machte es mit wem man wollte. Es gab natürlich ein paar Männer, die extrem konservativ waren. Aber man lachte über sie, nahm sie nicht ernst. In der Mittelschicht war dieser Standpunkt bereits verbreitet, zumindest theoretisch. Als ich nach Bahia ging, ging ich als Kommandeurin, da war ich die Erste und war 19, 20 Jahre alt und … ich war eine Frau.

Lutz: Und wie haben sich die Beziehungen im Untergrund entwickelt?

Lúcia: Ich erinnere mich an einige Probleme. Wenn man in den Untergrund geht, werden die Dinge sehr ernst. Dieser ganze Impuls der Befreiung beginnt sich zu schließen. Die Sicherheitsbestimmungen werden immer strenger. Das ist schrecklich. Beispielsweise mussten Paare manchmal getrennt werden. Die Sicherheitsvorschriften bestimmten plötzlich alles. In den letzten zwei Jahren war es praktisch eine durch und durch militärische Organisation.

Anke: Und wie hat sich das aufs Zusammenleben ausgewirkt?

Lúcia: Es gab kein Leben in Gemeinschaft. Praktisch war man isoliert und da hörte man auf, sexuelle Beziehungen mit irgendeiner Person zu haben, aus Angst. In Bahia gab es ein paar Sympathisanten. Ich blieb auch bei dem einen zu Hause, aber man ist total gefangen. Der Gefangenschaft geht die eigene Gefangenschaft voraus. Das ist eine sehr schwierige Phase.

Lutz: Wo wurdest du gefangen genommen?

Lúcia: Ich war zwei Mal gefangen. Beim ersten Mal war ich bei diesem Kongress im Bundesstaat von São Paulo, wo Alle festgenommen wurden.

Lutz: Das war jener Kongress der UNE15.

Lúcia: Das andere Mal bei einem Kongress wurden wir herausgezogen und gefoltert. Aber mehr als 80 Prozent von denen, die auf dem Kongress waren, liefen danach zum bewaffneten Kampf über. Fast alle, oder zumindest in die Unterstützerorganisation.

15

Nationale Studentenunion, klandestiner nationaler Kongreß, 1968, im Landesinnern von São Paulo, 1.000 TN,

von den Militärs überfallen

Page 8: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

Lutz: Die Studenten wollen heute nichts mehr von der UNE wissen…

Lúcia: Die UNE wurde zu einer bürokratischen Institution, total von der PT beherrscht.

Lutz: Beim zweiten Mal warst du drei Jahre und drei Monate im Gefängnis. Lúcia: Nicht die Gefangenschaft ist das Schlimmste, sondern die Folter. Die Gefangenschaft ist keine Last in meinem Leben. Es ist die Folter, die noch heute zermürbt. Das DOI-CODI16 ist die Last. Es sind die ersten Monate der Folter, die einen lange quälen. Das ist Horror. Lutz: Du wurdest 1974 frei gelassen. Danach hat es fast zehn Jahre gedauert, bis du angefangen hast, Filme zu machen. Lúcia: Nein. Meinen ersten Film habe ich 1978 in Nicaragua gemacht, weniger als drei Jahre später. Lutz: Vor 1985 durftest du in Brasilien keine Filme machen? Lúcia: Brasilien ist in allem kompliziert. Alles sind Aushandlungsprozesse. Kurz nachdem ich aus dem Gefängnis kam, geschah der Mord an Herzog17. Das ist die Zeit der so genannten schrittweisen Öffnung. Der interne Streit zwischen den Militärs und der Rechten beginnt. Schließlich gelingt es Geisel18 den Kommandanten der Armee zu entfernen, 16

Koordinierende Einrichtung der Streitkräfte mit dem Ziel, Regimegegner zu foltern und verschwinden zu

lassen. Ihre Agenten wurden u.a. im US National War College ausgebildet.

17 Der Journalist Vladimir Herzog wurde 1975 in den Räumen der Doi-Codi in São Paulo ermordet.

18 Ernesto Geisel, 1974 – 1979 Präsident, galt lange Zeit als „Übergangspräsident zur Demokratie“, was von

Historikern nach neueren Dokumentenfunden in Frage gestellt wird.

Page 9: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

weil diese für den Mord an Herzog und Manuel Fiel Filho19 verantwortlich ist. Das geschieht in einer Situation, in der es schon einen gewissen Grad der politischen Öffnung gab. Von da an gibt es diesen internen Streit. Manchmal gibt es Fortschritte, dann wieder Rückschritte. Manchmal geht es voran, dann wieder zurück. Das ist keine ständige Öffnung. Kurz nachdem ich raus kam, erhielt ich viele Drohungen des CCC, des „Kommando Jagd auf Kommunisten“20, einer extrem rechten Gruppe. Nachdem ich draußen war, arbeitete ich für die Zeitung Opinião. In dieser Zeit der Öffnung entstanden die Zeitungen der Opposition, Opinião, Movimento und andere. Als ich bei der Opinião, einem alternativen Blatt, begann, sandten sie Drohbriefe direkt an die Zeitung. Ich glaube, Kucinski21 hat auch dort gearbeitet. Da übte meine Familie großen Druck aus. Sie wollten, dass ich das Land verlasse. Ich aber wollte nicht gehen und meinte in etwa: „Die haben mein Leben lang über mich bestimmt. Ich gehe nicht, weil sie es wollen.“ Stattdessen ging ich den Süden. Dort lebte ich acht Monate ziemlich zurückgezogen. Ich kam zurück und begann, bei der Zeitung zu arbeiten. Das war noch vor der Amnestie von `79. Zu dieser Zeit durfte ich weder unter meinem eigenen Namen schreiben, noch eingestellt werden. Beim Jornal do Brasil fand ich eine Anstellung, bei der Zeitung SN hat man mich entlassen. Immer wurde das zum Problem. Lutz: Der Autor Bernardo Kucinski sagte einmal über sein Buch “K.“, in dem er über die Desaparecidos22, am Beispiel seiner Schwester schreibt, dass das Schreiben des Buchs für ihn eine Art Therapie gewesen sei. Verhält es sich für dich mit „Que bom te ver viva“ auch so? Lúcia: Mehr oder weniger. Als ich 1978 nach Nicaragua ging, um meinen ersten Film zu machen, war das auch mein erster Kontakt mit dem Kino. Das hängt also viel mit meinem Verhältnis zu Politik, mit meinem ganzen Leben zusammen. Ich war ziemlich verloren damals und alles war sehr schwierig. Meine Freunde außer Landes, mein Ehemann im Gefängnis auf Ilha Grande, wo ich eine Zeit lang regelmäßig hin bin. Zusammenfassend war es verdammt kompliziert. Zu dieser Zeit verliebte ich mich in einen anderen. Auch er arbeitete beim Film und ist der Vater meiner Tochter. Wir wollten aus dem Dokumentarfilm später einen Spielfilm machen. Ich ging `78 nach Nicaragua und 1979 übernehmen die Sandinisten die Macht im Land. Im Jahr 1978 kommt es in Nicaragua zum Sturm auf das Kongressgebäude, angeführt durch den „Comandante Null“ oder „Comandante Zwei“. Habt ihr davon schon gehört? Sie stürmten den Kongress und es gelang ihnen, ein Gefangenenaustausch durchzusetzen. Als ich das hörte, nahm ich mir vor einen Film über Nicaragua zu machen. In Wahrheit wollte ich keinen Film machen, sondern herausfinden, was zu meiner Zeit woanders in Lateinamerika passierte. Das war für mich viel wichtiger, als sonst irgendein Grund. Hierbei verliebte ich mich in das Kino. Ich stellte den Antrag für den Film „Os Sandinistas de Managua“ bei Embrafilme, machte den Film fertig und bekam Unterstützung von Embrafilme…

19

Militanter Metallarbeiter, 1976 von den Militärs ermordet

20 Comando de Caça aos Comunistas

21 Bernardo Kucinski, Autor von „K. oder die verschwundene Tochter“, Transit Verlag 2013

22 Verschwundene

Page 10: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

Diese Filmförderinstitution war von den Militärs gegründet worden – zusammen mit Glauber Rocha (!). Du kennst die Geschichte. Embrafilme wurde zu dieser Zeit von Celso Amorin geleitet, dem späteren Verteidigungsminister. Einige Projekte entstanden mithilfe von Embrafilme. Das war bereits 1979 und ´80. Die Amnestie wurde ´79 erlassen, die Situation war entspannter, die Zensur geringer. Aber die Militärs blieben weiterhin an der Macht. Gleichzeitig wurden rechte Gruppierungen stärker. 1981 gab es das Attentat auf das Rio Center23. Im gleichen Jahr kam der Film „Prá frente Brasil“ heraus. Diese Fiktion von Roberto Farias war ein erster Film, der über Folter spricht. In dem Film werden die Militärs nicht einmal angeklagt, er handelt von der Fußball-Weltmeisterschaft 1978. Das war der erste Film. Aber es war ein Skandal. Die Regierung schaltete sich bei Embrafilme ein. Celso Amorin musste seinen Platz räumen und sie setzen einen von ihnen hin. Alle Filme, die irgendetwas mit Politik zu tun hatten, wurden verbannt. Da gehörte „O Cabra marcado para morrer“ von Coutinho oder mein Film über Nicaragua dazu. Alle wurden verboten, ganz nach dem Motto: “Raus. Hier gibt es nichts mehr. Der Spaß ist vorbei...” Lutz: Und wie bist du dann zu deinem Film über die Folter gekommen, zu „Que bom te ver viva“? Lúcia: Durch den Film kam ich 1981 zur Psychoanalyse, um über „Que bom te ver viva“ sprechen zu können. Schon als ich jung war, betrieb ich Psychoanalyse. Ich gehörte zur gebildeten Mittelschicht. Meine Eltern brachten mich früh damit in Kontakt. Später kamen Reich, Freud und andere hinzu. Ich fing wieder mit Psychoanalyse an, nachdem ein Mädchen, mit dem ich eingesessen hatte, Selbstmord verübte. Das hat mich sehr mitgenommen und ich begann wieder mit Eigentherapie. Mir gelingt es den Film zu beenden – ein kleiner Film. Im Jahr 1984 kommt es zu einer großen Veränderung. Theoretisch ist die Diktatur in Brasilien vorbei. Aber so ist es nicht wirklich. Die Dinge entwickeln sich nur langsam, manche Dinge verschwinden und kommen doch wieder. Schwierige Zeiten wechseln sich mit besseren ab. Die 20 Jahre Diktatur lassen sich nicht wie ein und dieselbe Sache begreifen. Das war nicht wie in Argentinien. Zu dieser Zeit machte ich „Que bom te ver viva“. Der Film dreht sich um den Prozess der Psychoanalyse; er beginnt sogar mit einem Satz von Bettelheim: „Die Psychoanalyse erklärt, warum man verrückt wird, nicht aber warum man überlebt.“24 Über 25 Jahre war ich schließlich in Behandlung - als Ergebnis der Folter und derer Folgen. Lutz: Half Dir die Produktion dieses Filmes? Lúcia: Als ich das Drehbuch schrieb, war das wie ein “Erbrechen” von all dem, das mich so sehr beschäftigte. Der Film verbindet Dokumentarfilm mit Fiktion. Als ich den fiktionalen Teil verfasste, einen sehr aggressiven Teil, griff ich dabei auf Sachen aus der Behandlung zurück. Zum Beispiel die Übertragung der Beziehung mit meinem Freund auf den Folterer – Situationen, die mir erschienen und die ich wie Erlebtes niederschrieb. Danach suchte ich nach Fällen, die mir oder meinen Freundinnen widerfahren waren. Lutz: Nachdem du den Film gemacht hast, hattest du das Gefühl, dadurch ein anderer

23

Bombenanschlag von Militärs auf eine vorwiegend von Jugendlichen besuchte Musikshow am Vorabend des

1. Mai 1981

Page 11: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

Mensch geworden zu sein, mit einem klareren Blick auf die Vergangenheit? Lúcia: Als ich den Film machte, lag alles gerade erst hinter mir. Ich erhielt immer noch Drohungen. Die Situation im Land war sehr eigenartig. Die Leute riefen mich an: „Bist du verrückt? Warum musst du denn darüber jetzt sprechen?“ Ich bekam richtig Angst. Insbesondere weil der Film auch nicht sehr metaphernreich ist oder viele Anspielungen hat. Er erzählt von unserem Zorn, von unserem Schmerz, was die Folter für Spuren bei uns hinterlassen hat, wie die Folter uns kaputt gemacht hat, vor allem uns und nicht nur sie. Der Film ist nicht gerade heroisch, schließlich wird ja die ganze Erfahrung mit der Folter erzählt… Den Film finanzierte ich mit ein paar Preisgeldern, die ich für meinen Film aus Nicaragua gewonnen hatte sowie durch einen Preis, den ich von Embrafilme für ein Filmprojekt erhalten hatte. Darüber hinaus hatte ich weitere Unterstützung und bekam so das Geld zusammen. Lutz: In deinem Film „Quase Dois Irmãos“ 25 sprichst du über das Verhältnis zwischen den Linken, die aus der Mittelschicht kommen und den nicht politischen Gefangenen. Wie war das? Kannst du darüber berichten? Im Fall “Cadé o Amarildo”26 ist es das erste Mal seit Jahren, dass sich Angehörige der Mittelschicht mit Favelados solidarisieren… Lúcia: Das erste Mal seit Jahren… Quatsch! So schlimm sind wir ja nun nicht. Lutz: Dass Favelados von der Polizei umgebracht werden, geschieht permanent und niemand rührt sich. Lúcia: Darüber wurde noch nicht so viel berichtet. Das stimmt. Aber mit Sicherheit gab es immer Unterstützung. Das Kino entwickelte sich für mich zu einer Art Überlebensstrategie. Der Film “Quase Dois Irmãos” entstand aus so einer Situation. In dem Maß, wie ich mich frei ausdrücken konnte, fand ich einen Weg zu überleben. Ich hatte eine immense Freiheit, so unglaublich das scheinen mag, weil man so etwas nur sehr selten hat. Das ist einmalig. Manchmal meint das Leben es gut mit dir. Nicht ein Film, den ich gemacht habe, ist aus ideologischen Beweggründen entstanden, nach dem Motto, ich will diese oder jene Haltung vermitteln. Es waren stets sehr persönliche Filme, die aus einem eigenen Bedürfnis heraus entstanden und oftmals an eine Phase im Leben gekoppelt waren. Man wächst ja weiter, ich heiratete, bekam eine Tochter… Die Idee dieses Filmes kam im Austausch mit mir sehr nahe stehenden Menschen, deren Kinder Bailes Funk27 in der Favela besuchten und dort rumvögelten – Mädchen – die mit Drogendealern rumvögelten. Und das erlebte ich sehr nah mit. Da war was los! Mit dem Ältesten von denen gab es Auseinandersetzungen. Früher war ich es, die auf der anderen Seite stand, und plötzlich bin ich es, die sich Sorgen um diese Person macht. „Pass auf! Da drin, in der Favela, wirst du noch umkommen, der Typ ist echt gefährlich. Du musst

25

Fast zwei Brüder

26 „Wo ist Amarildo“, Parole einer Protestbewegung, nachdem der Bauhilfsarbeiter Amarildo im Juli 2013 von

der sog. Befriedungspolizei zu Tode gefoltert worden war; sein Leichnam ist bis heute verschwunden.

27 Favela-Parties mit Funk-Musik

Page 12: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

abtreiben.“ Und gleichzeitig droht der Kerl per Telefon. Genau in diesem Moment habe ich gedacht: Verdammt, was für ein Wahnsinn unser Verhältnis zwischen „morro e asfalto“….28 Und der Film gibt sehr gut wieder, wie uns die Fähigkeit der Anteilnahme abhandenkommt. Genauso wie es im Film dargestellt wurde, war es uns nicht gelungen… weil die Wirklichkeit um ein Vielfaches schwieriger ist. Also wollte ich einen Film machen, wo das alles verarbeitet werden würde, was ich so nah erlebt hatte. Ich war sehr besorgt wegen dieser Mädchen, die auf den morro gingen und dort anfingen mit den Typen aus dem Drogenhandel zu vögeln. Und dann rief dieser Kerl auch noch an! Daraufhin habe ich diesen Plot für den Film entworfen. Nur dass der Film absolut männlich ist, was verwunderlich ist, weil ich einen extrem femininen Film gemacht habe. Aber die Figuren sind männlich, weil ich diese männlichen Charaktere brauchte. Schließlich spielte das Ganze auf der Ilha Grande im Männergefängnis. So entwarf ich diese beiden Figuren; der eine sollte der Abgeordnete, ein politischer Gefangener sein; der andere der Typ vom Comando Vermelho29. Ich recherchiere immer viel vor meinen Filmen auch wenn ich mich in der Thematik gut auskenne. Für diesen Film habe ich Paulo Lins30 hinzugeholt, um zusammen mit ihm das Drehbuch zu schreiben. Er war eine großartige Bereicherung. Ich wusste viel über die politischen Gefangenen und er wusste viel über die normalen Gefangenen. Wir begannen zu schreiben, indem ich den ersten Satz sagte: „Meinste, politischer Gefangener ist ein Trottel, hat von nichts ne Ahnung?“ und er antwortete „Und du willst sagen, der normale Insasse is’ ein Dummkopf, oder was?“ Wir diskutierten viel, wodurch der Film enorm gewann, weil wir zwei sehr starke Charaktere entwickelten. Keiner davon ein Idiot. Das war eine große Erfahrung mit Paulo. Lutz: Du sagtest gestern, dass du keine Pessimistin bist… Lúcia: Wenn ich pessimistisch wäre, wäre ich bestimmt schon längst am Ende. Ich versuchte mich zwei Mal umzubringen, als ich gefoltert wurde. Zwei Mal bestimmt. Mit dieser Lebensgeschichte überlebst du nicht, wenn du Pessimistin bist. Die Tatsache, dass ich Sachen erreicht habe… Meine Filme hingegen sind nicht gerade optimistisch. Sie haben immer eine Touch Melancholisches. Da spielen die Erfahrungen meines Lebens mit hinein. Ich trage viel Wut in mir. Auf keinen Fall mag ich etwas schwarz oder weiß. Die Dinge sind grau. Man muss zeigen, dass die Dinge grau sind. Die Menschen sind komplex, das Gute und das Böse ist kompliziert. Die Dinge liegen nicht so einfach wie gedacht. Diese Erfahrungen im Leben, die Folterung, das Böse, also die Frage: Warum gibt es einen Folterer? Weil der Wichser auch ein Mensch ist! Wer diese Erfahrung gemacht hat, … der denkt ein Leben lang darüber nach. Unmöglich, es nicht zu tun. Weil dieser Typ auch ein Mensch ist. Er geht nach Hause, hat Frau und Kind,

28

„Hügel und Asphalt“ – Synonym für Favela (in Rio oft am Hügel) und Mittelstandviertel (mit seinen

asphaltierten Strassen)

29 Rotes Kommando – Namen, den die Militärs einem der drei großen Drogenkartelle gegeben hatten

30 Paulo Lins, Autor von „Cidade de Deus”, 1997, als „City of God“ 2002 in den Kinos, Lins ist selbst in der Rio-

Favela Cidade de Deus aufgewachsen

Page 13: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

behandelt sein Kind gut. Ich denke, diese Erfahrung lässt er im Gefängnis zurück. Wie bei Hannah Arendt und dem Eichmann.31 Lutz: Die Banalität des Bösen…. Lúcia: Genau. Man muss das erlebt, und keine besondere Wut auf diesen Typen haben. Logisch, 40 Jahre später - ich habe vor kurzem beim Ministério Público32 eine Aussage gemacht. Das ist hart, wenn man zum ersten Mal einen Folterer wiedersieht, von dem man eigentlich nichts wusste. Das ist eine entsetzliche Situation. Es ist wie, wenn alles nach oben kommen würde …40 Jahre später. Da ist er. Man zittert, sieht den Typ... Anke: Hat die Folter etwas grundsätzlich in deinem Leben verändert? Lúcia: Diese Erfahrung, dass es einen anderen gibt, einen Menschen, der dich foltert, ist eine Grenzsituation, die dich verzweifeln lässt. Das bleibt für den Rest des Lebens. Und das ist eine Last. Denn entweder vergisst man und wird verrückt, weil zu vergessen unmöglich ist. Das Erlebte ist in dir drin. Oder man lebt nur noch dafür, das zu verarbeiten. Auch das ist schrecklich. Und das Gleichgewicht dazwischen sucht man ein Leben lang. Natürlich habe ich versucht, das mit Psychoanalyse aufzuarbeiten. Dennoch, wie im vergangenen Jahr als ich vor der Wahrheitskommission aussagte, kam das wieder alles hoch. Ich konnte eine Woche lang nicht schlafen. Danach sagte ich mir, ich will darüber nicht zehn Tage lang sprechen. Ich muss mich ausruhen, sonst schaffe ich das nicht. Das Gleichgewicht zu finden, ist sehr schwierig. Viele Leute sind verrückt geworden. Vielen ist es nicht gelungen, etwas aus dem Leben zu machen, sind verloren. Lutz: Du erzähltest, es habe sehr gegensätzliche Reaktionen auf deinen Film „A memoria que me contam“33 gegeben. Ich persönlich finde ihn keineswegs dogmatisch. Du hast einige Tabus gebrochen. Das hat mir sehr gefallen. Es ist ein leichterer, sehr souveräner Film… Lúcia: Der Film ist eine argentinische Koproduktion. Ich zeigte ihn später in Argentinien, wo er sehr gut aufgenommen wurde. Es gab viele Debatten. In Argentinien lief das sehr gut. Aber der Brasilianer tut sich schwer mit der Diskussion. Ich habe den Eindruck, dass der Film vielen nicht gefallen hat. Jedoch gelte ich in Brasilien als jemand mit einer heldenhaften Vergangenheit. Die Leute haben Angst, mich anzugehen und zu verletzen. Dabei blieb es… Es wurde nicht diskutiert. Ich hatte erwartet, dass innerhalb der Linken mehr diskutiert werden würde. Vor allem die Linke, von der ich so gewünscht hatte, dass sie ein paar der aufgeworfenen Fragen diskutieren würde, diskutierte gar nicht. Sie hielt sich zurück. Es gab den einen oder anderen Kommentar, „sie hätte das nicht aufgreifen sollen, sie hätte darüber nicht sprechen sollen.“ Von solchen Kommentaren gab es viele, aber niemand diskutierte. Aber dennoch gibt es den Film und wird ihn auch zukünftig geben. Wie alles in Brasilien braucht es etwas länger. Es braucht noch Zeit und man wird darüber sprechen können. Denn es gibt ja Leute wie ihr, wie mich, Leute aus unserer Generation, die einen kritischen Blick haben. Viele meiner Freunde, Historiker, haben einen.

31

Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 1963

32 Eine Staatsanwaltschaft, die u.a. die Einhaltung der sozialen und individuellen Rechte überwachen soll

33 2012, am Sterbebett einer ihrer Widerstands-Ikonen blicken die alten Kämpfer*innen zurück, auch Söhne und

Töchter kommentieren

Page 14: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

Lutz: Wie ist die Reaktion junger Leute, der neuen Generation, die sich in Brasilien politisch nicht mehr repräsentiert fühlen auf deinen Film? Gibt es eine Reaktion der jungen Generation? Lúcia: Die internen Probleme der Linken, von denen der Film handelt, hat keine Relevanz für junge Leute. Sie nehmen sie gar nicht wahr, interessieren sich nicht dafür. Für sie ist das Interessante an dem Film die Diskussion unter den jungen Männern und den Alten. Für sie ist das Teil der Geschichte. Sie fühlen sich nicht ein bisschen angegriffen, schließlich sehen sie sich nicht als Teil jener Linken, die übrig geblieben ist. Für sie ist das Geschichte. Lutz: Hier ist das genauso… Anke: Wenn die deinen ersten mit deinem letzten Film vergleichst, kannst du mir die Unterschiede erklären? Lúcia: Meinen ersten Film habe ich in Nicaragua gedreht, den „Que bom te ver viva“. Ich fand es sehr interessant, dass ihr hier bei der Filmschau in Berlin die beiden Filme zusammen gezeigt haben. Sie sind sehr unterschiedlich. Ich denke, ein Film – unabhängig vom Regisseur – spiegelt nicht nur etwas über das Themas wieder, also das was er erzählt, sondern auch über die Epoche in der er gedreht wird. In dem Moment, als ich den Film drehte, waren der Schmerz und die Wut noch sehr stark. Das gibt der Film „Que bom te ver viva“ sehr gut wieder. Zwanzig Jahre später ist „Memoria que me contam“ viel mehr eine Reflexion, eine Kritik. Ganz interessant zu sehen der Unterschied. Nicht dass ich mich verändert hätte. Niemand hat hier die Seiten gewechselt. Aber es sind zwei sehr unterschiedliche Momente. Zwanzig Jahre sind vergangen, das kann man nicht gleichsetzen. Der Film „A memoria que me contam“ ist auf jeden Fall breiter interpretierbar, er ist vielseitiger. „Que bom te ver viva“ ist ein Film ausschließlich über die Folter. Es ist nur dieses eine Thema. Anke: Ich würde gerne über die Vergangenheit sprechen. Wie war die Reaktion deiner Eltern, als du festgenommen wurdest? Lúcia: Das war ein Ding! Aus feministischer Sicht war das eine sehr komische Sache. In den ersten Monaten im Untergrund wurde ich schwanger und trieb ab. Mein Vater war Arzt und ich rief ihn an, um um Hilfe zu bitten. Schließlich war Abtreibung illegal. Er war am Boden zerstört und sagte einen Satz, den ich großartig finde, weil er so vieles widerspiegelt. „Du bist nicht wegen so etwas von zu Hause weg!“ Damit meinte er, Banken überfallen, den Botschafter entführen, das wäre ok. Aber eine Abtreibung passte nicht ins Bild dieser konservativen Mittelschicht. Er war sehr stolz darauf, dass ich mich im Kampf gegen die Diktatur befand, auch wenn er gegen den bewaffneten Kampf war. Natürlich war er nicht aus ideologischen Gründen dagegen. Aber er ging davon aus, dass wir geschlagen werden würden. Das war sehr witzig. Er war stolz auf mich, wegen dem was ich machte. Auf der anderen Seite aber kam eine Abtreibung nicht in Frage. Die Gefangenschaft wiederum war schrecklich, war wirklich schrecklich. Meine Mutter muss um 50 Jahre gealtert sein. Meine Eltern unternahmen alles Mögliche. Es war eine mehr oder minder einflussreiche Familie mit Beziehungen sogar ins Militär hinein. Einer der Armeegeneräle des Putsches von ´64 war Cousin meiner Mutter. Aber zu jener Zeit der Festnahme, der schlimmsten Zeit, hatten nicht einmal diese Generäle Macht. Das zerrte enorm an meinen Eltern. Es ging ihnen sehr schlecht und es war hart für sie. In den ersten

Page 15: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

drei Monaten wussten sie nicht, ob ich überleben würde oder nicht. Sie wussten, dass ich gefoltert wurde. Unsere Organisation hatte ein System für die Treffpunkte. Fehlte man beim ersten Treffen sollte man sich sechs Stunden später am gleichen Ort wieder einfinden. Fehlte man auch dann, zwölf Stunden später, wurde der Familie Bescheid gegeben, dass man aufgeflogen und verhaftet worden war. So erfuhren es meine Eltern. Ich fehlte zu den beiden Treffen und unmittelbar danach wurden meine Eltern benachrichtigt. Diese begannen mit der Arbeit. Ich hatte einen sehr guten Anwalt, der etwas bis dahin Beispielloses erreichte. Durch ihn habe ich Beweise für Folter. Ich bin eine der wenigen Personen, die zu jener Zeit Beweise dafür hatten, gefoltert worden zu sein. Denn nach zwei und ein halb Monaten im Gefängnis gelang es meinem Anwalt mich vor einen Militärgerichtshof zu bringen. Und so wie ich war, bin ich hin, mit einem offenen Bein, ohne gehen zu können, weil ich ein Problem am linken Bein hatte. Das ganze Bein war durch einen Venenentzündung gelähmt, so dass es wie weg war. So stand ich vor Gericht. Das war sehr, sehr hart für meine Eltern. Meine Mutter weinte an diesem Tag im Gerichtssaal und sagte: “Sage nichts! Sage nichts!“. Mein zu Hause war immer ein Matriarchat, dort bestimmte meine Mutter. Doch das war das erste Mal, dass mein Vater das Wort erhob und ihr eine Anweisung gab. Das war echt süß. Er sagte, „Halt die Klappe! Sie weiß, was sie macht.“ Doch ich wusste nicht, was ich da machte. Denn ich kam zurück ins Gefängnis und wurde wieder gefoltert. Vor Gericht zu sprechen, macht man aus einem Impuls heraus. Man will öffentlich machen, man muss einfach. Ich kam wieder zurück und es war ein Horror. Sie, meine Eltern, litten viel. Doch stets unterstützen sie mich. Anke: Hat das etwas an deinem Verständnis vom Menschen verändert? Lúcia: Ja. Ich denke ja. Die Banalität des Bösen, wie man so sagt. Darum geht es. Man ist den Rest des Lebens damit beschäftigt. Ich lese jede Information über Konzentrationslager, alles was es über diesen Typ von Erfahrungen gibt. Das ist, als wenn es eine unendliche Suche nach dem Sinn des Menschen wäre. Doch diese Suche hat kein Ende. Das ist ein Prozess. Man bekommt keine Antwort und wird auch keine bekommen. Dennoch versucht man ständig, mehr zu verstehen, den anderen zu verstehen. Anke: 40 Jahre… Lúcia: Es gibt eine Sache, die ist unbestreitbar, auch wenn einige Personen dem nicht zustimmen … Wir haben gegen die Diktatur gekämpft und das war fundamental wichtig… ich empfinde einen großen Schmerz, einen großen Verlust für diejenigen, die ermordet wurden, für die großartigen Freunde, die man verloren hat. Ich habe heute eine sehr kritische Sicht. Ich bin keine Marxistin-Leninistin mehr, ich glaube nicht mehr an autoritäre Lösungen. Durch die Erfahrung mit der Diktatur habe ich heute eine ungeheuer kritische Sicht auf den Autoritarismus, auf die Einschränkungen des Menschen. Wenn es niemanden gibt, mit dem der Mensch in den Dialog treten kann, wenn Opposition unmöglich ist, wenn Meinungsverschiedenheiten unmöglich sind, kann sich der Mensch in ein Monstrum verwandeln. Die Erfahrung aus der Diktatur hat mir diese tiefe Einsicht hinterlassen, die ich früher nicht besaß. Früher hatte ich eine absolute Sicht auf die Dinge. Wir sind es, die zu besseren Menschen werden. Wir sind die besseren Menschen. Und darum werden wir eine bessere Gesellschaft bauen. Dieses Machtgefühl umgab mich früher. Anke: Welches Gefühl hast du sonst, wenn nicht dieses? Ist eine Leere übrig geblieben?

Page 16: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

Lúcia: Ja, es gibt da eine leere Stelle. Diese absolute Sicht war sehr stark, sie ergänzte dich, befähigte dich zu allem. Heute muss man die Kraft aus anderer Überzeugung gewinnen, um etwas zu machen. Es ist schwieriger keine absolute Gewissheit der Dinge zu haben. Anke: Hast du einen Satz, der die Idee deines Lebens zusammenbringt? Lúcia: Nein. Den gibt es nicht. Lutz: Lula sagte einmal, wenn Marighella heutzutage leben würde und sehen könnte, was gerade die Regierung der PT macht, würde er sehr stolz auf Brasilien sein. Lúcia: Da gibt es sehr gegensätzliche Gefühle. Als ich Dilma wählte und ich für die PT stimmte, war mir zum Weinen zumute. Es lief bereits dieser Korruptionsskandal, der Mensalão. Es gab und gibt diese unheiligen Allianzen34, all das, was ich falsch finde. Aber meine Beziehung zu ihr, oder eher, die Tatsache, dass da jemand steht, wie ich, mit derselben Haltung, keine Person, die die Seiten gewechselt hat, kein Cabo Anselmo, eine Person wie ich, die weiß, was man durchgemacht hat, das war für mich ein Gefühl eines großen Sieges. Heutzutage denkt ein großer Teil der Linken sehr kritisch über die PT. Ich weiß nicht, was Marighella heute denken würde. Aber die meisten von uns haben eine sehr kritische Sicht auf die PT. Lutz: Eine letzte Frage: der Prozess der Nationalen Wahrheitskommission hat mehrere Kommissionen auf unterschiedlicher Ebene hervorgebracht – auf kommunaler, bundesstaatlicher Ebene, in den Universitäten… Wie schätzt du das ein? Lúcia: Ich halte die Wahrheitskommission für ungeheuer wichtig, egal wie begrenzt ihre Möglichkeiten sind. Sie fördert eine Menge Geständnisse zutage. Die Kommissionen haben zwar keine Macht, Urteile zu fällen noch jemand anzuklagen, aber sie machen eine Anzahl von Enthüllungen möglich. Gerade diese Woche erschien in den Zeitungen die Aussage eines Ex-Obersten Paulo Malhães35, der in der Casa da Morte, dem Haus des Todes, war. Er gibt das zu. Er ist der Erste aus der Casa da Morte, der zugibt, dass es sie gab. Und er meint, er bereue nicht. Die typische Haltung der Militärs. Alles das ist außerordentlich wichtig, weil bis jetzt, auch unser Diskurs, zunehmend wahrgenommen wird. Als ich vor der Wahrheitskommission aussagte war ich beeindruckt von der Resonanz, die es gab. Personen, die mich seit Jahren kannten, sagten „Ich hätte nie gedacht, dass dir das passiert ist.“ Die Leute konnten sich nicht einmal vorstellen, dass ich das überlebt hatte. Dass viele vergessen, dass es das gegeben hat oder das Kleinreden, ist ein Ergebnis der Militärs in Brasilien. Zu behaupten, dass die brasilianische Diktatur keine so starke Diktatur gewesen sei wie in Argentinien oder Chile. Diese Ansicht ist in Europa sehr verbreitet. Ich hörte bereits mehrere Personen sagen „Nein, Ihr hattet keine Diktatur.“ – das sagten sie zu mir. Klingt wie ein Witz. All die Aussagen, die breite Wahrnehmung unserer Aussagen in der Öffentlichkeit und die Tatsache, dass es gelingt einige von denen zum Sprechen zu bewegen, sind ein unglaublicher Fortschritt. Es hat lange gedauert. Viele sind verstorben, aber es ist ein unglaublicher Fortschritt. Und nun ist da noch dieser Rechtsstreit. Die Staatsanwaltschaft ist, im Zuge der

34

Koalitionen

35 Wenige Tage nach seinem Auftritt vor der Wahrheitskommission wird Malhães in seinem Haus in Rio

erschossen; Mitglieder der CNV sind nach Rio gereist, um die polizeilichen Ermittlungen zu kontrollieren

Page 17: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

OAS, der Organisation Amerikanischer Staaten, der Brasilien angehört, der Auffassung, Brasilien habe die Menschenrechte verletzt. Die Staatsanwaltschaft hat das Recht zu untersuchen und sie sind dabei fünf oder sechs Fälle zu untersuchen. Außerdem haben sie das Recht anzuklagen und sie versicherten mir, sie werden anklagen. Anke: Was geht bei der Jugend in Brasilien vor, oder bei einem Teil der Jugend? Ähnlich wie die Jugendlichen auf der Welt? Was ist da los und wie siehst du das? Lúcia: Traurig ist, und das hat die Studentenbewegung von heute mit der aus meiner Zeit gemeinsam, die sehr große Ablehnung der Parteien. Wie im letzten Jahr als die Bewegung auf die Straße ging. Obwohl ein Großteil dieser Personen für die PT gestimmt hat, gehen sie wegen einer sehr großen Ablehnung gegenüber den politischen Parteien auf die Straße. Das war sehr wichtig, denn das Schlimmste, das der PT passieren kann, ist keine Opposition zu haben. Das Schlimmste, das der PT passieren kann, und das sie selbst zu verantworten hat, ist die Vereinnahmung der UNE36, des Nationalen Studentenverbandes, und des MST37, dem Landlosenverband und all der sozialen Organisationen, die auf die eine oder andere Weise von der Regierung vereinnahmt wurden. Sie erhalten Unterstützung und haben dafür keine kritische Autonomie gegenüber der Regierung. Das war das Schlimmste für die PT. Darum war das so wichtig. Danach verkomplizierte sich die Situation. Die Polizei ging massiv mit Gewalt vor. Auf der anderen Seite gibt es die Black-Blocks, die ich auch kritisch sehe. Ein großer Teil derer, die auf den Demonstrationen waren, sind den Demonstrationen danach ferngeblieben. Das wurde so ein bisschen ein Kampf zwischen der Polizei und den Black-Blocks. Ich halte die Black-Blocks für eine komplizierte Angelegenheit. Da ist diese halb anarchistische, nicht ideologische Seite, aber sie haben auch ihren Diskurs. Viele Leute, die da mitmachen und sich schlagen, wollen etwas kaputt machen. Das sind Personen der unteren Mittelschicht, zumindest jene, die festgenommen werden und die man sieht. Das sind junge Leute, sehr junge, zwischen 18, 19 Jahren. Sie stammen aus den Vororten, aus der Baixada Fluminense, haben kaum Alternativen, aber viel Wut. Gleichzeitig ist Brasilien eine Konsumgesellschaft, die den Menschen den Überfluss präsentiert, doch die jungen Leute haben keinen Zugang dazu. Ihr Zugang zu einer Masse geschieht über die Black-Blocks. Im selben Moment aber verdrängen sie viele Personen, die an den Demonstrationen teilgenommen und eine etwas dezidiertere, kritische Meinung haben. Die Situation, die wir heute erleben, dass die Demonstrationen leer bleiben, liegt an der Polizeigewalt und an den Black-Blocks. Ich denke, an beidem. Anke: Was macht dir Hoffnung bei dem Prozess, der gerade in Brasilien passiert? Lúcia: In diesem Punkt stimme ich ganz mit Marighella überein. Manchmal werde ich aufgrund meines Filmes zu Seminaren und Kursen eingeladen. Da gibt es immer diese Jugendlichen, die meinen: „Wir leben noch immer in einer Diktatur.“ Ich sage nur: „Nein, mein Bester. Wenn wir noch in einer Diktatur leben würden, würdest du hier nicht mit mir sprechen.“ Das ist ein gravierender Unterschied. Den muss man verstehen. Und da kommen Mitglieder von PSOL38 und anderen und reden, als ob es die gleiche Sache wäre. Nein, ist es nicht. 36

Unión Nacional de los Estudiantes

37 Movimento Sem Terra = Landlosenbewegung

38 Partido Socialismo e Liberdade, Linksabspaltung von der PT

Page 18: Interview mit Lúcia Murat, Berlin, 29.03 - wfd-projekte.deºcia-Murat-Gesamt... · 12 Marighella: “Mini-manual do guerrilheiro urbano”, Juni 1969. paar Aktionen durchführten,

Die Hoffnung, die ich habe, denn ich lebe in einem besseren Brasilien. Offensichtlich lebe ich in einem viel besseren Brasilien, trotz all der existierenden Probleme. Selbstverständlich ist es für mich als Angehörige der Mittelschicht viel besser. Denn die demokratischen Grundbedingungen sind viel mehr die Meinigen als der sozial und wirtschaftlich Schwachen. Um noch einmal zu dem Punkt deiner Frage, dem Fall von Amarildo, zurückzukommen. Seit Langem gibt es mehrere Organisationen, wie FASE oder BASE39, die immer die sozial Schwachen verteidigt haben und die Massaker der Polizei öffentlich gemacht haben. Die große Schwierigkeit der brasilianischen Polizei von heute ist, dass sie aus Zeiten der Diktatur stammt. Nichts ändert sich, niemand wird bestraft. Genauso wie die Folterer nicht bestraft wurden. Das große Problem ist die Straffreiheit. Beispielsweise, was vor zwei Wochen passierte. Der Fall Amarildo. Der Kerl, der gefoltert hat und verantwortlich war, war Leiter der UPP40. Und dieser schreckliche Fall, der sich jetzt vor drei Wochen ereignet hat – eine junge Frau, Claudia, mit vier Söhnen, Arbeiterin, kauft in der Supermarktkette Casas Bahia all die Elektrogeräte und ist glücklich darüber. Da gibt es diese Polizeiaktion in der Favela. Sie war unterwegs, um Kaffee zu kaufen und wurde angeschossen, als die Polizei gerade in die Favela eindringt und um sich schießt, in alle Richtungen. Die Typen haben ihren Körper – es scheint, dass sie noch am Leben war - auf die Ladefläche des Wagens gepackt und fuhren los. Bereits aus der Favela raus fällt ihr Körper vom Wagen und wird mitgeschleift. Der Wagen dahinter konnte das filmen. Alles gefilmt und ins Internet gestellt. Das war ein Skandal, schrecklich. Das war aber nicht die UPP. Von den drei verantwortlichen Polizisten, die im Wagen waren, hatte man die Namen. Zwei von ihnen hatten eine Vergangenheit mit einer Menge von Fällen von Selbstverteidigung41. In Wirklichkeit funktioniert das so. Sie gehen in die Favela, schießen und sagen dann, der Typ sei ein Drogendealer und hätte sich gewehrt und stecken ihm eine Waffe in die Hand. Einer von den dreien hatte unendlich viele Fälle von Selbstverteidigung hinter sich und wurde nicht ein einziges Mal belangt. Das erzählte der Ehemann, der jungen Frau, die erschossen worden war. Auch sie wäre ein Fall von Selbstverteidigung geworden, wenn nicht durch Zufall, der Körper vom Wagen gefallen wäre und es die Möglichkeit gab, das zu filmen und ins Internet zu stellen. Das wiederum kann man nur machen, weil wir in einer Demokratie leben. Wenn man Internet hat, kann man das öffentlich machen. Das Problem ist, dass wir dadurch nicht die Polizeistrukturen verändern. Die Straffreiheit geht weiter. Das ist ein riesiges Problem. Anke: Siehst du deine Filme und Dokumentarfilme als Teil einer Mission? Lúcia: Auf keinen Fall. Ich verabscheue so etwas wie eine Mission. Davon gab es genug in meiner Vergangenheit. Keine missionarische Absicht, ganz im Gegenteil. Meine Filme entspringen ja ganz persönlichen Bedürfnissen, aber keiner Mission oder Ideologie. Ich mache das nicht, weil ich eine Botschaft zu senden hätte. Anke, Lutz: Lúcia, ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch

39

Fase und Ibase, zwei der großen brasilianischen Nicht-Regierungsorganisationen

40 Befriedungspolizei

41 auto de resistência, Routine-Begründung für tausende erschossene Favelados, die meisten in den Rücken und

Hinterkopf