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DIE FACHZEITSCHRIFT DER LEBENSHILFE IN DIESEM HEFT WWW.LEBENSHILFE.DE WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Bildung und Lebenspraxis Positive Verhaltensunterstützung PRAXIS UND MANAGEMENT Demenz und Lebensqualität Hilfen aus einer Hand Persönlichkeitsentfaltung INFOTHEK Buchbesprechungen Bibliografie Veranstaltungen ISSN 1867-3031 Postvertriebsstück zkz 79986 MAI 2015 54. Jahrgang

ISSN 1867-3031 Postvertriebsstück TeilhabeHilfen aus einer Hand Persönlichkeitsentfaltung 2/15 INFOTHEK Buchbesprechungen Bibliografi e Veranstaltungen ISSN 1867-3031 Postvertriebsstück

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Page 1: ISSN 1867-3031 Postvertriebsstück TeilhabeHilfen aus einer Hand Persönlichkeitsentfaltung 2/15 INFOTHEK Buchbesprechungen Bibliografi e Veranstaltungen ISSN 1867-3031 Postvertriebsstück

D I E F A C H Z E I T S C H R I F T D E R L E B E N S H I L F E

I N D I E S E M H E F T W W W . L E B E N S H I L F E . D E

TeilhabeWISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

Bildung und Lebenspraxis

Positive Verhaltensunterstützung

PRAXIS UND MANAGEMENT

Demenz und Lebensqualität

Hilfen aus einer Hand

Persönlichkeitsentfaltung

2/15INFOTHEK

Buchbesprechungen

Bibliografi e

Veranstaltungen

ISSN 1867-3031 Postvertriebsstück zkz 79986

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Christian Huppert

Inklusion und TeilhabeHerausforderung zur Weiterentwicklung der Offenen Hilfen für behinderte Menschen

Herausgegeben vonder Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V.

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LebenshilfeArmin Gissel

Das letzte Hemd hat keine Taschen – oder (vielleicht) doch?

Menschen mit Behinderung in ihrer Trauer begleiten

Eine Handreichung für Mitarbeitende in der Behindertenhilfe

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Herausgegeben vonder BundesvereinigungLebenshilfe e.V.

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LebenshilfeHindert dich was?Inklusion als Aufgabe

Ein Film von Antonio Lenzen(Filmakademie Baden-Württemberg)im Auftrag der Bundesvereinigung Lebenshilfe und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg

www.lebenshilfe.de

Hindert dich was? Inklusion als Aufgabe

HauptfilmHindert dich was? 33‘10“

Themenfilme1. Recht auf Draußen 6‘19“2. Recht auf Bildung 6‘38“3. Recht auf Freunde 6‘00“4. Recht auf Zuhause 5‘49“5. Recht auf Barrierefreiheit 5‘06“6. Recht auf Kultur 6‘03“7. Recht auf Arbeit 5‘54“

Technikvideo 25 fps, PALaudio Stereo, Deutsch

StabExecutive Producer Antonio LenzenRegie & Kamera Antonio Lenzenzweite Kamera Julia HönemannTon Oliver Kracht

In Kooperation mit:

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Für Menschen jeden Alters kann Teilhabe im Alltag ganz selbst-verständlich ein Teil ihres Lebens sein. Dieser Film zeigt Beispiele gelebter Inklusion, in denen das gemeinsame Spielen, Lernen, Wohnen, Arbeiten und Kultur gestalten und erleben gelingt. Die beteiligten Personen berichten über ihre Erfahrungen, erlebte Herausforderungen und Wünsche.

Schutzgebühr 15,– Euro

Einleger.indd 1 18.02.2015 09:23:13

ANZE IGE

NEU aus dem Lebenshilfe-Verlag

| Christian Huppert

Inklusion und Teilhabe Herausforderung zur Weiterentwicklung der Offenen Hilfen für behinderte Menschen

1. Aufl age 2015, 17 x 24 cm,

broschiert, 240 Seiten,

ISBN: 978-3-88617-219-8;

Bestellnummer LBF 219;

25,– Euro [D]; 31.– sFr.

Offene Hilfen haben sich seit ihrer Gründung nachhaltig etabliert und professionalisiert. Aus engagierten Initiativen sind selbstbewusste Dienste geworden, einige haben sich zu großen und differenzierten Organisationen entwickelt. Die Dissertation untersucht, ob sich die Dienste durch die Diskussion um Teilhabe und Inklusion zur Weiterentwicklung herausgefordert fühlen, inwiefern Anstöße erkennbar sind und wirksam werden zu einer veränderten Haltung sowie zu angepassten Leistungen und Strukturen und welche Hemmnisse oder Hürden identifi ziert werden können, die Veränderungen erschweren.

Dazu wurden Leitungen, Mitarbeitende, Eltern sowie Nutzer(innen) sehr unterschiedlicher Dienste interviewt. Es wurde deutlich, dass kreatives und fl exibles Potenzial in den Diensten der Offenen Behindertenhilfe liegt für Schritte in Richtung der Vision einer inklusiven Gesell-schaft und für das damit verbundene selbstkri-tische Refl ektieren und strukturelle Verändern der eigenen Systeme. Insbesondere wegen fehlender Ressourcen werden nur an wenigen ausgewählten Stellen erste umsetzende Schritte deutlich, aber eingebettet in eine gesamtgesellschaftliche Strategie könnten Offene Hilfen zu Weg-Gestaltenden werden.

| Armin Gissel

Das letzte Hemd hat keine Taschen – oder (vielleicht) doch?Menschen mit Behinderung in ihrer Trauer begleiten

1. Aufl age 2015, DIN A5,

broschiert, 68 Seiten,

ISBN: 978-3-88617-322-8;

Bestellnummer LBS 322;

12,– Euro [D]; 14.50 sFr.

Dieses Buch will Mitarbeitenden in der Behindertenhilfe die nötige Fachkompetenz zum Thema Trauerarbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung vermitteln. Es stellt selbst erlebte Beispiele und Erfahrungen aus der alltäglichen praktischen Arbeit mit Menschen mit Behinderung dar. Viele Anregungen und Vorschläge sind ohne konfessionelle Grenzen einsetzbar, so dass sie auch für Menschen ohne explizit welt-anschauliche Bindungen hilfreich sind. Ferner gibt es zwei Beispiele für Trauer-gottesdienste.

Hindert dich was?Inklusion als Aufgabe

1. Aufl . 2015, DVD, 33 Min.,

Bestellnummer LAM 005;

15,–Euro [D]; 18.– sFr.

Für Menschen jeden Alters kann Teilhabe im Alltag ganz selbstverständlich ein Teil ihres Lebens sein. Der Film von Antonio Lenzen (Filmakademie Baden-Württemberg) im Auftrag der Bundesvereinigung Lebenshilfe und der Pädagogischen Hochschule Heidel-berg zeigt Beispiele gelebter Inklusion, in denen das gemeinsame Spielen, Lernen, Wohnen, Arbeiten und Kultur gestalten und erleben gelingt. Die beteiligten Personen berichten über ihre Erfahrungen, erlebte Herausforderungen und Wünsche.

Die kurzen Themenfi lme gibt es auch auf Youtube unter https://www.youtube.com/channel/UCFZIgVN4tpspnZCsS7xsCJg oder einfach QR-Code scannen.

Bestellungen an:

Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., Vertrieb Raiffeisenstr. 18, 35043 Marburg · Tel.: (0 64 21) 4 91-123 Fax: (0 64 21) 4 91-623 · E-Mail: [email protected]

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INFOTHEKTeilhabe 2/2015, Jg. 54

IMPRESSUM

Teilhabe – Die Fachzeitschrift der Lebenshilfe(bis Ende 2008 Fachzeitschrift Geistige Behinderung, begründet 1961)ISSN 1867-3031

HerausgeberinBundesvereinigung Lebenshilfe e. V.

Leipziger Platz 15, 10117 BerlinTel.: (0 30) 20 64 11-0Fax: (0 30) 20 64 [email protected]

RedaktionDr. Theo Frühauf (Chefredakteur)Dr. Frederik Poppe (Geschäftsführender Redakteur), Andreas Zobel, Roland Böhm,Sabrina Hagedorn (Redaktionsassistentin, Tel.: (0 30) 20 64 11-125)

RedaktionsbeiratProf. Dr. Clemens Dannenbeck, Landshut; Prof. Dr. Albert Diefenbacher, BerlinProf. Dr. Thomas Hülshoff, Münster, Prof. Dr. Theo Klauß, HeidelbergProf. Dr. Bettina Lindmeier, Hannover; Prof. Dr. Sabine Lingenauber, FuldaProf. Dr. Heike Schnoor, Marburg; Prof. Dr. Monika Seifert, BerlinProf. Dr. Wolfgang Wasel, München; Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt, Bochum

BezugsbedingungenErscheinungsweise viermal im Jahr.

Jahresabonnement einschließlich Zustellgebühr und 7 % MwSt.:- Einzelheft: 10,– €- Abonnement Normalpreis: 36,– €- Abonnement Mitgliedspreis: 28,– €- Sammelabonnement (ab 10 Exemplaren): 20,– €- Abonnement Buchhandlungen: 23,40 €- Studierendenabonnement: 18,– €

Wir schicken Ihnen gern ein kostenloses Probeheft.

Das Abonnement läuft um 1 Jahr weiter, wenn es nicht 6 Wochen vor Ablauf desberechneten Zeitraums gekündigt wird.

Abo-Verwaltung: Hauke Strack,Tel.: (0 64 21) 4 91-123, E-Mail: [email protected]

AnzeigenEs gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2 vom 01.01.2014, bitte anfordern oder im Internetansehen: www.zeitschrift-teilhabe.de, Rubrik: InserierenAnzeigenschluss: 1. März, 1. Juni, 1. Sept., 1. Dez.

GestaltungAufischer, Schiebel. Werbeagentur GmbH, Max-Planck-Straße 26, 61381 Friedrichsdorf

DruckOffizin Scheufele GmbH, Tränkestr. 17, 70597 Stuttgart

Hinweise für Autor(inn)enManuskripte, Exposés und auch Themenangebote können eingereicht werden bei:Bundesvereinigung Lebenshilfe, Redaktion „Teilhabe“, Leipziger Platz 15, 10117 Berlin,bevorzugt per E-Mail an: [email protected]ür genauere Absprachen können Sie uns auch anrufen: (0 30) 20 64 11-125.Für die Manuskripterstellung orientieren Sie sich bitte an den Autor(inn)enhinweisen,die Sie unter www.zeitschrift-teilhabe.de finden. Entscheidungen über die Veröffent-lichung in der Fachzeitschrift können nur am Manuskript getroffen werden. Ggf. ziehen wir zur Mitentscheidung auch Mitglieder des Redaktionsbeirats oder weiterenfachlichen Rat heran. Redaktionelle Änderungen werden mit den Autor(inn)en, dieletztlich für ihren Beitrag verantwortlich zeichnen, abgesprochen. Beiträge, die mitdem Namen der Verfasserin bzw. des Verfassers gekennzeichnet sind, geben derenMeinung wieder. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe ist durch diese Beiträge in ihrerStellungnahme nicht festgelegt. Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann keineHaftung übernommen werden. Alle Rechte, auch das der Übersetzung, sind vorbehalten.Nachdruck erwünscht, die Zustimmung der Redaktion muss aber eingeholt werden.

22. Mai – 03. Juli 2015, Berlin

Ausstellung Gundula Krause –Gel(i)ebtes Leben Portraits von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung im zweiten Lebensabschnittwww.behindertenbeauftragte.de

28. Mai 2015, Berlin

Geht nicht, gibt`s nicht – Kommunikation macht mobil Inklusive Fachtagung der Albert Schweitzer Stiftung – Wohnen & Betreuen mit sechs Vorträgen und Praxisbeispielen zum ThemaKommunikation mit und für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. www.paritaet-berlin.de/mitglieder/nachrichten/nachrichten-detailansicht/article/geht-nicht-gibts-nicht-kommunikation-macht-mobil.html

04. – 06. Juni 2015, Tutzing (am Starnberger See)

37. Konferenz der Lehrenden für Geistigbehindertenpädagogik an wissenschaftlichen Hochschulen indeutschsprachigen Ländern (KLGH) www.edu.lmu.de/gvp/kongresse/2015/klgh-2015-programm.pdf

09. Juni 2015, Stuttgart

„Musst du dich immer einmischen?“ Über Selbstbestimmung und Grenzen in der sozialen Arbeitwww.bosch-suykerbuyk.info

12. Juni 2015, Berlin

Gründungsveranstaltung Aktions-bündnis Teilhabeforschung www.dvfr.de/fileadmin/download/Aktuelles/Aktionsb%C3%BCndnis_Auftaktveranstaltung_Einladung.pdf

12. – 13. Juni 2015, Bremen

Unterricht professionell Bundesfachkongress des Verbands Sonderpädagogik e. V.www.verband-sonderpaedagogik.de/termine/2015-06-12-13-bremen.html

16. – 17. Juni 2015, Goslar

Verleihung Rudolf-Freudenberg-Preis 2015 www.freudenbergstiftung.de/de/aktivitaeten-von-a-z/arbeit-fuer-psychisch-kranke/rudolf-freudenberg-preis.html

16. – 18. Juni, Leipzig

Deutscher Fürsorgetag www.deutscher-fuersorgetag.de

20. Juni 2015, Dortmund

Fachtagung „Schwere Behinderung & Inklusion – Facetten einer nichtausgrenzenden Pädagogik“ www.zhb.tu-dortmund.de/Schwere-Behinderung

24. Juni 2015, Berlin

Fachkonferenz „Die UN-BRK umsetzen!“ [email protected]

26. – 27. Juni 2015, Köln

Fachkongress und Jahrestagung derDeutschen Gesellschaft für Care undCase Management (DGCC) www.dgcc.de

17. September 2015, Würzburg

Fachtagung „Menschen mit geistigerBehinderung auf dem allgemeinenArbeitsmarkt“ www.megbaa.uni-wuerzburg.de

VERANSTALTUNGEN

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Teilhabe 2/2015EDITORIAL

Demenz und soziale Teilhabe dürfen kein Gegensatz sein! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52Bettina Lindmeier, Heike Lubitz

WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG

Innovation und Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54Oliver Musenberg, Judith Riegert, Wolfgang Lamers

Positive Verhaltensunterstützung bei Menschen mit Lernschwierigkeiten und Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61Georg Theunissen

PRAXIS UND MANAGEMENT

„Weckworte“ – Alzpoetry zur Steigerung der Lebensqualität von älteren Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68Sandra Verena Müller, Vanessa Focke

„Hilfen aus einer Hand“ für Familien von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74Monika Storm, Susanne Vaudt

„Wer hätte das gedacht?“ – Persönlichkeitsentfaltung durch die Entwicklungsfreundliche Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80Barbara Senckel

WERKBESPRECHUNG

„ohne Titel“ von Angelika Bienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72Viola Snethlage-Luz

INFOTHEK

Auftaktveranstaltung Aktionsbündnis Teilhabeforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87Film: Hindert dich was? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87Positionspapier Inklusion und Behinderung – Exzerpt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88Film: Arbeit möglich machen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88ISAAC-Forschungspreis für Unterstützte Kommunikation 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Kulturloge Berlin erhält Regine-Hildebrandt-Preis 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94Veranstaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

IMPRESSUM

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

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EDITORIAL Teilhabe 2/2015, Jg. 54

der sozialen und räumlichen Umweltstehen in einer komplexen Wechsel-wirkung.

Deutlich wird hier, dass eine Demenznicht für sich geschieht, sondern sichstets in sozialen Bezügen vollzieht, die-se beeinflusst und wiederum von diesenbeeinflusst wird. So haben demenziellbedingte Verhaltensweisen, die von den Begleitpersonen als herausfordernderlebt werden, einen unmittelbarenEinfluss auf die Entwicklung einer ab-lehnenden Interaktionshaltung. Eingeringer Wissens- und Qualifikations-stand führt zu verminderten Problem-lösungsfähigkeiten und begrenztenHandlungskompetenzen, wodurchwiederum das Belastungserleben aufallen Seiten verstärkt wird (vgl. zusam-menfassend LUBITZ 2014, 75 ff.). Ana-log kann aber auch eine positive Ent-wicklung eingeleitet werden: Bildungs-und Kommunikationsangebote könnenals niedrigschwellige Unterstützungs-maßnahmen für professionell und in-formell begleitende Personen vorgehal-ten und weiterentwickelt werden. Zuden Interaktionspartnern eines Men-schen mit Demenz gehören auch Mit-bewohner(innen), weshalb ihre Auf-klärung über die Erkrankung und dieVermittlung von Bewältigungsstrategieneine deutliche Verbesserung ihrer eige-nen Lebensqualität, der Lebensqualitätdes erkrankten Menschen und eineEntspannung der Arbeitssituation desPersonals bewirken können. Die Aner-kennung des sozialen Netzwerks alsbedeutende Ressource im wertschätzen-den Umgang mit Demenzprozessenverdeutlichen ebenfalls aktuelle For-schungsergebnisse, die auf die Bedeu-tung der gemeinsamen Bewältigungdemenzieller Belastungen und dergegenseitigen Unterstützung hinweisensowie auf erstaunliche Lern- und Ent-wicklungspotenziale von Mitarbei-ter(innen)teams und Nutzer(inne)n vonWohneinrichtungen der Eingliede-rungshilfe hinweisen (vgl. a. a. O., 201 ff.).Sehr deutlich wird dabei auch, dass dasPersonal noch immer dazu tendiert,Bewohner(innen) vor vermeintlich zubelastendem und überforderndem

Demenz und soziale Teilhabe dürfen kein Gegensatz sein!

Liebe Leserin, lieber Leser,

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Die Lebenserwartung von Menschenmit sogenannter geistiger Behinderungnähert sich immer stärker dem Bevöl-kerungsdurchschnitt, was eigentlichein Grund zur Freude ist. Aus den Ein-richtungen der Behindertenhilfe kom-men aber zunehmend Problemanzeigenangesichts einer alternden Bewohner-schaft. Eine steigende Lebenserwartungbedeutet zunächst lediglich, dass „dieVielfalt und die Dynamik individuellerLebenslagen und Entwicklungen“ (Bun-desregierung 2010, 270) zunimmt, wiees im sechsten Altenbericht der Bundes-regierung heißt. Pflegebedürftigkeitoder Demenz stellen ebenso wie Frei-räume für Kreativität, aktive Gestaltungdes Daseins, lebenslange Selbstständig-keit und Verfügbarkeit sozialer, mate-rieller und gesundheitlicher RessourcenAspekte von Alterungsprozessen dar.Die Beachtung einer Lebenslaufper-spektive und eine grundsätzliche Res-sourcenorientierung sind die Voraus-setzung dafür, existierende Potenzialeauch angesichts der großen Unterschie-de im Erleben dieser Lebensphase sehenund unterstützen zu können. Allerdingsschaffen die gegenwärtigen sozialpoli-tischen und rechtlichen Bedingungenfür Menschen mit lebenslangen Behin-derungen und für die sie betreuendenEinrichtungen und Dienste teilweisekaum zu lösende Probleme. Dies giltinsbesondere angesichts der zunehmen-den Zahl demenzieller Erkrankungen.

Auch wenn viele Menschen ohneschwerwiegende Neuerkrankungenaltern, so steigt mit zunehmendemLebensalter die Wahrscheinlichkeit, amdemenziellen Syndrom zu erkranken.Der Verlauf und das Erleben von De-menz ist allerdings hoch individuell,weshalb sowohl von einem zuschrei-benden Kausalzusammenhang zwischenAltern und geistigem Abbau als auchvon strikten Phasenmodellen des De-menzverlaufs Abstand genommen wer-den sollte. Nicht nur die Erkrankungals solche, sondern auch die auftreten-den Symptome, deren Annahme durchden betroffenen Menschen, seine bis-herige (Gesundheits-)Biografie sowiedie Interaktionen und Gegebenheiten

Heike Lubitz

Bettina Lindmeier

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EDITORIALTeilhabe 2/2015, Jg. 54

53

KALSY & GATHERER 2007; WATCH-MAN 2012). Diese muss auch eine Be-schäftigung mit Wünschen zur Gestal-tung des Lebensendes und Möglich-keiten zur Abschiednahme beinhalten.Geschieht dies nicht, wird nicht nur dieInanspruchnahme medizinisch-thera-peutischer Hilfen, sondern auch dieKommunikations- und Interaktionsge-staltung im sozialen Netzwerk massivbeeinträchtigt (vgl. WILKINSON et al.2004, 14 ff.). Für Menschen mit Triso-mie 21 und Demenz, die nicht über dieDiagnose informiert wurden, ist belegt,dass sie Veränderungen in ihren Fähig-keiten bzw. unerklärliche Abbaupro-zesse wahrnehmen, benennen und ver-suchen, diese mit ihrem Selbstbild inEinklang zu bringen und dabei z. T.unter großer Anspannung stehen (vgl.LLOYD, KALSY & GATHERER 2007).Das bedeutet, dass alle Menschen dasRecht auf Wissen haben und es ihnennicht aus einem falsch verstandenenSchutzbedürfnis heraus vorenthaltenwerden darf. Schlussfolgernd muss aus-probiert werden, wie man Menschenmit ganz unterschiedlichen kognitivenFähigkeiten über ihren Gesundheitszu-stand, womöglich angstauslösende Ent-wicklungen oder Vorkommnisse infor-mieren kann. Teilhabe, Partizipationund Lebensqualität bedeuten dann, überden eigenen Lebensweg informiert zusein, sich auch mit Schicksalsschlägenauseinanderzusetzen und das Rechtauf Trauer und auf die wissende Gestal-tung des gesamten eigenen Lebenswegszu haben – ein Recht, das nicht behin-derte Menschen selbstverständlich fürsich in Anspruch nehmen

Bilanzierend kommt in den genanntenModellen und Ansätzen eine mitgehen-de, einfühlende Haltung zum Ausdruck,welche nicht nur bei demenziellen He-rausforderungen, sondern bei jeder em-pathischen Interaktion von Bedeutungist und sich wie folgt durch eine Aussa-

ge eines Mitarbeiters in der Demenz-begleitung charakterisieren lässt: „dassman einfach liebevoll das annimmt,was da passiert. Fertig. […] einfach liebevoll annehmen, was da passiert“(LUBITZ 2014, 9).

LITERATUR

Bundesministerium für Familie, Senio-ren, Frauen und Jugend (2010): Sechs-ter Bericht zur Lage der älteren Generationin der Bundesrepublik Deutschland. Alters-bilder in der Gesellschaft. http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung3/Pdf-Anlagen/bt-drucksache-sechster-altenbericht,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb= true.pdf (abgerufen am 03.03.2015) LLOYD, Vicky; KALSY, Sunny; GATHE-RER, Amanda (2007). The subjectiveexperience of individuals with Down syn-drome living with dementia. In: Dementia6 (1), 63–88.LUBITZ, Heike (2014): „Das ist wie Gewit-ter im Kopf!“ – Erleben und Bewältigungdemenzieller Prozesse bei geistiger Behin-derung. Bildungs- und Unterstützungsarbeit mit Beschäftigten und Mitbewoh-ner/Innen von Menschen mit geistigerBehinderung und Demenz. Bad Heilbrunn:Klinkhardt. WATCHMAN, Karen (2012). People withlearning disability and dementia: Reducingmarginalisation. In: The Journal of Demen-tia Care 20 (5), 34-38.WILKINSON, Heather; KERR, Diana;CUNNINGHAM, Colm; RAE, Catherine(2004). Home for good? Preparing tosupport people with learning difficultiesin residential settings when they developdementia. Research into practice.Brighton: Pavilion.

Prof. Dr. Bettina Lindmeier,Dr. Heike Lubitz, Hannover

Wissen schützen zu wollen und dadurchdie Schwierigkeiten im Umgang mitDemenz zu verstärken.

In diesem Heft der Teilhabe werdenKonzepte vorgestellt, die den beschrie-benen Ansatz der Unterstützung dessozialen Umfelds im wertschätzendenund aktiven Umgang mit Demenz durcheine prinzipielle Fokussierung auf diePerson mit Demenz ergänzen. GeorgTheunissen erläutert in seinem Beitragauf der Basis von Erkenntnissen ausder Pflegeforschung, in welchen Aspek-ten das Modell der Positiven Verhaltens-unterstützung Anwendung in der Beglei-tung von Menschen mit Behinderungenund Demenz finden kann. Sandra Mül-ler und Vanessa Focke skizzieren denEinsatz von Gedichten und Wortspielenin Verbindung mit Bewegung und Musikals eine fruchtbare Möglichkeit für dieGestaltung von angeleiteten Gruppen-und Freizeitaktivitäten. Diese „Weck-worte“ verhelfen zu einer neuen undfröhlichen Kommunikationsweise beiDemenz in der sozialen Umgebung.Beiden vorgestellten Konzepten ist zueigen, dass im Rahmen einer personen-zentrierten und biografisch orientiertenHerangehensweise die Person mit De-menz in ihrem So-Sein angenommenwird und auch bei eingeschränkten ver-balsprachlichen kommunikativen Fähig-keiten oder bereits weit fortgeschritte-ner Demenz Ansprache auf unterschied-lichen Ebenen, Einbindung in kultu-relle und kommunikative Bezüge undsomit soziale Teilhabe ermöglicht wird.

Was jedoch in der aktuellen Beschäfti-gung mit und der Diskussion von Alte-rungs- und Demenzprozessen in derBehindertenhilfe meist noch unterbleibt,ist der Einbezug der von Demenz(ver-dacht) oder einer anderen Erkrankungbetroffenen Person in Diagnosestellung,Erklärungen zur Krankheit und weite-re Lebensplanung (vgl. u. a. LLOYD,

| IN EIGENER SACHEDie nächste Teilhabe erscheint Anfang September 2015.

| CALL FOR PAPERSMenschen mit hohem Unterstützungsbedarf (aktuelle Studien, gute Praxis, innovative Konzepte)Einreichungsfrist für Manuskripte: 23. Oktober 2015

Die Redaktion der Fachzeitschrift Teilhabe, Berlin/Marburg

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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Teilhabe 2/2015, Jg. 54

54 WISSENSCHAFTUND FORSCHUNG

Die Bildung und Erziehung vonMenschen mit geistiger Behinde-

rung wird oft mit Lebensnähe, Lebens-welt und vor allem Lebenspraxis in Ver-bindung gebracht. Insbesondere auf derEbene der Profession und im Kontextschulischer Bildung hat sich die lebens-praktische Bildung, Erziehung oderFörderung zu einer gängigen Bezeich-nung für die spezifische Qualität entwi-ckelt, die den Unterricht mit Schü-ler(inne)n mit dem Förderschwerpunktgeistige Entwicklung auszeichnen soll.Angesichts der Prominenz lebensprak-tischer Erziehung und Bildung impädagogisch-didaktischen Diskurs der‚Geistigbehindertenpädagogik‘ und an-gesichts der bereits frühen Warnung voreiner lebenspraktischen Verkürzung vonBildung (vgl. z. B. FISCHER 1978, 81 ff.)ist es erstaunlich, dass es kaum Arbeiten

gibt, die den Begriff der Lebenspraxisexplizit aufgreifen (vgl. SCHUPPENER2005) bzw. sich um dessen bildungs-theoretische Einordnung und Reflexionbemühen. Dieses Desiderat liefert wie-derum einen Hinweis darauf, dass essich bei der ‚Geistigbehindertenpäda-gogik‘ um eine Praxiswissenschaft han-delt, die sich vornehmlich an den He-rausforderungen der Profession entlangentwickelt hat und deren Status als Dis-ziplin nach wie vor ein unsicherer ist(vgl. ACKERMANN 2004; MUSEN-BERG/RIEGERT 2013).

Im Folgenden geht es darum, denBegriff der Lebenspraxis und seine Ver-wendung in der Pädagogik für Men-schen mit geistiger Behinderung genau-er in den Blick zu nehmen, kritisch zuhinterfragen und weiterzudenken.

| Teilhabe 2/2015, Jg. 54, S. 54 – 60

| KURZFASSUNG Der Beitrag widmet sich dem Begriff der Lebenspraxis, seiner Ver-wendung in der ‚Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung‘ und der Frage, ob‚Lebenspraxis‘ aus einer bildungstheoretischen Perspektive neu gedacht werden kann.Dazu wird nicht nur die Tradition ‚lebenspraktischer Erziehung‘ in der ‚Geistigbehinder-tenpädagogik‘ in den Blick genommen, sondern auch zu dem in der aktuellen Diskussiondominierenden kompetenzorientierten Bildungsbegriff in Beziehung gesetzt und kritischreflektiert. Vor diesem Hintergrund wird dann ein Verständnis von Lebenspraxis als Kulturpraxis skizziert, das Anknüpfungspunkte für eine bildungstheoretische Reflexionim Kontext der ‚Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung‘ bieten kann.

| ABSTRACT Innovation and reduction – on the relation of education and life pra-xis in education of persons with intellectual disabilities. This contribution is dedica-ted to the term life praxis, its meaning and how it is used in 'education of persons with intel-lectual disabilities' and the question whether there can be a new approach to 'life praxis'from a theoretical educational perspective. Therefore we not only take a closer look at thetradition of 'practical education' in 'education of persons with intellectual disabilities', butwe will also connect it to and reflect critically on the concept of educa-tion oriented in com-petence that dominates the current discussion. On this basis, the sketch of understandinglife praxis as a cultural praxis will be drawn, a concept that could offer links to a theoreticaleducational reflection in the context of 'education for persons with intellectual disabilities'.

Innovation und Reduktion Zum Verhältnis von Bildung und Lebenspraxis in der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung1

Oliver Musenberg Judith Riegert Wolfgang Lamers

1Mit unseren Überlegungen würdigen wir das akademische Wirken von Karl-Ernst Ackermann undseine bildungstheoretischen Impulse für die Geistigbehindertenpädagogik. Ihm widmen wir diesenBeitrag anlässlich seines 70. Geburtstags.

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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNGZum Verhältnis von Bildung und Lebenspraxis in der Pädagogik

Teilhabe 2/2015, Jg. 54

„Lebenspraktische Erziehung“ – zwischen Innovation und Reduktion

„Übrigens ist mir alles verhaßt, wasmich bloß belehrt, ohne meine Tätig-keit zu vermehren oder unmittelbar zubeleben“. Mit diesen Goetheworten lei-tet Friedrich NIETZSCHE eine seiner„Unzeitgemäßen Betrachtungen“ ein(NIETZSCHE 1981, 95). Die Geschichts-schreibung der Pädagogik wird diesenVerweis auf die Tätigkeit, das Handelnund den Bezug zum konkreten Lebenbei Nietzsche und anderen ‚kulturkriti-schen‘ Autoren später als einen ideen-geschichtlichen Impuls für die reform-pädagogische Bewegung (Arbeitsschu-le, Kunsterziehung, Jugendbewegung,Landschulheime) rekonstruieren (vgl.z. B. SCHEIBE 1999, 12 ff.). Ein erfah-rungsbezogenes, handelndes, anschau-liches und eben praktisches Lernen istauch in der Pädagogik für Menschenmit geistiger Behinderung stets favori-siert und vor allem in entsprechendenEmpfehlungen und Lehrplänen fest-gehalten worden (vgl. KMK 1980; Kul-tusministerium Nordrhein-Westfalen1980) – allerdings nicht allein und wohlauch nicht primär aus reformpädago-gischen Erwägungen heraus, sondernaus der Notwendigkeit, den Bildungs-anspruch von Kindern und Jugendli-chen mit geistiger Behinderung und die‚Geistigbehindertenpädagogik‘ als Dis-ziplin und Profession in ihren Anfangs-jahren zu legitimieren.

In der ‚Pädagogik für Menschen mitgeistiger Behinderung‘ wurde ab den1960er Jahren eine explizit praktischeBildung postuliert. Die Eckdaten dazuhatte BACH mit seinem Begriff der„praktischen Bildbarkeit“ (ebd. 1995, 69)geliefert: „Angesichts der Möglichkei-ten der geistig behinderten Kinder istdie anzustrebende seelisch-geistig-prakti-sche Erzogenheit und Bildung gekenn-zeichnet durch ihre Gebundenheit andie konkrete Lebenswelt und die ein-fachen, praktischen Aufgaben, die siestellt“ (ebd., 68). WALBURG knüpftemit dem Buch „Lebenspraktische Er-ziehung Geistigbehinderter“ (1986), das1972 erstmalig erschien und bis in die1990er Jahre mehrmals neu aufgelegtwurde, an diesen Gedanken an undtrug dazu bei, das Attribut „lebensprak-tisch“ als zentrales Kennzeichen von

Erziehungs- und Bildungsprozessen imKontext geistiger Behinderung zu etab-lieren. Dass bei WALBURG und vielenanderen Fachautor(inn)en vornehmlichvon Erziehung und kaum noch von Bildung die Rede ist, entspricht einergenerellen Tendenz: „Mitte der 1970er-Jahre verschwindet plötzlich die Kate-gorie ‚Bildung’ aus dem Problembewusst-sein der Geistigbehindertenpädagogik“(ACKERMANN 2010a, 54). Stattdes-sen entwickelt sich neben ‚Erziehung‘zunehmend ‚Förderung‘ zum sonderpä-dagogischen Zentralbegriff, der aller-dings den Bedeutungsgehalt des Bil-dungsbegriffs nicht zu transportierenvermag (vgl. RIEGERT, MUSENBERG2010, 28 ff.).

Was nun mit Lebenspraxis, lebens-praktischer Erziehung oder lebensprak-tischer Förderung konkret gemeint ist,bleibt zunächst interpretationsbedürf-tig. Auch in der Fachliteratur der ‚Geis-tigbehindertenpädagogik‘ wurde dieFrage durchaus unterschiedlich beant-wortet, wie WALBURG anhand einertabellarischen Zusammenstellung von„Erziehungs- und Beschulungsmodel-len für geistig behinderte Kinder in derBundesrepublik Deutschland“ verdeut-licht (vgl. WALBURG 1986, 10 ff.). Un-ter Überschriften wie lebenspraktischeBildung, Erziehung und Ertüchtigungfinden sich so verschiedene Aspekte wieOrdnung und Sauberkeit, Selbstversor-gung, Gymnastik, Schulung der Sinnes-

funktionen, Singen, Sprachpflege, Ar-beitserziehung, Rechnen (vgl. ebd.) oderauch die „Automatisierung der Verhal-tensweisen durch therapeutische undfunktionelle Übungen“ (ebd., 14).

Grundsätzlich soll es nach WAL-BURG bei der lebenspraktischen Erzie-hung nicht um ein separates Unter-richtsfach gehen, sondern in Überein-stimmung mit MÜHL (1994, 85 ff.) umein Prinzip des Handelns: „Als Unter-richtsprinzip durchzieht das Handelndas gesamte Unterrichtsgeschehen“(WALBURG 1986, 16), wobei die „ein-geschränkte Handlungsfähigkeit desgeistig behinderten Schülers“ (ebd.) be-rücksichtigt werden müsse. Zwei ver-schiedene Ansätze lebenspraktischer Er-ziehung werden von WALBURG schließ-lich identifiziert und mit den „Empfeh-

lungen für den Unterricht in der Schulefür Geistigbehinderte“ (KMK 1980) inVerbindung gebracht: Zum einen das„lebenspraktische Training“ und zumanderen die lebenspraktische oder „le-benskundliche Orientierung“. Beim Trai-ning geht es um den „körperunmittel-baren Bereich“ (WALBURG 1986, 17)und Aspekte wie „Notdurft mitteilen“und „Kleidung aus- und anziehen“(KMK 1980, 35 ff.), bei der lebenskund-lichen Orientierung um die Fähigkeit,sich in seiner unmittelbaren Umweltzurechtzufinden, beispielsweise durchdie Bedienung von Geräten im Haus-halt, die Orientierung im Straßenver-kehr oder den sachgerechten Umgangmit Pflanzen (vgl. WALBURG 1986, 18ff.; KMK 1980, 47 ff.).

Ein lebenspraktisch ausgerichteterUnterricht, der sich handlungsorientiertauf der Bewältigung von Anforderungendes Alltags bezieht, kann durchausinnovative Impulskraft für sich in An-spruch nehmen: Dort, wo es nicht umein isoliertes Funktionstraining geht –hierfür lässt sich allerdings eine Konti-nuität von Carl BARTHOLDs „erstemvorbereitendem Unterricht für Schwach- und Blödsinnige“ (1881) bis zu WAL-BURGs „Lebenspraktischer Erziehung“nachweisen – kann die lebensprakti-sche Ausrichtung des Unterrichts sinn-voll und innovativ sein, z. B.

> im Sinne reformpädagogischer An-klänge an eine Lebensschule undeinen Unterricht, der den Alltag, indem sich das Leben in seiner Unmit-telbarkeit darstellt, in die Schulehineinholt (vgl. SCHEIBE 1999, 78),

> durch Handlungsorientierung und> Ganzheitlichkeit (Projektorientierung,Verflüssigung von Fächergrenzen).

Schließlich können diese Orientie-rungen im Unterricht dazu beitragen,die erhöhte soziale Abhängigkeit vonMenschen mit geistiger Behinderungabzubauen.

Gleichzeitig bedeutet die Ausrich-tung von Bildungs- und Erziehungspro-zessen entlang der Leitlinie ‚Lebens-praxis‘ eine Reduktion von Bildungsan-sprüchen, z. B.

> durch die Verengung von Bildungs-angeboten auf anschlussfähige Kom-petenzen im Hinblick auf Lebensbe-wältigung und Erwerbsbefähigung,

> durch die Ausblendung vieler Inhal-te, die es nicht über die ‚Türschwelleder Sonderschule‘ und in die ver-bindlichen (Sonder-)Rahmenlehrplä-ne schaffen, weil sie per se als Über-forderung oder für den Personen-

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Bis heute gilt die lebenspraktische Ausrichtung von Bildungsangeboten für Menschen mit geistigerBehinderung als notwendig und sinnvoll.

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kreis als nicht notwendig angesehenwerden und

> im Hinblick auf einen problemati-schen Zuschnitt des Bildungsbe-griffs (Reduzierung auf Training undAusbildung).

Diese problematische Seite der le-benspraktischen Erziehung wurde in dergeistigbehindertenpädagogischen Lite-ratur teilweise mitreflektiert: Eine Fo-kussierung auf z. B. Selbstversorgungsei, so Dieter FISCHER (1978), nichtausreichend, sondern es gehe darumalle Dimensionen des Lebens zu be-rücksichtigen (vgl. ebd., 81 ff.): „Lebens-praktische Erziehung muss an der Fülledes Lebens partizipieren, diese zumAusdruck bringen“ (ebd., 82). Die Aus-dehnung lebenspraktischer Erziehungüber das Einüben alltäglicher Handgrif-fe und Abläufe hinaus (z. B. „Öffnenund Schließen“, zu finden bei BART-HOLD (1881, 12) und WALBURG(1986, 81)) ist grundsätzlich mit einemProblem verbunden, das MICHALSKIauf den Punkt bringt: „Die Ausweitungdes erzieherischen Geschehens auf die

gesamte Fülle des Lebens führt wieder-um in das Dilemma, dass theoriegeleitetnicht mehr angegeben werden kann,welche Fähigkeiten und Fertigkeitendidaktisch vermittelt werden müssen,um diesem Anspruch gerecht zu wer-den. Der Ausweg, den die sonderpäda-gogische Forschung wie Praxis geht, istdie Orientierung des erzieherischenGeschehens an der Alltagswirklichkeit“(ebd. 2005, 59 f.). Eine solche Begren-zung auf die unmittelbare Alltagswirk-lichkeit ist aus bildungstheoretischerSicht unbefriedigend, zumindest wenndie Idee zugrunde gelegt wird, „daß derMensch mehr ist als in seinem Alltagvon ihm verlangt und erwartet wird,daß seine grundlegende Bildung alsonicht aus der bloßen Zurichtung fürdiese seine Alltagsaufgaben bestehendürfen, ja daß Bildung sich auch nichtaus der Summe des Lernens für die alltäglichen Funktionen ergibt“ (GIE-SECKE 1999, 125).

Während das ‚alte‘ Leitziel der Kul-tusministerkonferenz für den Unterrichtder ‚Schule für Geistigbehinderte‘, näm-lich „Selbstverwirklichung in sozialerIntegration“ (KMK 1980, 7), noch ineiner gewissen Distanz zu einer Reduk-tion auf Alltagsbewältigung stand, ist

die ‚neue‘ Leitlinie der Kultusminister-konferenz für den Förderschwerpunktgeistige Entwicklung an den individuel-len Ressourcen orientiert, die eine mög-lichst eigenständige ‚Bewältigung desLebens‘ garantieren sollen: „Sonderpä-dagogische Förderung von Schülerin-nen und Schülern mit geistiger Behin-derung beinhaltet eine alle Entwick-lungsbereiche umfassende Erziehungund Unterrichtung unter besondererBerücksichtigung der praktischen Be-wältigung ihres Lebens. Für eine aktiveLebensbewältigung in sozialer Integra-tion und für ein Leben in größtmögli-cher Selbstständigkeit und Selbstbe-stimmung sind Förderung und speziel-le Lern- und Eingliederungsangeboteerforderlich“ (KMK 1998, Hervorh. d.Verf.). Die aktive Lebensbewältigung istletztlich „die in Alltagssituationen ab-verlangte biographische Verfügbarkeitvon psychischen und sozialen Kompe-tenzen zur Bewältigung von Lebenser-eignissen“ (BÖHNISCH 1993, 78). Mitdem Terminus der ‚Bewältigung‘ wirdlebenspraktische Bildung endgültig zurEinübung in eine ‚Lebenstechnik‘.

Kompetenzerwerb und Lebenstechnik

Ein solcher Zuschnitt schulischer Bil-dungsangebote, die sich an Kompe-tenzentwicklung unter der Zielperspek-tive ‚aktiver Lebensbewältigung‘ orien-tieren, weist nicht nur begrifflicheSchnittmengen zu einem allgemeinenbildungspolitischen und -theoretischenTrend auf, Kompetenzen, die für eine‚aktive Teilnahme am gesellschaftlichenLeben‘ als relevant erachtet werden, insZentrum eines neuen Bildungsbegriffszu rücken. Auch wenn Schüler(innen)mit dem Förderschwerpunkt GeistigeEntwicklung von den international ver-gleichenden PISA-Studien ausgeklam-mert werden, sind die in diesem Zugeentwickelten Kompetenzmodelle undBildungsstandards inzwischen selbstReferenzpunkte im Fachdiskurs der‚Geistigbehindertenpädagogik‘ (vgl. u. a.SEITZ 2006; MUSENBERG et al.2008; STINKES 2008; STÖPPLER etal. 2009). Dieses Aufgreifen eines kom-petenzorientierten Bildungsverständ-nisses in Zusammenhang mit dem soge-nannten Literacy-Konzept scheint we-sentlich dadurch motiviert zu sein, Schü-ler(innen) mit geistiger Behinderungvon Qualitätsentwicklungsmaßnahmenim Schulsystem nicht ausschließen und

den Anschluss an aktuelle bildungspo-litische Entwicklungen nicht verlierenzu wollen (vgl. LINDMEIER 2012, 197).

LINDMEIER sieht im Literacy-Kon-zept, in der Anpassung an alltäglicheErfordernisse und einer empirischenÜberprüfung von Bildungsansprüchen„eine – jedenfalls für die deutsche Tra-dition des Bildungsdenkens – neueinhaltliche Ausrichtung des Bildungs-verständnisses“ (ebd., 188). Im Hinblickauf die eingangs beschriebene Tradi-tionslinie lebenspraktischer Erziehungin der ‚Geistigbehindertenpädagogik‘stellt sich allerdings die Frage, ob essich auch hier um eine Neuausrichtungund Innovation handelt, die dazu ver-helfen kann, sich „[v]on der ‚Frühstücks-pädagogik‘ zur Bildung“, wie STÖPP-LER, WACHSMUTH und WEBER(2009) ihre Überlegungen zu Bildungs-standards im Förderschwerpunkt Geis-tige Entwicklung überschreiben, wei-terzuentwickeln.

Im Folgenden möchten wir einenkompetenzorientierten Zuschnitt desBildungsbegriffs und seine Rezeption inder ‚Geistigbehindertenpädagogik‘ ge-nauer in den Blick nehmen und auf sei-ne bildungstheoretischen Prämissen hinbefragen. Als bildungstheoretische Ana-lysefolie soll dabei das Bildungsver-ständnis einer geisteswissenschaftlichfundierten Pädagogik dienen. Folgt maneinem solchen Bildungsverständnis,gründet Bildung auf einem „Mensch-Welt-Verhältnis, in dem nicht formaleKräfte des Einzelnen und objektive An-forderungen der Gesellschaft unvermit-telt einander gegenüber stehen, sondernBildung als Wechselwirkung von Menschund Welt gedacht und konzipiert wird,in der sich der Mensch in Auseinander-setzung mit der Welt selbst bestimmt“(BENNER 2012, 156). Selbst-Bestim-mung in diesem Sinne meint somit et-was anderes als ein häufig mit Entschei-dungsfähigkeit bzw. -möglichkeit gleich-gesetzter Selbstbestimmungsbegriff (zurKritik vgl. u. a. MOOSECKER 2004).

Im Hinblick auf das Subjekt- undWeltverhältnis ist Bildung als transfor-matorische Arbeit des Menschen anseiner Bestimmung zu verstehen: „Siebezieht sich auf ein Ganzes, das esgesellschaftlich noch nicht gibt und alsein fertiges Ganzes angesichts der End-lichkeit des Menschen und der Offen-heit und Unbestimmtheit der Bildungs-aufgabe auch nie geben wird“ (BENNER2012, 161, Hervorh. i. O.). Eine solcheBildungstheorie, die sich als kritischeTheorie versteht, grenzt sich von einermaterialen und formalen Kanonisie-rung von Bildungsinhalten ab, die sichan einem festgeschriebenen Bildungs-

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Bildung ist mehr als der Erwerb von Kompetenzenzur Bewältigung von Alltagsaufgaben.

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ideal orientiert, und auch von einemBildungsverständnis, das auf die (lebens-praktische) Bewältigung gesellschaftlichgesetzter Anforderungen begrenzt wird.

Vor dem skizzierten bildungstheore-tischen Hintergrund bestimmt ACKER-MANN zwei wesentliche Dimensionen

von Bildung: Zum einen eine transitiveBildungsdimension, die in das Genera-tionenverhältnis eingelassen und mitder Frage verbunden ist, was die ältereGeneration an die jüngere vermittelnmuss (vgl. ebd. 2010a, 56); zum ande-ren eine reflexive Dimension von Bil-dung im Sinne der „Möglichkeit, ineiner Art innerer Bewegung Abstandvon sich und zu sich zu gewinnen undsich in seinem Bezug zu sich selbst, zuanderen Menschen und insgesamt zurWelt zum ‚Gegenstand‘ machen zu kön-nen, das heißt sich in seinem Selbst-und Weltbezug innerlich ‚spiegeln‘ undhervorbringen zu können“ (ebd. 2010b,233). Eine solche innere Bewegung kannals Symbolbildungsprozess begrifflichgefasst werden, der eine affektiv-emo-tionale Dimension mit einschließt. Da-bei kommen Symbolbildungsprozessenicht nur in sprachlicher Form zumAusdruck, sondern realisieren sich auchauf der Verhaltensebene eines Men-schen (vgl. ebd., 235).

Bildung ist eine essenzielle mensch-liche Möglichkeit, die vom Individuumimmer wieder neu ergriffen werden mussund letztendlich nicht von außen ge-steuert werden kann. PädagogischemHandeln kommt die Aufgabe zu, Bedin-gungen für die Verwirklichung von Bil-dung zu gestalten (vgl. ACKERMANN2010b, 235). Die pädagogische Praxissieht sich dabei vor die widersprüchli-che Aufgabe gestellt, den Heranwach-senden zu etwas aufzufordern, was ernoch nicht kann und ihn als jemandenanzuerkennen, der er noch nicht ist,sondern erst in einem selbsttätigen Pro-zess wird (vgl. BENNER 2012, 83). ImFall von Menschen mit geistiger Behin-derung ist die Bedeutung – vielleichtkönnte man sogar sagen: die Radikali-tät einer solchen Anerkennung und‚kontrafaktischen Vorwegnahme‘ vonBildung (vgl. ACKERMANN 2010a,65) besonders augenfällig.

Wie lässt sich vor dem beschriebe-nen bildungstheoretischen Hintergrundder aktuell diskutierte Ansatz einord-nen, Bildung als Erwerb von Kompe-tenzen zu bestimmen, die ein „Lernenfür das Leben“ (OECD 2001) ermögli-chen und gesellschaftliche Teilhabesichern sollen?

Nach WEINERT können Kompeten-zen als „die bei Individuen verfügbarenoder durch sie erlernbaren kognitivenFähigkeiten und Fertigkeiten [verstan-den werden], um bestimmte Problemezu lösen, sowie die damit verbundenenmotivationalen, volitionalen und sozia-len Bereitschaften und Fähigkeiten, umdie Problemlösungen in variablen Situa-tionen erfolgreich und verantwortungs-voll nutzen zu können“ (ebd. 2001, 27 f.).Mit Kompetenzen werden gleicherma-ßen spezifische Anforderungen defi-niert, deren Bewältigung erwartet wirdund durch die Kompetenzen letztend-lich in eine messbare und überprüfbareForm überführt werden sollen, um vomgemessenen Output ausgehend einesteuernde Wirkung im Bildungssystementfalten zu können. Die Frage, welcheAnforderungen und welche Kompeten-zen als grundlegend für alle Heran-wachsenden erachtet werden, wird da-bei aus dem Literacy-Konzept herausbestimmt. Mit diesem Begriff werdenBasiskompetenzen identifiziert, die als„Kernbestand kultureller Literalität“(BAUMERT et al. 2001, 29) verstandenund für eine „aktive Teilnahme amgesellschaftlichen Leben“ (ebd., 16) alsunverzichtbar angesehen werden. Be-zieht man sich exemplarisch auf dieLiteracy-Definition der Bildungskom-mission der Länder Berlin und Bran-denburg (2003, 80), die sich an einerSystematik von BAUMERT (2002) ori-entiert, zählen zu solchen ‚kulturellenBasiskompetenzen‘ die Beherrschungder Verkehrssprache, mathematischeModellierungsfähigkeit, Selbstregulati-on des Wissenserwerbs, Kompetenz imUmgang mit modernen Informations-technologien sowie fremdsprachlicheKompetenz. Am Beispiel der Beherr-schung der Verkehrssprache versuchtLINDMEIER (2012) aufzuzeigen, dasseine Konkretisierung und Graduierungsolcher grundlegenden Kompetenzbe-reiche auch für Menschen mit geistiger

Behinderung möglich ist. Mit Verweisauf den erweiterten Lesebegriff (HUB-LOW, WOHLGEHAGEN 1978; DÖN-GES 2011) stellt er fest, dass Vorstufenoder Vorformen des Lesens, beispiels-weise das Bilder- oder Situationslesen,auf die standardisierbare Basiskompe-tenz des Lesens bezogen werden kön-nen. Um auch Kinder und Jugendlicheim Rahmen eines solchen Kompetenz-modells mitdenken zu können, die sichnoch nicht auf der Ebene des Situati-onslesens befinden, fügt er – anknüp-fend an eine leibphänomenologischorientierte ‚Schwerstbehindertenpäda-gogik‘ – noch einen ganz basalen Stan-dard hinzu: „Kommuniziert im Rahmen‚zwischenleiblicher‘ Kommunikations-situationen mit Bezugspersonen“ (ebd.,195). Auf die beschriebene Art undWeise könnten laut LINDMEIER auchim Förderschwerpunkt Geistige Ent-wicklung fachspezifische und übergrei-fende Kompetenzen im Sinne eines‚Bildungs-Outcomes‘ auf basaler Ebeneformuliert werden (vgl. ebd., 195).

Gerade an dem hier angeführtenBeispiel können Problempunkte undblinde Flecken eines kompetenzorien-tierten Bildungsansatzes aufgezeigt wer-den: Zum einen wird deutlich, dass(spätestens) auf einem basalen Kompe-tenzniveau die Fach- bzw. Domänen-spezifik einer Kompetenz verloren geht,durch die LINDMEIER neben formalenauch materiale Bildungsaspekte berück-sichtigt sieht (vgl. ebd., 190). So könnteein basaler Standard, wie er hier für dasBeherrschen der Verkehrssprache for-muliert wird, gleichermaßen für den Be-reich fremdsprachlicher Kompetenz,sozialer Kompetenz oder auch kultu-reller Ausdrucksfähigkeit in Anschlaggebracht werden. Zum anderen wirdmit einer solchen Standardformulierungdie Logik von Kompetenzmodellen undBildungsstandards letztlich ad absur-dum geführt, geht es diesem Ansatzdoch gerade um eine operationalisierteBestimmung von Kompetenzen, umdas Erreichen eines gesetzten Leistungs-standards auch überprüfen zu können.Aber wie kann ein basaler ‚Bildungs-Outcome‘, der sich in ‚zwischenleibli-chen‘ Kommunikationssituationen mani-festiert, mit den Methoden empirischerBildungsforschung gemessen werden?Wendet man diese aus der Logik eineskompetenzorientierten Bildungsbegriffsheraus formulierte Kritik, zeigt sich,dass hier unter der Überschrift Bildungletztlich nur das in den Blick gerät, wasauch messbar und empirisch beschreib-bar ist. Eine solche Verkürzung bzw.Simplifizierung des Bildungsbegriffs istnicht nur im Hinblick auf Menschenmit geistiger Behinderung kritisch zureflektieren.

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Bildung ist eine essenzielle menschliche Möglichkeit, die vom Individuum immer wieder neu ergriffen werden muss und letztendlich nicht von außen gesteuert werden kann.

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Darüber hinaus wird die durchACKERMANN (2010a, 56) beschriebe-ne transitive Dimension von Bildungeinseitig von den gesellschaftlichen Not-wendigkeiten her bestimmt, wodurch

die Gefahr besteht, gesellschaftliche Tat-bestände ungebrochen in pädagogischeImperative zu verwandeln (vgl. RICKEN2010, 30). TENORTH weist zwar zuRecht darauf hin, dass Basiskompeten-zen „den legitimen und notwendigenAnspruch moderner Gesellschaft [reprä-sentieren], universale Prämissen für dieTeilhabe an Kommunikation zu genera-lisieren. In dieser Funktion haben sie inallen Gesellschaften, die auf Kommuni-kation basieren und einen Fundus anGemeinsamkeit garantieren müssen, imBlick auf das Subjekt aber auch dieKonsequenz, dass sie den generalisier-ten Anderen erzeugen, das heißt uns alsIndividuen für die anderen Teilnehmen-den erwartbar und berechenbar zu ma-chen“ (ebd. 2008, 27). Allerdings ist kri-tisch anzumerken, dass in der beschrie-benen Ausrichtung des Literacy-Kon-zepts das Verhältnis von Individuumund Gesellschaft im pädagogischen Han-deln und die Frage, was die eine Gene-ration der nächsten vermitteln soll (vgl.ACKERMANN 2010a, 56), durch eineFestschreibung von Kompetenzkatalo-gen nur noch beantwortet, aber nichtmehr als solche problematisiert wird.

Auch aus Perspektive der durchAckermann beschriebenen reflexivenBildungsdimension ist die Vorstellungeines linearen Bildungsprozesses, dervon außen herstellbar bzw. aus Per-spektive des Subjekts als Aneignungbestimmter Kompetenzen leistbar ist(zur Kritik vgl. u.a. SEITZ 2006, 195),mit einem Fragezeichen zu versehen.Eine solche technologische Verkürzungpädagogischen Handelns weist durch-aus Parallelen zur Akzentuierung lebens-praktischer Erziehung und Bildung inder ‚Geistigbehindertenpädagogik‘ auf.

Grundsätzlich lässt sich festhalten,dass mit der Übernahme eines kompe-tenzorientierten Bildungsverständnissesdie Gefahr einer erneuten Verengungund Zuspitzung des Bildungsbegriffsauf die Einübung einer ‚Lebenstechnik‘einhergeht.

Lebenspraxis als Kulturpraxis

Lässt sich der – in seiner Engführungkritisierte – Begriff ‚Lebenspraxis‘ posi-tiv wenden und mit ihm eine bildungs-

theoretische Perspektive eröffnen, dieweder in der mehr oder weniger gelun-genen Aneignung eines vorgegebenenKanons noch in einer Lebenstechnikmündet? Kann Lebenspraxis vielleichtein sinnvoller Ausgangspunkt auch fürdie inhaltliche Dimension, für die ‚Sa-che‘ der Bildung sein?

Wenngleich Lebenspraxis kein tradi-tioneller, „einheimischer“ Begriff derPädagogik zu sein scheint, so gehörtdessen Bedeutungshorizont seit jeherzum Diskurs der Pädagogik, sei es imZusammenhang mit der Frage, ob Bil-dung und Erziehung die heranwach-sende Generation auf die Gegenwartoder eine zukünftige Lebenspraxis vor-bereiten soll oder im Hinblick auf dasBildungsideal Wilhelm von Humboldts,das die allgemeine Menschenbildungvor der Kontamination mit direktenAnwendungsinteressen schützen möchte(vgl. BENNER 2003, 147).

Bildung und Lebenspraxis stehennicht grundsätzlich zueinander in Oppo-sition, aber doch in einer spannungsrei-chen Beziehung: Heute liegt das Pro-blem bei dem Verhältnis von Bildungund Lebenspraxis, so NIESSELER,nicht mehr in einer irgendwie mangel-haften Lebenstauglichkeit von Bildung,denn aktuelle kompetenzorientierteBildungskonzeptionen zielten geradeauf spätere Anforderungen ab und sol-len auf das berufliche Leben vorberei-ten (vgl. ebd. 2005, 8) – und im Diskursder ‚Geistigbehindertenpädagogik‘ stand

die ‚Lebensertüchtigung‘ ohnehin stetsim Zentrum pädagogischer Zielsetzun-gen. Problematisch sei heute also nichtein fehlender Lebensbezug der Bildung,sondern das generelle Übergehen undAussparen des Problems der Lebens-praxis (vgl. ebd.). Lebenspraxis meinthier nicht die Anwendung nützlicherHandgriffe im Alltag und die praktischeBewältigung des Lebens, sondern eineje spezifische, durch individuell unter-schiedliche Attribute gekennzeichnete‚Lebensform‘ (Beziehungen, Fähigkeiten,Vorlieben, Gewohnheiten, Interessen,Imaginationen, (Körper-)Haltungen, Ste-reotypien), deren Eigen-Sinn und mög-liche Bildungsrelevanz. Lebenspraxis sollhier in Verwandtschaft zum Begriff derLebensform bei JAEGGI nicht nur durchdas aktive, handelnde Moment vonPraxis bestimmt werden, sondern „nebendem aktiven auch ein passiv-vorgängi-ges Element haben“ (ebd. 2014, 71).

Lebenspraxis als Ausgangspunkt vonBildungsprozessen und -angeboten zuverstehen, meint nicht, das Mensch-Welt-Verhältnis konstruktivistisch zuüberdehnen und Bildung generell nurauf der Subjektseite zu verorten. Indivi-duelle Bildungsprozesse haben ihrenUrsprungsort weder in einem solipsisti-schen Subjekt, noch in einer dem Sub-jekt äußerlich gegenüberstehenden Welt.Sinn erhalten Bildungsprozesse einer-seits in dem Maße, in dem sie in vorge-gebene Sinnhorizonte eingefädelt wer-den (vgl. MOLLENHAUER 2003, 114 f.).Andererseits gilt: „Wie dominant auchimmer diese Bewegungsrichtung der ‚Bil-dung‘ als Einprägung und Allokation

sein mag: sie wird von einer gegenläufi-gen Bewegung begleitet, von innen nachaußen gleichsam“ (ebd.).

Den Begriff der Lebenspraxis in derPädagogik – und nicht nur für Men-schen mit geistiger Behinderung – neuzu denken, bedeutet, ihn aus der Veren-gung auf ‚Lebenstechnik‘ und ‚lebens-praktische Fertigkeiten‘ herauszulösen,in der Schnittmenge des Mensch-Welt-Verhältnisses zu verorten und als jeindividuelle Weise des Selbstverhältnis-ses und Weltzugangs zu verstehen.

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Mit der Übernahme eines kompetenzorientierten Bildungsverständnisses geht die Gefahr einer erneutenVerengung und Zuspitzung des Bildungsbegriffs aufdie Einübung einer ‚Lebenstechnik‘ einher.

Den Begriff der Lebenspraxis in der Pädagogik neuzu denken, bedeutet, ihn aus der Verengung heraus-zulösen, in der Schnittmenge des Mensch-Welt-Ver-hältnisses zu verorten und als je individuelle Weisedes Selbstverhältnisses und Weltzugangs zu verstehen.

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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNGZum Verhältnis von Bildung und Lebenspraxis in der Pädagogik

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Bildung ausgehend von der eigen-sinnigen Lebenspraxis von Menschen(mit geistiger Behinderung) zu denken,bedeutet dann eben nicht alltagsprakti-sches Überlebenstraining in einer „Land-schaft ohne passende Schuhe“ (DÖR-NER et al. 2002, 67), sondern Bildungs-angebote aus dieser wie auch immer‚behinderten‘ Lebenspraxis heraus zuentwickeln, diese dadurch als Lebens-praxis anzuerkennen und durch dieVerknüpfung mit ‚Welt‘ in eine Kultur-praxis zu überführen. Bleibt diese Ver-knüpfung aus, reduziert sich Bildungauf Selbst-Entwicklung im Modus desAlltäglichen, werden hingegen Bildungs-angebote ohne das Aufgreifen indivi-dueller ästhetischer, emotionaler odersachbezogener Imaginationen und In-teressen realisiert, reduziert sich Bil-dung auf die (vermeintliche) Aneignungeiner vorgegebenen Kultur und eines(durch andere) festgeschriebenen ma-terialen oder formalen Kulturkanons.Zu klären bleibt, wie die individuelleLebenspraxis mit der ‚Welt‘ verknüpftwerden kann und welche inhaltlichenAusschnitte der Welt auf welcherGrundlage ausgewählt werden sollen.Kompetenzlisten geben hier keine be-friedigende Antwort, weil sie ausschließ-lich von den unmittelbaren Anforderun-gen der ‚Welt‘ und dem Kriterium dergesellschaftlichen Anschlussfähigkeither definiert werden. Die nachvollzieh-bare Abkehr von einem Bildungskanon(vgl. KÜNZLI 2014) hat eine Leerstellebei der inhaltlichen Begründung vonBildungsangeboten hinterlassen.

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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Teilhabe 2/2015, Jg. 54Zum Verhältnis von Bildung und Lebenspraxis in der Pädagogik

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Die Autoren:

Dr. Oliver Musenberg

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

[email protected]

Dr. Judith Riegert

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

[email protected]

Prof. Dr. Wolfgang Lamers

Lehrstuhlinhaber

[email protected]

Kultur-, Sozial- und Bildungswissen-schaftliche Fakultät, Institut für Rehabilitationswissenschaften, Geistigbehindertenpädagogik, Unter den Linden 6, 10099 Berlin

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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNGTeilhabe 2/2015, Jg. 54

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alltäglichen Lebens (z. B. Pflege, Selbst-hilfe- und Arbeitsfähigkeiten) einhergeht.Ein solcher Prozess ist auf den erstenBlick schwer mit pädagogischen Vor-stellungen in Einklang zu bringen, dieauf lebenslange Förderung, Entwick-lungs- und Bildungsfähigkeit setzen undsich einem optimistischen Menschen-bild verschrieben haben.

Hinzu kommt, dass im Zuge des de-menziellen Krankheitsverlaufs Verhal-tensweisen zutage treten, die als störend,belastend und problematisch empfundenwerden, so insbesondere lang anhalten-de laute Geräusch erzeugen (Brummen),Rufen oder Schreien, ständiges Herum-wandern und Weglauftendenzen, selbst-verletzendes Verhalten bzw. Selbstge-fährdungen durch einen unsachgemä-ßen Umgang mit Elektrogeräten, wiebeispielsweise einem Wasserkocher,sowie verbale und physische Auseinan-dersetzungen mit Betreuenden. SolcheVerhaltensweisen werden oft als unmit-telbarer Ausdruck eines auffälligen In-dividuums betrachtet und häufig auchdirekt mit einem demenziellen Prozessoder einer diagnostizierten Demenz inVerbindung gebracht. Dagegen wendetsich der vorliegende Beitrag, der auf derGrundlage einer funktionalen verste-henden Sicht nahelegt, den subjektivenSinn der genannten Verhaltensweisenzu erfassen, der sich aus der Interaktionzwischen Individuum und Umwelt er-gibt. Vor diesem Hintergrund werdenKonsequenzen für die Praxis aufgezeigt.Mit der Positiven Verhaltensunterstüt-zung, die mit dem Konzept der „Verste-henden Diagnostik“1 (BARTHOLO-MEYCZIK, HALEK, RIESNER 2006;HALEK, BARTHOLOMEYCZIK 2006)aus der Demenzforschung der Pflege-wissenschaften korrespondiert, liegt imBereich der Behindertenarbeit ein An-satz vor, der einen angemessenen Um-gang mit den genannten Auffälligkeitenermöglicht und in der pädagogischenArbeit mit Menschen, denen nebenLernschwierigkeiten eine Demenz nach-gesagt wird, als richtungsweisend be-trachtet werden kann.

Positive Verhaltensunterstützung

Es liegen zahlreiche Arbeiten vor, diedie Wirksamkeit der Positiven Verhal-tensunterstützung2 belegen und sichnicht nur auf Personen mit Lernschwie-

Seit mehreren Jahrzehnten kann beo-bachtet werden, dass sich die durch-

schnittliche Lebenserwartung der Allge-meinbevölkerung ebenso wie die vonMenschen mit Lernschwierigkeiten (geis-tiger Behinderung) kontinuierlich erhöht.

Mit dem Anstieg der Lebenserwar-tung steigt zugleich das Risiko für spe-zielle Alterserkrankungen. Das gilt vorallem für Formen einer Demenz als diederzeit häufigste psychische Störung imAlter. Davon sind in der Allgemeinbevöl-kerung etwa 2 % der 65-Jährigen, ca. 7 %der 75-Jährigen, ca. 12 % der 80-Jährigenund über 30 % der über 90-Jährigenbetroffen (vgl. THEUNISSEN 2012, 201).Bei Menschen mit Lernschwierigkeiten,die älter als 60 Jahre sind, wird nacheiner aktuellen Auswertung internatio-naler Erhebungen eine Prävalenzrate von6,1 % angegeben und eine Annäherungan die bei der Allgemeinbevölkerungermittelten Werte konstatiert (vgl. ebd.).

Menschen mit Lernschwierigkeiten,die an einer Demenz erkranken, stellenihre assistierenden Bezugspersonen (v. a.Eltern, Mitarbeiter(innen) in der Be-hindertenhilfe) vor eine große Heraus-forderung. Sie müssen sich auf einenProzess einstellen, der in der Regel mitfortschreitenden Beeinträchtigungen desGedächtnisses, des Denkens, (soweitvorhanden) der Sprache bzw. andererKommunikationsformen, der örtlichenund zeitlichen Orientierung, der Auf-merksamkeit, der Objekt- und Perso-nenerkennung sowie mit zunehmendenEinbußen bei den Verrichtungen des

| Teilhabe 2/2015, Jg. 54, S. 61 – 67

| KURZFASSUNG Lang anhaltendes Schreien, Weglauftendenzen, Widerstandsverhalten,verbale Entgleisungen, Schlagen nach Personen, Verlegen von Dingen und Beschuldigun-gen anderer Personen, Agitationen, Apathie oder soziale Rückzugstendenzen stellen fürPersonen, die Menschen mit Lernschwierigkeiten und einer nachgesagten Demenz pflegen und betreuen, eine große Herausforderung für die alltägliche Praxis dar. Mit derPositiven Verhaltensunterstützung, die mit dem Konzept der „Verstehenden Diagnostik“aus der Demenzforschung der Pflegewissenschaften korrespondiert, liegt im Bereich derBehindertenarbeit ein Ansatz vor, der einen angemessenen Umgang mit herausfordern-den Verhaltensweisen von Menschen mit Lernschwierigkeiten und einer Demenz ermög-licht und als richtungsweisend betrachtet werden kann.

| ABSTRACT Positive Behavioral Support of People with Developmental Dis-abilities and Dementia. Among others, constant screaming, tendencies to run away,resistant behaviors, verbal aggressions, flailing and hitting of supporting personnel,losing or misplacing of objects and wrongly accusing others, agitation or insulting of fel-low residents, apathy or increasing social isolation are some of the most challengingbehaviors that care givers of people with developmental disabilities and dementia haveto deal with on a daily basis. Similar to the concept of understanding diagnostics asapplied in nursing science for the purpose of dementia research, in disability studies theconcept of positive behavior support can be seen as an approach that allows for anappropriate handling of challenging behaviors of people with developmental disabilitiesand dementia and thus should be considered indicative.

Positive Verhaltensunterstützung bei Menschen mit Lernschwierigkeitenund Demenz

Georg Theunissen

1 Darunter wird an dieser Stelle ein Ansatz verstanden, der den Sinn herausfordernder Verhaltensweisenbei dementen Personen zu erfassen und zu verstehen versucht.

2 Ende der 1980er Jahre war in den USA auf dem Gebiet des Umgangs mit herausfordernden Verhaltens-weisen bei Menschen mit Lernschwierigkeiten ein Paradigmenwechsel eingeleitet worden, indemaversive verhaltenstherapeutische Methoden durch non-aversive Interventionen abgelöst werdensollten. Dieser Konzeptwechsel führte zur Positiven Verhaltensunterstützung (positive behavioralsupport). Hierzulande wurde zeitgleich ein ähnlich gelagertes Konzept entwickelt, das mit Erfolg imaußerschulischen Bereich des institutionellen Wohnens angewandt wurde.

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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Teilhabe 2/2015, Jg. 54Positive Verhaltensunterstützung bei Menschen mit Lernschwierigkeiten und Demenz

rigkeiten, sondern ebenso auf Menschenaus dem Autismus-Spektrum beziehen.Unter dem Stichwort der Positiven Ver-haltensunterstützung (PVU) verbirgt sichein facettenreiches Bild an Unterstüt-zungsmaßnahmen, die von eng gestrick-ten, lerntheoretisch gestützten Interven-tionen bis hin zu breit angelegten Pro-grammen reichen, welche immer mehrZuspruch finden (vgl. THEUNISSEN2011; 2014a).

Erklärtes Ziel der PVU ist nicht diebloße, möglichst reibungslose sozialeAnpassung eines Menschen, sondern dieSchaffung von Situationen, in denenein Kind, Jugendlicher oder Erwachse-ner seinen Lebensstil entwickeln undseine Persönlichkeit entfalten, sich so-zial positiv einbringen und soziale Be-stätigung und Wertschätzung erfahrenkann. Diese Zielsetzung schließt quasials Nebeneffekt die Auflösung heraus-fordernder Verhaltensweisen mit ein.Dabei werden präventive und kontext-bezogene Maßnahmen fokussiert. Diesist ein entscheidender Unterschied zuvielen heilpädagogischen Methoden undpersonenzentrierten therapeutischen An-sätzen. Ein weiteres Ziel ist die Zufrie-denheit der Bezugswelt, deren Perspek-tive konzeptionell mit einbezogen wird.

Vor diesem Hintergrund möchte ichnunmehr aufzeigen, dass die PVU auchfür den Umgang mit herausforderndemVerhalten von Menschen mit Lern-schwierigkeiten, bei denen eine Demenzvermutet wird, ein richtungsweisendesKonzept sein kann. Interessant ist, dassmit dem „bedürfnisorientierten, demenz-bezogenen Verhaltensmodell“ (NDB-Modell: need driven dementia com-promised behavior model“) und derdamit verknüpften „Verstehenden Dia-gnostik“ im Lager der Pflegewissen-schaften und Demenzforschung (vgl.HALEK, BARTHOLOMEYCIK 2006,49) ein Weg geebnet wurde, der sichnahtlos in das Konzept der PVU einbin-den lässt und viele Aspekte aufweist, diemit unserem Ansatz kompatibel sind.

Bezugspunkte

Ausgehend von aktuellen Entwicklun-gen und Diskussionen auf den Gebietender Behindertenarbeit, Altenhilfe, Ge-

sundheitsförderung und Demenzfor-schung bietet es sich für die PVU alsLeitkonzept zum Umgang mit heraus-forderndem Verhalten von Menschenmit Lernschwierigkeiten und einer nach-gesagten Demenz an, fünf zentraleBezugspunkte in Anspruch zu nehmen:

1. Demenzen bei Menschen mit Lernschwierigkeiten

Um ein geeignetes PVU-Konzept zu ent-wickeln, ist einerseits ein allgemeinesGrundwissen in Bezug auf Anzeichen,unterschiedliche Formen und Verläufevon Demenzen (v. a. Alzheimer, fronto-temporale, Lewy Body, vaskuläre, Misch-formen und krankheitsbedingte), diedrei zentralen Stadien einer Demenz(Vergesslichkeit, Verwirrtheit, schwereDemenz bzw. hohe Pflegebedürftigkeit),Begleiterscheinungen (v. a. depressiveStörungen), medizinisch-therapeutische,milieuspezifische, pflegerische, tages-strukturierende und aktivierende Hand-lungsmöglichkeiten sowie spezielle An-gebote oder Arbeitsformen (z. B. bio-grafisch orientierte Beziehungspflege,Realitäts-Orientierungs-Training, Valida-tion, Erinnerungspflege oder Technikder Reminiszenz, Basale Stimulation,Snoezelen) unabdingbar. Andererseitsbedarf es spezieller Kenntnisse im Hin-blick auf Demenzen bei Menschen mitLernschwierigkeiten, vor allem bezüg-lich erster Anzeichen (eher im Alltags-oder Arbeitsverhalten als typische kog-nitive Frühsymptome), der Überlappungvon kognitiven Beeinträchtigungen unddemenziellen Symptomen, Abgrenzungs-schwierigkeiten zu depressiven Störun-gen und eines breiter angelegten (er-schwerten) Assessments (dazu THEU-NISSEN 2001) im Unterschied zurDemenz-Diagnostik bei Personen ohnezusätzliche kognitive Beeinträchtigun-gen. Häufig sind bei Menschen mitLernschwierigkeiten Besonderheiten inder Symptomatik (z. B. stärkere Ein-bußen im lebenspraktischen Bereich,mangelnde Ausdauer, Apathie, erhöhteGereiztheit und Aggressivität, Desinte-

resse an Angeboten, starke soziale Rück-zugstendenzen und Stimmungsschwan-kungen, seltener Halluzinationen) so-wie eine Spätepilepsie zu beobachten,auf die sich das Umfeld einstellen muss.

Nichtsdestotrotz wäre es ein Irrtum an-zunehmen, dass Betroffene wie anderean Demenz erkrankte Personen keineBedürfnisse nach sozialer Kommunika-tion und zwischenmenschlicher Nähe,keine Stärken oder Ressourcen hätten,die individuumzentrierte Begegnungenund eine Partizipation an einer Gemein-schaft bzw. an einem Gemeinschaftser-leben ermöglichen.

2. Leitperspektive Lebensqualität

Sowohl in der Arbeit mit kognitiv be-einträchtigten Erwachsenen als auch inder Arbeit mit alten und dementen Per-sonen werden seit einigen Jahren Un-terstützungsmaßnahmen und Hilfsan-gebote an der Leitperspektive Lebens-qualität orientiert (dazu THEUNISSEN2012, 216 f.). Wenngleich es keine all-gemein gültige Definition von Lebens-qualität gibt, lassen sich zentrale Indi-katoren wie

1. zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Kontakte,

2. Selbstbestimmung,

3. emotionales und soziales Wohlbefinden,

4. personale Identität,

5. Sicherheit und Unversehrtheit,

6. bedeutungsvolle Aktivitäten und

7. soziale Integration und Zugehörig-keit im Sinne von Inklusion

nennen, die sowohl bei betroffenenPersonen und ihren Angehörigen alsauch im Lager der Dienstleistungssys-teme hohe Wertschätzung erfahren.Hinzu kommt die Erkenntnis, dassUmfeldfaktoren (z. B. Wohn- und Le-bensbedingungen; Lebenswelten) imZusammenwirken mit individuellen(demografischen) Faktoren (z. B. Alter,Geschlecht, Gesundheitszustand, Bezie-hungs- und Einkommensverhältnisse)auf die persönliche Lebensqualität Ein-fluss nehmen. Daher dürfen wederobjektive Qualitätsstandards noch sub-jektive Einschätzungen isoliert betrach-tet werden. sondern entscheidend istein Ansatz, der persönliche Lebens-zufriedenheit im Hinblick auf hinter-gründige materielle Ressourcen undLebensbedingungen reflektiert.

3. Rechte-Perspektive

Von der Leitperspektive Lebensqualitätlässt sich unschwer eine Brücke zur

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Hinter der PVU verbergen sich Unterstützungsmaß-nahmen, die von eng gestrickten, lerntheoretischgestützten Interventionen bis hin zu breit angelegtenProgrammen reichen.

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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNGPositive Verhaltensunterstützung bei Menschen mit Lernschwierigkeiten und Demenz

Teilhabe 2/2015, Jg. 54

Rechte-Perspektive schlagen. Als rich-tungsweisend für die Arbeit mit Men-schen mit Behinderung gilt diesbezüg-lich die UN-Behindertenrechtskonven-tion (UN-BRK)., Sie besagt, dass alleMenschen mit Behinderungen, unab-hängig des Alters oder der Schwere derBehinderung, ein Recht auf Inklusionim Sinne gesellschaftlicher Zugehörig-keit und Partizipation haben, welchesvom Recht auf Selbstbestimmung imSinne persönlicher Wahl- und Ent-scheidungsfreiheit nicht losgelöst be-trachtet werden darf.

Mit Blick auf ältere Menschen wer-den hierzu in Artikel 28, der das Rechtauf einen angemessenen Lebensstan-dard und sozialen Schutz thematisiert,Maßnahmen eingefordert, die Menschenmit Behinderungen einen „gleichbe-rechtigten Zugang zu Leistungen undProgrammen der Altersversorgung“ er-möglichen und sichern. EntsprechendeGesundheitsleistungen sollen nach Ar-tikel 25 so gemeindenah wie möglichangeboten werden; und auf der Grund-lage der freien Zustimmung für alleMenschen von gleicher Qualität sein.Wichtig ist darüber hinaus der Artikel19, der die Vertragsstaaten in die Pflichtnimmt, anzuerkennen und zu gewähr-leisten, dass alle Menschen mit Behin-derungen das gleiche Recht und diegleichen Wahlmöglichkeiten wie ande-re Menschen haben, in der Gesellschaftzu leben und am Gemeinwesen zu par-tizipieren, so zum Beispiel „ihren Auf-enthaltsort zu wählen und zu entschei-den, wo und mit wem sie leben möch-ten und nicht verpflichtet sind, inbesonderen Wohnformen zu leben.“Ferner sollen Menschen mit Behinde-rungen Unterstützungsdienste für dasWohnen im eigenen Zuhause zugäng-lich sein. Gemeindebezogene Dienst-leistungen und Einrichtungen, wie siefür die Allgemeinbevölkerung vorgese-hen sind, sollen gleichberechtigt zurVerfügung stehen und es sollen Mög-lichkeiten einer persönlichen Assistenzofferiert werden, um ein „inklusivesLeben“ im Gemeinwesen zu unterstüt-zen und gesellschaftliche Isolation oderSegregation zu vermeiden.

Im Unterschied zu Deutschland, womit dem Wohn- und Betreuungsver-tragsgesetz (WBVG) die Chance ver-säumt wurde, unabhängig der Art oderSchwere der Behinderung sowie desAlters dem selbstbestimmten Wohnenin der eigenen Wohnung gegenüberdem Leben im Heim eindeutig Prioritäteinzuräumen, begegnen wir in anderenLändern, zum Beispiel in den USA,rechtlichen Bestimmungen (vgl. TheNursing Home Reform Act 1987; TheOlder Americans Act 2009), dass selbst

im Falle schwerer Behinderungen oderanderer Beeinträchtigungen die Suchenach alternativen Wohnformen im Ge-meinwesen gegenüber dem Leben ineiner Pflegeeinrichtung Vorrang habenmuss, dass niedrige Werte in Bezug aufAktivitäten des alltäglichen Lebens(ADL) kein Grund für die Unterbringungschwerbehinderter Menschen in Pfle-geeinrichtungen sein dürfen und dassalten Personen durch aufsuchendeDienste den Verbleib in der vertrautenWohnung unter größtmöglicher Unab-hängigkeit sowie ein Leben im Gemein-wesen (Teilhabe) ermöglicht werdensoll. Diese rechtlich kodifizierten Prin-zipien entsprechen der UN-BRK undwerden von behinderten und altenMenschen voll unterstützt (vgl. THEU-NISSEN 2014b).

4. Humanistisches Menschenbild

Die soeben signalisierte Wertschätzungder Betroffenen-Sicht im Zusammen-hang mit der Rechte-Perspektive unddem Leitgedanken der Lebensqualitäterfordert ein Menschenbild, das Perso-nen mit Lernschwierigkeiten und einernachgesagten Demenz nicht von einemnihilistischen Blickwinkel aus betrach-tet, der (zunehmende) Defizite, dasNicht-mehr-Können, Abbau- oder so-genannte Verfallserscheinungen fokus-siert, sondern die personale Würde bzw.Achtung des Personseins zugrunde legt.In diesem Sinne bietet sich die Orien-tierung an einem humanistischen Men-schenbild an, welches alle Maßnahmenim Zusammenhang mit der Unterstüt-zung einer dementen Person spürbardurchdringen sollte (BARTHOLOMEY-CZIK, HALEK, RIESNER 2006, 27 ff.).Das von Carl ROGERS (1974) begrün-dete Persönlichkeitsmodell ist hierzuwegbereitend für eine Haltung, die dieSicht bzw. das Selbstbild eines betrof-fenen Menschen, sein Bedürfnis nachpersonaler Wertschätzung als essenziellfür seine Entwicklung und den Erhaltdes Selbst sowie den Anderen unabhän-gig der Art oder Schwere von Beein-trächtigungen „als wertvolles Mitgliedeiner sozialen Gemeinschaft“ anzuer-kennen und wertzuschätzen weiß (BAR-THOLOMEYCZIK, HALEK, RIESNER2006, 27). Zugleich befördert es eine po-sitive Einstellung gegenüber der Selbst-darstellung des Anderen, die sich beidementen Personen zumeist dahinge-hend äußert, dass sie in Anbetracht derzunehmenden Beeinträchtigungen derkognitiven Fähigkeiten, des logischenDenkens, Urteils- und Sprachvermö-gens, den Bereich der Emotionen, derfreien Assoziationen, Phantasie, Poesie,Klänge oder Körperbewegungen bevor-zugen, um sich mitzuteilen und auszu-drücken. An dieser Stelle besteht eine

enge Affinität zu der sogenannten Stär-ken-Perspektive, die sich auf die Wür-digung und Fokussierung positiver Attri-bute, Botschaften und menschlicher Fä-higkeiten stützt. Mit Blick auf dementePersonen bedeutet dies für die PVU,sich einer individuumzentrierten Res-sourcenorientierung und einem (passen-den) Zusammenspiel mit sozialen bzw.Umfeld-Ressourcen (z. B. Beziehungs-und Umgebungsgestaltung) zu verschrei-ben, die zur Gewinnung und Sicherungvon Lebensqualität beitragen können.

5. Lerntheoretische Gesetzmäßigkeitenund Angewandte Verhaltensanalyse

Die PVU steht in der Tradition beha-vioraler Therapieformen (Verhaltensthe-rapie, Verhaltensmodifikation), die imHinblick auf non-aversive (nicht-be-strafende) Interventionen weiterentwi-ckelt wurden. Dabei spielen Grund-prinzipien (z. B. Erfassung auslösenderBedingungen und Konsequenzen in Be-zug auf herausfordernde Verhaltenswei-sen) der Angewandten Verhaltensanaly-se eine wichtige Rolle. Diese werden al-lerdings in der Regel von den helfendenBerufen (Professionellen) aufbereitet,die ihren Vorstellungen (Normen undZielen) entsprechend Interventionenfestlegen und dabei die Subjektseitevöllig übergehen. Das aber widersprichtdem humanistischen Menschenbild, wel-ches nahelegt, die Stimme und ‚Innen-sicht‘ der Person zu beachten und zurespektieren. Dies zu leisten versprichtdie funktionale Betrachtung des heraus-fordernden Verhaltens, bei der es umdas Verstehen, um die subjektive Be-deutung und den Sinn des Verhaltensgeht. Mit dieser Problemsicht ist dieAngewandte Verhaltensanalyse im Rah-men der PVU um einen zentralen As-pekt erweitert worden, der in der De-menzforschung der Pflegewissenschaf-ten mit der „Verstehenden Diagnostik“deutlich zutage tritt.

Handlungsorientierende Grundsätze

Abgeleitet von den Bezugspunkten undErkenntnissen aus der PVU-Forschungund Demenzforschung der Pflegewissen-schaften lassen sich folgende Grundsätzefür den Umgang mit herausforderndemVerhalten bei Personen mit Lernschwie-rigkeiten und nachgesagter Demenzstichwortartig nennen:

> Herausfordernde Verhaltensweisenmüssen kontextbezogen betrachtetwerden.

> Herausfordernde Verhaltensweisenhaben einen subjektiv bedeutsamenSinn und eine Geschichte.

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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Teilhabe 2/2015, Jg. 54Positive Verhaltensunterstützung bei Menschen mit Lernschwierigkeiten und Demenz

> Herausfordernde Verhaltensweisenkönnen mehrere Funktionen haben.

> Um ein herausforderndes Verhaltenzu verstehen, bedarf es einer funk-tionalen Problembetrachtung.

> Der Umgang mit herausforderndemVerhalten lässt sich nicht auf einebehavioristische Strategie (z. B. ope-rante Konditionierung) reduzieren,sondern muss die Subjektseite be-achten.

> Der Umgang mit herausforderndemVerhalten sollte Bestandteil eines in-terdisziplinären Gesamtkonzepts sein.

> Der Umgang mit herausforderndemVerhalten verlangt gleichfalls wiedas Gesamtkonzept eine gute Zu-sammenarbeit aller helfenden oderassistierenden Personen.

> Mitunter ist es wichtiger, die Umge-bung anstatt das auffällige Verhaltenzu verändern.

> Unterstützungsformen sollten Selbst-bestimmungsmöglichkeiten bei größt-möglicher Sicherheit beachten; da-bei geht es immer auch um die Ach-tung der „Autonomie des Augen-blicks“ (BARTHOLOMEYCZIK, HA-LEK, RIESNER 2006, 62).

> Unterstützungsformen sollten aufdie Erhöhung von Lebensqualitätzielen und präventive Maßnahmen(Kontextveränderungen) priorisieren.

> Bei der Planung eines Unterstüt-zungskonzepts ist es wichtig daraufzu achten, dass es tatsächlich durch-geführt werden kann.

Zur Durchführung

Die PVU operiert als ein breit angeleg-tes Programm auf drei Ebenen:

1. institutionsbezogen (z. B. in Bezug auf eine Wohnstätte),

2. gruppenbezogen (z. B. in Bezugauf eine Wohn- oder Arbeitsgruppe) und

3. individuumsbezogen.

Während auf der ersten Ebene Fra-gen in Bezug auf passende Rahmenbe-dingungen (baulich, infrastrukturell,räumlich, gestalterisch, ausstattungs-mäßig…) zur Unterstützung einerdementen Person fokussiert werden,geht es bei der zweiten um Fragen der

Gruppengestaltung, des Gruppenle-bens, der gruppenbezogenen Anforde-rungen und gemeinsamen Aktivitätenim Hinblick auf den Umgang mitdementen Personen. Diese Fragen, dieein Gesamtkonzept tangieren, welchesein Assessment (Demenz-Diagnostik),medizinische und pflegerische Unter-stützung, Umfeldanpassungen, tages-strukturierende Aspekte (Strukturie-rungshilfen, Ablaufplan zur Stetigkeit,Vorhersehbarkeit, Vertrautheit, Sicher-heit) und Aktivitätsangebote beinhaltet(vgl. LINGG & THEUNISSEN 1999,238 ff.), lassen sich von der dritten Ebe-ne nicht losgelöst betrachten, die das„Kernstück“ der PVU bildet und daherausführlicher skizziert werden soll.

Unterstützerkreis und FunktionalesVerhaltensassessment

Die moderne Behindertenarbeit gehtdavon aus, dass grundsätzlich eine Per-sonzentrierte Planung, so zum Beispieleine persönliche Zukunftsplanung, derLeitfaden für alle Unterstützungsmaß-nahmen sein sollte (vgl. THEUNISSEN2012). Dieses methodische Instrumentgilt für behinderte Kinder, junge Er-wachsene bis hin zu hochbetagten Se-nioren. Durchgeführt wird es im Rahmeneines von einem Unterstützungsma-nager moderierten Unterstützerkreises,der sich neben der betroffenen Personaus Schlüsselpersonen (z. B. Mitarbei-ter(innen), Pflege- oder therapeutischeKräfte, Familienmitglieder, Bekannte)zusammensetzt, die den Lebensweg desBetreffenden begleiten und, soweit essich nicht um professionelle Helfer han-delt, bedarfsbezogen informelle Unter-stützung anbieten. Besteht ein Verdachtauf Demenz oder eine andere psychi-sche Störung, sind unter der Regie derzuständigen Fachkräfte und Dienstleis-tungssysteme geeignete Assessments (z. B. Demenz-Diagnostik) durchzufüh-ren, deren Ergebnisse in die Personzen-trierten Planung Eingang finden müssen.

An dieser Stelle setzt die PVU an, dieauf der Grundlage der PersonzentriertenPlanung ein für den alltäglichen Um-gang bestimmtes Unterstützungspro-gramm entwickelt, welches als Bestand-teil eines an der Personzentrierten Pla-nung orientierten (interdisziplinären)Gesamtkonzepts die herausforderndenVerhaltensweisen fokussiert. Die Ent-wicklung eines solchen Programms istAufgabe des Unterstützerkreises, derregelmäßige (im Dienstplan von Mitar-beiter(inne)n verankerte), bedarfsbezo-gene Treffen zu vereinbaren hat, um denEntwicklungsprozess beobachten undangepasste Programmmodifikationenvornehmen zu können.

In einem ersten Schritt ist ein funk-tionales Verhaltensassessment durch-zuführen, bei dem eine indirekte unddirekte Form unterschieden wird: Beimindirekten Assessment werden Infor-mationen zusammengetragen, die nichtunmittelbar mit dem herausforderndenVerhalten in Verbindung stehen und inder Regel schon im Rahmen der Person-zentrierten Planung aufbereitet wurden(z. B. neurologische und gesundheit-liche Aspekte [einschl. Verdacht aufDemenz], Stärken, Ressourcen, Bedürf-nisse und Lebensstil der betroffenenPerson, Beziehungen und soziale Netz-werke sowie ‚gute‘ Zeiten). Wichtig istzudem die Beachtung der Lebensge-schichte der Person.

Das direkte Assessment fokussiert diekonkrete Problemsituation. Hierzu em-pfiehlt es sich genaue Verhaltensbeob-achtungen durchzuführen und ein Sche-ma zu nutzen, das der Erfassung hinter-gründiger Ereignisse oder Faktoren, derBeschreibung von auslösenden Bedin-gungen des herausfordernden Verhal-tens und der Konsequenzen dient.

Hintergründige Faktoren beziehensich vor allem auf

1. personenspezifische Aspekte (z. B.in Bezug auf den demenziellenProzess: Verwirrtheit, Desorientie-rung, starkes Vergessen, Tag-Nacht-Umkehr, sprachliche oder sensori-sche Fähigkeiten; biologische Fak-toren wie Hunger, Durst, Diät,Ermüdung; Nebenwirkungen vonMedikamenten, chronische Krank-heiten, allgemeiner Gesundheits-zustand, emotionale und körper-liche Befindlichkeit der Person)

2. zurückliegende Situationen (z. B.Streit in der WG) oder äußere Be-dingungen, die ein Verhalten beein-flussen können (z. B. Raumgestal-tung, zu hoher Lärmpegel, Sitz-ordnung, grelles Licht; Alltagsrou-tine; Fischgeruch aus der Küche)

3. Aktivitäten des alltäglichen Lebens(z. B. zur Selbstpflege), die über-fordern oder ‚gut gemeinte‘, unter-oder überfordernde Angebote jen-seits persönlicher Interessen

4. die Anwesenheit bestimmter Perso-nen (Mitbewohner(innen), Besuche-r(innen)), die keinen direkten Kon-takt zur betroffenen Person haben.

Unter auslösenden Bedingungenwerden Ereignisse gefasst, die unmittel-bar (direkt) dem herausfordernden Ver-

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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNGPositive Verhaltensunterstützung bei Menschen mit Lernschwierigkeiten und Demenz

Teilhabe 2/2015, Jg. 54

halten vorausgehen (z. B. eine Auffor-derung, barscher Ton bei der Pflege)oder sein Auftreten vorhersehen lassen.

Konsequenzen beziehen sich auf Er-eignisse, die dem Verhalten folgen, diezu seiner Aufrechterhaltung bzw. zurZunahme oder zur Vermeidung oderAbnahme beitragen.

Die Erfassung des herausforderndenVerhaltens mit den hintergründigen Fak-toren, auslösenden Bedingungen undKonsequenzen mündet in die funktio-nale Problembetrachtung, der sich spe-zifische Hypothesen und Zielsetzungenanschließen. Bei der funktionalen Pro-blembetrachtung kommt es darauf an,die subjektive Bedeutung (Funktion)des herausfordernden Verhaltens zuerfassen (Leitfragen: Welchen Sinn hatdas Verhalten für die Person? Was willsie mit dem Verhalten erreichen?).

Nehmen wir zum Beispiel das Schrei-en einer dementen Person: Hintergrün-dig können eine Unterzuckerung, dieAnwesenheit zu vieler Personen odereine zeitweilige starke Verwirrtheit eineRolle spielen; auslösend kann eine Auf-forderung sein, zum Essen zu kommen;durch mehrfaches Auffordern kommtes zur Steigerung des Schreiens in Ver-bindung mit einer stärkeren Verweige-rung; funktional betrachtet fühlt sichdie Person physisch unwohl (starkerDurst) oder gestresst, möglicherweisehängt das Schreien aber auch mit auf-flackernden, emotional negativ besetz-ten Erinnerungen zusammen, ebensodenkbar ist es, dass die Person mit demSchreien (als residuale verbale Aus-drucksform) ein verstärktes Bedürfnisnach Kommunikation oder Zuwendungsignalisieren oder mitteilen möchte, dasssie keinen Fisch mag … Wir merken,dass die Suche nach dem Sinn des Ver-haltens kein einfaches Unternehmen istund dass es mehrere Funktionen für einund dasselbe Verhalten geben kann.Hilfreich zum Verstehen des Verhaltensbzw. zur Erfassung möglicher Funktio-nen sind Kenntnisse aus der Lebensge-schichte (indirektes Assessment).

Die biografische Orientierung gehtauch aus dem Ansatz der „Verstehen-den Diagnostik“ hervor, der dem direk-ten funktionalen Assessment weithinentspricht, wenngleich nach dem NDB-Modell mit der Einbeziehung spezifischerAspekte aus dem indirekten Assess-ment die Erfassung von Hintergrund-faktoren und direkten Faktoren nichtvöllig deckungsgleich ist.

So nutzen zum Beispiel BARTHO-LOMEYCZIK und ihr Team (2006, 63 ff.) Kriterien des NBD-Modells zur

Strukturierung der „Verstehenden Dia-gnostik“, indem sie als Hintergrund-faktoren

1. Motorik (z. B. Unsicherheit beim Gehen),

2. Gedächtnis/Merkfähigkeit (z. B. rasches Vergessen von Vor-haben oder aktuellen Ereignissen),

3. Sprache (z. B. verzögerte bzw. situationsinadäquate Echolalie),

4. sensorische Fähigkeiten (z. B. nachlassende Sehfähigkeit;intakter Geruchssinn) und

5. demografische Variablen (Alter, Geschlecht, Beruf…)

und als Proximalfaktoren

1. physiologische Bedürfnisse (z. B.Schreien als Ausdruck von Schmerz-empfinden und Unwohlsein),

2. psychosoziale Bedürfnisse (z. B. Suche nach Kontakt),

3. die physikalische Umgebung (z. B. häufiger Aufenthaltsort) und

4. die soziale Umgebung (z. B. Häufigkeit und Art derZuwendung)

erfassen.

Ferner nehmen sie eine Beschreibungdes herausfordernden Verhaltens vorund stellen auf der Basis all dieser In-formationen die Verstehenshypotheseauf. Bei einem anderen Ansatz wird folgende Differenzierung mit einer im-pliziten Funktionsbetrachtung vorge-nommen:

1. emotionaler Ausdruck (z. B. Stress wahrnehmen…),

2. physische Bedürfnisse (Verwirrtheit, Unterzuckerung…),

3. Umwelt (zu viele Personen, ins Bett wollen…) und

4. sonstige Anlässe (Schreien aus Zeit-vertreib…), die wie zuvor zu ähnlichenResultaten wie beim funktionalenAssessment führen können.

Wie wichtig, unabhängig von denangewandten Assessment-Systemen, diefunktionale Problembetrachtung zumVerstehen des herausfordernden Ver-haltens einzuschätzen ist, soll durch einzweites Beispiel verdeutlicht werden:

Frau S. weigert sich abends ins Bettzu gehen. Nur mit Mühe gelingt es derMitarbeiterin, dass sie ins Bett geht.Kurze Zeit später steht sie jedoch schonwieder auf und läuft ziellos und hilflosin der Wohngruppe umher (Problem-verhalten). Sie wird aufgefordert wiederins Bett zu gehen, folgt jedoch nicht derAnweisung. Die Mitarbeiterin versuchtsie auf freundliche Weise an die Handzu nehmen, worauf Frau S. abwehrt,schreit und um sich schlägt. Nun rea-giert die Mitarbeiterin energischer, waszu einer Auseinandersetzung führt (Re-aktionen und Konsequenzen). Funktio-nal betrachtet ist das Verhalten vonFrau S. subjektiv sinnvoll, weil überihrem Bett ein Bild von ihr hängt, aufdem sie sich jedoch nicht mehr wieder-erkennt (demenziell bedingter hinter-gründiger Faktor). Daher nimmt sie an,dass es sich um das Bett einer anderenPerson handelt. Beim Ins-Bett-gehensieht sie das Bild (auslösendes Moment)und ist davon überzeugt, dass es sichnicht um ihr Bett handelt, weshalb siees verlässt. Diese spezifische Annahmefokussiert die Problemsituation auf derGrundlage der Faktoren des direktenAssessments der PVU. Mit Hilfe spezifi-scher Annahmen sollen Ziele formu-liert und passgenaue Interventionen fürkonkrete Situationen gewonnen wer-den (z. B. Austausch des Bildes durchein persönliches Symbol als ‚Erkennungs-zeichen‘).

Ein Konzept ist vor allem dann trag-fähig, wenn es mehr Lebensqualität ver-spricht. Dazu ist es sinnvoll, spezifischeArbeitshypothesen und Ziele durchglobale Hypothesen und Ziele, abge-leitet vom indirekten Assessment, zuergänzen und beide Schwerpunkte indem Gesamtkonzept miteinander zuverschalten, wie es mit der Verstehens-hypothese angedacht ist.

Zum Unterstützungsprogramm

Dem funktionalen Assessment folgt dieErstellung und Implementierung desUnterstützungsprogramms der PVU,welches auf der Grundlage der voraus-gegangenen Überlegungen vier Hand-lungsebenen vorsieht:

1. Veränderung von Kontextfaktoren

Kontextfaktoren spielen häufig als hin-tergründige Ereignisse für herausfor-dernde Verhaltensweisen eine zentrale

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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG Teilhabe 2/2015, Jg. 54Positive Verhaltensunterstützung bei Menschen mit Lernschwierigkeiten und Demenz

Rolle (z. B. Schreien als Versuch, denhohen Stress erzeugenden Lärmpegelin der Gruppe zu verarbeiten). Daherbieten sich oftmals anstelle einer unmit-telbaren Verhaltensintervention kon-textverändernde Maßnahmen an (z. B.Schaffung einer ruhigen bzw. reizarmenAtmosphäre; Beseitigung von Gefahren-quellen; visualisierte Ablaufpläne, Raum-markierungen oder Objektmarkierungenmit einem persönlichen Erinnerungs-symbol; Gruppenveränderung; Schaf-fung von Rückzugsmöglichkeiten; Ge-staltung eines Reminiszenz-Gartens;situative Veränderungen im Tagesablauf;Erstellung und Nutzung einer Ange-bots- und Wahltafel; veränderte Aufga-ben oder Einstreuen von Zwischenpau-sen oder Lieblingsbeschäftigungen imRahmen eines Arbeitsprozesses).

2. Personenzentrierte Ansprache

Hierunter werden Umgangsformen ge-fasst, die sich direkt auf die Begegnungund Kommunikation mit der Personbeziehen. Im Falle herausfordernder Ver-haltensweisen bei Personen mit einernachgesagten Demenz werden trotzeiner noch nicht eindeutig nachgewie-senen Wirksamkeit Formen einer vali-dierenden Assistenz (THEUNISSEN2012, 226 ff.) empfohlen, die eine wert-schätzende Grundhaltung, Einfühlungs-vermögen, eine Akzeptanz von Demenz,ein Verbalisieren von Gefühlen undverstehendes Reagieren implizieren. Zu-dem sollten Umgangsformen (z. B. aufder Grundlage der funktionalen Problem-betrachtung) oder Aspekte wie erwach-senengemäße Ansprache auf Augen-höhe, Aussagen nicht wörtlich nehmen,Gelassenheit, Vermeidung eines Behar-rens auf Anweisungen, Vermeidung ei-ner Konfrontation mit ungeliebten The-men und Anforderungen, Verzicht aufDiskussionen, Geduld, Trost spenden,Humor, Umlenken oder Nutzung vonleicht zugänglichen Symbolen (Stop-Schild) beachtet werden (vgl. BUIJSSEN1997, 180 ff.).

3. Persönlichkeits- und lebensstil-unterstützende Maßnahmen

Diese Ebene umfasst eine breite Palettean individuums- und gruppenbezoge-nen Angeboten wie zum Beispiel dieErmöglichung angenehmer Erinnerun-gen zur Stärkung der Identität und dessozialen Zugehörigkeitsgefühls durch„Erinnerungshilfen“ (memory box), bio-grafisches Arbeiten oder Erinnerungs-pflege, die „bei Menschen mit Demenzund herausforderndem Verhalten so-wohl als gezielte Aktivität als auch alsBestandteil der Interaktion“ (BARTHO-LOMEYCZIK, HALEK, RIESNER 2006,93) eingesetzt werden kann, Basale Sti-

mulation (BIENSTEIN, FRÖHLICH1994), Snoezelen (BARTHOLOMEY-CZIK, HALEK, RIESNER 2006, 107 ff.),körperliche Aktivierung (Bewegungoder Tanz nach Musik), Ressourcenak-tivierung (z. B. Mithilfe beim Reinigenund Abwischen von Tischen, Stühlen o. Ä. trägt zum Gefühl bei, gebraucht zuwerden oder etwas Nützliches zu tun;zudem ist sie körperlich aktivierend undunterstützt die Auge-Hand-Koordina-tion), ästhetische Aktivitäten (bildneri-sches Arbeiten, musikalische Betätigung),Unterstützung von Interessen, selbst-bestimmten Aktivitäten oder anderenMöglichkeiten zur Selbstaktualisierungoder Partizipation am Gemeinschaftsle-ben, zum Selbst- und Gemeinschaftser-leben, zum Entspannen und Wohlfühlensowie zur Prävention herausfordernderVerhaltensweisen. Dazu zählt gleich-falls die Unterstützung durch informel-le Netzwerke (z. B. Personen aus demUnterstützerkreis), die personellen Bei-stand (z. B. durch Besuche, Mithilfe bei den Verrichtungen des alltäglichenLebens) leisten und vor allem Freizeit-assistenz (z. B. durch Unterstützung beiFreizeitaktivitäten, Aufsuchen vertrau-ter Plätze im Gemeinwesen, Spazier-gänge, Cafébesuch) anbieten können.

4. Notfallhandeln und Krisenintervention

ist dann angezeigt, wenn eine plötzli-che Selbst- oder Fremdgefährdung oderauch (eskalierende) Halluzinationen,Wahn (bei Menschen mit Lernschwie-rigkeiten seltener), Panikattacken oderFremdaggressionen auftreten. Auch indem Fall empfiehlt sich ein respektvol-ler Umgang, ggf. unterstützt durch ein-deutige Signale der Grenzsetzung (Stop-Schild), Umlenken und Schaffung vonangstfreien Situationen oder Freiräumenzur Entlastung und Entspannung. „Essollte versucht werden, das dem Verhal-ten zu Grunde liegende Gefühl zu the-matisieren, um so von der Handlungabzulenken, ohne die Betroffenen inihrer Realität zu korrigieren. Eine Be-kräftigung des Wahns sollte vermiedenwerden. Des Weiteren sollten Deeska-lationsstrategien im Umgang mit aggres-sivem Verhalten angewendet werden …Eine Fixierung der Betroffenen kannnur als allerletztes Mittel in Frage kommen und sollte vermieden wer-den“ (BARTHOLOMEYCZIK, HALEK,RIESNER 2006, 120). Einer „Notfallin-

tervention“ sollte auf jeden Fall einepersönlichkeitsunterstützende und sta-bilisierende Maßnahme folgen.

Schlussbemerkung

Mit den skizzierten Ausführungen posi-tioniert sich die PVU als ein modernesKonzept, welches Erkenntnisse aus derPVU-Forschung und Arbeit mit Men-schen mit Behinderungen und/oder Ver-haltensauffälligkeiten sowie Erfahrungenaus der Demenzforschung der Pflege-wissenschaften im Hinblick auf heraus-forderndes Verhalten zu einem rich-tungsweisenden Ansatz miteinanderverschaltet und aufbereitet hat. Hierbeigeht der Fokus der pädagogisch-thera-peutischen Überlegungen bei heraus-fordernden Verhaltensweisen über einerein behaviorale Sicht und Praxis deut-lich hinaus, indem der Subjektseite(Biografie, ‚Innensicht‘, Bedürfnisse usw.)eine zentrale Bedeutung im Hinblickauf Entwicklung und Implementierungeines Unterstützungsprogramms zu-kommt. Da wir es bei herausforderndenVerhaltensweisen dementer Personenzumeist mit alltäglichen Schwankungen,Unstetigkeiten und Unberechenbarkei-ten, einem starken Wechsel der Häufig-

keit, Intensität und Dauer des Auftre-tens zu tun haben, die dem hintergrün-digen (demenziellen) Krankheitsverlaufgeschuldet sind, ist das Verhalten nichtformal kalkulierbar. Deshalb kommt esauf die Kunst der Umkreispersonen an,situativ angemessen zu reagieren. Daserfordert ein gewisses Maß an Flexibi-lität und Kreativität sowie die Bereit-schaft, sich auf Strategien einzulassen,bei denen es sich erst im Nachhineinzeigt, ob die Person mit ihrer Problem-sicht, Befindlichkeit und ihren Bedürf-nissen erreicht wurde. Hierbei spielt einpositives Beziehungsverhältnis einewichtige Rolle. Fehlt eine vertrauens-volle Basis, sind die Chancen einererfolgreichen Unterstützung eher geringeinzuschätzen. Um eine kompetenteArbeit leisten zu können, sollten Fort-bildungen (z. B. in PVU und Demenz;dazu www.positive-verhaltensunterstüt-zung.de) genutzt werden; zudem sindAngebote einer Praxisberatung in PVUoder „Verstehender Diagnostik“ hilf-reich, die möglichst den Unterstützer-kreis sowie den gesamten Prozess fach-lich unterstützen soll.

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Ein Konzept ist vor allem dann tragfähig, wenn es mehr Lebensqualität verspricht.

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WISSENSCHAFT UND FORSCHUNGPositive Verhaltensunterstützung bei Menschen mit Lernschwierigkeiten und Demenz

Teilhabe 2/2015, Jg. 54

LITERATUR

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HALEK, Magareta; BARTHOLOMEYCZIK,Sabine (2006): Verstehen und Handeln.Forschungsergebnisse zur Pflege von Men-schen mit Demenz und herausforderndemVerhalten. Hannover: Wittener Schriften.LINGG, Albert; THEUNISSEN, Georg(1999): Menschen mit geistiger Behinde-rung und Demenz. In: Theunissen, Georg;Lingg, Albert (Hg.): Wohnen und Lebennach der Enthospitalisierung. Bad Heil-brunn: Klinkhardt, 226–253.ROGERS, Carl (1974): Entwicklung derPersönlichkeit. Stuttgart: Klett.THEUNISSEN, Georg (2001): PsychischeStörungen bei Menschen mit geistigerBehinderung im Alter. In: Geistige Behinderung 40 (2), 167–180.THEUNISSEN, Georg (2011): GeistigeBehinderung und Verhaltensauffällig-keiten. 5 bearb. Aufl. Bad Heilbrunn:Klinkhardt.

THEUNISSEN, Georg (2014a): PositiveVerhaltensunterstützung. 4. überarb.Aufl. Marburg: Lebenshilfe.THEUNISSEN, Georg (2014b): Inklusionvon Menschen mit Lernschwierigkeitenim Alter unter Berücksichtigung vonlebensweltorientierten Unterstützungs-möglichkeiten. In: SonderpädagogischeFörderung heute 60 (1), 38–58.

Der Autor:

Prof. Dr. Georg Theunissen

Lehrstuhl Geistigbehindertenpädagogikund Pädagogik bei Autismus, Institut fürRehabilitationspädagogik, PhilosophischeFakultät III Erziehungswissenschaften,Martin-Luther-Universität Halle-Witten-berg, 06099 Halle

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Einleitung

Vor den 1980er Jahren wurde dem The-ma Demenz bei älteren Menschen mitsogenannter geistiger Behinderung kaumeine Bedeutung zugemessen. HÜLS-HOFF (2012) spricht in diesem Zusam-menhang sogar von einer jahrzehnte-langen Tabuisierung. Die Anzahl ältererMenschen mit geistiger Behinderung istin den letzten Jahren stetig gestiegenund wird im Zuge des demografischenWandels in den kommenden Jahrzehn-

ten weiter zunehmen. DIECKMANNund GLOVIS (2012) errechneten amBeispiel von Westfalen-Lippe, dass imJahr 2030 jede(r) zweite Bewohner(in)in stationären Wohneinrichtungen sech-zig Jahre oder älter sein wird. Infolge-dessen wird auch der Anteil von älterenMenschen mit geistiger Behinderungund einer Demenzerkrankung steigen.

Diese Entwicklung stellt die Einrich-tungen der Behindertenhilfe vor neueHerausforderungen. Gedächtnisdefizi-

| Teilhabe 2/2015, Jg. 54, S. 68 – 71

| KURZFASSUNG Da Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung immer älterwerden, erkranken auch immer mehr von ihnen an Demenz. Somit müssen sich die Einrich-tungen der Behindertenhilfe auf die Bedürfnisse älterer Bewohner(innen), zum Teil mitDemenz, einstellen und ihre Tagesstruktur und Freizeitangebote entsprechend anpassen. ImBereich der Altenhilfe ist derzeit das Konzept der „Weckworte“ besonders beliebt. Die Weck-worte stellen eine Kombination von einfacher Dichtkunst mit Bewegung, Aufgaben, Musikund Geschichten erzählen dar, mit dem Ziel, neue und positive Kommunikation mit Menschenmit Demenz zu ermöglichen. Dabei wurde überprüft, ob auch ein sehr sprachdominiertesFreizeitangebot wie die „Weckworte“ bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung undDemenz sinnvoll zur Steigerung der Lebensqualität und Lebensfreude einzusetzen ist. Unse-re Praxiserfahrung zeigt, dass auch ältere Menschen mit geistiger Behinderung – mit undohne Demenz – von der Durchführung der „Weckworte“ profitieren können.

| ABSTRACT „Weckworte“ – Alzpoetry to improve the quality of life of elderlypersons with cognitive disabilities and dementia – an experience report. As thelife experience of persons with so called disabilities is increasing, an increasing number ofthem suffers from dementia. As a consequence, the facilities of the services for personswith disabilities have to adapt their offers to the needs of elderly residents, some of themsuffering from dementia, and they have to adapt their daily schedules and their recreation-al offers. In the field of services for the elderly, the concept of “Weckworte” (wake-upwords) is quite popular. The “Weckworte” are a combination of simple poetry and move-ment, tasks, music and storytelling, with the objective to enable new and positive ways ofcommunication with persons who suffer from dementia. It was also examined if a recre-ational offer that is mainly based on language as the “Weckworte” can contribute in a goodway to increase the quality of life and the joy of living of elderly persons with cognitive dis-abilities and dementia. Our experience in practice shows that elderly persons with cognitivedisabilities – with and without dementia – can profit from the “Weckworte” project.

„Weckworte“ – Alzpoetry zur Steigerungder Lebensqualität von älteren Menschen mit geistiger Behinderungund Demenz Ein Erfahrungsbericht

Sandra Verena Müller Vanessa Focke

Teilhabe 2/2015, Jg. 54PRAXIS UND MANAGEMENT

68 PRAXIS UNDMANAGEMENT

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Teilhabe 2/2015, Jg. 54Alzpoetry zur Steigerung der Lebensqualität von älteren Menschen mit geistiger Behinderung

PRAXIS UND MANAGEMENT

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tragen (NARTSCHENKO 2012). So wur-de die Methode der „Weckworte“, diein Deutschland auf Lars RUPPEL (2012)zurückgeht, in die stationären Einrich-tungen der Behindertenhilfe getragen,um sie dort mit älteren Menschen mitkognitiver Beeinträchtigung zu erproben.

„Weckworte“: Wie funktioniert das?

Das Konzept Alzpoetry wurde vor etwa10 Jahren von Gary Glazner in einemAltenheim in New York entwickelt.Lars Ruppel führte diesen Ansatz in derAltenhilfe in Deutschland ein. Aus derWeiterentwicklung des Alzpoetry Kon-zepts entstanden schließlich die „Weck-worte“. Hintergrund dieser Idee ist dieTatsache, dass Menschen mit einer De-menz im mittleren Erkrankungsstadiumnur sehr schwer neue Gedächtnisin-halte speichern können; hingegen sehrfrüh im Leben gespeicherte Erinnerun-gen, das sogenannte „Altgedächtnis“,häufig noch lange gut erhalten bleiben.So können sich an Demenz erkrankteMenschen oft noch lange an Erlebnisseaus ihrer Kindheit und Jugend erinnern,auch wenn sie nicht mehr wissen, wassie am Tag zuvor erlebt haben.

Das zentrale Moment der „Weckwor-te“ ist der Einsatz spezieller Vortrags-techniken für (klassische) Gedichte, diezur Bewegung einladen und Geist undKörper „aufwecken“ (RUPPEL 2012).Zu den Weckwortetechniken gehörendie „Call and Response“ Technik , der ge-zielte Einsatz von Mimik, Körperkon-takt z. B. durch Händedruck, die Färbungder Stimme zum Transport von Emotio-nen sowie der Einsatz von Requisiten.

te, Orientierungsschwierigkeiten, An-triebsminderung, soziale Rückzugsten-denzen, Verhaltensauffälligkeiten undandere Demenzsymptome der Bewoh-ner(innen) werden zunehmen (GÖVERT,WOLFF, MÜLLER 2013; WOLFF,MÜLLER 2013). Beispielsweise führenOrientierungsschwierigkeiten zu derAngst, nicht mehr in die Wohngruppezurückzufinden und diese wiederumkann in Rückzugstendenzen münden.Ein häufiges Demenzsymptom bei Men-schen mit geistiger Behinderung ist dieAntriebsminderung (MÜLLER, WOLFF2012), die u. a. dazu führt, dass Hobbiesoder liebgewonnene Gewohnheitennicht mehr verfolgt werden.

Die Fachwelt hat erst in jüngererZeit die Notwendigkeit erkannt, sichmit den neuen Herausforderungen imUmgang mit älteren Menschen mit geis-tiger Behinderung und einer zusätzlichenDemenzerkrankung auseinanderzuset-zen (GUSSET-BÄHRER 2012). Dazu ge-hört auch die Notwendigkeit, Tages-strukturen und Freizeitangebote an diespeziellen Bedürfnisse älterer Menschenmit geistiger Behinderung und einerDemenz anzupassen (WATCHMAN,KERR, WILKINSON 2010; LINDMEI-ER, LUBITZ 2012).

Das Forschungsprojekt „Leben mitgeistiger Behinderung und Demenz“

Das vom BMBF geförderte Forschungs-projekt „Leben mit geistiger Behinde-rung und Demenz“ der Ostfalia Hoch-schule für angewandte WissenschaftenWolfenbüttel hat das Ziel, die Lebens-qualität dieses Personenkreises zu ver-bessern. Das Forschungsprojekt gliedertsich in drei Schwerpunkte: Diagnostik,Hilfeplanung und zielgruppenspezifischeAngebote. Aufgabe des dritten Schwer-punkts, zielgruppenspezifische Ange-bote, ist es, ressourcenorientierte Frei-zeitangebote zur Stärkung des Selbst-bewusstseins und der Lebensfreude,und somit zur Verbesserung der Teilha-be am Leben in der Gemeinschaft undzur kulturellen Teilhabe, zu entwickeln.In der Altenhilfe gibt es bereits langjäh-rige Erfahrungen mit Konzepten dergesellschaftlichen Teilhabe, wie bei-spielsweise einem Modellprojekt zurkulturellen Teilhabe, dem Geschichtenerzählen im Museum (WILKENING2014). Bei dieser Methode wird in einerGruppe zu einem Foto oder Kunstwerkeine gemeinsame Geschichte entwi-ckelt und schriftlich festgehalten.

Die Intention unseres Forschungs-vorhabens ist es, erfolgreiche Konzepteund Methoden der Altenhilfe auf denPersonenkreis von Menschen mit geis-tiger Behinderung und Demenz zu über-

Abb. 1: Durchführung der Weckworte mit einer Gruppe älterer Menschen mit geistiger Behinderung in der Seniorentagesstätte der Lebenshilfe in Braunschweig.(Standbild aus Videoaufnahmen von Jesse Berr)

Neben der Sprache spielen Mimik,Gestik und Berührungen eine zentraleRolle. Es ist z. B. wichtig, sich beim Vor-trag der Gedichte zu bewegen, Blick-kontakt zu den Bewohner(inne)n zuhalten und ihnen auf Augenhöhe zubegegnen. So wird durch einen leich-ten Händedruck Kontakt zum Gegen-über hergestellt und im Idealfall auch derRhythmus des Gedichts durch rhythmi-sches Mitschwingen der Arme übertra-gen oder gar Nachahmungen angeregt.Dass Poesie und Gedichte Erinnerungs-prozesse in Gang setzen und einen Be-zug zur Wirklichkeit vermitteln, klingtzunächst befremdlich, erwies sich aberbei unserer Erprobung als erfolgreich.(Abb. 1)

Rahmenbedingungen für die Umsetzung der „Weckworte“ mit älteren Menschen mit geistiger Behinderung

Gemeinsam mit einer Gruppe von Stu-dierenden1 wurde erstmalig im Rahmeneines Modellprojekts in zwei Koopera-tionseinrichtungen2 überprüft, ob dasKonzept der „Weckworte“ mit älterenMenschen mit einer geistigen Behinde-rung, die zum Teil an Demenz erkranktsind, umzusetzen ist. Im Folgendenmöchten wir über den Ablauf und unse-re Erfahrungen berichten:

Die Umsetzung der „Weckworte“ fandin einer festen Gruppe von elf älterenMenschen mit kognitiver Beeinträchti-gung mit und ohne Demenz statt. DieTeilnehmenden bildeten eine sehr hete-rogene Gruppe, die sich aus Fußgängern,Rollstuhlfahrern, Menschen mit flüssi-

1 Wir danken den Projektstudierenden: Jesse Berr, Christopher Kahlcke, Chantal Klapper, Anna Klaus, Thorsten Flömer, Vanessa Focke und Malika Kahihili.

2 Wir danken den Mitarbeitern der Evangelischen Stiftung Neuerkerode und der Lebenshilfe Braunschweig für die gute Zusammenarbeit, insbesondere Herrn Matthias Liborius und Herrn Stefan Röther für ihre organisatorische Unterstützung.

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ger Sprache und Menschen ohne Sprach-kompetenz zusammensetzte. Die teil-nehmenden Bewohner(innen) warenzwischen 57 und 87 Jahre alt. Wir ent-schieden uns in diesem Fall bewusst füreine heterogene Gruppe, da dies dieRealität in den Einrichtungen der Be-hindertenhilfe darstellt. Die Dauer der„Weckworte“ wurde für die Bewohne-r(innen) mit einer Stunde festgesetzt,mit Hol- und Bringdiensten sollten je-doch insgesamt zwei Stunden einge-plant werden. Die Mitarbeiter(innen)sowie die Studierenden sollten sich min-destens drei Stunden freihalten in Anbe-tracht der Vor- und Nachbereitungszeit.

Die Umsetzung der „Weckworte“ mitdiesem Personenkreis war erwartungs-gemäß personalintensiv. Je nach Grup-pengröße ist von drei bis vier Unterstüt-zenden/Anleitenden auszugehen. Hierkönnen auch interessierte Laien ange-lernt und einbezogen werden. Nebenden Vortragenden – und denen, diepantomimisch unterstützen – sind auchimmer mehrere Personen notwendig,die den Bewohner(inne)n bei der Durch-führung assistieren. Konkret wurden dieMitarbeiter(innen)3 unserer Kooperati-onseinrichtungen durch drei bis fünfStudierende der Fakultät „Soziale Arbeit“der Ostfalia Hochschule unterstützt.

Der Ablauf der „Weckworte“ in der stationären Behindertenhilfe

Um den Bewohner(inne)n einen festenRahmen zu bieten, gab es eine immerwiederkehrende Routine im Ablaufeiner jeden Gruppensitzung. Als Sitz-ordnung wurde ein Stuhlkreis gewählt.Jede Gruppensitzung hatte eine thema-tische Klammer wie z. B. Herbst, aufwelches auch die Dekoration im Raumabgestimmt wurde. Zu Beginn wurdejede(r) Bewohner(in) einzeln begrüßt undnach bzw. ihrem Wohlbefinden befragt.

Ein von Sitzung zu Sitzung wech-selnder Moderator führte die Bewohne-r(innen) durch die jeweilige Gruppen-sitzung. Als festes Ritual wurde jedeGruppensitzung mit demselben Begrü-ßungslied „Schön, dass Ihr alle da seid…“begonnen, in dem jede(r) Bewohner(in)einzeln mit Namen begrüßt wurde (sie-he Abb. 2). In jeder Sitzung wurden 10–14 Gedichte deklamiert. Je nach Artund Umfang der Gedichte wurden sieszenisch mit Rollenverteilung insze-niert. So eignete sich beispielsweise dieBallade „Der Erlkönig“ von JohannWolfgang von Goethe hervorragend füreine pantomimische Untermalung. Oftwurden auch zur VeranschaulichungRequisiten verwendet, die thematischzu den Gedichten passten. Es wurden

sowohl den Bewohner(inne)n aus derKindheit bekannte einfache Gedichte,als auch anspruchsvolle, teils klassischeGedichte von Rilke oder Eichendorff,teils neue moderne Gedichte vorgetra-gen. So konnte ein kreativer und emo-tionaler Begegnungsraum geschaffenwerden. (Abb. 3)

Verschiedene Vortragstechniken, dieauf Lars Ruppel zurückgehen, wurdenerprobt und angewandt. So wurde bei-spielsweise bei dem Gedicht „Reh“ vonHeinz Ehrhardt der Text mit einer Be-wegung kombiniert, die der Vortragen-de zusammen mit anderen Bewohne-r(inne)n durchgeführt hat. Bei dem„Erntelied “ von Richard Dehmel wur-de die „Call and Response“ Technik(Ruppel 2012) angewandt, indem dieZeile „ Mahle, Mühle, Mahle“ mit denTeilnehmenden zusammen nachgespro-chen wurde. Zudem war die Wiederho-lung mit einer Bewegung verbunden diean das Mahlen erinnert. Auf diese Wei-se wurden die Bewohner(innen) akti-

viert und mit eingebunden. Als festesRitual bildete „Die Mondnacht“ vonJoseph von Eichendorff in jeder Grup-pensitzung das Abschiedsgedicht, gefolgtvon einem immer wiederkehrendenAbschiedslied „Alle Leut‘, alle Leut‘geh’n jetzt nach Haus…“, welches zumAufstehen animierte. In der zweitenKooperationseinrichtung war das Ab-schiedslied auf Wunsch der Bewohne-r(innen) „Rote Rosen aus Athen sagenDir auf Wiedersehen“. Zum Abschlussder Gruppensitzung wurden sie erneutnach ihrem Wohlbefinden befragt.

Analyse und Reflexion der Gruppensitzungen

Zur Dokumentation und zur eigenenFortbildung wurden die Sitzungen aufVideo4 aufgezeichnet und in einer pro-jektbegleitenden Vorlesung in der Hoch-schule analysiert und von den Studie-renden das eigene Verhalten reflektiert.Nicht nur Reaktionen der Bewohner(in-nen) konnten so genau beobachtet wer-

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PRAXIS UND MANAGEMENT Teilhabe 2/2015, Jg. 54Alzpoetry zur Steigerung der Lebensqualität von älteren Menschen mit geistiger Behinderung

Abb. 2: Durchführung der Weckworte mit einer Gruppe älterer Menschen mit geistiger Behinderung in der Evangelischen Stiftung Neuerkerode.(Standbild aus Videoaufnahmen von Jesse Berr)

3 Wir danken Michaela Fritz, Elke Korytowsky, Roland Kremer und Martin Kastner.

4 Unter Berücksichtigung der Vorgaben des Datenschutzes wurden nur Bewohner(innen) gefilmt, dieuns vorher, nach Aufklärung über das Vorhaben, ihre schriftliche Einwilligung gegeben hatten.

Abb. 3: Durchführung der Weckworte in der Seniorentagesstätte der Lebenshilfe inBraunschweig. (Foto: Chantal Klapper)

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den, die Studierenden reflektierten sichebenfalls beim Vortragen der Gedichte.Beim Analysieren der Videos wurdenDetails offensichtlich, die in der Grup-pensitzung leicht übersehen wurden.Insgesamt war zu erkennen, dass vieleBewohner(innen), die zu Anfang sehrzurückhaltend und ruhig waren, vonSitzung zu Sitzung immer offener undaktiver wurden und zum Teil mit eige-nen Wortbeiträgen an den Gruppensit-zungen partizipierten. Auch die kleinenVeränderungen, wie z. B. wache Mo-mente bei einer schwer beeinträchtig-ten Bewohnerin mit fortgeschrittenerDemenz, konnten in dieser Analyse diegebührende Beachtung finden. Bemer-kenswert war, dass eine Bewohnerinmit einer fortgeschrittenen Demenz, dienormalerweise sehr viel schlief, in eini-gen Momenten hellwach wirkte. Dieszeigt, dass die „Weckworte“ eine Me-thode zur Steigerung der Lebensqua-lität für ein breit gefächertes Klientelsein kann, unabhängig vom Grad derBehinderung und/oder vom Schwere-grad der Demenz.

Neben den Fortschritten und demzunehmenden Engagement der Bewoh-ner(innen) war die Weiterentwicklungder Studierenden beeindruckend. Auchsie wurden immer selbstbewusster undkreativer und es gelang ihnen von Malzu Mal mehr, emphatisch und aufAugenhöhe auf die Bewohner(innen)zuzugehen.

Sind „Weckworte“ ein passendesAngebot für ältere Menschen mitgeistiger Behinderung?

Die Frage kann mit einem eindeutigen„Ja“ beantwortet werden. Auch ein sehrauf Sprache fokussiertes Gruppenange-bot, wie das Rezitieren von Gedichten,kann von Menschen mit kognitiverBeeinträchtigung und Demenz wahrge-nommen werden, und zwar unabhängigvon der Schwere der geistigen Behinde-rung. Selbst fehlende Sprache musskein Hinderungsgrund sein.

Insgesamt erhielten wir viele positiveRückmeldungen seitens der Teilneh-menden und deren Betreuenden. Sofragten viele Mitarbeiter(innen) aus denWohngruppen, ob das Projekt nichtfortgeführt werden könnte. Eine Mitar-

beiterin berichtete, dass ihr Bezugsbe-treuter zum ersten Mal an regelmäßigenTerminen teilnahm und sich immer sehrauf die „Weckworte“ freute. Die teil-nehmenden Bewohner(innen) „erwach-ten“ sinnbildlich in den Gruppensit-zungen und nahmen aktiv teil. EineBewohnerin ergriff selbst die Initiativeund rezitierte sogar selbst regelmäßigGedichte und übernahm im Laufe desProjekts sogar den Vortrag des Abschluss-gedichts „Die Mondnacht“. Auch eineBewohnerin, die unter einer Dysarthrielitt, trug mithilfe eines Vorlesestifts einGedicht über ihr Lieblingstier, die Kat-ze, vor. Sogar bei körperlich schwerbeeinträchtigten Personen waren posi-tive Reaktionen oder Zeichen der Ent-spannung zu beobachten.

Einzelne Worte und Sätze der Ge-dichte lösten Assoziationen und Erin-nerungen aus. So waren die „Weckwor-te“ auch in den dazwischenliegendenTagen Anlass für Gespräche über posi-tive und negative Erinnerungen aus derKindheit sowie alltägliche Themen.

Zusammengenommen konnte fest-gestellt werden, dass die sechs Grup-pensitzungen der „Weckworte“ ein vol-ler Erfolg waren und eine Anregung,dieses Konzept in der Arbeit mit Men-schen mit geistiger Behinderung undeiner Demenz zu etablieren und ihnenso kulturelle Teilhabe zu ermöglichen.Unsere Kooperationseinrichtungen ha-

ben dieses Angebot verstetigt und Mit-arbeitende entsprechend fortgebildet,so dass aus dem Modellprojekt einständiges Angebot geworden ist.5

LITERATUR

DIECKMANN, Friedrich; GIOVIS, Chris-tos (2012): Der demografische Wandelbei Erwachsenen mit geistiger Behinde-rung. Vorausschätzung der Altersentwick-lung am Beispiel von Westfalen-Lippe. In:Teilhabe 51 (1), 12–19.GÖVERT, Uwe; WOLFF, Christian &MÜLLER, Sandra V. (2013). GeistigeBehinderung und Demenz – Experteninter-views mit Fachkräften aus Einrichtungender Behindertenhilfe. In: Tagungsreihe derDeutschen Alzheimer Gesellschaft e.V.„Zusammen leben – voneinander lernen“

Band 9. Weimar: Kongress- und Kultur-management, 143–148. GUSSET-BÄHRER, Sinikka (2013):Demenz bei geistiger Behinderung. München: Reinhardt.HÜLSHOFF, Thomas (2012): Wenn Men-schen mit geistiger Behinderung im Alteran Demenz erkranken – Herausforderun-gen an Behindertenhilfe und Pflege. In: Teilhabe 51 (4), 146–147.LINDMEIER, Bettina; LUBITZ, Heike(2012): „Wolken im Kopf“. Bildungsan-gebote für Mitarbeitende und Mitbewoh-ner(innen) demenzkranker Menschen mitgeistiger Behinderung in Einrichtungender Eingliederungshilfe. In: Teilhabe 51 (4), 169–181.MÜLLER, Sandra V.; WOLFF, Christian(2012): Demenzdiagnostik bei Menschenmit geistiger Behinderung. Ergebnisseeiner Befragung. In: Teilhabe 51 (4),154–160.RUPPEL, Lars (2012): Weckworte. Wieklassische Gedichte den Anker in dieGegenwart werfen. Ein Projekt fürdemente Menschen, Angehörige undPfleger. Unveröffentlichtes Manuskript.http://larsruppel.de (abgerufen am19.03.2015).NARTSCHENKO, Valentina (2012): Was kann die Behindertenhilfe von derAltenhilfe lernen. Ein Versuch des Wis-senstransfers im Umgang mit Menschenmit geistiger Behinderung und Demenz.Unveröffentlichte Bachelor Arbeit. WOLFF, Christian; Müller, Sandra V.(2013): Die Lebenssituation von geistigbehinderten Menschen mit Demenz inEinrichtungen der Behindertenhilfe.Ergebnisse einer Befragung in Niedersa-chen und Bremen. Z Gerontol Geriat 47,397–402.WATCHMAN, Karen, KERR, Diana &WILKINSON, Heather (2010): Suppor-ting Derek. A practice developmental guide to support staff working withpeople who have learning difficulty anddementia. Brighton: Pavilion Publishing.WILKENING, Karin, KÜNDIG, Yvonne& OPPIKOFER, Sandra (2014): Aufge-weckt! Eine Kunstgeschichte. DemenzDas Magazin 20, 6–9.

Die Autorinnen:

Prof. Dr. Sandra Verena Müller

Professorin für Rehabilitation und Integra-tion an der Ostfalia Hochschule Wolfen-büttel, Fakultät Soziale Arbeit, Diplom-Psychologin, Klin. Neuropsychologin GNP

[email protected]

http://projekt-demenz.de

Vanessa Focke

Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin B.A.

[email protected]@

@

i

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PRAXIS UND MANAGEMENTAlzpoetry zur Steigerung der Lebensqualität von älteren Menschen mit geistiger Behinderung

Teilhabe 2/2015, Jg. 54

5 Diese Arbeit wurde vom BMBF gefördert (Förderkennzeichen 17S01X11).

Die „Weckworte“ – auch erfolgreich im Einsatz bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung

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Binnenräume zu dominieren: ein gelun-gener Balanceakt. Um das alles entste-hen zu lassen, braucht es nur einen Stift, ein Papier und eine Künstlerin, die diese atmenberaubende Zeichengeschwindig-keit beherrscht, einen Sebastian Vettel der Zeichner. Wirklich nur das?

Die Künstlerin Angelika Bienst wur-de 1950 in Hamburg geboren. Seither zeichnet sie. 1991 schloss sie sich auf-grund einer Einladung von Rolf Laute der Hamburger Künstlergruppe „Die Schlumper“ an. Ihre Arbeiten waren zuvor schon in der Öffentlichkeit zu sehen. Durch die Teilnahme an Grup-

penausstellungen der Schlumper er-langte Bienst Bekanntheit für ihre Zeichnungen mit Blei-, Bunt- und Filzstift, Kugelschreiber und Fineliner auf Papier in kleineren bis mittelgroß-en Formaten. Angelika Bienst arbeitete einmal pro Woche künstlerisch bei den Schlumpern, bis ihre Fahrt zum Atelier ab 2005 nicht mehr zu organisieren war. Der Künstlerin wurde ein Besuch des Ateliers nur noch sporadisch in den Jahren 2011-2012 ermöglicht, trotz Dikussionen zwischen der Kunstgrup-pe und ihrer Wohngruppe außerhalb von Hamburg. Heute zeichnet Bienst in Collegeblöcke (Bild 2). Statt eines

Das zufällige Zusammentreffen zweier Zitronen und vier Ohren im Treppenhaus

Der Stift rast, fi ndet Räume, Zwischen-räume und Formen auf dem Papier – in hoher Geschwindigkeit, zielsicher und selbstsicher: Räume, die von der Fläche in die Tiefe springen und spielerisch von der Dreidimensionalität wieder zurück auf die Ebene gleiten; Zwischenräume, die das Format gliedern und dem Zei-chengrund seine spannungsvolle Dyna-mik einhauchen; Formen, die sich ab-strakt miteinander verweben, um dann Gegenstände und Figuren aufblitzen zu lassen (Bild 1). Sie alle beginnen, eine Geschichte zu erzählen, offen und weit wie der Kopf des Betrachters, jedes Mal aufs Neue und jedes Mal doch irgend-wie anders. Öffnet sich hier ein Blick in ein Treppenhaus oder gar eine Hin-terhofkulisse, wo sich zwei Figuren mit spitzen Ohren und zwei Zitronen ein skurriles, gar surrealistisches Stelldich-ein geben? Ein Luftballon führt ein Ei-genleben und nimmt einen Großteil der Szenerie ein. Er verschachtelt mit seiner waagerechten und perspektivisch uner-warteten Position sowohl die Räum-lichkeiten als auch die Erzählstuktur auf paradoxe Weise. Bienst nutzt hier Richtungswechsel im Zeichenvorgang als Stilmittel, das die verschiedenen Bildelemente auf irritierende und doch logisch anmutende Weise miteinan-der verschränkt. Die Künstlerin unter-streicht und hinterfragt ihre Bildele-mente in einem Atemzug – unterstützt durch ihren kräftigen Strich, der wie-derum selbst oftmals nicht in einem Schwung durchgezeichnet ist, sondern sich mittels kleiner Abschnitte aufbaut. Das Kürzel „OZ“, möglicherweise eine Reminiszenz an einen stadtbekannten Hamburger Sprayer,1 lenkt den Blick immer wieder auf das unergründliche Treffen der Gestalten, das sich vielleicht hinter einer Mauer verbirgt. Oder ver-hält sich doch alles ganz anders? Ver-traute und fremde Welten öffnen sich. Einige Protagonisten wie die Zitronen, die Figuren und der Luftballon spielen auch in anderen Zeichnung von Bienst eine Rolle, wie unter anderem auch Be-cher oder Lampions. Das Aufgreifen von Motiven aus der Umgebung und ihre künstlerische Übersetzung bringt Bienst nicht nur auf den Punkt, sondern in (die) Linie, die Kontur. Mit Schraffuren setzt sie Akzente innerhalb der Komposition, ohne damit das Liniengefüge und seine

1 Gespräch mit Anna Pongs-Laute, Assistentin

der Schlumper, am 1.8.2014. Die Informationen

über Biensts künstlerische Arbeitsweise und -zeit

im Atelier der Schlumper basieren gleichfalls

auf diesem Gespräch.

o. T.undatiert (ca. 1996–98), dunkelblauer Kugelschreiber auf getöntem Papier, 29,7 x 21 cm

Bild 1

ANGELIKA BIENSTKünstlerin

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dynamischen und gleichzeitig austa-rierten Liniengerüsts verbinden nun Kringelstrukturen und geschwungene Formen die einzelnen Bildelemente, deren Strich vergleichsweise diffus in Erscheinung tritt. Freiräume rücken in die Peripherie, der einstige Tiefenraum ist größtenteils der Fläche gewichen. Abstrakte und gegenständliche Formen sind klar voneinander getrennt, als ob sie es aufgegeben hätten, gemeinsam Geschichten zu erzählen. Die viel-schichtige Komplexität abwechslungs-reicher Bildelemente ist stark reduziert. Die Suche nach inhaltlichen und räum-lichen Vexierspielen läuft ins Leere.

Die Faszination bleibt aus, die uns die Bilder immer wieder mit den Augen durchwandern lässt. Wie kommt es zu diesem stilistischen Wandel? Hat sich Biensts Arbeitsweise aufgrund persön-licher Gestaltungsvorstellungen und Voraussetzungen geändert? Gut. Ist es der fehlende Zugang zu hochwertigen Arbeitsmaterialien? Schlecht. Ist es der mangelnde Freiraum für eine ungestörte künstlerische Tätigkeit, der sich in den Werken niederschlägt? Schlecht. Fehlt das inspirierende Umfeld eines Ateliers und die positive, emotionale Unterstüt-zung von Kolleg(inn)en und Assisten-t(inn)en? Schlecht. Wir wissen es nicht,

da die Künstlerin nicht spricht. Dass Bienst bei den Schlumpern biswei-len erst einen Papierstapel markierte, bevor sie mit dem Zeichnen begann, deutet darauf hin, dass zumindest der zweite und und dritte Grund durchaus Relevanz für Biensts Schaffen besitzen könnten. Offensichtlich ist jedoch, dass Künstler(innen) die optimalen Möglich-keiten erhalten sollten, ihrem künst-lerischen Schaffen nachzugehen. Es braucht eben doch mehr als nur einen Stift, ein Papier und eine Künstlerin.

Dr. Viola Snethlage-Luz, Bad Schwalbach

o. T.undatiert (ca. 2005–2012), schwarzer Kugelschreiber auf liniertem Papier (Collegeblock), 29,7 x 21 cm je Blatt

Bild 2

HINWEISIm nächsten Heft bespricht

Dr. Gerhild Kaselow das Werk „Paar in der Kirche“

von Volker Darnedde.

ANGELIKA BIENST

Werkbesprechung

Werkbesprechung 73

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Eine bei Per zusätzlich festgestellte geis-tige Behinderung fällt dagegen nicht indie Verantwortlichkeit des Jugendamts.Geistige Behinderung wird laut ICD-10als eine „Intelligenzminderung“ mit ei-nem IQ unter 70 definiert1. Auch wennkritisch anzumerken ist, dass trotz jahr-zehntelanger Forschungstradition keineallgemein anerkannte Definition vonIntelligenz existiert2, werden gemäßICD-10 Diagnoseschlüssel unterschied-liche Schweregrade von Intelligenzmin-derung unterschieden3.

Sich auf die Diagnose „Intelligenz-minderung“ stützend, wechselt ab einemIQ unter 70 das System von der Jugend-hilfe in die Eingliederungshilfe: Die Mit-arbeitenden des Jugendamts verweisendie Eltern deshalb weiter an den Sozial-hilfeträger: In NRW zuständig für dieGewährung von ambulanten Leistungender Eingliederungshilfe ist das Sozial-amt als örtlicher Sozialhilfeträger. DieFamilie stellt daraufhin einen Antrag (§ 53 SGB XII) und kann nach erfolg-reicher Bewilligung stundenweise einenFamilienunterstützenden Dienst (FUD)in Anspruch nehmen. In einem Rechts-streit zwischen Jugendamt und Sozial-amt wird geklärt, dass bei Per nicht seine seelische, sondern seine geistigeBehinderung im Vordergrund steht. DasSozialamt trägt daher auch die Kostender Integrationskraft, die sich in derKita um die Betreuung des Jungen küm-mert. Nach einiger Zeit geraten die El-tern mit der Erziehung von Per zuneh-mend in Schwierigkeiten. Für den Er-halt von Hilfen zur Erziehung (§§ 27SGB VIII) führt sie der Weg zurück insJugendamt. Im Unterschied zu den in-dividuumszentrierten Indikationskrite-rien der Eingliederungshilfe, beziehensich die Leistungen der Jugendhilfe zwarauch auf das individuelle Kind, behal-ten zugleich aber zentral das SystemFamilie im Blick (vgl. NZFH 2013). Dervon der Familie gestellte Antrag auf Leis-tungen der sozialpädagogischen Fami-lienhilfe (SPFH) gelingt nicht auf An-hieb. Sollte sich als Ergebnis der SPFHMaßnahme herausstellen, dass das „Sys-tem Familie“ nicht funktioniert, wirdPer vermutlich nicht in seiner Familiebleiben. Mit dem Wechsel in ein statio-näres Setting wechselt auch die Zu-ständigkeit: Leistungen der stationärenEingliederungshilfe liegen in NRW nicht

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PRAXIS UND MANAGEMENT Teilhabe 2/2015, Jg. 54

Verdeutlichung der Schnittstellen-problematik an einem Beispiel

Per ist sieben Jahre alt und lebt bei seinenEltern in Ostwestfalen. Seine Eltern hat-ten früh das Gefühl, dass mit ihrem Jun-gen „etwas“ nicht stimmt. Auf Anratendes Kinderarztes erhält Per Leistungender Frühförderung. Diese werden ihmauf Grundlage einer drohenden oderbestehenden Behinderung gewährt (§ 2SBG IX, § 53 SGB XII und/oder § 35 aSGB VIII). In den folgenden Lebensjah-ren manifestiert sich bei Per eine Autis-

mus-Spektrum-Störung. Klassifiziert alsseelische Behinderung fällt Autismus beiKindern und Jugendlichen in die Zustän-digkeit der Jugendhilfe (§ 35 a SBG VIII).

| Teilhabe 2/2015, Jg. 54, S. 74 – 78

| KURZFASSUNG Jugendhilfe und Eingliederungshilfe sind bis heute weitgehend von-einander isolierte Systeme mit je eigenen Zugangsvoraussetzungen, Aufträgen undHandlungslogiken. Das liegt maßgeblich an den nach Behinderung und Nicht-Behinde-rung trennenden Sozialgesetzbüchern (vgl. VOIGTS 2013). Leistungen der Eingliede-rungshilfe (§§ 53 SGB XII) zielen darauf ab, eine drohende oder bestehende Behinderungabzuwenden, deren Folgen zu beseitigen, zu mildern sowie das Kind bzw. den Jugendli-chen in die Gesellschaft einzugliedern. Zuständig für Leistungen der Eingliederungshilfeist der (über)örtliche Sozialhilfeträger. Für Kinder und Jugendliche mit einer seelischenBehinderung, wie z. B. ADHS, Essstörung oder Autismus, besteht eine Ausnahme: IhreLeistungsansprüche regelt das Jugendhilferecht (SGB VIII). Damit fallen sie in die Zustän-digkeit des Jugendamts. Ein Kind oder Jugendlicher mit Behinderung kann dabei aufUnterstützungsleistungen aus beiden Systemen angewiesen sein, wie das folgende Pra-xisbeispiel verdeutlicht. Notwendig erscheinen damit ‚Hilfen aus einer Hand‘. Die Kolle-giale Beratung (KB) ist dabei ein Instrument, dass Mitarbeitende der Eingliederungs- undJugendhilfe bei der Überwindung von Schnittstellenkonflikten unterstützt.

| ABSTRACT One-stop solution for families with disabled children. In Germanythe assistance for people with disability and youth welfare is strictly separated due to thecodes of social law (so called Sozialgesetzbuch- SGB XII and SGB VIII). Each system has its own conditions of access, support requirements and logic of action. Nevertheless,under 18-year olds with a mental retardation may require support from both parts. Thefollowing case of Per (7) illustrates his long way back and forth between different juris-dictions of the welfare authorities. Therefore Peer Counseling (KB) is a useful instrumentfor social service providers to enable their staff to improve a combined assistance andquality of support.

„Hilfen aus einer Hand“ für Familien von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung Die Kollegiale Beratung für Mitarbeitende der Eingliederungs- und Jugendhilfe zur Überwindung getrennter sozialrechtlicher Systeme

Monika Storm Susanne Vaudt

1 Vgl. ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), 10. Aufl. der medizinischen Kategorisierung der WHO (World Health Organization).

2 Die Intelligenzdiagnostik spielt eine große Rolle im Bereich der Diagnostik, sowohl was die Hoch-,als auch die Minderbegabung betrifft. Die festgelegten Werte stellen aber lediglich Richtwerte dar,da sie von der verwendeten Begabungsdefinition sowie vom eingesetzten Intelligenztest abhängen.In der Praxis werden die Werte kaum hinterfragt (KUNINAL et al. 2007)

3 Das Spektrum reicht nach dieser Kategorisierung von der leichten geistigen Behinderung (IQ < 70),über eine mittelgradige (IQ < 50), schwere (IQ <35) bis hin zur schwersten Form von geistiger Behinderung (IQ < 20).

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schen Jugend- und Eingliederungshilfehat die Bildung hochspezialisierter und(nur) auf einen Leistungsträger passen-der Angebotsstrukturen begünstigt. Diesverdeutlicht Abb. 1.

Der fortgeschrittene Ausdifferenzie-rungsprozess in klar abgegrenzte SGBVIII- und SGB XII-Angebotsprofilewird durch einen zunehmenden Wett-bewerb der Leistungsanbieter um knap-per werdende öffentliche Mittel weiterbegünstigt und kennzeichnet eine aus-geprägte Konkurrenz um den Zugangzu Ressourcen.

Inklusive Gestaltungsprinzipien entwickeln

Familien von Kindern und Jugendlichenmit Behinderung erleben die sozial-rechtliche Trennung von Eingliederungs-und Jugendhilfe als Dickicht unüber-sichtlicher Leistungsstrukturen. Zurzeitist die Kinder- und Jugendhilfe von ei-nem inklusiven Gestaltungsprinzip weitentfernt. Das gründet sich maßgeblichin den nach Behinderung und Nicht-Behinderung trennenden Sozialgesetz-büchern (vgl. VOIGTS 2013). Es wirddeutlich, dass zur Bewältigung bestehen-der Schnittstellenprobleme im Unter-stützungsprozess eine stärkere Vernet-zung von Leistungsträgern und -anbie-tern sowie ihren Mitarbeitenden not-

wendig ist (vgl. SECKINGER 2012, 28;NZFH 2013; DITTRICH 2010, 70 ff.;BMFSFJ 2013, 366 ff.) Ziel einer Ver-netzung bzw. einer intensiven Koopera-tion auf regionaler Ebene, die über un-verbindliche Absprachen hinausgeht,ist eine leichtere Verständigung aufinstitutioneller und fachlicher Ebene.Dabei sind alle Hilfen auf die konkreteSituation auszurichten sowie kritischnach dem Wirkungsbeitrag zu fragen(NZFH 2013, 6). Für Leistungsanbieterheißt das, ihre Unterstützung und Hil-fen weg von der Angebotsorientierunghin zur Bedarfsorientierung neu zugestalten. Für Mitarbeitende in Einrich-tungen und Diensten impliziert dies einneues Berufsverständnis mit „Hilfenaus einer Hand“. Kindern und Jugendli-chen, mit und ohne Behinderung, kannbesser geholfen werden, wenn professi-ons- und disziplinübergreifende Hilfe-systeme installiert werden.

Soll die Bearbeitung der Schnittstel-len gelingen, ist eine enge Kooperationder Träger notwendig, gleichzeitig istdie Trägerlandschaft jedoch von Kon-kurrenz geprägt. Träger von Einrichtun-gen und Diensten versuchen Alleinstel-lungsmerkmale mit fachlicher Kompe-tenz und speziellen Angeboten herzu-stellen. Die größte Kompetenz liegt lautSECKINGER (2012, 28) in der Mög-lichkeit, kooperative Strukturen für ein

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PRAXIS UND MANAGEMENT„Hilfen aus einer Hand“ für Familien von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung

Teilhabe 2/2015, Jg. 54

4 Die von der Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) und der Jugend- und Familienminister-konferenz (JFMK) eingesetzte Arbeitsgruppe legte ihren Bericht am 05.03.2013 vor.

5 Der Begriff „niedrigschwellig“ wird in der Fachwelt häufig genutzt, um auszudrücken, dass Angeboteleicht zugänglich sind, ohne einen exakten bzw. absoluten Grenzwert festzulegen.

Abb. 1: Jugend- oder Eingliederungshilfe? Schnittstellenprobleme von Unterstützungsangeboten für Kinder und Jugendliche. Quelle: MEYSEN 2014, 4 sowie eigene Erstellung

Jugendhilfe SGB VIII Eingliederungshilfe SGB XII

Richtwert IQ-Wert ≥ 70sogenannte geistige Behinderung, Richtwert IQ-Wert ≤ 69

keine körperliche Behinderung körperliche Behinderung

seelische Behinderung ohne körperliche/geistige Behinderung

seelische Behinderung und geistige Behin-derung und/oder körperliche Behinderung

erzieherischer Bedarf ohne vorliegende Behinderung

Erzieherischer Bedarf und geistige Behinde-rung und/oder körperliche Behinderung

Anspruch auf Unterstützungsleistungen nach dem SGB VIII bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs

Kein Systemwechsel bei jungen Volljährigen, bei denen auch eine körperliche und/oder geistige Behinderung diagnostiziert wurde

Maßnahme-Verlängerungen bis zur Vollendung des 27. Lebensjahrs im Einzelfall möglich

Systemwechsel vom SGB VIII zum SGB XII bei jungen Volljährigen mit seelischer Behinderung (Zeitpunkt s. links)

in der Hand des örtlichen Sozialamtes,sondern beim überörtlichen Sozialhilfe-träger. Zuständiger Ansprechpartner inOstwestfalen ist in diesem Fall der Land-schaftsverband Westfalen Lippe (LWL).

Herausforderung: Verknüpfung isolierter Leistungssysteme

Das Beispiel von Per verdeutlicht diebestehende sozialrechtliche Komplexi-tät. Ausgelöst durch die UN-BRK unddem 13. Kinder- und Jugendbericht (2009)könnte in Zukunft eine „Große Lösung“Abhilfe schaffen. Die Bund-Länder-Ar-beitsgruppe empfiehlt dabei mehrheit-lich eine „Große Lösung SGB VIII“4.Durch eine derartige Strukturverände-rung sollen alle sozialrechtlichen Leis-tungsansprüche von Kindern und Ju-gendlichen der Jugendhilfe zugeordnetwerden. (vgl. DÖRNER, KURTH 2013,241). Aktuell ist jedoch die Realisationeiner solchen „Großen Lösung“ poli-tisch nicht absehbar. Deshalb ergibtsich im Alltag der betroffenen Familien,je nach Anliegen und Indikationsgrund,weiterhin ein „hin und her“ zwischenJugendhilfe und Eingliederungshilfe.Die institutionelle Trennung beider Sys-teme erleben sie als Barriere, obwohlder Gesetzgeber insbesondere im SGBVIII verlangt, Betreuungsangebote undHilfen „niedrigschwellig“5 auszurichten,um einen unkomplizierten und schnel-len Zugriff zu schaffen. Dieses Ziel istdann erreicht, wenn Familien im Di-ckicht der Leistungsstrukturen nicht zuscheitern drohen, das selbst für Fachex-pert(inn)en und -berater(innen) kaumzu durchschauen ist (vgl. DITTRICH2010). Derzeit setzt die Gewährung vonHilfe voraus, ggf. auch zeitgleich undan verschiedenen Stellen Leistungen zubeantragen und nicht nur den passendenLeistungsträger, sondern auch den pas-senden Leistungsanbieter zu finden. Inder Konsequenz bedeutet das für Betrof-fene Irrwege und Verzögerungen bis hinzum Ausbleiben der Hilfe: Anträge wer-den abgeschoben und/oder gar nichtbearbeitet, sie verschwinden in „schwar-zen Löchern“ (vgl. DITTRICH 2010).

Die Leistungsanbieter und damit auchihre Mitarbeitenden in sozialen Ein-richtungen und Diensten der Jugend-und Eingliederungshilfe befinden sichhier in einem Dilemma: Auf der einenSeite sollen sie sich an den Bedürfnissenihrer jungen Klient(inn)en und derenFamilien orientieren und diesen zu einem„gelingenden Aufwachsen“ (BMFSFJ2013) verhelfen. Auf der anderen Seiteerwarten Jugend- und Sozialämter, dasserbrachte Leistungen zu „ihrer“ Leis-tungsvereinbarung passen. Die beschrie-bene unterschiedliche Hilfelogik undrigide institutionelle Abgrenzung zwi-

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gemeinsames Ringen um die Verbesse-rung der Lebenssituation des Adressa-ten zu schaffen. Bei einer umfassendenVeränderung, wie der Zusammenführungder Systeme Jugendhilfe und Eingliede-rungshilfe, sind innovative und kreativeLösungen notwendig. Organisations-entwicklung bzw. -veränderung wird i.d. R. hierarchisch entschieden, die Auf-gaben sind aber ohne eine hohe Moti-vation aller Beteiligten kaum lösbar.Laut HAGEMANN (2013, 34) führt Ver-änderungsdruck ohne Zuversicht undOrientierung zu individuellen Ängstenund kollektiver gedanklicher Lähmung.In der Konsequenz muss der Verände-rungsdruck, der von außen kommt, in-tern als positive Herausforderung inter-pretiert werden. Als große Ressourcewird von Seiten der Mitarbeitenden dieSinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit erlebt,diese bezieht sich in erster Linie auf dieMenschen, die betreut bzw. unterstütztwerden (ebd., 36). Wenn es also gelingt,interdisziplinär zu erarbeiten und abzu-klären, warum und an welcher Stelledie Veränderung für die Adressaten derUnterstützungsleistungen sinnvoll ist,ist viel gewonnen. In arbeitsintensivenund durch Interaktion mit Kunden ge-kennzeichneten Dienstleistungen habenQualifikation, Arbeitszufriedenheit undMotivation von Mitarbeitenden unmit-telbare Auswirkungen auf die Qualitätdes Produkts (DUELL et al. 2010, 12).Sie sind die wichtigste Ressource. EineInvestition in Mitarbeitende ist immerauch eine Investition in die Qualität derArbeit. Sind Mitarbeitende für anver-traute Kinder und Jugendliche tätig,wird von ihnen ein breites Spektrum anHandlungswissen in pädagogischer, psy-chologischer und rechtlicher Hinsichterwartet. Dabei geht es nicht nur um denschwierigen Einzelfall, sondern auchum komplexe gesellschaftliche Verän-derungen. Es gilt ein Personalentwick-lungsinstrument zu finden, das den Er-fordernissen von Personalentwicklungin Zeiten organisationaler Entwicklun-gen angemessen ist.

Kollegiale Beratung als inter-disziplinäre Personalentwicklung

Die Kollegiale Beratung6 (KB) kann da-für ein angemessenes Instrument sein.So bezeichnet KÜHL (2007) die KB als

Professionalisierungsmöglichkeit derMitarbeitenden, die Organisationsent-wicklung unterstützt und einrichtungs-übergreifende Vernetzung ermöglicht.Dabei werden die Kompetenzen desBeratenden und des Ratsuchenden alsgleichwertig angesehen. Der Beratendeübernimmt in diesem Format nicht dieRolle des Experten, sondern des kolle-gialen Klärungshelfenden und steht, bild-lich gesprochen, nicht über dem Ratsu-chenden, sondern neben ihm und damitsymmetrisch auf gleicher Ebene. JedeSitzung der kollegialen Beratung gehtzudem von der subjektiven Betroffen-heit einesMitglieds aus. Im ersten Schrittdes Konzepts erfolgt die Problemfin-dung. Es wird entschieden, wer die Rolle des Fallgebenden übernimmt. DerFallgebende steht während des Bera-tungsprozesses im Mittelpunkt. Er ent-scheidet über Fokus und Tiefe der Bera-

tung und schildert den Fall aus seinererlebten Wirklichkeit. Die anderen Teil-nehmenden können sich in Offenheitund Achtung auf das Erleben des Vor-tragenden einlassen, ohne dessen Sicht-weise zu bewerten. Da die Methodekeinen Moderator von außen vorsieht,liegt es in der (Selbst)Verantwortung al-ler Beteiligten, den Prozess anhand dervorgegebenen Strukturen zu gestaltenund vorgegebene Regeln diszipliniert ein-zuhalten, so dass eine intensive gegen-seitige Beratungsarbeit möglich ist (vgl.TIETZE 2008, 225; ROTHE-JOKISCH2008, 466). Dies erfordert auf beidenSeiten Verständnis und Akzeptanz vonDiversität. Die Kernmerkmale der kol-legialen Beratung lassen sich wie folgtcharakterisieren (vgl. TIETZE 2010, 24 f.; ebd. 2010, 40 ff.; ROTERING-STEINBERG 2001, 385):

> Die Beratung wird im Gruppenmo-dus realisiert. Alle Gruppenmitgliederzählen zur gleichen Berufsgruppe.Möglich ist aber auch, dass sich un-terschiedliche Berufsgruppen treffen,

die in einem Arbeitsfeld oder für„einen Fall“ tätig sind.

> Es handelt sich um eine Beratung, inder wechselseitig berufsbezogene Fäl-le aus der Praxis einzelner Teilneh-mender systematisch und ergebnis-orientiert reflektiert werden.

> Der Beratungsprozess orientiert sichan einem Ablaufschema und erfolgtstrukturiert durch verständnisvollesMiteinander und faires (Zuhör-) Ver-halten.

> Die Beratung geschieht kollegial, d. h. gegenseitig mit wechselnderLeitung. Diese reversible Rollenver-teilung unterscheidet die kollegialeBeratung auch von den anderen bei-den personenorientierten7 Beratungs-formaten Supervision und Coaching.

Laut FRANZ und KOPP (2003) istdiese Methode Lernort für betrieblicheKommunikations- und Lernkultur, so-wie Wissensmanagement im Sinne einesAustauschs von Erfahrungswissen alsGrundlage der Wissensgenerierung. Fall-bezogen wird Wissen transportiert. Da-mit scheint die Methode wesentlichePunkte der notwendigen Personalent-wicklung bei der Zusammenführung derSysteme zu erfüllen. Beide Seiten brin-gen ihre Stärken ein und können wech-selseitig voneinander profitieren; das gilt konzeptionell und auch praktisch.Damit wird ein niedrigschwelliger, amLebenskontext der Kinder und derenFamilien orientierter Ansatz implemen-tiert. Fachkräfte erweitern ihr Wissenund ihre Handlungsmöglichkeiten, kön-nen sich wechselseitig beraten und inder praktischen Arbeit unterstützen(BZgA 2013, 5).

DOPPLER und LAUTERBURG(2009, 121 f.) gehen davon aus, dasshäufig in Organisationen Wissen undInformationen ausreichend vorhandensind, beides aber nicht konsequent undumfassend genutzt wird, um auf Ver-änderungsprozesse angemessen zu rea-gieren. PROBST et al. (1999) heben dieBedeutung von Wissensbewahrung her-vor, bei Reorganisationsprozessen gehtaus ihrer Sicht Wissen unter und damitverloren. Es müssen Methoden gefun-den werden, wie das Wissen erhaltenwerden kann. Kommunikation in jegli-cher Form ist dabei ein entscheidender

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PRAXIS UND MANAGEMENT Teilhabe 2/2015, Jg. 54„Hilfen aus einer Hand“ für Familien von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung

6 In der Praxis wird im deutschsprachigen Raum häufig Intervision, kollegiale Fallberatung, kollegiale Praxisberatung, kollegiale Supervision, kollegiales Coaching oder kollegiale Beratungsynonym zum Begriff der kollegialen Beratung verwendet (englischsprachige Synonyme dagegen:peer group supervision, peer consultation oder peer counselling). Die Auseinandersetzung mit demBeratungsformat der kollegialen Beratung macht jedoch deutlich, dass eine begriffliche Vielfalt undeine konzeptionelle Unschärfe hinsichtlich dieser Methode existieren. Verschiedene Modelle undAblaufschemata sind z. B. bei SCHLEE (2008) und bei HERWIG-LEMPP (2009) zu finden. TIETZE(2010, 23) führt an, dass es bisher weder im Deutschen noch im Englischen einheitliche Terminioder ein einheitliches Verständnis zur kollegialen Beratung gibt.

7 Die personenorientierte Theorie geht zurück auf den bekannten Ansatz nach Carl ROGERS (1961):On becoming a Person: a therapist's view of psychotherap., Boston (Mifflin).

Eine Investition in Mitarbeitende ist immer auch eine Investition in die Qualität der Arbeit.

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Faktor, Veränderungsprozesse könnennur mit dem „siamesischen ZwillingKommunikation“ gut gelingen, und zwarin der horizontalen und vertikalen Ebene(DOPPLER, LAUTERBURG 2009, 380).Jedes Individuum besitzt Wissen, sowiejedes Team und jede Organisation. Kol-lektives Wissen ist nicht nur die Summedes Wissens einzelner Mitarbeitender(PROBST et al. 1999). Dieses kollektiveWissen muss interdisziplinär zugänglichgemacht werden. Die lernenden Indivi-duen müssen miteinander ins Gesprächkommen. Auf das Fallbeispiel bezogen,könnten sich Mitarbeitende der Einrich-tungen aus Abb. 2 zur KB treffen.

Werden die Systeme Jugendhilfe undEingliederungshilfe zur ‚Hilfe aus einerHand‘ zusammengeführt, muss jederMitarbeitende zu der Veränderung eineHaltung entwickeln. Eine stärkere Ver-zahnung ist nicht nur eine organisato-risch-institutionelle Aufgabe. Die agie-renden Mitarbeitenden müssen, nebendem operativen Fachwissen, individuelleine „inklusive Grundhaltung“ entwi-ckeln. Inklusion wird damit zur Hand-lungsmaxime8 (BMFSFJ 2013, 377 f.).Sozialraumorientierung, Kooperationund Vernetzung sind zentrale Bausteine,um von Anfang an ressourcenorientierteine Entwicklung zu einer inklusivenGesellschaft voranzutreiben. Dazu sindeine Qualifizierung der Fachkräfte inden Regelstrukturen und die Sicherung

der spezifischen Kompetenz der Ein-gliederungshilfe notwendig (vgl. KEUPP2011). Die KB kann vielfältige hand-lungsorientierte und diagnostische An-regungen bieten. Dabei stehen derMensch und seine Lebenssituation alsFall im Mittelpunkt. Über ihn kommendie Teilnehmenden ins Gespräch undkönnen sich über eigenes Wissen undSystemkenntnisse austauschen (vgl.KÜHL 2007). Wissenschaftlich fundier-tes Bedingungs- und Änderungswissenlässt sich durch gemeinsame Überprü-fung anhand konkreter Fallreflexiontransformieren (vgl. KRCZIZEK, KÜHL2008). Die Schaffung von Netzwerkenfördert die Identifikation von Wissen(PROBST et al. 1999). Der kollegialeAustausch schärft dabei die Erkenntnisüber das eigene Professions-Wissen (aberauch Nicht-Wissen). Um die konstru-ierte Wirklichkeit jedoch immer wiederauf Realitätsbezug zu überprüfen, be-nötigt jeder Teilnehmende Feedback,Reflexion und damit Kommunikation.Die Kollegiale Beratung kann dazu einenentscheidenden Beitrag leisten (vgl.KRCZIZEK, KÜHL 2008). Wichtig fürdie erfolgreiche Anwendung der KB ist,dass die betreffenden Leitungskräfte ihreInstallation positiv begleiten. Daranknüpft auch die Bereitstellung ausrei-chender Ressourcen an. Auf Leitungs-ebene ist ein Rahmen zu gewährleisten,der die Anwendung dieses Beratungs-formates im beruflichen Alltag ermög-

licht. Diese Form der Beratung eignetsich daher nicht als „Sparmodell“ (TIET-ZE 2012). Denn neben der Bereitstel-lung von räumlichen Ressourcen gehtes auch darum, den Teilnehmenden derKB ihre Teilnahme im Rahmen ihrerArbeitszeit zu ermöglichen. Eine gelin-gende KB kann zu einer Steigerung derArbeitszufriedenheit und Motivation vonMitarbeitenden führen und hat somitpositive Auswirkungen für den Mitar-beitenden und damit auch für die Fami-lien, in denen sie/er tätig ist.

Fazit

Eine stärkere Verzahnung der beidengenannten Systeme ist vor dem Hinter-grund der aktuellen Inklusionsdebatteeine logische Konsequenz und damitauch Aufgabe aller Akteure. Unabhän-gig von politischen oder administrati-ven Überlegungen ist für Familien, indenen ein Kind mit Behinderung lebt,eine intensive und systematische Ver-netzung und Kooperation aller Beteilig-ten im Sozialraum sinnvoll. Dies kanndurch die Kollegiale Beratung vorange-trieben werden, denn passgenaue Hil-fen und Unterstützungsangebote ‚auseiner Hand‘ können im Fallgespräch

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PRAXIS UND MANAGEMENT„Hilfen aus einer Hand“ für Familien von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung

Teilhabe 2/2015, Jg. 54

Abb. 2: Systemüberwindung durch Kollegiale Beratung (Grafik eigene Erstellung)

Offene Jugendarbeit

Frühförderung Tagesgruppe

SozialpädagogischeFamilienhilfe

Familien-unterstützender

Dienst

Beh

ind

erte

nh

ilfe Ju

gen

dh

ilfe

Wissen der Behindertenhilfe

Wissen der Jugendhilfe

Familie mit einem Kind mit

Behinderung

8 Neben dieser Grundhaltung muss ein(e) Mitarbeitende(r) die Grenzen der inklusivenPraxis erkennen und lernen, wie diese über-schritten werden können. Exklusion bleibtsomit ständiges Thema.

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kollegial erarbeitet und mit den Famili-en abgestimmt werden. Die Fachkräfteerweitern ihr Wissen und ihre Hand-lungsmöglichkeiten, können sich wech-selseitig beraten und in der praktischenArbeit unterstützen. Die Kollegiale Be-ratung ist ein Werkzeug und darüberhinaus eine pragmatische Form derWeiterentwicklung der bisher getrenn-ten Systeme, sie setzt auf die Bereit-schaft aller Beteiligten im Rahmen einersozialräumlichen Verantwortung träger-übergreifend zu denken und zu agieren.Die Führungskräfte sind für die Imple-mentierung verantwortlich, sollten aberin die KB nicht persönlich als Teilneh-mende involviert sein, da es um ein Be-ratungsformat auf kollegialer Ebenegeht. Neben der Kollegialen Beratungsollten auch andere Personalentwick-lungsmaßnahmen in den Blick genom-men werden, wie wechselseitige Hospi-tationen und damit ein wechselseitigesMonitoring, Fortbildungen usw.

LITERATUR

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beteiligt werden? In: Gemeinsam leben18 (2), 67–73.DÖRNER, Katja; KURTH, Markus(2013): Große Lösung SGB VIII – Voraus-setzungen für ihr Gelingen. NDV – Nach-richtendienst des Deutschen Vereins 12(3), 241–245.DOPPLER, Klaus; LAUTERBURG, Christoph (2009): Change Management.Frankfurt a. M.: Campus. DUELL, Werner; FISCHER, Evelyne;KEISER, Sarina (2010): Dienstleistungund Wertschöpfung. In: Reichwald,Ralf;Möslein, Kathrin M.; Kölling,Marcus(Hg.): Professionalisierung im Dienstleis-tungsbereich. 34–37.FRANZ, Hans-Werner; KOPP, Ralf(2003): Die kollegiale Fallberatung. Eineinfaches und effektives Verfahren zur„Selbstberatung“. Sozialwissenschaftenund Berufspraxis (SuB), 285–294.KEUPP, Heiner (2011): Verwirklichungs-chancen für alle Kinder. Inklusion aus derSicht des 13. Kinder- und Jugendberichts.www.beb-ev.de/files/pdf/2011/dokus/alice/Keupp.pdf (abgerufen am 10.05.2013).KRCZIZEK, Regina; KÜHL, Wolfgang(2008): Beratung für Fachkräfte in derSozialen Arbeit. In: Sozialmagazin 33 (2),26–34.KÜHL, Wolfgang (2007): Intervision, billig, aber auch gut? In: Sozialmagazin.32 (1), 38–47.KUNINAL, Olga; WILHELM, Oliver(2007): Intelligenz. In: Mulot, Ralf;Schmitt, Sabine (Hg.): Fachlexikon derSozialen Arbeit. Baden-Baden: Nomos,493–494.MEYSEN, Thomas (2014): Gesamtzu-ständigkeit im SGB VIII. In: neue praxis 44 (3), 1–13.NZFH (Nationales Zentrum Frühe Hilfen)(2013): Datenreport Frühe Hilfen. Köln:BZgA.

PROBST, Gilbert; RAUB, Steffen; ROMHARDT, Kai (1999): Wissen mana-gen. Wie Unternehmen ihre wertvollsteRessource optimal nutzen. 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Gabler.ROTERING-STEINBERG, Sigrid (2001):Kollegiale Supervision im Selbst-Training:Rückblick nach zwei Jahrzehnten undVorschau. In: Gruppendynamik und Orga-nisationsberatung 32 (4), 379–392.ROTHE-JOKISCH, Lona (2008): Der Bei-trag des Beratungsinstruments „KollegialeFallberatung“ zur Praxisentwicklung vonKooperationskreisen Schule-Jugendhilfe.In: Gruppendynamik und Organisations-beratung 39 (4), 464–476.SECKINGER, Mike (2012): Kooperationstatt Konkurrenz. In: Sozialmagazin 37(10), 26–32.TIETZE, Kim-Oliver (2008): KollegialeBeratung. Problemlösungen gemeinsamentwickeln, 3. Aufl., Reinbek: Rowohlt.VOIGTS, Gudrun (2013): Partizipationvon Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in der Kinder- undJugendarbeit. In: Teilhabe 52 (1), 18–25.

Die Autorinnen:

Monika Storm

Bereichsleitung der vBS Bethel, Bünder Str. 15 A, 32051 Herford

[email protected]

Prof. Dr. Susanne Vaudt

Professorin für Sozialwirtschaft im Depart-ment Soziale Arbeit der HAW Hamburg,Alexanderstraße 1, 20999 Hamburg

[email protected]

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kontakt benötigt, um den Übergangvom Bett zum Bad zu bewältigen. DochFrau Mayer verweigert sich an diesemMorgen: „Nein, nicht aufstehe, nichtdusche“. Sie versuchen, sie mit demFrühstück zu motivieren und bieten ihrihr Lieblingsgetränk an. Sie beantwor-ten ihr zudem geduldig alle Fragen zumweiteren Tagesablauf. Doch bei dernächsten Aufforderung, nun aufzuste-hen und mit ins Bad zu kommen, ver-weigert sich Frau Mayer wie zuvor.„Nein, nicht dusche“. Sie geraten in im-mer größere Anspannung und fühlensich hilflos. Denn das Einhalten vonRegeln wird von Ihnen durchaus erwar-tet. Zugleich merken Sie, wie auch FrauMayer unter Druck gerät. Und Sie wis-sen, was droht, wenn es Ihnen nicht ge-lingt, die Situation zu entspannen. WennSie darauf bestehen, dass Frau Mayeraufstehen soll und Sie sie deshalb an-fassen, beispielsweise am Arm, so wirdsie drohen, Sie zu schlagen, dann schrei-end das Bett verlassen und sich anIhnen festklammern, Sie kneifen undschlagen oder jede freie Hautpartie zer-kratzen. Gelingt es Ihnen, sich zu be-freien, so wird Frau Mayer weiter to-ben, dabei ihren Kopf mit aller Wuchtaufs Parkett schlagen, bis er blutet. Dannwird sie dort liegen bleiben und sichzusätzlich mit ihren Fingern im Mund,im Analbereich und im Genitalbereichverletzen, dabei einnässen, vielleichtauch einkoten. Sie werden keine Chan-ce haben, diesen Ablauf zu stoppenoder wenigstens zu beeinflussen. DennFrau Mayer wird wie von Sinnen undemotional nicht mehr erreichbar sein.

Doch auch wenn Sie auf das Du-schen verzichten und Frau Mayer sichselbst überlassen, entschärft das die Si-tuation nicht. Wenn Sie in einem viel-leicht etwas ärgerlichen Ton sagen: „dannbleib halt noch liegen“ und sich anschi-cken, das Zimmer zu verlassen, dannwird Frau Mayer schreien und heulendrufen: „Hier, hier“ oder „Bitte, nichtsauer, nein“. Wenn Sie dann trotzdemgehen, weil Sie nicht geschlagen, gebis-sen oder zerkratzt werden wollen, dannwird Frau Mayer ebenfalls toben, sichihren Kopf blutig schlagen, sich alleKörperöffnungen verletzen, ihr Zimmerzerlegen, sogar die Heizung aus derWand reißen. Und was ist die Konse-quenz eines solchen aggressiven Durch-bruchs, der zum völligen Kontrollver-lust führt, so dass Frau Mayer emotio-nal nicht mehr erreichbar und deshalbihr Tun auch nicht mehr beeinflussbarist? Zum Schutz für sich selbst und fürandere muss sie jetzt mit Hilfe von min-destens vier Mitarbeiter(inne)n voll fixiertwerden. Die aus einem derartig drama-tischen Zwischenfall resultierende Krisedauert bei Frau Mayer mehrere Wochen

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| Teilhabe 2/2015, Jg. 54, S. 80 – 86

| KURZFASSUNG Anhand des Umgangs mit einer geistig behinderten Frau mittlerenAlters, die u. a. zu schweren selbstverletzenden und fremdaggressiven Verhaltensweisenneigt, wird das Konzept der Entwicklungsfreundlichen Beziehung erläutert. Es wird dar-gestellt, wie auch bei schwierigen Voraussetzungen eine passgenau und verlässlichgestaltete professionelle Beziehung binnen eines Jahres zu einer Beruhigung der Proble-matik führt und erstaunliche Entwicklungsschritte erfolgen. Theoretisch-fachlich basiertdie pädagogische (Beziehungs-)Arbeit auf der Personenzentrierten Haltung, differenzier-ten entwicklungspsychologischen Kenntnissen und der Berücksichtigung biografischerAspekte.

| ABSTRACT “Who would believe it?” Development of the pesonality of personswith severe self-injuring and aggressive behavior by the “Development-FriendlyRelationship”. The concept of a "Development-Friendly Relationship" is illustrated withthe case of a middle-aged woman with learning difficulties, who, inter alia, has a tenden-cy to severe self-injuring and aggressive behavior. It will be demonstrated, how, evenunder difficult conditions, an apposite, congruent, and solidly designed professional rela-tionship can, within a year, lead to a calming of the problem and astounding develop-mental progress. Theoretical and technical aspects of the pedagogical (relational) workare based on an individual-centered approach, differentiated expertise in developmentalpsychology, and the consideration of biographical aspects.

„Wer hätte das gedacht?“ Persönlichkeitsentfaltung bei Menschen mit schwerer Selbst- und Fremdschädigung durch die Entwicklungsfreundliche Beziehung

Bitte stellen Sie sich, liebe Leserinund lieber Leser, Folgendes vor:

morgens, kurze Zeit nach Dienstbeginn.Sie arbeiten in einem kleinen Wohn-heim, in dem auch die 33-jährige FrauRuth Mayer lebt, eine mittelgroße, ge-drungene Person von kräftiger Statur.Ihr schütteres braunes Haar weist kahleStellen auf. Wenn Frau Mayer läuft –was selten geschieht – so geht sie unsi-cher, breitbeinig und leicht vornübergebeugt. Häufiger rutscht sie auf denKnien oder krabbelt auf allen Vieren.Überwiegend hält sie sich in ihrem Ein-zelzimmer im Erdgeschoss auf. Dies istzumeist folgendermaßen möbliert: EinHochbett (ca. 1,30 m hoch) unter demFrau Mayer diverse Kisten, Stühle undSchränkchen gestapelt hat. Außerdemhat sie in ihrem Zimmer einen Schrank,ein Sofa, einen kleinen Tisch und einenStuhl (den sie jedoch nicht benutzt –der ist ihrem jeweiligen Betreuer zuge-dacht). Abhängig von der Stärke ihresZwangs, Gegenstände von hohem per-

sönlichem Wert zu zerstören, besitzt siemeist noch einen Sessel und diverseTeppiche.

Frau Mayer kann sich bei guter psy-chischer Verfassung selbstständig du-schen (nicht waschen), ankleiden undessen. Sie spricht normalerweise inschwer verständlichen Zwei- bis Drei-Wort-Sätzen. Bei sehr guter emotiona-ler Verfassung sind die Sätze zwar feh-lerhaft, aber deutlich länger.

Wegen ihrer problematischen Ver-haltensweisen wird sie vormittags im-mer besonders intensiv von einem Mit-arbeitenden betreut. Stellen Sie sichvor, heute sollen Sie Frau Mayer durchden Vormittag begleiten. Sie kennen sieseit knapp einem Jahr. Sie begrüßen siefreundlich und fordern sie auf, aufzu-stehen und mit Ihnen zum Duschen insBadezimmer zu kommen. Dabei reichenSie ihr die Hand, denn Sie wissen, dassFrau Mayer Hilfe in Form von Körper-

Barbara Senckel

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und wirft sie in ihren Kompetenzendeutlich zurück: Sie isst nicht mehrselbstständig, kleidet sich allein wederan noch aus, verlässt kaum noch ihrBett und schon gar nicht mehr ihr Zim-mer, bewegt sich allenfalls krabbelndfort, weint und jammert viel und sprichtvom Tod. Ihre Stimmung ist dabei weiterhin angespannt, so dass schongeringe Disharmonien einen erneutenAggressionsdurchbruch befürchten las-sen. Das wiederum setzt die Mitarbei-tenden unter Druck. Sie haben dasGefühl, immer Frau Mayers Willen er-füllen zu müssen. Sie fühlen sich über-fordert, hilflos und in Bezug auf ihrpädagogisches Vorgehen verunsichert.Hinzu kommt die ständige Angst, vonFrau Mayer verletzt zu werden. Folglichreduziert sich ihre Bereitschaft, sichFrau Mayer emotional zuzuwenden, wasderen Anspannung zusätzlich erhöht.Somit herrscht ein für alle Teile belas-tender Teufelskreis.

Es ist nur allzu verständlich, dass indieser Situation bei den Mitarbeiter(in-ne)n Fragen wie diese auftauchen:

„Muss ich mich in meinem Berufdenn wirklich kratzen, treten undschlagen lassen, so dass ich mit ernst-haften Verletzungen rechnen muss?“„Kann es sein, dass der betreuteMensch mit seinem Problemverhaltenmich völlig ohnmächtig macht undmein ganzes Handeln bestimmt?“„Muss ich nicht die Oberhand behal-ten und ihm klare Grenzen setzen,weil ich sonst nur noch sein Spielballbin?“ „Kann man von mir verlangen,dass ich einem Menschen, der michdermaßen bedroht und angreift, offenund freundlich gegenübertrete; kannman von mir noch erwarten, dass ichihn mag?“

Selbst Gedanken wie diese halte ichfür nachvollziehbar:

„Nun bemühen wir uns im Team schonseit Jahren, auf Frau Mayer individu-ell einzugehen und den Tagesablaufnach ihren Bedürfnissen zu gestalten.Niemand hat so viel Eins-zu-Eins-Betreuung wie sie. Und dennoch ver-weigert sie immer wieder die wenigennotwendigen Anforderungen. Undimmer wieder kommt es zu solchenDurchbrüchen. Selbst Medikamentehelfen nicht weiter. Da ist doch alleMühe vergeblich.“

Wie gesagt: Ich kann diese Fragenund Gedanken aufgrund der schwieri-

gen Situation nachvollziehen und er-kenne die Not, die zu ihnen führt. AlsAntwort biete ich Ihnen die Fortset-zung der Geschichte von Frau Mayerund das Konzept, das diese Fortsetzungermöglichte. Es heißt: „Die Entwick-lungsfreundliche Beziehung (EfB)" undwurde von der Autorin (SENCKEL2006, 2010) unter Mitarbeit von UlrikeLuxen entwickelt. Die EfB ist eine res-sourcenorientierte Methode der Beglei-tung von Menschen mit Entwicklungs-problemen oder besonderem Betreuungs-bedarf im pädagogischen Alltag oder imtherapeutischen Kontext. Ihr wichtigs-ter Wirkfaktor – und deswegen auchdas theoretische und methodische Zen-trum – ist die Beziehung, die sich amBedürfnisniveau des Gegenübers orien-tiert. Sie verhilft zur Überwindung vonEntwicklungsblockaden sowie zur Ent-faltung brachliegender Potenziale, sodass sich problematische Verhaltens-weisen verringern. Dadurch bewirkt sieeine Harmonisierung und Reifung dergesamten Persönlichkeit (www.efbe-online.de). Die EfB beruht auf zwei bisdrei Säulen:

I. der professionellen, personen-zentrierten Haltung, die sich am Konzept von Carl ROGERS (1983, 1991) orientiert, und

II. dem Fachwissen aus dem Bereichder Entwicklungspsychologiesowie dem Wissen über die Entstehung von psychischen Störungen und über den pädagogisch angemessenenUmgang mit ihnen.

III. Hilfreich ist zudem eine zumindestgrobe Kenntnis der Biografie, um sich die prägenden Lebens-umstände vorstellen zu können.

Zu I.:

Die professionelle Haltung entstammtdem Menschenbild der humanistischenPsychologie und den von ihr formulier-ten Bedingungen für eine emotionalesWachstum fördernde Beziehung. DasMenschenbild besagt, dass die Psychedes Menschen emotionale Reifung undEntfaltung anstrebt, dafür aber ein ver-lässlich zugewandtes, vertrauenswürdi-ges, emotional stabiles Gegenüber be-nötigt. Für die pädagogischen Mitarbei-tenden bedeutet dies:

1. Unbedingte Wertschätzung: dass siezu ihren Klienten als Person „ja“sagen und dessen schwierige, inak-zeptable Verhaltensweisen diesegrundsätzliche Akzeptanz und Wert-schätzung nicht außer Kraft setzen.

2. Empathie: dass sie bereit und fähigsind, sich in den Erlebnishorizontund die Bedeutungszusammenhängeihres Klienten einzufühlen, um ihrErleben und Verhalten zu verstehenund

3. Kongruenz: dass sie sich echt als Per-son und nicht nur als professionelleFunktion auf die Beziehung zu ihrenKlienten einlassen. Das beinhaltetdie Bereitschaft, sich in dem Maßeund auf die Art und Weise als Personmit eigenen Gefühlen und Impulsenzu zeigen, wie es den Klienten undder Beziehung zu ihnen dient.

Die Verwirklichung dieser Grund-haltungen bedeutet also: Alle Äußerun-gen des Gegenübers sind ernst zu nehmenals Ausdruck eines zunächst einmal be-rechtigten Anliegens; gemeinsam istdieses Anliegen zu verstehen und einbefriedigender Weg im Umgang mit ihmzu suchen. Befriedigend ist der Weg,der entwicklungsnotwendige Erfahrun-gen vermittelt und den das Gegenüberaufgrund seiner emotionalen und kog-nitiven Ressourcen bewältigen kann(PÖRTNER 1996). Das bedeutet auch:Der Weg muss tatsächlich dort begin-nen, wo sich das Gegenüber psychischbefindet. Um das abschätzen zu kön-nen, bedarf es des entwicklungspsycho-logischen Wissens.

Zu II:

Die zentrale entwicklungspsychologischeGrundidee besagt, dass der Mensch zweigegensätzliche Grundbedürfnisse besitzt,die seine Entwicklung vorantreiben unddie er versucht, miteinander in Einklangzu bringen. Diese Bedürfnisse sind dasStreben nach Autonomie oder Selbst-bestimmung einerseits und die Sehn-sucht nach sozialer Einbettung, nachZugehörigkeit und Beziehung anderer-seits. Beide Bedürfnisse stehen in einemSpannungsverhältnis zueinander, weilsie sich gegenseitig einschränken undbegrenzen. Das Ziel ist der Kompro-miss: die Autonomie in sozialer Gebun-denheit.

Dieses Ziel wird nur über die Erfah-rung jahrelanger tragfähiger und kon-struktiver Beziehungen erreicht. Blei-ben einem Menschen im Laufe seinerkindlichen Entwicklung solche Bezie-hungen versagt, so gewinnt er keine sta-bile Balance von seinen Autonomie-und Bindungsbedürfnissen. Stattdessenentwickelt er – wie Frau Mayer – einemehr oder weniger stark ausgeprägtepsychische Störung, die zum Beispielvon Angst, Aggression, Abhängigkeitoder sozialer Isolation geprägt ist. SeinSelbstwertgefühl ist beeinträchtigt und

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seine Fähigkeit zur Selbststeuerung oft-mals auch.

Diese Aussagen gelten für Menschenohne kognitive Einschränkung genausowie für solche mit geistiger Behinderung.Letztere verfügen bloß über wenigerKompensationsstrategien, so dass sichihre Problematik deutlicher in unreifwirkendem, auffälligem Verhalten äußert.(Abb. 1)

Entwicklungspsychologisches Wissenhilft zudem besser zu verstehen, wie kog-nitiv beeinträchtigte Personen die Wirk-lichkeit erleben, welche emotionalen Be-dürfnisse sie haben, wie sie denken undhandeln. Viele der schwierigen und pro-blematisch erscheinenden Verhaltens-weisen sind zu einem bestimmten Zeit-punkt in der Entwicklung üblich, werdenjedoch später überwunden. Ordnet mandiese Verhaltensweisen dem entspre-chenden Entwicklungsalter zu, so kannman sie als normal akzeptieren. Orien-tiert man zudem sein Beziehungsangebotan diesem Entwicklungsniveau, so hilftman dem Klienten, sich weiterzuentwi-ckeln. Denn „man holt ihn wirklich daab, wo er steht“. Damit erhält er die opti-male Voraussetzung dafür, den nächstenEntwicklungsschritt zu wagen (Abb. 2).

Wünschenswert ist, dass die pädago-gischen Mitarbeiter(innen) die Entwick-lungsgesetze möglichst vieler Funktions-bereiche differenziert kennen, also au-ßer der Sozio-Emotionalität und demDenken auch noch die Entwicklung derAngst, der Aggressionssteuerung, desNorm- und Wert-Verhaltens usw. ImVordergrund steht jedoch die Entwick-lung der Sozio-Emotionalität, weil siein der Regel am niedrigsten einzustufenist, zugleich aber die Gesamtentwick-lung am stärksten beeinflusst. Das Be-ziehungsangebot auf das sozio-emotio-nale Bedürfnisniveau abzustimmen, istdeshalb unbedingt erforderlich. Geradebei kognitiv beeinträchtigten Menschenmit einer psychischen Störung bedeutetdies, dass der professionelle pädagogi-sche Mitarbeitende bereit sein sollte,die Funktion der primären Bezugsper-son zu übernehmen, weil (nach den Er-kenntnissen von Christian GAEDT(1987) und eigenen langjährigen Erfah-rungen) die Beziehungsbedürfnisse unddie sozio-emotionalen Kompetenzen inder Regel denen ähneln, die Remo LAR-GO (2001, 2003) und Margaret MAH-LER (1978) für die ersten drei Lebens-jahren beschreiben.

Zu III:

Kennt man die wichtigsten biografischenFakten, so lässt sich die Entstehung derpsychischen Störung leichter rekon-

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PRAXIS UND MANAGEMENT Teilhabe 2/2015, Jg. 54Persönlichkeitsentfaltung bei Menschen mit schwerer Selbst- und Fremdschädigung

Abb. 1: Das Spannungsfeld der Grundbedürfnisse

Grundbedürfnisse

Bindung Autonomie

Beziehung Selbstbestimmung

Nähe Abgrenzung

soziale Einbettung Freiheit

GleichgewichtKompromissfähigkeit – „Autonomie in sozialer Gebundenheit“

d. h. begrenzte, sich in einem wechselseitig akzeptierten (ausgehandelten) sozialen Rahmen einfügende Autonomie

Gefahr bei Fehlentwicklung

Selbstaufgabe zu Gunsten des „Wir“ Selbstbehauptung auf Kosten des „Wir“

Abhängigkeit rücksichtslose Selbstbehauptung

Verlustangst Bindungsunfähigkeit

Depression Isolation

struieren. Dadurch erhöht sich zumeistdas Mitgefühl der professionellen Mit-arbeiter(innen). Bei unbekannter Bio-grafie hilft die fachliche Erkenntnis, dassproblematische Verhaltensweisen in derRegel ein Spiegel verletzender biografi-scher Ereignisse sind. Man kann siealso nutzen, um Hypothesen über rele-vante Entwicklungssituationen zu bil-den. Kehren wir nun zu Frau Mayerzurück und betrachten wir zunächst dieEckdaten ihrer Biografie:

Frau Mayers Mutter war alkoholkrank.Sie gab ihre Tochter im Alter von fünfMonaten fast verhungert und völlig verwahrlost ins Krankenhaus zurück.Dort blieb sie monatelang, bis sich ihrZustand stabilisiert hatte. Direkt vomKrankenhaus aus wurde sie in einKleinstheim mit acht Kindern vermittelt.Dessen Betreiber waren sehr betagt, den-noch betreuten sie das Mädchen nochfünf Jahre über die Schließung ihrerEinrichtung hinaus als Pflegefamilie.

Ihre Pflegemutter bezeichnet Frau Mayer heute noch als „Mama“. Alsdiese aber mit Frau Mayers stärkerwerdenden Verhaltensauffälligkeitennicht mehr umzugehen wusste undauch mehrmonatige Aufenthalte ineinem kinderneurologischen Zentrumkeine Besserung erbrachten, kam dienunmehr elf-jährige Ruth schließlichin ein Heim für geistig behinderte Kin-der. Dort wohnte sie bis zu ihrer Voll-jährigkeit. Danach lebte sie mehrereJahre in einem Wohnheim für Erwach-sene, unterbrochen von diversen mehr-monatigen Psychiatrieaufenthalten,bis sie schließlich mit 26 Jahren indas jetzige Wohnheim umzog.

Was können wir diesen Informa-tionen entnehmen? Frau Mayer wurdeals Säugling im ersten halben Lebens-jahr körperlich und emotional derartigvernachlässigt, dass es sie beinahe dasLeben gekostet hätte. Diese Trauma-tisierung prägte sie so stark, dass sie

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keinerlei Urvertrauen ausbilden konn-te. Sie vertraut nicht darauf, in diesemLeben willkommen zu sein, die not-wendige Fürsorge zu erhalten, ihreBedürfnisse befriedigt zu bekommenoder Unterstützung zu erfahren, umSchwierigkeiten selbst überwinden zukönnen. Sie vertraut also keinem an-deren Menschen und auch nicht sichselbst.

Das Urvertrauen entwickelt sichnur durch die Erfahrung einer verläss-lichen Bezugsperson, die die frühkind-lichen Bedürfnisse wahrnimmt, richtigdeutet und schnell und angemessenbefriedigt. An so eine Bezugspersonkann sich das Kleinkind sicher bin-den, im Vertrauen auf sie eigene Kom-petenzen erwerben und sich mit einemguten Selbstwertgefühl allmählich ver-selbstständigen. Soll sich Frau Mayeremotional stabilisieren und weitereEntwicklungsschritte vollziehen, sobraucht sie eben diese Erfahrung derverlässlichen Bezugsperson und siche-

ren Bindung (BOWLBY 2005). Dasheißt sie braucht pädagogische Be-treuungspersonen, die die beschriebe-nen Grundhaltungen echt verkörpernund als primäre Bezugspersonen aufihre frühkindlichen Bedürfnisse einge-hen. Diese Aufgabe zu erfüllen ist bei derHeftigkeit von Frau Mayers aggressi-ven Verhaltensweisen und der Vehe-menz ihrer Verweigerung nicht leicht.Ein wenig helfen können vielleicht dieErkenntnis der lebensgeschichtlichenZusammenhänge und deren Folgen.Es wäre also wichtig, Frau Mayersheutiges Problemverhalten als Konse-quenz ihrer emotionalen Verletzungenund als Ausdruck eines kleinstkind-haften Beziehungsbedürfnisses zu be-greifen. Denn wie ein Säugling ist sieunfähig zur eigenständigen Spannungs-regulation und zur wirkungsvollen Befrie-digung eigener emotionaler Bedürfnisse.Diese Aufgaben muss die Betreuungs-person durch ihre verständnisvolle emo-tionale Präsenz für sie übernehmen.

Doch sind die Verweigerungsten-denz und die schweren aggressiven undautoaggressiven Durchbrüche mit völli-gem Kontrollverlust nicht Frau Mayerseinzige herausfordernde Verhaltens-weisen. Darüber hinaus ist sie sehr kon-taktscheu, hält sich überwiegend inihrem Zimmer auf – verbringt viel Zeitin ihrem Bett –, lässt sich nur vonbestimmten Mitarbeiter(inne)n betreu-en, beansprucht diese aber in sehrhohem Maße, fordert Körperkontakt:„komme her“, „Hand“, „helfe“ sind hierihre Worte. Sind die für sie bedeutsa-men Mitarbeitenden nicht verfügbar, z. B. weil sie einen freien Tag haben, ge-rät sie in Spannungszustände. Bekommtsie dann nicht die von ihr gewünschteUnterstützung, z. B. beim Essen oderToilettengang, beginnt sie zu drohen,schreien, weinen: eine Eskalation kün-digt sich an. Zugleich erträgt sie keiner-lei Konflikte. Schon bei einem ärgerli-chen Tonfall überkommt sie panischeAngst: „Bitte, bitte, sauer Nein“ jam-mert sie und krallt sich am Mitarbeiten-

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Abb. 2: Sozio-emotionale Entwicklung (Merkmale der Phasen) und entwicklungsförderndes Betreuerverhalten

Sozio-emotionale Entwicklung (Merkmale der Phasen) und entwicklungsförderndes Betreuungsverhalten

Phase Fähigkeiten und AusdruckPhasenspezifi sche

AlarmsignaleEntwicklungsfreundliches Be-

treuungsverhalten

Primärer ZustandSymbiotische Phase

> Lust-Unlustempfi ndungen als Reaktion auf innere Zustände

> „Affektansteckung“> Impulsgesteuert> äußert Befi ndlichkeit präverbal> gestaltet Spiegeldialog aktiv> unterscheidet zwischen

Bezugspersonen

> mangelndes Urvertrauen> „benutzt“ Betreuenden

zur Bedürfnisbefriedigung> ersetzt fehlende Beziehung

durch Gegenstand> distanzlos oder Rückzug

(emotional schwer erreichbar), lebt in Eigenwelt

> willenlose Anpassung oder impulsgesteuert

> allein keine konstruktive Selbstbeschäftigung

> fehlendes oder sprunghaftes Interesse

> Stereotypien> emotionale Abgrenzung

nicht möglich

> physische und emotionale Präsenz der Bezugsperson

> sofortige Bedürfnisbefriedigung> Körperkontakt> alle Interaktionen, die

emotionale Einheit ermöglichen> harmonische Atmosphäre

herstellen> spiegeln

Differenzierungs-phase

> Interesse an den Tätigkeiten der Bezugsperson

> erste Ansätze von „selbstständigem, zweckbezogenem“ Handeln

> sucht häufi ge Rückversicherung> Übergangsobjekt> Verzweifl ungsanfälle bei

geringen Frustrationen> Ansätze von Frustrationstoleranz

bei emotionaler Ausgeglichenheit> Affektabgleichung

> mangelndes Urvertrauen> völlig instabiles

Beziehungsverhalten> Angst vor fremden Personen> benötigt räumliche Präsenz

der Bezugsperson, um eine beherrschte lebenspraktische Fähigkeit durchzuführen

> häufi ge Desintegrationsängste und Affektdurchbrüche mit Kontrollverlust

> scheinbar „grundlose“ Stimmungsschwankungen

> Stereotypien

> Verfügbarkeit als „Heimatstützpunkt“

> schnelle Bedürfnisbefriedigung> Einsatz des Übergangsobjektes> Einbeziehen in gemeinsame

Tätigkeiten> Anregung des

Explorationsverhaltens> Unterstützung der Autonomie in

Anwesenheit der Bezugsperson> Setzen erster Grenzen, aber

Vermeidung größerer Frustrationen

> haltender Trost> zweite Bezugsperson

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den fest. Gelingt es diesem nicht, jetztden Konflikt wohlwollend aufzulösen,droht wieder der emotionale Zusam-menbruch.

Schwierig ist zudem, dass Frau Mayerunter etlichen, sie deutlich einschrän-kenden Zwängen leidet. Einer bestehtdarin, dass sie morgens nach dem Früh-stück ihre „Schätze“ – das sind Plüsch-tiere, Puppen und Kissen – in diversenTaschen und Kisten ordnet. Diese Ord-nung unterliegt einem strengen System,welches sie aber immer wieder umwirft,um dann schließlich doch wieder zuihm zurückzukehren – was für sie einenerheblichen Stress und Arbeitsaufwandbedeutet. Nicht selten zerstört sie aucheinzelne dieser Gegenstände oder ein-zelne Möbelstücke (die für sie aus-nahmslos sehr wertvoll sind). Danach

ist sie untröstlich über den Verlust undgerät in emotionale Spannungszustän-de mit auto- und fremdaggressivem Ver-halten. Sie benötigt nun die intensiveUnterstützung ihrer jeweiligen Bezugs-person, um sich emotional wieder zustabilisieren.

Eine weitere Eigenheit besteht darin,dass sie bei Ortswechseln den Bodenküssen bzw. den Kopf mehrfach auf denBoden schlagen muss. Mit welcherIntensität dies geschieht, hängt vonihrer emotionalen Befindlichkeit ab.

Über ihren Tagesablauf benötigt siedie vollständige Kontrolle. Eine unvor-hergesehene Abweichung von der ihrbekannten Regel – und sei diese nureine Krankmeldung eines ihrer Einzel-betreuer(innen) – verunsichert sie so,dass wiederum die Gefahr der Eskala-tion besteht.

Alle diese problematischen Verhal-tensweisen lassen sich als Ausdrucksehr früher Ängste interpretieren. Auf-grund der lebensbedrohlichen Ver-nachlässigung muss Frau Mayer dieWelt als feindselig und bedrohlich emp-funden haben. Aus diesem Grunde hatsie eine misstrauische Distanz gegen-über ihrer Umwelt entwickelt. Sie hatsich angstvoll zurückgezogen und zu-gleich versucht, mit ihrer Fixierung aufvorhersehbare Abläufe und durch dieAusübung ihrer „Zwangsrituale“ dieWelt/das Geschehen im Griff zu behal-ten. Gleichwohl leidet sie unter der

damit verbundenen Einsamkeit, sehntsich nach Nähe und Beziehung. DieseSehnsucht zeigt sie sowohl mit ihrerForderung nach Körperkontakt („Hand“oder „komme her Arme“) als auch mitder Unfähigkeit, emotionale Disharmo-nie zu ertragen. Der innere Konflikt, derAngst vor Nähe und der Welt einerseitsund der Sehnsucht nach Nähe anderer-seits, kostet ihre ganze emotionale Ener-gie und verhindert die Entwicklung vonAutonomie. Denn sie wagt es gar nicht,sich autonom und aufrecht auf die Weltzuzubewegen, weshalb sie sich zumeistkrabbelnd fortbewegt, obgleich sie lau-fen könnte.

Was also könnte ihr helfen? Die be-reits erwähnte verlässliche, wohlwollen-de Bezugsperson, die ihre frühkindlichenBedürfnisse erkennt und sie im Rahmen

ihrer beruflichen Präsenz so gut wiemöglich erfüllt. Dazu hat sich eine Mit-arbeiterin während ihrer Weiterbildungin der Entwicklungsfreundlichen Bezie-hung entschlossen. Sie hat ein vertieftesentwicklungspsychologisch fundiertesVerständnis für Frau Mayer erworbenund den pädagogischen Umgang mit ihrden neuen Erkenntnissen angepasst.Den Entwicklungsweg, den Frau Mayerim Laufe eines Jahres zurücklegen konn-te, möchte ich nun darstellen. Dabeiwerde ich immer wieder aus der Doku-mentation der Mitarbeiterin (BOUR-CARDE 2013) zitieren. Ihre Zielsetzungund ihr Vorgehen in der Beziehungsge-staltung erläutert sie folgendermaßen:

„Die Personenzentrierte Grundhaltungermöglicht es Frau Mayer, ihre Möglich-keiten zu entdecken und Autonomie zuentwickeln. Dies geschieht unter wachs-tumsfördernden Bedingungen, d. h. aufder Basis der unbedingten Wertschät-zung ihrer gesamten Persönlichkeit, demempathischen Durchdringen ihrer Ge-fühlsregungen, der nicht urteilendenAkzeptanz ihrer Gefühle und der Echt-heit im alltäglichen Umgang. Auf dieseWeise kann ihr Akzeptanz und Verste-hen vermittelt werden und sie ist nichtlänger gefangen in ihren Ängsten.

Das methodische Mittel hierzu ist dasSpiegeln, also das emphatische, Ver-ständnis signalisierende Aufgreifen ih-rer verbalen und nonverbalen Äuße-rungen. Es vermittelt emotionale Nähe

und Akzeptanz, enthält aber keiner-lei Forderung. Deshalb wirkt es beru-higend und die Beziehung stabilisie-rend. Zugleich ermöglicht es ihr, daseigene Verhalten wertfrei von außenzu betrachten. So wird ihre Selbst-wahrnehmung gefördert, sie kann ihreMöglichkeiten erkennen und dadurchihr Selbstkonzept erweitern. Dabei giltes ressourcenorientiert zu arbeiten –ihre zahlreich vorhandenen Fähigkei-ten zu betonen, aber keine Entwick-lungsrichtung vorzugeben, sondern denvon ihr eingeschlagenen Weg wohl-wollend zu begleiten. Nichtsdestotrotzbenötigt sie Grenzsetzungen undmaßvolle Frustrationen, um ihre Ich-Funktionen weiter auszudifferenzie-ren. Hierbei ist jedoch darauf zu ach-ten, dass diese Frustrationserlebnisseihrem Entwicklungsniveau entspre-chen und dass die Grenzsetzungeneindeutig, aber liebevoll sind.“

Einmal in der Woche ist die Mitar-beiterin im Rahmen ihrer Vollzeitstellevormittags als Einzelbetreuerin für FrauMayer zuständig und unterstützt diesein zumeist ritualisierten Abläufen beider Morgenpflege und dem Frühstück.Anschließend bleibt ca. eine Stunde un-verplante Zeit, in der sie deren Eigen-initiative hervorlocken und ihr positiveErlebnisse vermitteln möchte.

Während der ersten ca. acht Wochengeschieht das, indem sie auf alle Fragenpositiv eingeht, ihre äußerst merkwürdigerscheinenden Verhaltensweisen selbst-verständlich akzeptiert und jede ge-wünschte Hilfestellung freundlich ge-währt. Außerdem lässt sie Frau Mayerdas Geschehen bestimmen. Ich zitiere:

Wir ‚krabbeln‘ gemeinsam in den Grup-penraum – ich gehe vorneweg, beideHände nach hinten zu Frau Mayergerichtet. Sie hält meine beiden Händefest umklammert und läuft auf Knienhinter mir her. So im Raum angekom-men muss sie zuerst den Kopf dreimalleicht auf den Boden schlagen, da-nach schaut sie sich um – sie suchtnach einem weiteren Mitarbeiter alsGesprächspartner, – nach der Köchin,um das Mittagessen zu erfragen, – oderüberlegt, was sie weiter tun möchte.Hat sie sich schließlich für eine Op-tion entschieden, so wird diese 1:1 sodurchgeführt wie abgesprochen. Beiallen gemeinsamen Beschäftigungenversuche ich, ihre Äußerungen zuspiegeln, was auf sie lockernd wirkt.

Im dritten Monat dieser Beziehungsar-beit interessiert sich Frau Mayer währendeines Spaziergangs plötzlich für den aus-

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Alle diese problematischen Verhaltensweisen lassensich als Ausdruck sehr früher Ängste interpretieren.

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rangierten Rollator einer Mitbewoh-nerin, der seit Monaten auf der Ter-rasse des Wohnheimes steht. (SeitFrau Mayer hier lebt, versuchten wirbereits x-mal, sie vom Nutzen einerGehhilfe zu überzeugen – ohne Erfolg;im Gegenteil: ihre Ablehnung wurdeimmer stärker.) Sie ergreift plötzlichden Rollator: „Gucke da, Ruth?“ undgeht schnurstracks und beinahe selbst-ständig damit bis zur Tagesförderstätte(sie möchte lediglich meine Hand aufihrem Arm spüren). Sie ist stolz undglücklich – ich unterstütze sie sehr indiesem Gefühl. Nach dem Spazier-gang besteht sie darauf, den Rollatormit ihrem Namen zu beschriften. Siebenutzt ihn von nun an freiwillig beijedem unserer Spaziergänge undnutzt ihn auch, um mit ihrer Bezugs-betreuerin spazieren zu gehen.

Mit dem Schritt, den Rollator zu er-obern, verzichtet sie freiwillig auf einStück körperlicher Nähe, um sichbequemer und freier bewegen zu kön-nen! Die Gehhilfe schenkt ihr größe-re Selbstständigkeit, sie erweitert ihrenRadius und erleichtert ihr das Erkun-den der Umgebung.

Ein Vierteljahr später notiert dieMitarbeiterin:

„Frau Mayer ist insgesamt sehr ausge-glichen und emotional gefestigt –wohl nicht zuletzt durch die positivenBeziehungserfahrungen, die sie im Rah-men unserer Prozessgestaltung macht.Auch ihr Verhältnis zu anderen Kol-legen ist intensiver und stabiler ge-worden; viele der von uns entwickel-ten Rituale und Umgangsformen fin-den ihren Eingang auch in den Alltagmit anderen Betreuern. Dies sindwohl positive Voraussetzungen, unterdenen sie vorhandene Kompetenzenstabilisieren und neue Fähigkeitenentwickeln kann.

Sie entwickelt sukzessive eine höhereFrustrationstoleranz; längst nicht mehrjede kleine Abweichung von ihrem ge-wohnten Tagesablauf führt zur Eska-lation.

Frau Mayer ist selbstständiger; beiunseren Gängen durchs Haus kündigtsie vorher an: „Ruth leine“ und läuftoder krabbelt dann ohne Hilfestel-lung neben mir her. Ich lobe sie dafürimmer ausgiebig, reiche ihr aber auchsofort die Hand, sobald sie nach Hilfeverlangt.

Sie benutzt ihren Rollator inzwischenmit zwei weiteren Mitarbeitern für

kleine Spaziergänge. Außerdem unter-nimmt sie jetzt gelegentlich Ausflügemit dem Bus, manchmal steigt sie auchaus und besucht ein Geschäft oder Café– natürlich mit diversen Aufsehen erre-genden Zwangshandlungen wie Bodenküssen, Kopf aufschlagen, Hand in denMund stecken … Nichtsdestotrotzhaben wir dabei dann Spaß, und FrauMayer ist sehr stolz auf sich – zu Recht.

Sie sucht nun öfter Körperkontakt. Ein-mal habe ich sie von oben bis untenlocker abgeklopft – sie entspannte sichvollkommen und wollte gar nicht mehraufstehen. Seitdem wiederholen wir die-se Körpererfahrung regelmäßig für ca.ein oder zwei Minuten.

Wieder ein Vierteljahr später heißt esin der Dokumentation:

„Frau Mayer hat einen deutlichenSchritt über das andauernde Symbiose-Bedürfnis hinaus gewagt. Sie verzichtetinzwischen auf das morgendliche Ri-tual des (mehr oder weniger gemein-schaftlichen, weil mit z. T. erheblicherUnterstützung stattfindenden) Duschens.Die so gewonnene Zeit nutzt sie für ge-meinsame Aktivitäten: Wir holen z. B.die Wäsche aus dem Keller, sortierenihre persönliche Habe in diversen Kis-ten, Kästen, Taschen und Schränkenoder studieren im Büro intensiv denDienstplan. Das Duschen hat sie aufden frühen Nachmittag verschoben. Sieduscht dann ohne jede Hilfestellungausgiebig, zieht sich wieder an und legtsich anschließend in ihr Bett!

Auch verlässt sie immer öfter ihr Bettund ihr Zimmer, also ihre selbstgewähl-te Isolation: Sie sucht die Nähe ihrerMitbewohner, indem sie ihren Verdau-ungskaffee mittlerweile auf einer gutbesuchten Sitzgruppe im Flur vor derKüche trinkt. Hier beobachtet sie dasGeschehen um sich herum sehr interes-siert. Manchmal nimmt sie sogar Kon-takt zu ihren Mitbewohnern auf, sprichtsie an oder berührt sie ohne jede aggres-sive Intention. Hierbei benötigt sie dieAnwesenheit und oft auch den Körper-kontakt eines Mitarbeiters, um die Si-cherheit zu haben, die Situation sofortverlassen zu können, wenn es ihr zuviel wird.

Was bedeuten diese Verhaltensänderun-gen? Es ist Frau Mayer augenscheinlichgelungen, neue Kompetenzen in ihrSelbstbild zu integrieren, und sie kanndiese auch adäquat abrufen. Als Folgebetätigt sie sich zunehmend selbststän-dig und erfährt sich dabei als handlungs-

kompetent. Hier liegen erste Ansätze,sich aus ihrer Verlustangst zu befreien.

Und schließlich, knapp ein Jahr nachdem Aufbau der Entwicklungsfreundli-chen Beziehung, berichtet die Mitarbei-terin:

„Frau Mayer findet – für ihre Verhält-nisse und verglichen mit ihrem Zu-stand zu Berichtsbeginn – zu einer be-wundernswerten Gelassenheit. Wennsie einen adäquaten Beziehungspart-ner an ihrer Seite hat, kann sie denmeisten Widrigkeiten, die ihre Weltbedrohen, einigermaßen gefestigt insAuge sehen. Unerwartete Krankmel-dungen eines Betreuers, plötzliche Ein-gebungen bzgl. dringend notwendi-ger Veränderungen in ihren Zimmer,fällige Arztbesuche… lassen sich jetztrelativ gefahrlos bewältigen. Nichts-destotrotz nehmen Diskussionen undStreitgespräche mit ihr einen breitenRaum in der alltäglichen Arbeit ein.Doch nach intensivem Abwägen vonVor- und Nachteilen ist sie inzwi-schen in der Lage, einen gemeinsa-men Kompromiss zu finden und die-sen auch zu akzeptieren.

Autoaggressives Verhalten zeigt siekaum noch – wenn doch, dann ineiner stark abgeschwächten Form. Soschlägt sie z. B. in Krisensituationenihren Kopf noch immer auf demBoden auf, jedoch längst nicht mehrso brutal und ohne sich gleichzeitigim Intimbereich zu verletzen. Aggres-sive Übergriffe auf Mitbewohner fin-den nicht mehr statt. Mitarbeiter leidenunter Gängeleien wie Kneifen undPetzen in dem Maße, in dem die Sta-bilität der gemeinsamen Beziehungzu wünschen übrig lässt.

Sie benötigt zwar noch immer einenpersönlichen Betreuer pro Dienst,der speziell für sie zuständig ist, je-doch akzeptiert sie heute ohne weite-res, dass dieser auch noch andereAufgaben hat – sie kann sich übergroße Zeiträume selbst beschäftigen,wenn sie die Gewissheit hat, sichjederzeit Unterstützung holen oderherbeirufen zu können.

Abschließend möchte ich ein Bild be-mühen, um die Entwicklung der Klien-tin im Berichtszeitraum von einemJahr zu zeigen: Zu Beginn der Bezie-hungsarbeit lag Frau Mayer im wahrs-ten Sinne des Wortes auf dem Bodenund hielt sich an sich selber fest –inzwischen steht sie mit beiden Bei-nen fest auf der Erde, legt einem Be-treuer freundschaftlich einen Arm um

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die Schulter und blickt ihm dabeigerade in die Augen. Das habe ichletzte Woche genau so beobachtet!“

Wenn man diesen Bericht hört, kannman meiner Meinung nach nur fragen:„Wer hätte das gedacht?“ Ich jedenfallsnicht, als ich begann, die Mitarbeiterinzu beraten.

Fazit

Was macht die Arbeit mit einem derartschwierigen geistig behinderten Men-schen so wertvoll? Natürlich ist es schön,diesen Erfolg verbuchen zu können.Die eigene berufliche Kompetenz wirdbestätigt: Frau Mayers Lebensqualitätist deutlich gestiegen, die Arbeit mit ihrist entspannter, so dass sie leichterSympathie erfährt. Und ein Pädagogen-herz freut sich natürlich auch über diein ihr geweckten und sich entfaltendenRessourcen.

Das ist schon viel, aber noch nichtalles. Die Bedeutung reicht noch weiteroder tiefer, wenn man so will. Geistigbehinderte Menschen mit psychischenProblemen, die sich dann in herausfor-derndem Verhalten äußern, weisen unsviel klarer, eindeutiger und schonungs-loser auf ihr Leiden hin. Die Gründe fürdieses Leiden sind dieselben, die auchbei nicht kognitiv beeinträchtigten Men-schen zu psychischen Störungen führen.Es sind die mangelnde Geborgenheit

und Sicherheit, zumeist frühkindlicheVerletzungen der Bindungsbedürfnisseund des Autonomiestrebens, mangeln-des Verständnis für das Empfinden undErleben, mangelnde Wertschätzung, man-gelnde Verlässlichkeit in den Beziehun-gen. Zugleich reagieren Menschen mitgeistiger Behinderung auch mit großerEindeutigkeit auf ein für sie hilfreiches,angemessenes Beziehungsangebot. Wasihnen nützt und ihr Leiden mildert, istletztlich das, was wir alle brauchen, umuns psychisch harmonisch und stabilzu entwickeln. Deshalb könnten wir anihnen lernen, wie unsere Gesellschafthumaner zu gestalten wäre.

LITERATUR

BOURCARDE, Annette (2013): FrauMayer – ein entwicklungsfreundlicherBeziehungsprozess. Unveröffentl. Manuskript.BOWLBY, John (2005): Frühe Bindungund kindliche Entwicklung. München:Reinhardt.GAEDT, Christian (Hg.) (1987): Psycho-therapie bei geistig Behinderten. Beiträgeder psychoanalytischen Entwicklungspsy-chologie. Sickte: Neuerkeröder Anstalten.LARGO, Remo H. (2001): Babyjahre. Die frühkindliche Entwicklung aus biologi-scher Sicht. München: Piper.LARGO, Remo H. (2003): Kinderjahre.Die Individualität des Kindes als erzie-herische Herausforderung. 7. Aufl. München: Piper.

MAHLER, Margaret S. et al. (1978): Die psychische Geburt des Menschen.Symbiose und Individuation. Frankfurt a. M.: Fischer.PÖRTNER, Marlies (1996): Ernstnehmen– Zutrauen – Verstehen. PersonzentrierteHaltung im Umgang mit geistig behinder-ten und pflegebedürftigen Menschen.Stuttgart: Klett.ROGERS, Carl R. (1983): Therapeut undKlient. Grundlagen der Gesprächspsycho-therapie. Frankfurt a. M.: Fischer.ROGERS, Carl R. (1991): Eine Theorie derPsychotherapie, der Persönlichkeit undder zwischenmenschlichen Beziehungen.3. Aufl. Köln: GwG.SENCKEL, Barbara (2006): Du bist einweiter Baum. Entwicklungschancen fürgeistig behinderte Menschen. 3. Aufl.München: C. H. Beck.SENCKEL, Barbara (2010): Mit geistigBehinderten leben und arbeiten. 9. Aufl. München: C. H. Beck.

Die Autorin:

Dr. Barbara Senckel

Dipl. Psych., Psychotherapeutin, Supervisorin, freiberufliche Dozentin,Autorin von Fachliteratur zur geistigenBehinderung, Begründerin der Entwick-lungsfreundlichen Beziehung nach Dr. Senckel®

[email protected]

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INFOTHEKTeilhabe 2/2015, Jg. 54

INFOTHEK

Welche Chancen haben Menschenmit Behinderungen, am gesell-

schaftlichen Leben teilzuhaben? Wiekönnen ihre Teilhabechancen im Sinneder UN-Behindertenrechtskonvention er-weitert werden? Zu diesen Fragen liegenkaum gesicherte Erkenntnisse und aus-sagekräftige Daten vor. Ziel des bundes-weiten „Aktionsbündnis Teilhabefor-schung“ ist es, Forschungsaktivitäten zuden Lebenslagen von Menschen mitBehinderungen zu stärken.

Das Aktionsbündnis will eine inter-disziplinäre Teilhabeforschung profilie-ren, welche die Verwirklichung derSelbstbestimmung, Teilhabe und Parti-zipation von Menschen mit Behinderungin den Blick nimmt. Dazu soll ein For-schungsprogramm „Teilhabeforschung“initiiert werden, das systematische Er-kenntnisse über Maßnahmen und Stra-tegien zur Verbesserung der Teilhabebeeinträchtigter Menschen liefert.

Das Aktionsbündnis Teilhabefor-schung wird am 12. Juni 2015 in Berlingegründet. Zur Auftaktveranstaltung

eingeladen sind Wissenschaftler(innen),Menschen mit Behinderungen, Fachge-sellschaften, Institute und andere Zu-sammenschlüsse, die mit ihrer Experti-se und ihrem besonderen Fokus dieIdee der Teilhabeforschung vorantrei-ben möchten. Das Aktionsbündnis solleine Plattform für einen offenen Dialogund für gemeinsame Aktivitäten bieten.

Initiatoren sind die Deutsche Verei-nigung für Rehabilitation (DVfR), dieDeutsche Gesellschaft für Rehabilitati-onswissenschaften (DGRW), die Fach-verbände für Menschen mit Behinde-rung, der Deutsche Behindertenrat unddie Arbeitsgemeinschaft Disability Stu-dies in Deutschland.

Weitere Informationen und Kontakt:

Einladung, Programm der Auftakt-veranstaltung sowie Gründungserklärungund Statut des Aktionsbündnisses könnenangefragt werden bei

Dr. Rolf Buschmann-Steinhage

[email protected]

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Auftaktveranstaltung Aktionsbündnis Teilhabeforschung

Für Menschen jeden Alters kann Teil-habe im Alltag ganz selbstverständ-

lich ein Teil ihres Lebens sein. Der Filmvon Antonio Lenzen (FilmakademieBaden-Württemberg) im Auftrag derBundesvereinigung Lebenshilfe und derPädagogischen Hochschule Heidelbergzeigt Beispiele gelebter Inklusion, in de-nen das gemeinsame Spielen, Lernen,Wohnen, Arbeiten und Kultur gestaltenund erleben gelingt. Die beteiligten Per-sonen berichten über ihre Erfahrungen,erlebte Herausforderungen und Wünsche.

Am 15. Oktober 2014 wurde der Filmin seiner vollen Länge in Heidelberguraufgeführt anlässlich einer Veranstal-tung der PH. Zu dieser Premiere warenetwa 200 Gäste eingeladen worden.

Mit der Veröffentlichung auf demBVLH-YouTube-Kanal ist der Film einembreiten Publikum zugänglich. Das An-gebot auf YouTube ist kostenfrei. Be-

trachter der Beiträge können die Filmeüber YouTube weiterempfehlen sowieauch kommentieren. Eines der langfris-tigen Kommunikationsziele des Film-projekts ist, dass die Episoden aus„Hindert dich was?“ den Dialog überInklusion verstärken und gleichzeitigpraktische Beispiele für die Lehre undAufklärung offerieren.

Weitere Informationen und Kontakt:

Die kurzen Themenfilme sind abrufbar unter:

www.youtube.com/channel/UCFZIgVN4tpspnZCsS7xsCJg

Darüber hinaus ist der Film auch auf DVD gegen eine Schutzgebühr von 15,– €über den Vertrieb der BVLH erhältlich.

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Film: Hindert dich was?Inklusion als Aufgabe

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INFOTHEK Teilhabe 2/2015, Jg. 54

Inklusion als Idee ist ein individual-und sozialethisch begründetes päda-gogisches und soziales Leitkonzept, dasauf der Wertschätzung der Vielfalt men-schlichen Seins beruht. In dem Konzeptwird einerseits die Existenz von Sonder-institutionen problematisiert, anderer-seits wird darin die Überwindung vonEtikettierungen, Stigmatisierungen undBenachteiligungen durch strukturelleund konzeptionelle Veränderungen fest-gehalten. Das angestrebte Ziel ist es,allen Menschen unabhängig von ihrenindividuellen Voraussetzungen einengleichberechtigten Zugang zu den re-gulären Institutionen der Gesellschaftsowie Teilhabe an allen Lebensberei-chen zu ermöglichen.

Inklusion als Idee beinhaltet auch,fundamentale Werthaltungen zu prüfenund in Richtung einer tatsächlichen

Wertschätzung von Vielfalt zu verändern.Die so verstandene Inklusion ist eineIdealvorstellung, die stets nur in unter-schiedlichen Graden der Annäherungrealisiert werden kann.

Zentral für die Idee der Inklusion istihre Unteilbarkeit. Demnach gibt es kei-ne Grenzen der Inklusion, die durchindividuelle Eigenschaften, Dispositio-nen oder Merkmale begründet werdenkönnen. Das bedeutet: Inklusion schließtdie Vorstellung aus, es gebe Individuen,die nicht ‚inkludierbar‘ sind (der soge-nannte ‚harte Kern‘).

Obwohl das dargelegte Verständnisvon Inklusion umfassend auf alle Men-schen bezogen ist, hat das Departmentaufgrund seiner disziplinären Ausrich-tung insbesondere den Personenkreisvon Menschen mit Behinderungen im

Positionspapier Inklusion und Behinderung – Exzerpt

Blick. Im Hintergrund der nachfolgenddargelegten Aspekte steht ein ‚relationa-les Modell‘ von Behinderung. Der Be-griff der Behinderung meint keine Eigen-schaft von Individuen mit spezifischenStörungen oder Beeinträchtigungen. Viel-mehr muss der Mensch immer in einemsozialen und gesellschaftlichen Kontextgesehen werden, aus dessen Eigenschaf-ten der Sachverhalt hervorgeht, der alsBehinderung bezeichnet wird.

Das vollständige Positionspapier fin-den Sie im Internet.

Kontakt:

Prof. Dr. Markus Dederich

Universität zu Köln, Humanwissenschaft-liche Fakultät, Departmentleitung Heilpädagogik, Frangenheimstrasse 4,50931 Köln, Telefon: 0221/470 5779, Fax: 0221/470 5953

[email protected]

www.hf.uni-koeln.de/data/main/File/DP%20Heilpaedagogik/015_Inklusion_Positionspapier_xs.pdf

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Menschen mit hohem Unterstüt-zungsbedarf werden auch heute

oft noch in erster Linie über ihre Hilfs-bedürftigkeit wahrgenommen. Auf-grund ihrer Behinderung werden ihnenhäufig das Recht und die Fähigkeit zurberuflichen Bildung und Teilhabe amArbeitsleben abgesprochen. Die UN-Behindertenrechtskonvention schreibtjedoch das Recht auf Bildung (Art. 24)und auf den Zugang zur Arbeit (Art. 27)für alle Menschen mit Behinderung fest– und das unabhängig von Art undSchwere der Behinderung.

Eine arbeitsweltbezogene Orientie-rung nach der Schulzeit findet für diesenPersonenkreis nicht verbindlich statt.Ohne eine weitere Bedarfsfeststellungwerden sie oftmals auf Angebote derTagesförderung (gemäß §§ 53 und 54SGB XII) verwiesen. Somit wird der Per-sonenkreis in der Regel nicht nur vomallgemeinen Arbeitsmarkt, sondern (mitAusnahme von Nordrhein-Westfalen)auch von der Teilhabe am Arbeitslebenin Werkstätten für behinderte Menschen(WfbM) ausgeschlossen. Dies stellt denTatbestand der Diskriminierung dar. Die-

ser Missstand wird seit Jahren von Wis-senschaft und Verbänden kritisiert. DerRechtsanspruch auf arbeitsweltbezogeneBildung und Teilhabe am Arbeitslebenmuss für alle Menschen mit Behinderungsichergestellt werden – unabhängig vonArt und Schwere der Behinderung.

Trotz fehlender gesetzlicher Regelun-gen haben sich vor allem im Bereich der Tagesförderung eine Vielzahl unter-schiedlicher Arbeitsangeboten entwi-ckelt (vgl. TERFLOTH, LAMERS 2011).Die Qualität der Teilhabemöglichkeitenist dabei stark von Angeboten, Konzep-ten und Ressourcen der Einrichtungenabhängig. Ferner fehlen derzeit nochbundesweit einheitliche Standards, wel-che Arbeit für diesen Personenkreis defi-nieren und Bildungs- und Arbeitsange-bote miteinander vergleichbar machen.

Mit der verbändeübergreifenden Film-Kampagne „Arbeit möglich machen! –Teilhabe am Arbeitsleben von Menschenmit schwerer und mehrfacher Behinde-rung“ wird gezeigt, dass arbeitsweltbezo-gene Bildung und Teilhabe am Arbeits-leben auch für Menschen mit hohem

Arbeit möglich machen!Filmkampagne für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf

Unterstützungsbedarf möglich ist. Indrei Filmen werden insgesamt neun Bei-spiele aus der Praxis vorgestellt. Dabeihandelt es sich überwiegend um Arbeits-angebote im Rahmen der Tagesförde-rung sowie aus nordrhein-westfälischenWerkstätten. Mit der Filmkampagne sollvor allem die Fachpraxis für das Themasensibilisiert werden, um schließlichmehr Bildungs- und Arbeitsangebote fürdiesen Personenkreis zu schaffen.

LITERATUR

TERFLOTH, Karin; LAMERS, Wolfgang(2011): Berufliche Bildung für alle – außerfür Menschen mit schwerer und mehrfacherBehinderung? In: Teilhabe (2) 50, 69–75.

Informationen zum Film:

Der Film ist frei zugänglich und kann fürVeranstaltungen und Weiterbildungengenutzt werden

www.youtube.com/c/LebenshilfeDeBV

Kontakt und weitere Informationen:

Andrea Hennig

Referentin für Arbeit, BVLH, Telefon: 030/2064 11 129

[email protected]

www.lebenshilfe.de → Themen Recht → Arbeit

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INFOTHEKTeilhabe 2/2015, Jg. 54

ISAAC – Gesellschaft für UnterstützteKommunikation e. V. vergibt allezwei Jahre einen Förderpreis für diebeste wissenschaftliche Nachwuchsar-beit. Auch in diesem Jahr soll auf derISAAC-Fachtagung vom 24.–26. Sep-tember in Dortmund die beste Nach-wuchsarbeit geehrt werden.

Herausragende Abschlussarbeiten(Bachelor, Master, Diplom, Examenusw.) zum Thema Unterstützte Kommu-nikation können eingereicht werden.

Nicht zugelassen sind Dissertationenoder Habilitationsschriften. Der Preis istmit 250 Euro dotiert und soll die poten-ziellen Kandidat(innen) zu weiteren wis-senschaftlichen Forschungen im BereichUnterstützte Kommunikation motivieren.

Folgende Unterlagen sind einzurei-chen:

> 1 Exemplar (oder Datei) der he-rausragenden Abschlussarbeit zurUnterstützten Kommunikation (Zeit-

ISAAC-Forschungspreis für Unterstützte Kommunikation 2015

raum des Abschlusses der Arbeit:Mai 2013 – April 2015)

> Mindestens ein, gerne auch zweiGutachten zur Arbeit

Einsendeschluss: 01. Juni 2015

Kontakt:

Prof. Dr. Jens Boenisch

Universität zu Köln, Pädagogik für Menschen mit Beeinträchtigungen der körperlichen und motorischen Entwick-lung & Forschungs- und Beratungszen-trum für Unterstützte Kommunikation,Klosterstr. 79 b, 50931 Köln, Telefon: 0221/470 5524, Fax: 0221/470 2158

[email protected]

www.fbz-uk.uni-koeln.de

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Die Stiftung Solidarität bei Arbeits-losigkeit und Armut hat den dies-

jährigen Regine-Hildebrandt-Preis 2015an die Kulturloge Berlin und an dasProjekt „Max geht in die Oper“ der Bür-gerstiftung Halle vergeben. Am 17. April2015 Uhr wurde der im Bielefelder Rat-haus an die Preisträger verliehen.

Andreas Dobrowohl, erster Vorsit-zender des Kulturloge Berlin – Schlüs-sel zur Kultur e. V. und Angela Meyen-burg, Gründerin und Geschäftsführerinder Kulturloge Berlin nahmen den Preispersönlich entgegen. Der Regine-Hilde-

brandt-Preis steht 2015 unter dem Mot-to der Teilhabe von Menschen mit ge-ringem Einkommen am kulturellen Le-ben. Die Auszeichnung wird seit 1997jährlich von der Stiftung Solidarität beiArbeitslosigkeit und Armut an gemein-nützige Organisationen und Projektevergeben, die sich in herausragenderWeise für die soziale Teilhabe von Men-schen in Arbeitslosigkeit und Armutengagieren.

DIE KULTURLOGE BERLIN ver-mittelt freie Kulturplätze kostenlos anMenschen mit geringem Einkommen,

Kulturloge Berlin erhält Regine-Hildebrandt-Preis 2015

die sich einen Kulturbesuch nicht leis-ten können. 2010 gründete Meyenburgdie Kulturloge, um einen Beitrag zurFörderung kultureller Teilhabe und so-zialer Inklusion zu leisten. Die Ergeb-nisse einer Nutzerbefragung zur Arbeitder Kulturloge Berlin von Prof. Dr.Monika Seifert wurden in der Teilhabe4/2014 veröffentlicht.

Kontakt:

Miriam Kremer

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Kultur-loge Berlin – Schlüssel zur Kultur e.V., c/o Stadtteilverein Tiergarten e.V.,Kluckstr. 11, 10785 Berlin, Telefon: 030/447 288 27/28

[email protected]

www.kulturloge-berlin.de

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BUCHBESPRECHUNGEN

Dagmar Hänsel

Sonderschulausbildung im Nationalsozialismus2014, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. 279 Seiten. 19,90 €. ISBN 978-3-7815-1990-9

und Prüfungsordnung für Hilfsschul-lehrer“ arbeitete.

Die sonderpädagogische Geschichts-schreibung über die Rolle der Hilfs-schule im Nationalsozialismus, derenWahrheitsgehalt führende Vertreter dersonderpädagogischen Disziplin selbstin unserer Zeit nicht in Frage stellen,wird von Hänsel als Mythenbildung zurVertuschung der tatsächlichen Verhält-nisse entlarvt. Bis heute verbreitet dieSonderpädagogik, das Naziregime habedie Hilfsschule und die Sonderpädago-gik diskriminiert, an der Zerschlagungdes Hilfsschulwesens gearbeitet und dieAusbildungslehrgänge für Hilfsschul-lehrer verboten. Fast 70 Jahre nach demEnde der Naziherrschaft ist die Sonder-pädagogik noch immer nicht in derLage, für lücken- und schonungsloseSelbstaufklärung zu sorgen.

Im besten Einvernehmen mit dernationalsozialistischen Rassenpolitik

„Ich bin der Überzeugung, daß einesinnvolle Durchführung des Gesetzes‚Zur Verhütung erbkranken Nachwuch-ses‘ ohne weitgehende zielbewußte Mit-arbeit aller Gruppen der Heilerziehergarnicht möglich ist, und habe darumwiederholt die Einrichtung einer eige-nen Fachschaft für Heilerziehung (Son-derschulen) beantragt.“ Dieses Zitat hatHänsel einem Brief entnommen, den derHilfsschulrektor Martin Breitenbarthan den Reichswalter des Nationalsozia-listischen Lehrerbunds (NSLB) 1933schrieb. Breitenbarth war vom Hilfs-schulverband offiziell mit der Überfüh-rung des Verbands in den NSLB unmit-telbar nach der Machtergreifung Hitlersbeauftragt worden. Dieses Zitat lässtkeinen Zweifel daran aufkommen, dassder Hilfsschulverband gewillt war, sichvorbehaltlos in den Dienst der national-sozialistischen Rassenpolitik zu stellen.Und es wird auch deutlich, dass sich andieses Angebot Erwartungen im Sinneeines Gebens und Nehmens knüpften.

Hänsel belegt mit Hilfe auch bisherunveröffentlichter Quellen die Überein-stimmung des Verbands mit der NS-

In ihrer jüngsten Buchveröffentlichungkonfrontiert Dagmar Hänsel ihre Leser(innen) mit der unverfälschtenGeschichte der Sonderpädagogik inDeutschland, für die der Hilfsschulver-band prägend war. Die Wissenschaftle-rin zeichnet ein konturenscharfes undgleichzeitig detailliertes Bild von densonderpädagogischen Vorstellungen undForderungen des Verbands, der sich –mit der Hilfsschule und der Hilfsschul-pädagogik im Zentrum – immer auchals Akteur für eine übergreifende Heil-und Sonderpädagogik verstand. Dabeiwird eine bruchlose Entwicklungslinieder Sonderpädagogik von ihren Anfän-gen am Ausgang des 19. Jahrhundertsin die Zeit der Weimarer Republik hi-nein sowie während und nach der Zeitdes Nationalsozialismus sichtbar, dieZusammenhänge bis in die Gegenwartaufweist. Mit Hilfe einer beeindrucken-den Recherche, einer sorgfältigen Sich-tung und wissenschaftlichen Auswer-tung von unveröffentlichten und veröf-fentlichten Dokumenten ist es Hän-sel gelungen, die sonderpädagogischen„Kontinuitäten“ freizulegen und mitaussagekräftigen Zitaten überzeugendund anschaulich zu untermauern.

Ihr besonderes Augenmerk gilt durch-gängig der Sonderschullehrerausbildung.Daran kann sie zeigen, wie durch kon-tinuierliche, zielstrebige Bemühungendes Verbands etappenweise Fortschrit-te auf dem Weg zu einer grundständigenwissenschaftlichen Ausbildung für Son-derpädagog(inn)en an Universitäten ge-macht wurden, bis dieses Ziel ab den1960er Jahren in den Bundesländernerreicht wurde. Für ein Verbot der Hilfs-schullehrerausbildung unter der NS-Herrschaft, wie die sonderpädagogischeGeschichtsschreibung behauptet, gibt eskeine Belege. Hänsel kann im Gegen-teil den Nachweis erbringen, dass manim Reichsministerium für Wissenschaft,Erziehung und Volksbildung von derNotwendigkeit der Hilfsschule über-zeugt war, ihre Zukunft auch nicht durchdie Umsetzung des „Erbgesundheitsge-setzes“ in Frage stellte und tatkräftig andem Ausbau der Ausbildungsgänge imKontext des Entwurfs zur „Ausbildungs-

Politik und die enge und vertrauensvolleZusammenarbeit mit dem System undseinen zuständigen Organen. Sie weistnach, wie sich diese Zusammenarbeitauf der Reichsebene und auf regionalerEbene vollzog und für den Hilfsschul-verband positiv auswirkte. Als Fazitvon Hänsels Untersuchung ist festzu-halten: Der Hilfsschulverband war keinwillfähriger Helfer des NS-Regimes, derwillen- und gedankenlos mitmachte. Erwurde auch nicht durch Druck zumMitmachen gezwungen, sondern waraktiver Unterstützer und Profiteur derNS-Politik. Der Hilfsschulverband gabseine ungeteilte Zustimmung zu derrassenhygienischen Politik der Natio-nalsozialisten und kommunizierte seinePositionen verbandsöffentlich. In Denk-schriften der „Reichsfachschaft Sonder-schulen“ wurde die besondere Aufgabeund Unentbehrlichkeit der Hilfsschuleals „bestes Sammelbecken“ für die wir-kungsvolle Umsetzung der Rassenpoli-tik herausgestellt.

Der Verband machte Verbesserungs-vorschläge für die Durchführung des„Erbgesundheitsgesetzes“ von 1933. Erunterstützte das „Reichsschulpflichtge-setz“ von 1938, mit dem der Besuch derHilfsschule und anderer Sonderschulenfür „Kinder, die wegen geistiger Schwä-che oder wegen körperlicher Mängel derVolksschule nicht oder nicht mit ge-nügendem Erfolg zu folgen vermögen“reichsweit gesetzlich verpflichtend ge-macht wurde. Er beeinflusste entschei-dend über enge persönliche Kontaktezu Referenten im zuständigen Reichs-ministerium Erlasse und Anordnungen.

Der 1941 erstellte Referentenentwurfeiner „Ausbildungs- und Prüfungsord-nung für Hilfsschullehrer“ trug nach-weislich die Handschrift von Karl Tor-now, Hauptschriftleiter des Fachschafts-organs „Die deutsche Sonderschule“,Provinzialschulrat in Berlin und Be-rater des zuständigen Referenten imReichsministerium für Wissenschaft,Erziehung und Volksbildung. Nebender Vereinheitlichung der Hilfsschul-lehrerausbildung war vorgesehen, dieTätigkeit der Hilfsschullehrer an eineformelle wissenschaftliche Ausbildungzu binden. „Damit war der entscheiden-de Schritt getan, um die Hilfsschullehreraus der Berufsgruppe der Volksschul-lehrer herauszulösen und eine eigen-ständige sonderpädagogische Berufsgrup-pe zu etablieren“, stellt Hänsel heraus.

Rassenhygienische Begründung derHilfsschulpädagogik als Wegbereiter

Die Hilfsschulpädagogik, die der 1898gegründete „Verband der HilfsschulenDeutschlands“ entwarf, beruhte aus-

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INFOTHEKBuchbesprechungen

Teilhabe 2/2015, Jg. 54

schließlich auf rassenhygienischen Be-gründungen. Wie Hänsel zeigt, ging dieHilfsschulpädagogik nicht von der Bild-samkeit aller Menschen aus. Sie bliebsomit hinter den Vorstellungen zurück,die die allgemeine Pädagogik schonentwickelt hatte. Sie unterteilte Men-schen in Bildungsfähige, Noch-Bil-dungsfähige und Nicht-Bildungsfähige.Die Noch-Bildungsfähigen wurden als„schwachsinnig“ bezeichnet und galtenzu einem großen Teil als „erbgeschädigt“.Diese aus den Volksschulen zu selek-tieren und von den „gesunden“ Volks-schülern ebenso abzutrennen wie vonden „Blödsinnigen“, denen keine Bil-dung, sondern nur noch Pflege undDressur in „Idiotenanstalten“ zustand,darin sah der Hilfsschulverband nebender ökonomischen „Brauchbarmachung“dieser Kinder für die Gesellschaft undder Entlastung der Volksschullehrer dieanspruchsvolle sonderpädagogischeKompetenz der Hilfsschullehrer inAbgrenzung zu den Volksschullehrern.Die reale Armut der Hilfsschulkinderwurde ignoriert und die Armutsfolgen,unter denen sie litten, wurden patholo-gisiert. Auf dieser Basis begründete derHilfsschulverband den Anspruch aufeine eigenständige Hilfsschule und dieForderung nach einer gesonderten Leh-rerausbildung für Sonderpädagogen.Im Blick war dabei immer auch einehöhere Statusanerkennung und bessereBesoldung als die der Volksschullehrer-schaft, aus denen sich die Hilfsschul-lehrer rekrutierten.

Die sonderpädagogische Geschichts-schreibung, die der Sonderpädagogikdie Entdeckung der Bildsamkeit allerKinder zuschreibt und in der Hilfsschul-pädagogik die Verfechterin des Rechtsauf Bildung auch für diejenigen sieht,die die Volksschule verstoßen hatte,wird durch Hänsel widerlegt. Schließ-lich war es gerade der Hilfsschulverband,der gegen Proteste von Volksschulleh-rern und Eltern forderte, dass der Ein-tritt in die Hilfsschule nicht dem Eltern-willen überlassen werden dürfe, son-dern gesetzlich geregelt werden müsse.Im Nationalsozialismus wurde dieseVerbandsforderung dann realisiert. DieVolksschulrektoren wurden verpflich-tet, alle Kinder, die während der erstendrei Jahre in zweijährigen Rückstand zugeraten drohten, für die Überprüfungzur Hilfsschule zu melden. Abweichun-gen von dieser Regel mussten ausführ-lich begründet werden.

Das heil- und sonderpädagogischeAusbildungskonzept nahm in den 1920erJahren Gestalt an. Es war fokussiert auf„die Besonderung der heilpädagogischenAusbildung und damit ihre zeitliche,institutionelle und inhaltliche Trennung

von der allgemeinen Lehrerausbildungund auf die Eingliederung der Heil- undSonderpädagogik in die Universität“,wie Hänsel zeigen kann. Ungeachtet dereindeutig rassenhygienischen Bezüge inder Ausbildungskonzeption wird dieseZeit vor dem Nationalsozialismus auchheute noch von renommierten Vertre-ter(inne)n der sonderpädagogischenDisziplin als „Hochblüte“ der Sonder-pädagogik gefeiert. In der Begründungder Hochschultauglichkeit der Heilpä-dagogik sei ein „Durchbruch“ für diesonderpädagogische Lehrerausbildungerzielt worden.

„Kontinuitäten“ nach 1945

In Hamburg trat die „Prüfungsordnung“zusammen mit der „Ausbildungsord-nung für das Lehramt an Hilfsschulen“am 14. April 1948 in Kraft. Hänsel hatdiese Ordnungen mit dem Entwurf derreichsweiten „Ausbildungs- und Prü-fungsordnung für Hilfsschullehrer“ von1941 verglichen und unverkennbareÜbereinstimmungen festgestellt. Zwarwaren die unmittelbaren Bezüge auf dienationalsozialistische Rassenideologieund die bevölkerungspolitischen Maß-nahmen entfallen, aber die Diagnostikvon „Anomalien“ und „Schwachsinn“stand weiterhin im Zentrum der son-derpädagogischen Ausbildung. Die imNationalsozialismus vorgenommene Er-weiterung des Inhaltskatalogs veränder-te das sonderpädagogische Ausbildungs-konzept nicht grundsätzlich, „so dassdie im Nationalsozialismus neu hinzu-gekommenen Inhalte nach der NS-Zeitwie eine Schlangenhaut abgestreift wer-den konnten“, betont Hänsel. Auch die„Prüfungsordnung für das Lehramt anHilfsschulen“, die in Niedersachsen am28. Februar 1950 erlassen wurde, zeigtegroße Übereinstimmung mit den Vorga-ben im Nationalsozialismus, wie Hänselherausstellt. „Vertraut sein mit der Eigen-art des kindlichen Schwachsinns“, wardarin als eine Anforderung an die Be-werber(innen) für das Lehramt anHilfsschulen formuliert worden.

In Hannover gelang es erstmals, einselbstständiges, von der allgemeinen Pä-dagogik losgelöstes heilpädagogischesInstitut an einer Pädagogischen Hoch-schule einzurichten und damit eine Pro-fessur für Heilpädagogik zu begründen.„Auch wenn das heilpädagogische Ins-titut an der Pädagogischen Hochschulegegenüber einem heilpädagogischenInstitut an der Universität für den Ver-band zweite Wahl war, erwies es sichdoch für die Entwicklung als zukunfts-trächtiges Modell und das heilpädago-gische Institut in Hannover als Musterfür die heilpädagogischen Institute, diein der Folgezeit in den verschiedenen

Ländern der Bundesrepublik entstan-den“, urteilt Hänsel.

Zudem kann Hänsel die Bedeutungder personellen Kontinuität u. a. an derAusrichtung des 1949 neu gegründeten„Verbands Deutscher Hilfsschulen“aufzeigen, in dem ehemalige Mitglieder,wie auch der Vorsitzende, weiterhintätig waren und so aktiv in die Überlie-ferung des Hilfsschulwesens währendder NS-Zeit eingreifen konnten.

Mit konkreten Hinweisen auf diePositionierungen von Ulrich Bleidickund Sieglind Ellger-Rüttgardt zur Ge-schichte der Sonderpädagogik im Natio-nalsozialismus verweist Hänsel auf dieungebrochene „Kontinuität“ der sonder-pädagogischen Geschichtsschreibungbis heute.

Zusammenhänge und Fragen

Anstelle von konkreten Forderungenihrerseits gibt uns die Wissenschaftlerinin dem letzten Abschnitt ihres Buchesunter dem Titel „Zusammenhänge“ ehereiniges zum Nachdenken auf. Rückbli-ckend fasst sie noch einmal die Gewin-ne für die Sonderpädagogik unter denideologischen Vorgaben des National-sozialismus zusammen, um dann denBlick auf die Gegenwart zu lenken, diebildungspolitisch durch die Inklusionbestimmt wird.

Sollte es uns nachdenklich machen,dass die Sonderpädagogik – zwar untervöllig anderen politischen Vorzeichen –heute wieder eine bedeutende Rolle imbildungspolitischen Geschehen ein-nimmt? Damals wuchs unter dem Na-tionalsozialismus mit dem Gesetz „ZurVerhütung erbkranken Nachwuchses“die Bedeutung der Hilfsschullehrer,während heute die Bedeutung der Son-derpädagogen mit der Umsetzung derUN-Behindertenrechtskonvention inSchulen zunimmt. Mit dem Bedeutungs-zuwachs wuchs unter der politischenVorgabe der verschärften Selektion mitHilfe der Hilfsschullehrer auch die Zahlder „schwachsinnigen“ Hilfsschulkinder,heute steigt mit Hilfe der Sonderpä-dagogen unter der politischen Vorgabeder Inklusion die Zahl der Kinder mitLern-und Entwicklungsproblemen, dievon der Sonderpädagogik als „behin-dert“ behauptet werden.

Was zeichnet die Sonderpädagogikheute als eigenständige Wissenschafts-disziplin aus? Worin besteht ihre son-derpädagogische Kompetenz, die heutefür unverzichtbar gehalten wird und diedie Politik dazu veranlasst, die Sonder-schullehrerbildung massiv auszubauen?

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INFOTHEK Teilhabe 2/2015, Jg. 54Buchbesprechungen

Gibt nicht die Sonderpädagogikheute wie die Hilfsschulpädagogik da-mals vor, die „besonderen“ Kinder mitihrer Diagnostik trennscharf von den„anderen“ identifizieren zu können, umsich mit ihrer Zuständigkeit für diese

Kinder den allgemeinen Pädagogen alsEntlastung anzubieten? Werden nichtdamals wie heute die diagnostizierten,wenn auch mit einer unterschiedlichenTerminologie bezeichneten Kinder stig-matisiert und sind es nicht damals wie

heute fast ausschließlich Kinder in Ar-mut, für die die Sonderpädagogik ihreZuständigkeit reklamiert?

Dr. Brigitte Schumann, Essen

Heinrich Greving, Ulrich Scheibner (Hg.)

Die Werkstattkonzeption: Jetzt umdenken und umgestalten.Rückblick, Bilanz und Vorschläge für grundlegende Reformen

2014. Berlin: bhp. 190 Seiten. 15,00 €. ISBN 978-3-942484-13-8

ren – über Jahre hinweg letztlich zueiner Zersetzung der Konzeption führ-ten. Der kritische Blick der Autorenverhilft besonders in dieser gründlichenAnalyse zum Einnehmen einer eigenenBeobachtungsposition auf der Grund-lage von Fakten und Hintergrundinfor-mationen. Und sie entlarven mit Bei-spielen Werkstätten, die aus ihrer Sichteiner negativ konnotierten Subkulturzuzuordnen sind. Schließlich zeigen sieauf, wie falsche Botschaften und Men-schenbilder – gerade auch auf Leitungs-ebene – kontraproduktiv für Reform-versuche in der Werkstätten-Landschaftsind. All das verknüpfen sie mit dergesetzlichen Realität, die an dem Ge-setz zum UNO-Übereinkommen überdie Rechte behinderter Menschen zumessen ist. Im Kontext dieses Gesetzesund der sog. ICF setzen sich die Autorenferner konfrontativ mit Erfordernissenund Vernachlässigungen in der pädago-gisch-heilpädagogischen Professionali-sierung der Werkstätten auseinander.Nicht zuletzt wird hier deutlich, dassdas Buch in einem Verlag erscheint, derThemen grundsätzlich auf heilpädago-gische Fragestellungen ausrichtet. Gre-ving und Scheibner unterstreichen da-bei das erforderliche heilpädagogischeFundament, um letztlich Prozesse derIndividualisierung, Liberalisierung undGlobalisierung erfolgreich gestalten zukönnen.

In einem weiteren Beitrag fordertRainer Knapp eine Weiterentwicklungder Werkstätten, indem er konkrete Vor-schläge unterbreitet und diese vor allemvor dem Hintergrund von Menschen-rechten und Veränderungsmanagementsowie Transparenz skizziert. Besondersstellt er dabei die Finanzierung derWfbM im Zusammenhang mit dem Per-

Wer die Herausgeber und Autorendieses Buches kennt, knüpft sei-

ne Erwartungen beim Lesen vermutlichvor allem auf das im Untertitel verwen-dete Wort „Vorschläge“. Dass diese for-muliert sind, stellt sich rasch beim ers-ten Blättern heraus. Dass sie besonders,aber auch fundiert und im historischenKontext unterbreitet werden, erschließtsich beim systematischen Erarbeitender einzelnen Beiträge.

Es geht in diesem handlichen Buchbesonders um konzeptionelle und recht-liche Aspekte zum Arbeitsfeld „Werk-stätten für behinderte Menschen“(WfbM). Schon der Titel mutet dabeimit seinem Aufforderungscharakter fastwie das Grundsatzprogramm einer po-litischen Partei oder eines Lobby-Ver-bands an. Empfehlungen, Vorschläge,Grundüberlegungen und Thesen sindBegriffe und inhaltliche Botschaftenund gleichzeitig Strukturelemente imvorliegenden Band, in dem sich Exper-ten rückblickend, analysierend und vo-rausschauend mit Veränderungsprozes-sen der WfbM auseinandersetzen.

Fast die Hälfte des Buches füllen diebeiden Herausgeber und Autoren mitdem ersten inhaltlichen Kapitel, in demsie das Thema Werkstattkonzeption auf-greifen. Dabei werfen sie einen tieferen„Blick auf die Entstehung der Werk-stattkonzeptionen, die offensichtlichenKonstruktionsfehler in der staatlichenKonzeption und im Werkstattrecht“ (S. 14). Vom „Blick“ zum geschriebe-nen Wort – und dabei nehmen HeinrichGreving und Ulrich Scheibner keinBlatt vor den Mund. Sie sezieren histo-rische Entwicklungen in ihrer Verqui-ckung zu politischen und Kostenent-scheidungen, die – so die beiden Auto-

sönlichen Budget und die Professiona-lisierung des Fachpersonals heraus.

Das leidige Thema Arbeitsentgeltegreift das Autorengespann BernhardSackarendt und Ulrich Scheibner auf.Das Thema beschreiben sie in einemersten Schritt als „die Geschichte einerErfolglosigkeit“, um dann die aktuelleDiskussion in den Kontext des Min-destlohns zu stellen.

Im letzten klassischen Textbeitragformulieren Greving, Knapp, Sackarendtund Scheibner gemeinsam „Vorschlägezur Novellierung des Grundgesetzes(GG) und des werkstattrelevanten Rechtsim SGB IX“. Auf 16 Seiten gehen sievon einer neuen Bezeichnung aus: Werk-stätten zur Teilhabe am Arbeitsleben(WTA). Sie zeigen darin sehr dezidiertinsgesamt 22 Konsequenzen für dasGG und das SGB IX auf, die sie nichtals konkrete Änderungsformulierungenabfassen, sondern als grundsätzlicheAnregungen für Strukturveränderungenim Werkstattbereich verstanden wissenwollen. Konkrete Textvorschläge für ge-setzliche Änderungen liefern sie anschlie-ßend auf weiteren über vierzig Seiten –in einer üblichen Gegenüberstellung von„gültigen“ Gesetzestexten“ und „Neu-fassung“.

Durch die Buchveröffentlichung wirein Thema breit und transparent ge-streut, das in der Vergangenheit teilweisenur in engen Fachkreisen diskutiert undpubliziert wurde. Der systematischenAufarbeitung und den damit verbunde-nen inhaltlichen Botschaften durch dieHerausgeber und Autoren ist daher be-sonders zu danken. Ob aus den Gedan-ken und Hinweisen dann letztlich auchein politisch wirksames Dokument wird,bleibt abzuwarten.

Dr. Werner Schlummer, Schwäbisch Gmünd

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INFOTHEKBuchbesprechungen

Teilhabe 2/2015, Jg. 54

Vera Bernard-Opitz

Visuelle Methoden in der Autismus-spezifischen Verhaltenstherapie (AVT)Das „Cartoon und Skript-Curriculum“ zum Training von Sozialverhalten und Kommunikation.

2014. Stuttgart: Kohlhammer. 178 Seiten. 49,99 €. ISBN 978-3-17-022312-7

Cartoons. Am Seitenrand werden diejeweiligen Langzeitziele und Kurzzeit-ziele benannt, eine Farbstruktur unter-stützt die Orientierung. Die Materialiensind so aufbereitet, dass sie als Kopier-vorlagen dienen. Sie regen an, eigeneIdeen zu entwickeln.

Das Buch endet mit Schlussbemer-kungen und einem Literaturverzeichnis.

Diskussion

Vera Bernard-Opitz hat gemeinsam mitihrer Tochter, welche die Cartoons ge-zeichnet hat, ein praxisnahes Buch ver-fasst, das viele Beispiele für die Arbeitin Familie, Therapie oder Einrichtungvermittelt. Der theoretische Teil ist kurzund erklärt grundlegende Begriffe ausder AVT wie „diskretes Lernformat“, „na-türliches Lernformat“, „visuelles Lern-format“ und „kognitives Lernformat“.

Die Autorin kommt dann zu der Fra-ge, welche Methoden für welches Indi-viduum bzw. welches Ziel geeignet sindund verweist auf die notwendige indivi-duelle Anpassung an das jeweilige Kind.Für immens wichtig erachtet sie dieMotivation des Kindes zu Kommunika-tion und Sozialverhalten und hebt dieNotwendigkeit des Einsatzes von inter-nen oder externen Verstärkern hervor.

Den weitaus ausführlichsten Teilmacht das CSA-Curriculum aus („Car-toon und Skript Curriculum für Autis-mus“). Hier stellt die Autorin fünfBereiche vor, formuliert als sogenannteLangzeitziele:

1. Beliebt sein/nett sein/Freunde bekommen,

2. Gefühle erkennen und kontrollieren,3. sich selbst beurteilen und die Per-spektive der Anderen einnehmen,

4. flexibel sein: Fähigkeit, Gedankenund Handlungen der Situation anzupassen und

5. ein kompetenter Gesprächspartnersein.

Zu jedem dieser Langzeitziele schlägtsie zwei bis acht Kurzzeitziele vor, alsoeinzelne Verhaltensfähigkeiten, die ein

Freunde zu finden, ein kompetentererGesprächspartner zu sein, Flexibi-

lität zeigen zu können und sich besserin andere Menschen hinein versetzenzu können – das sind für Kinder mithochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störungen (Asperger Syndrom undHigh-Functioning-Autismus) Themen,die sie vor große Herausforderungenstellen. Bevor sie sich einem komplexenThema zuwenden, entmutigen sie erfah-rungsgemäß häufig, zweifeln an ihrenFähigkeiten.

Hier stellt die strukturierte AVT (Au-tismus-spezifische Verhaltenstherapie)mit ihrem Prinzip des Lernens in kleinenSchritten und der Orientierung an Er-folgen bzw. Belohnungen für das Erler-nen positiver Verhaltensweisen eine gro-ße Hilfe für die betroffenen Kinder dar.Sie lernen, einzelne Schritte zu bewälti-gen bzw. Kurzzeitziele zu erreichen, dieein positives Ganzes bewirken, das sogenannte „Langzeitziel“. AngemessenesSozialverhalten und kommunikativeFähigkeiten sind solche Langzeitziele,die dem Kind eine bessere Integrationin Familie, Kindergarten, Schule undPeer-Group ermöglichen und insofernGaranten für eine langfristige gesell-schaftliche Einbindung bedeuten.

Aufbau und Inhalt

Das Buch „Visuelle Methoden in derAVT“ ist im DIN A 4 Format als Softco-ver aufgelegt. Es gliedert sich auf 178Seiten in vier Kapitel.

1. Einleitung 2. Schwächen und Stärken von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen

3. Ein Spektrum von Therapiemetho-den für das Autismus-Spektrum:Autismus-spezifische Verhaltens-therapie (AVT)

4. Cartoon und Skript-Curriculum für Autismus

Der Text wird durch elektronischeMaterialien (Content PLUS) ergänzt.Nach der kurz gefassten Einführungfolgen Seiten mit Vorschlägen für Ar-beitseinheiten, visualisiert durch ca. 150

Gesamtziel erfüllen, wenn sie alle er-reicht wurden (Beispiel: flexibel handeln,Probleme angemessen lösen und abs-trakte Redewendungen verstehen führtzur Erreichung des Langzeitziels „Flexi-bilität“, d. h. Fähigkeiten, Handlungenund Gedanken einer Situation anpassenzu können). Die Bearbeitung beginntimmer mit einigen Cartoons, die soge-nannte „Ideen-Roboter“ darstellen. Hier-bei wird eine Situation mit zwei Verhal-tensalternativen visualisiert und einerGlühbirne, bei der das Kind zusätzlicheLösungen angeben kann. Anhand vonKontingenzmappen wird anschließendverdeutlicht, zu welchen Konsequen-zen positive und negative Verhaltensal-ternativen führen. Im Anschluss wirddas Gelernte durch eine Quiz-Abbildunggetestet. Um Generalisierung zu ermög-lichen, werden verschiedene Beispielein einem Fragebogen zum entsprechen-den Thema aufgezeigt. Vorschläge fürRollenspiele oder Videomodellierungfolgen, um die Übertragbarkeit in denAlltag zu gewährleisten. Jedes Kapitelschließt mit einer Tabelle, in der nocheinmal Spiele für die individuelle Über-tragbarkeit in den Alltag des betroffe-nen Kindes vorgeschlagen werden.

Das Buch überzeugt durch optimaleStruktur und Übersichtlichkeit. Es wer-den viele Beispiele vorgestellt, die fürdas jeweilige Kind angepasst werdensollen. Durch die Einfachheit der Zeich-nungen wird deutlich, dass es jedemmöglich sein kann, individuelle visuali-sierte Beispiele anzufertigen. Überhaupterscheint es wichtig, dieses Buch nichtals eine „Gebrauchsanweisung“ zu be-trachten, sondern als Anregung, eigeneIdeen zu entwickeln, sicherlich auchgemeinsam mit dem betroffenen Kindund dessen Bezugspersonen.

Eltern, Autismustherapeut(inn)en,Lehrer(innen) usw. können von der Ver-deutlichung profitieren, nicht als erstesein Langzeitziel zu entwickeln, das fürdas betroffene Kind vielleicht nicht er-reichbar und viel zu umfassend ist. Siesollen dem Kind vielmehr die Chancegeben, mit seinen individuellen Mög-lichkeiten kleine, überschaubare Zielezu erreichen, aus denen erst nach undnach ein großes Ziel werden kann undmuss.

Was für ein positives Gefühl für einbeeinträchtigtes Kind, wenn es Schrittfür Schritt merkt, was es schon erreichthat! So kann es für sich selbst registrie-ren, wie sich die zuvor problematischenVerhaltensweisen gewandelt haben,beispielsweise in die Fähigkeit, Inte-resse an anderen Menschen zu zeigen,warten zu können, Gegenseitigkeit undFürsorge entwickelt zu haben.

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Vera Bernard-Opitz weist in den Schluss-bemerkungen ausdrücklich nochmaldarauf hin, dass das vorliegende Curri-culum als Anregung und Strukturie-rungshilfe zu verstehen sei. Sie wünschtdem Leser Fantasie und Freude, dieIdeen aufzugreifen und sie individuellabzuwandeln.

Zusammenfassend kann man alsosagen, dass das Buch eine gute Anre-gung ist für Menschen, die praktischmit Kindern mit Autismus arbeiten unddazu bereit und in der Lage sind, sichihre eigenen Gedanken zu machen und

kreative Ideen für die Gestaltung vonZielen zu entwickeln. Ein hilfreichesund anschauliches Buch für die Praxis!

Christiane Arens-Wiebel, Bremen

Alheit, Peter; Page, Kate; Smilde, Rineke

Musik und Demenz 2015 Gießen: Psychosozial. 309 Seiten. 30,80 €

Biermann, Horst (Hg.)

Inklusion im Beruf 2015. Stuttgart: Kohlhammer. 216 Seiten. 32,99 €

Bohn, Caroline

Macht und Scham in der Pflege Beschämende Situationen erkennen und sensibel damit umgehen2015. München: Reinhardt. 125 Seiten. 19,90 €

Bott, Julia M.

Netzwerkarbeit und Selbstorganisationim demografischen Wandel Eine praxisorientierte Arbeitshilfe –Hand- und Arbeitsbücher (H 20) 2014. Freiburg i. Br.: Lambertus. 70 Seiten. 12,80 €

Bundesministerium für Arbeit und Soziales

Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen in deutscher,englischer und französischer Sprache 2014. Kostenfrei als PDF erhältlich: Bestell-Nr. A990. [email protected]

Caughey, Angela

Das Demenz-Buch Pflegen ohne Selbstaufgabe2014. Stuttgart: Schattauer. 304 Seiten. 24,99 €

Degener, Theresia; Diehl, Elke (Hg.)

Handbuch Behindertenrechts-konvention Teilhabe als Menschenrecht –Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe2014. Bonn: bpb. 504 Seiten. 4,50 €

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. (Hg.)

Archiv für Wissenschaft und Praxisder sozialen Arbeit 01/2015 – Was brauchen Menschenmit Demenz? 2015. Freiburg i. Br.: Lambertus. 96 Seiten. 14,50 €

Habermann-Horstmeier, Lotte

Arbeiten in Wohneinrichtungen fürbehinderte Menschen in Deutschland 2014. Villingen: Institute of Public Health. 107 Seiten. 32,00 €

Harder, Jörg

Leibliche Kinder in famlienanalogenSettings der Jugendhilfe Chancen, Risiken und Konzepte2014. Hamburg: Dr. Kovač. 136 Seiten. 68,80 €

Hedderich, Ingeborg; Egloff, Barbara; Zahnd, Raphael (Hg.)

Biografie – Partizipation –Behinderung Theoretische Grundlagen und eine partizipative Forschungsstudie2015. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. 276 Seiten.24,90 €

Kappus, Sandra

Präimplantationsdiagnostik inDeutschland: Von der politischenKontroverse zur rechtlichen Normie-rung – Auswirkungen auf Selbst-verständnis und Beratungshandeln in der Rehabilitationspädagogik 2014. Berlin: Humboldt-Universität. 206 Seiten.25,00 €

Krüger, Heinz-Hermann; Sünker, Heinz; Thole, Werner (Hg.)

Forschung als Herausforderung 2015. Leverkusen: Barbara Budrich. 260 Seiten.24,90 €

Mc Cornell, Astrid

Wenn Huhn und Eule in die Ferneschweifen Tiergeschichten zum Vorlesen bei Demenz2015. München: Reinhardt. 100 Seiten. 9,90 €

Noelle, Rüdiger

Grundlagen und Praxis geronto-psychiatrischer Pflege 2015. Köln: Psychiatrie. 160 Seiten. 24,95 €

Pamme, Hildegard

Personalentwicklung im AllgemeinenSozialen Dienst (ASD) 2014. Freiburg i. Br.: Lambertus. 280 Seiten. 25,90 €

Weirauch, Angelika

Lebenskunst – Texte des kreativenSchreibens. Zirkulär dekonstruiert Am Beispiel der Texte von Frauen mit Behinderung2014. Hamburg: Dr. Kovač. 208 Seiten. 79,90 €

Wendt, Peter-Ulrich

Lehrbuch Methoden der Sozialen Arbeit 2015. Weinheim: Beltz. 478 Seiten. 18,95 €

BIBLIOGRAFIE

| Der neue Rechtsdienst

N R . 1 / 1 5 , M Ä R Z 2 0 1 5

Rechtsdienstder LebenshilfeW W W. L E B E N S H I L F E . D E

Zähes Ringen um Ausgestaltung der PflegeversicherungMit dieser Formulierung kommentierte der Rechtsdienst der Lebenshilfe das nkrafttreten

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IMPRESSUM

Teilhabe – Die Fachzeitschrift der Lebenshilfe(bis Ende 2008 Fachzeitschrift Geistige Behinderung, begründet 1961)ISSN 1867-3031

HerausgeberinBundesvereinigung Lebenshilfe e.V.

Leipziger Platz 15, 10117 BerlinTel.: (0 30) 20 64 11-0Fax: (0 30) 20 64 [email protected]

RedaktionDr. Theo Frühauf (Chefredakteur)Dr. Frederik Poppe (Geschäftsführender Redakteur), Andreas Zobel, Roland Böhm,Sabrina Hagedorn (Redaktionsassistentin, Tel.: (0 30) 20 64 11-125)

RedaktionsbeiratProf. Dr. Clemens Dannenbeck, Landshut; Prof. Dr. Albert Diefenbacher, BerlinProf. Dr. Thomas Hülshoff, Münster, Prof. Dr. Theo Klauß, HeidelbergProf. Dr. Bettina Lindmeier, Hannover; Prof. Dr. Sabine Lingenauber, FuldaProf. Dr. Heike Schnoor, Marburg; Prof. Dr. Monika Seifert, BerlinProf. Dr. Wolfgang Wasel, München; Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt, Bochum

BezugsbedingungenErscheinungsweise viermal im Jahr.

Jahresabonnement einschließlich Zustellgebühr und 7% MwSt.:- Einzelheft: 10,– €- Abonnement Normalpreis: 36,– €- Abonnement Mitgliedspreis: 28,– €- Sammelabonnement (ab 10 Exemplaren): 20,– €- Abonnement Buchhandlungen: 23,40 €- Studierendenabonnement: 18,– €

Wir schicken Ihnen gern ein kostenloses Probeheft.

Das Abonnement läuft um 1 Jahr weiter, wenn es nicht 6 Wochen vor Ablauf desberechneten Zeitraums gekündigt wird.

Abo-Verwaltung: Hauke Strack,Tel.: (0 64 21) 4 91-123, E-Mail: [email protected]

AnzeigenEs gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2 vom 01.01.2014, bitte anfordern oder im Internetansehen: www.zeitschrift-teilhabe.de, Rubrik: InserierenAnzeigenschluss: 1. März, 1. Juni, 1. Sept., 1. Dez.

GestaltungAufischer, Schiebel. Werbeagentur GmbH, Max-Planck-Straße 26, 61381 Friedrichsdorf

DruckOffizin Scheufele GmbH, Tränkestr. 17, 70597 Stuttgart

Hinweise für Autor(inn)enManuskripte, Exposés und auch Themenangebote können eingereicht werden bei:Bundesvereinigung Lebenshilfe, Redaktion „Teilhabe“, Leipziger Platz 15, 10117 Berlin,bevorzugt per E-Mail an: [email protected]ür genauere Absprachen können Sie uns auch anrufen: (0 30) 20 64 11-125.Für die Manuskripterstellung orientieren Sie sich bitte an den Autor(inn)enhinweisen,die Sie unter www.zeitschrift-teilhabe.de finden. Entscheidungen über die Veröffent-lichung in der Fachzeitschrift können nur am Manuskript getroffen werden. Ggf. ziehen wir zur Mitentscheidung auch Mitglieder des Redaktionsbeirats oder weiterenfachlichen Rat heran. Redaktionelle Änderungen werden mit den Autor(inn)en, dieletztlich für ihren Beitrag verantwortlich zeichnen, abgesprochen. Beiträge, die mitdem Namen der Verfasserin bzw. des Verfassers gekennzeichnet sind, geben derenMeinung wieder. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe ist durch diese Beiträge in ihrerStellungnahme nicht festgelegt. Für unverlangt eingesandte Manuskripte kann keineHaftung übernommen werden. Alle Rechte, auch das der Übersetzung, sind vorbehalten.Nachdruck erwünscht, die Zustimmung der Redaktion muss aber eingeholt werden.

22. Mai – 03. Juli 2015, Berlin

Ausstellung Gundula Krause –Gel(i)ebtes Leben Portraits von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung im zweiten Lebensabschnittwww.behindertenbeauftragte.de

28. Mai 2015, Berlin

Geht nicht, gibt`s nicht – Kommunikation macht mobil Inklusive Fachtagung der Albert Schweitzer Stiftung – Wohnen & Betreuen mit sechs Vorträgen und Praxisbeispielen zum ThemaKommunikation mit und für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. www.paritaet-berlin.de/mitglieder/nachrichten/nachrichten-detailansicht/article/geht-nicht-gibts-nicht-kommunikation-macht-mobil.html

04. – 06. Juni 2015, Tutzing (am Starnberger See)

37. Konferenz der Lehrenden für Geistigbehindertenpädagogik an wissenschaftlichen Hochschulen indeutschsprachigen Ländern (KLGH) www.edu.lmu.de/gvp/kongresse/2015/klgh-2015-programm.pdf

09. Juni 2015, Stuttgart

„Musst du dich immer einmischen?“ Über Selbstbestimmung und Grenzen in der sozialen Arbeitwww.bosch-suykerbuyk.info

12. Juni 2015, Berlin

Gründungsveranstaltung Aktions-bündnis Teilhabeforschung www.dvfr.de/fileadmin/download/Aktuelles/Aktionsb%C3%BCndnis_Auftaktveranstaltung_Einladung.pdf

12. – 13. Juni 2015, Bremen

Unterricht professionell Bundesfachkongress des Verbands Sonderpädagogik e. V.www.verband-sonderpaedagogik.de/termine/2015-06-12-13-bremen.html

16. – 17. Juni 2015, Goslar

Verleihung Rudolf-Freudenberg-Preis 2015 www.freudenbergstiftung.de/de/aktivitaeten-von-a-z/arbeit-fuer-psychisch-kranke/rudolf-freudenberg-preis.html

16. – 18. Juni, Leipzig

Deutscher Fürsorgetag www.deutscher-fuersorgetag.de

20. Juni 2015, Dortmund

Fachtagung „Schwere Behinderung & Inklusion – Facetten einer nichtausgrenzenden Pädagogik“ www.zhb.tu-dortmund.de/Schwere-Behinderung

24. Juni 2015, Berlin

Fachkonferenz „Die UN-BRK umsetzen!“ [email protected]

26. – 27. Juni 2015, Köln

Fachkongress und Jahrestagung derDeutschen Gesellschaft für Care undCase Management (DGCC) www.dgcc.de

17. September 2015, Würzburg

Fachtagung „Menschen mit geistigerBehinderung auf dem allgemeinenArbeitsmarkt“ www.megbaa.uni-wuerzburg.de

VERANSTALTUNGEN

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Die Lebenshilfe unterstützt mit der Fachzeitschrift Teilhabe die wissen-schaftliche Theoriebildung und Entwicklung von Fachkonzepten zum Thema Behinderung. Diese erscheint vierteljährlich in den Rubriken Wissenschaft und Forschung, Praxis und Management sowie einer Infothek mit Buchbesprechungen und weiteren aktuellen Hinweisen. Die Teilhabe ist jetzt auch als E-Paper mit weiteren Zusatzfunktionen als App (iOS oder Android) und für Desktops verfügbar.

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