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Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IX. Deutschland und USA 1 IX. Neue Industriemächte – Deutschland und die Vereinigten Staaten Provisorischer Text (Asselain 1991, chapitre III, mit Ergänzungen) Einleitung: Der Aufstieg Deutschlands und der Vereinigten Staaten ........................................ 2 1. Deutsche Wirtschaftsentwicklung .......................................................................................... 3 1.1. Überwindung der Anfangshindernisse ............................................................................ 4 1.1.1. Rückstand Deutschlands .......................................................................................... 4 1. 1. 2. Erste Modernisierungsvorgänge ............................................................................. 5 1. 1. 3. Beschleunigung der Modernisierungsvorgänge in der erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ....................................................................................................................... 6 1. 2. Dynamische und anpassungsfähige Landwirtschaft ...................................................... 7 1. 2. 1. Agrarische Institutionen ......................................................................................... 7 1. 2. 2. Die Entwicklung des landwirtschaftlichen Sektors findet vor allem zwischen 1850-65 statt ....................................................................................................................... 8 1. 3. Die entscheidende Rolle des Eisenbahnbaus ................................................................. 9 1. 3. 1. Rascher Ausbau des Eisenbahnnetzes in Deutschland ........................................... 9 1. 3. 2. Auswirkungen des Eisenbahnbaus ....................................................................... 10 1. 4. Die Rolle des Staates in der Wirtschaft ........................................................................ 12 1. 5. Konzentration im industriellen Sektor ......................................................................... 14 1. 5. 1. Zwei Konzentrationsformen sind wichtig ............................................................ 14 1. 5. 2. Die enge Zusammenarbeit zwischen Banken und Industrie ................................ 15 1. 6. Dynamik der deutschen Wirtschaft um 1914 ............................................................... 16 1. 6. 1. Zentrales Kennzeichen Deutschlands ist das starke Bevölkerungswachstum...... 16 1. 6. 2. Der Dynamismus der deutschen Wirtschaft zeigt sich auch in der Zunahme der Investitionen ..................................................................................................................... 17 1. 6. 3. Die hohen Investitionsquoten (I/Y) erfordern Umschichtungen in der Einkommensverteilung..................................................................................................... 17 1. 6. 4. Aussenwirtschaftliche Beziehungen .................................................................... 18 2. Die wirtschaftliche Entwicklung in den Vereinigten Staaten .............................................. 19 2. 1. Die Einwanderung in die USA ..................................................................................... 19

IX. Neue Industriemächte Deutschland und die Vereinigten ...€¦ · - der Industrieproduktion zwischen 3,4 und 4,1% Von zentraler Bedeutung ist die Wachstumsrate der Exporte (g

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Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte

Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte IX. Deutschland und USA

1

IX. Neue Industriemächte – Deutschland und die

Vereinigten Staaten

Provisorischer Text (Asselain 1991, chapitre III, mit Ergänzungen)

Einleitung: Der Aufstieg Deutschlands und der Vereinigten Staaten ........................................ 2

1. Deutsche Wirtschaftsentwicklung .......................................................................................... 3

1.1. Überwindung der Anfangshindernisse ............................................................................ 4

1.1.1. Rückstand Deutschlands .......................................................................................... 4

1. 1. 2. Erste Modernisierungsvorgänge ............................................................................. 5

1. 1. 3. Beschleunigung der Modernisierungsvorgänge in der erste Hälfte des 19.

Jahrhunderts ....................................................................................................................... 6

1. 2. Dynamische und anpassungsfähige Landwirtschaft ...................................................... 7

1. 2. 1. Agrarische Institutionen ......................................................................................... 7

1. 2. 2. Die Entwicklung des landwirtschaftlichen Sektors findet vor allem zwischen

1850-65 statt ....................................................................................................................... 8

1. 3. Die entscheidende Rolle des Eisenbahnbaus ................................................................. 9

1. 3. 1. Rascher Ausbau des Eisenbahnnetzes in Deutschland ........................................... 9

1. 3. 2. Auswirkungen des Eisenbahnbaus ....................................................................... 10

1. 4. Die Rolle des Staates in der Wirtschaft ........................................................................ 12

1. 5. Konzentration im industriellen Sektor ......................................................................... 14

1. 5. 1. Zwei Konzentrationsformen sind wichtig ............................................................ 14

1. 5. 2. Die enge Zusammenarbeit zwischen Banken und Industrie ................................ 15

1. 6. Dynamik der deutschen Wirtschaft um 1914 ............................................................... 16

1. 6. 1. Zentrales Kennzeichen Deutschlands ist das starke Bevölkerungswachstum...... 16

1. 6. 2. Der Dynamismus der deutschen Wirtschaft zeigt sich auch in der Zunahme der

Investitionen ..................................................................................................................... 17

1. 6. 3. Die hohen Investitionsquoten (I/Y) erfordern Umschichtungen in der

Einkommensverteilung ..................................................................................................... 17

1. 6. 4. Aussenwirtschaftliche Beziehungen .................................................................... 18

2. Die wirtschaftliche Entwicklung in den Vereinigten Staaten .............................................. 19

2. 1. Die Einwanderung in die USA ..................................................................................... 19

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2. 1. 1. Ursachen von Wanderungsbewegungen: Auswanderungsdruck in Europa und

Anziehungskraft der USA ................................................................................................ 19

2. 1. 2. Statistischer Überblick über die Einwanderung in die USA ................................ 20

2. 1. 3. Auswirkungen der Einwanderungen in den USA ................................................ 22

2. 2. Die zentrale Rolle des Eisenbahnbaus ......................................................................... 23

2. 2. 1. Quantitative Dimensionen des Eisenbahnbaus..................................................... 23

2. 2. 2. Auswirkungen des Eisenbahnbaus ....................................................................... 26

2. 3. Besondere Eigenschaften der amerikanischen Wirtschaft ........................................... 28

2. 4. Binnenmärkte und Autarkie; die Rolle des Aussenhandels ......................................... 38

Einleitung: Der Aufstieg Deutschlands und der Vereinigten

Staaten

Zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten bestehen Verschiedenheiten, die eine

gemeinsame Behandlung auszuschliessen scheinen:

Einmal: völlig unterschiedliche historische Ausgangsbedingungen; in Deutschland bestehen

zu Beginn des 19. Jahrhunderts kleine und mittlere Fürstentümer, die USA bilden bereits bei

ihrer Gründung 1776 eine grossräumige Republik, die sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts

zum heute bestehenden Grossstaat entwickelt.

Zum Zweiten ist Deutschland ein Emigrationsland, die USA dagegen ein Immigrationsland.

Jedoch bestehen auch Gemeinsamkeiten, die eine gemeinsame Behandlung beider Länder

rechtfertigen:

1) Der Industrialisierungsprozess setzt etwa um 1850 ein.

2) Mehrere Kriege finden in der Anfangsphase des Industrialisierungsprozesses statt. Dieser

wird aber durch die Kriege nicht wesentlich beeinträchtigt.

Diese Kriege bringen die nationale Einheit beider Länder zustande:

In den USA ist es der Sezessionskrieg (1861-65). Dieser fand zwischen den Staaten der

Union (Nordstaaten) und den Staaten der Konföderation (Südstaaten) statt.

In Deutschland führt Preussen drei siegreiche Kriege: 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen

Österreich, 1870/71 gegen Frankreich. Der Krieg gegen Frankreich bringt die deutsche

Einheit (Gründung des Zweiten Deutschen Reiches im Rahmen der kleindeutschen Lösung).

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3) Die anfängliche Entwicklung findet in beiden Ländern hinter Zollmauern statt (der

Protektionismus wird in Deutschland von Friedrich List propagiert, in den USA von Henry

Carey). Dann folgen Aussenhandelserfolge für Deutschland und die USA. Diese bewirken,

dass England wirtschaftlich zurückgedrängt wird und Frankreich in seiner Entwicklung

behindert wird. Wegen diesen Erfolgen sind Deutschland und die USA nur geringfügig auf

den Imperialismus angewiesen.

4) Die hauptsächliche Gemeinsamkeit besteht in einem schnellen und regelmässigen

wirtschaftlichen Wachstum. Zwei grosse Ursachen stehen im Vordergrund:

Einmal, das schnelle Bevölkerungswachstum: In den USA verdreifachte sich die

Bevölkerung zwischen 1850-1914; die deutsche Bevölkerung stieg von 40 Millionen im Jahre

1870 auf 68 Millionen 1914.

Zweitens, sehr intensiver technischer Fortschritt führte zu einem starken Anstieg der

Arbeitsproduktivität (Q/N).

Technischer Fortschritt bedeutet volkswirtschaftlich, dass man mit weniger Arbeitskräften (N)

den gleichen Output (Q) produzieren kann; technischer Fortschritt bedeutet demnach in einem

ersten Schritt Freisetzung von Arbeitskräften. Das Arbeitsangebot steigt somit und kommt

zum ansteigenden Arbeitsangebot hinzu, welches durch Bevölkerungswachstum entsteht. Für

diese zusätzlichen Arbeitskräfte müssen nun Arbeitsplätze geschaffen werden. Das erfordert

Investitionen, d.h. neue Realkapitalgüter (neue oder erweiterte Fabrikgebäude, zusätzliche

Maschinen und Anlagen). Je höher aber die Investitionen sind, desto höher ist die so

genannte natürliche Wachstumsrate, d.h. die Wachstumsrate der Bevölkerung und die

Wachstumsrate des technischen Fortschritts.

1. Deutsche Wirtschaftsentwicklung

Es bestehen Schwierigkeiten in den 1870er und 1880er Jahren (Kondratieff-Abschwung):

- vermutlich ist die Arbeitslosigkeit hoch; ein Indiz dafür ist die massive Auswanderung in

die Vereinigten Staaten, vor allem in den 1880er Jahren.

- Schwierigkeiten bestehen auch im Landwirtschaftssektor: die Weizenimportorte aus

Russland und den USA - ermöglicht durch den Bau von Eisenbahnen! - führen zu einem

Verfall der landwirtschaftlichen Preise.

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- der im Kondratieff-Abschwung aufkommende Protektionismus, den Deutschland zum Teil

selber in die Wege geleitet hat, behindert die Exporte.

Trotz dieser Schwierigkeiten wächst die deutsche Wirtschaft regelmässig:

Zwischen 1850 und 1914 liegt die langfristige Wachstumsrate

- des Sozialprodukts zwischen 2,5 und 2,9%

- der Industrieproduktion zwischen 3,4 und 4,1%

Von zentraler Bedeutung ist die Wachstumsrate der Exporte (gX), die zwischen 1850 und

1914 im Durchschnitt etwa ~5% beträgt.

In Deutschland haben wahrscheinlich der interne und der externe Wachstums- und

Entwicklungsmechanismus von Anfang an zusammengewirkt. Aber vor dem Ersten

Weltkrieg (1897 - 1914) hat der externe Entwicklungsmechanismus fast sicher dominiert.

Wachstumsrhythmen der deutschen Wirtschaft 1850-1913 (reale durchschnittliche

Wachstumsraten (g), Zunahme der Mengen):

1850-1864 1864-1881 1881-1897 1897-1913

Netto Sozialprodukt 2.6 2.5 2.9 2.8

Industrieproduktion 3.4 4.1 3.6 4.1

Landwirtschaftliche Produktion 2.3 1.1 1.7 1.3

Exporte 4.7 4.9 2.3 5.7

Bevölkerung 0.7 1.1 0.9 1.4

1.1. Überwindung der Anfangshindernisse

1.1.1. Rückstand Deutschlands

Um 1800 ist Deutschland sowohl auf England wie auch auf Frankreich stark im Rückstand.

Gründe:

1) beschränkter Zugang zum Meer.

2) der Dreissigjährige Krieg 1618 – 48 brachte gewaltige Bevölkerungsverluste; die

deutsche Bevölkerung wurde von 17 auf 11 Millionen reduziert; pessimistische, aber

realistische Schätzungen sprechen sogar von einer Reduktion auf 5 Millionen (!); die durch

das Land ziehenden Armeen haben zum Teil sogar das Saatgut aufgebraucht, so dass die

Bevölkerung weiter Regionen insgesamt verhungert ist; der etwas derbe Ausdruck Das ist ja

ein gefundenes Fressen stammt fast sicher aus dem Dreissigjährigen Krieg - es wurde

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unverhofft etwas Essbares gefunden! Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts (um 1750)

erreicht Deutschland wiederum die Bevölkerungszahl von 1618 (~17 Millionen).

3) Rückständigkeit in der Agrarverfassung: In der Landwirtschaft bestehen noch weitgehend

feudale Zustände, die sich graduell verändern. In Süd- und Westdeutschland sind die Bauern

noch einem Natural-Abgabensystem unterworfen: ein Teil der Ernte geht an die Grundherren.

In den ostelbischen Gebieten gibt es Fronarbeit für den Grundherrn. Dazu kommen

Einschränkungen in der räumlichen Mobilität (landwirtschaftliche Arbeiter sind an einen Hof

oder ein Gut (Grossgut) gebunden); dazu kommt noch die Institution der Knechtschaft.

4) Handwerk und Gewerbe sind vom Zunftwesen dominiert. Die Gründung einer neuen

Unternehmung muss von der Zunft genehmigt werden. Es gibt ausgedehnte Staatseingriffe in

die Wirtschaft: Auch der Staat erteilt Gründungsgenehmigungen für Unternehmungen mit

dem Ziel, Handwerk und Heimarbeit zu schützen. All dies deutet darauf hin, dass die Angst

vor Arbeitslosigkeit allgegenwärtig ist.

5) Der Staat greift auch in Preis- und Lohnfixierung ein und nimmt Einfluss auf die

Gewinnverteilung; so muss ein Teil der Gewinne in der Form von Steuern an den Staat

abgeliefert werden.

1. 1. 2. Erste Modernisierungsvorgänge

Neue Techniken werden aus England, Frankreich und Belgien übernommen:

1784: erste mechanische Spinnerei bei Düsseldorf.

1788: die Dampfmaschine von Watt wird in Schlesien eingesetzt und ab 1807 in Essen

produziert.

Aber die Entwicklung bis 1850 geht langsam vor sich: 1847 sind nur 19,7% der aktiven

Bevölkerung im Handwerks- und Industriesektor tätig (13% im Handwerk, 6.7% in der

Industrie; der Grossteil der Industrie stellt Textilien her). Um 1800 waren 16% der aktiven

Bevölkerung in Handwerk und Industrie tätig, der grösste Teil im Handwerk. Deutschland

war also bis gegen 1850 ein Entwicklungsland.

Gründe

1) wenig entwickeltes Transportwesen (vor allem des Strassennetzes).

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2) zentral ist jedoch die politische Zersplitterung. Nach dem Wiener-Kongress von 1815

(Ende der Napoleonischen Kriege) gibt es in Deutschland noch 39 Staaten, die durch eine

lose Konföderation miteinander verbunden sind. Jeder Staat betreibt seine eigene

Wirtschaftspolitik und ist durch Zollgrenzen von den anderen getrennt; es bestehen also

kleine Märkte, die die innerdeutsche Arbeitsteilung behindern.

1. 1. 3. Beschleunigung der Modernisierungsvorgänge in der erste Hälfte

des 19. Jahrhunderts

1) Landwirtschaft:

a) Es findet eine Emanzipation der Bauern statt; statt Arbeitsleistungen (Fronarbeit) und

Naturalabgaben (Teile der Ernte gehen an den Grundherrn), werden die Pachten in Geld

bezahlt.

b) Es wird den Bauern ermöglicht, Boden zu kaufen; auch werden Landverteilungen

vorgenommen, zum Teil verbunden mit Aufteilung der Allmenden.

In den ostelbischen Gebieten Preussens führen die Reformen zu einer Konsolidierung des

Grossgrundbesitzes der Junker (ländlicher Kleinadel; politisch und militärisch sehr wichtig;

Bismarck war ein Junker). Diese landwirtschaftlichen Grossbetriebe ermöglichen eine rasche

Modernisierung der Landwirtschaft.

2) Die Reformen erfahren allgemein eine Beschleunigung während der napoleonischen

Besetzung Deutschlands (1806-13) und 1848 (Revolutionsjahr).

So bringt die Hardenberg-Reform in Preussen 1811 die Aufhebung der Zünfte sowie die

Handels- und Gewerbefreiheit.

Wilhelm von Humboldt ordnet das Bildungs- und Ausbildungswesen. Es gibt drei Stufen:

Erstens, die Elementarschule (Volksschule, Primarschule), dann das Gymnasium und

schliesslich die Universität. Die Humboldtsche Konzeption des Schulwesens wird für Europa

wegweisend.

Siehe für Reformen allgemein: Internet - Google: Preussische Reformen (wichtig!)

3) Die Bildung des Zollvereins war eine entscheidende Voraussetzung für die

Industrialisierung Deutschlands.

Der Zollverein wurde 1828 gegründet: Zollvertrag zwischen Preussen und Hessen-Darmstadt,

1834 kommen die wichtigsten süddeutschen Staaten hinzu.

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Gegen 1840 gehören fast alle deutschen Staaten zum Zollverein. Dieser bildet eine

Freihandelszone mit gemeinsamem Aussentarif.

Allmählich bildet sich über die innerdeutsche Arbeitsteilung die ökonomische Einheit

Deutschlands heraus.

Die monetäre Einheit ergibt sich nach 1870-71 (deutsch-französischer Krieg). Diese wurde

durch die Dominanz des preussischen Talers vorbereitet (Taler führt zu Dollar!). Die

Bezahlung einer Kriegsentschädigung von 5 Mia Goldfranken ermöglicht die Einrichtung

einer deutschen Einheitswährung (Goldstandard!).

Die Gold-Mark hat das gleiche Goldgewicht gleich wie der preussische Taler.

1875 erfolgt die Gründung der Reichsbank (deutsche Zentralbank). [Die Einheitswährung

kam also in Deutschland am Ende des ökonomischen und politischen Einigungsprozesses!

Ist das eine Lehre für Europa?]

1. 2. Dynamische und anpassungsfähige Landwirtschaft

1. 2. 1. Agrarische Institutionen

Die ostelbische Landwirtschaft besteht im Wesentlichen in Grossbetrieben, die von Junkern

(ländliche Aristokratie) geleitet werden; ähnliche Verhältnisse bestehen in Grossbritannien

und Russland. Diese Grossbetriebe werden den Grossteil des landwirtschaftlichen

Überschusses produzieren, der die Industrialisierung Deutschlands ermöglicht.

Im Süden und Westen Deutschlands bestehen Kleinbetriebe, die nur einen geringen

Überschuss erzielen; es herrschen in etwa französische Verhältnisse vor.

Dieser Gegensatz bleibt bis 1914 und darüber hinaus bestehen. Jedenfalls ermöglicht der

technische Fortschritt auf Grossbetrieben ein sehr hohes Wachstum der landwirtschaftlichen

Produktion (und der Arbeitsproduktivität). Das Wachstum der landwirtschaftlichen

Produktion übertrifft das (sehr starke) Bevölkerungswachstum, so dass sogar Exporte von

landwirtschaftlichen Gütern möglich werden.

Jedoch ist der deutsche Rückstand in der Landwirtschaft um 1840 noch beträchtlich: Die

landwirtschaftliche Arbeitsproduktivität beträgt nur 35% der amerikanischen, 45% der

englischen und 65% der französischen Landwirtschaft.

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1910 dagegen ist die deutsche Landwirtschaft produktivitätsmässig praktisch gleichauf mit

den Vereinigten Staaten, übertrifft die sehr produktive englische Landwirtschaft, und

übertrifft die Arbeitsproduktivität der französischen Landwirtschaft um 50%.

1. 2. 2. Die Entwicklung des landwirtschaftlichen Sektors findet vor allem

zwischen 1850-65 statt

1) Die landwirtschaftliche Anbaufläche wird ausgedehnt: Es erfolgen Rodungen, und das

Brachland wird reduziert (die Landwirtschaft wird weniger extensiv).

2) Eine Intensivierung des Anbaus findet statt, zustande gebracht durch Investitionen in die

Landwirtschaft.

3) Diese Investitionen sind sehr hoch; zwischen 1860-64 gehen 37,5% aller Investitionen in

den landwirtschaftlichen Sektor.

4) Der Export landwirtschaftlicher Produkte nimmt rasch zu. Zwischen 1860-70 wachsen

landwirtschaftliche Exporte viel schneller als die Industriegüterexporte, die ihrerseits

ebenfalls ein hohes Wachstum aufweisen.

Getreideimporte aus Russland, dann aus den USA (Eisenbahnbau in Russland und den USA!),

die wegen der Freihandelspolitik möglich sind, setzen dieser Prosperitätsphase ein Ende. Die

Importe steigen mit einer Wachstumsrate von 10% zwischen 1860-65 und 1876-79.

Als Reaktion darauf ist die Zeitperiode 1880-91 eine Zeit des Agrarprotektionismus.

Ab 1891 ist Deutschland bezüglich der Landwirtschaft wieder freihandelsorientiert. Das

Argument ist, dass Deutschland jetzt vorwiegend eine Industriemacht sei. Um

Industrieprodukte ausführen zu können, müsse es Agrarprodukte einführen. Das führt zu einer

bestimmten internationalen Arbeitsteilung: Deutschland produziert Industrieprodukte und

führt Agrarprodukte aus Ost- und Südosteuropa ein; das ist analog zur Arbeitsteilung

zwischen England und seinen Kolonien.

Jedoch führen Probleme in der Landwirtschaft ab 1906 wieder zu höheren Einfuhrzöllen für

Getreide.

[Im Prinzip besteht aber die Tendenz, dass Industrie- und Dienstleistungsländer ihre

Landwirtschaft opfern.]

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Der Anteil der landwirtschaftlichen Investitionen (IL) an den Gesamtinvestitionen (I) bleibt

relativ hoch, schwankt jedoch mit Protektionismus und Freihandel:

37.5% 10.8% 13.8% 9% 13.9%

1860-64 1875-79 1885-89 1895-99 1909-13

Protektionismus weniger Protekt. mehr Protekt.

Damit bleibt das Wachstum der Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft relativ hoch, mit

entsprechend hohem Mechanisierungsgrad. Charakteristisch für die deutsche Landwirtschaft

ist der hohe Einsatz von chemischen Düngemitteln (entdeckt von Justus Liebig!).

[Deutschland (und die Schweiz) sind in der Chemie allgemein führend.]

[Justus Liebig, *1803 Darmstadt, † 1873 München, 1824 Professor für Chemie in Giessen

(hat als Apothekerlehrling angefangen!), 1852 Professor für Chemie in München. Einer der

Begründer der Agrarchemie: Mineraldünger (chemischer Dünger für die Landwirtschaft);

Liebigscher Fleischextrakt; leitet die Nahrungsmittelkonservierung in die Wege, die die

Essgewohnheiten revolutionieren sollte. Liebig war einer der bedeutendsten Chemiker des 19.

Jahrhunderts.]

1910-13 Düngemittelverbrauch:

Deutschland: 50 kg pro Hektare und pro Jahr GB: 28 kg F: 20 kg

Von der Landwirtschaft gingen die entscheidenden Anfangsimpulse zur Industrialisierung in

Deutschland aus. In einer zweiten Phase war der Eisenbahnbau grundlegend. Schliesslich

haben die Exporte die Industrialisierung, das Wachstum und die Entwicklung Deutschlands

verstärkt.

1. 3. Die entscheidende Rolle des Eisenbahnbaus

1. 3. 1. Rascher Ausbau des Eisenbahnnetzes in Deutschland

Der Eisenbahnbau war als Wachstumsimpuls in Deutschland wichtiger als in Grossbritannien

und Frankreich, weil Deutschland um 1850 industriell viel weniger fortgeschritten war. Der

Eisenbahnbau war entscheidend für die autonome Nachfrage, die sich multiplikativ auswirkt.

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Man kann sogar sagen: In England hat die Textilindustrie die Industrielle Revolution

zustande gebracht, in Deutschland war es der Eisenbahnbau. Als Folge war die englische

Industrie eher Leichtindustrie (Konsumgüterindustrie), die deutsche Industrie war und ist

durch die Schwerindustrie geprägt (Kapitalgüter / Maschinenbau).

Seit 1833 war Friedrich List der Hauptinitiator für den Eisenbahnbau in Deutschland. 1839

wurde die erste Linie zwischen Dresden und Leipzig gebaut. Um 1850 bestanden bereits 6000

km Eisenbahn, doppelt soviel wie in Frankreich. Zwischen 1850-70 wurden 700 km pro Jahr

gebaut (etwa gleich viel wie in Grossbritannien und Frankreich zusammen). Weil die deutsche

Metallindustrie noch relativ wenig entwickelt war (Verhältnis der Produktionsmengen: D:F =

1:2; D:GB = 1:7), ergibt sich ein sehr starker Impuls auf die deutsche Wirtschaft.

Zwischen 1870-90 werden jährlich 1200 km Eisenbahnen gebaut (doppelt soviel wie in

Frankreich, dreimal soviel wie in Grossbritannien).

Der Eisenbahnbau löst vor allem in den Jahren 1850-70 die industrielle Entwicklung in

Deutschland aus: der Take-off von Rostow kommt zustande. Die politische Zersplitterung

scheint kein Hindernis für den Eisenbahnbau gewesen zu sein. Vielmehr wird dadurch eine

Vielzahl von Einzelinitiativen ausgelöst: jede grössere Stadt will Eisenbahnknotenpunkt

werden. Zudem sind die Produktionskosten relativ niedrig: die Löhne sind tief, ebenso ist

Boden relativ billig. Östlich der Elbe spielen auch strategische Überlegungen eine Rolle:

Eisenbahnen werden hier auch aus militärischen Gründen gebaut (Ost-West-

Truppenverschiebungen ermöglichen).

1. 3. 2. Auswirkungen des Eisenbahnbaus

Der Bau von Eisenbahnen wirkt sich natürlich vor allem auf die Metall- und

Maschinenindustrie aus. Vorerst wurde allerdings der Grossteil der Geleise, Lokomotiven und

Eisenbahnwagen noch aus England importiert. Allerdings setzte die Importsubstitution sehr

rasch ein: Geleise, Lokomotiven und Eisenbahnwagen wurden nicht mehr importiert, sondern

durch die einheimische Produktion substituiert.

Nachfrage nach Geleisen - Verteilung auf einheimische Produktion und Importe (Mio. t):

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1843-47 1848-52 1853-57 1858-62

Importe (aus England) 46 26 32 8

einheimische Produktion 14 41 79 141

Ähnlich mit den Lokomotiven: Bereits 1845 werden nur noch die Hälfte importiert; um 1850

sind die Importe bereits vernachlässigbar klein.

Diese rasche Importsubstitution wurde durch den Zollverein begünstigt: Auf Eisenerz

wurden nur mässige Zölle erhoben, dagegen wurden Geleise, Lokomotiven und

Eisenbahnwagen stark mit Zöllen belastet. Diese hohe effektive Protektion bewirkt

niedrigere Produktionskosten, weil im Inland mehr produziert werden kann, dies wegen des

geschützten Endproduktmarktes. Dies ist von grundlegender Bedeutung: Alle (heute) grossen

Industrieländer haben sich über Protektionismus entwickelt. Friedrich List hatte sich

damals auf breiter Front durchgesetzt.

Trotz niedriger Zölle für Eisenerz entwickelte sich die Metallindustrie rasch: Deutsche

Industrielle unternahmen Studienreisen nach England; englische, französische und belgische

Ingenieure werden ins Land geholt. In den 1850er Jahren vervielfachen sich die Hochöfen; ab

1856 verdrängt die Steinkohle die Holzkohle.

Die Struktur der Zolltarife ermöglichte also den Aufbau einer leistungsfähigen Metallindustrie

mit niedrigen Durchschnittskosten (Geleisefabrikation). Die mit der Ausbringungsmenge

sinkenden Kosten ermöglichen Exporte. 1913 werden 40% der Exporte von der Metall- und

der Maschinenindustrie erbracht.

Der deutsche Industrialisierungsgang war demnach der Folgende: Fertigprodukte (Geleise,

Lokomotiven und Eisenbahnwagen) bewirken Aufbau einer Grundstoffindustrie: Eisen und

Stahl sowie Kohle. Wiederum: Die Maschinen- und Metallindustrie haben also in

Deutschland die „industrielle Revolution“ bewirkt, nicht die Textilindustrie wie in

England.

Die sehr gut ausgebaute Grundstoff- und Maschinenindustrie hat natürlich einen Einfluss auf

das militärische Potential.

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1. 4. Die Rolle des Staates in der Wirtschaft

Sie ist sehr bedeutsam. Dabei spielte die disziplinierte, kompetente und effiziente Bürokratie

eine zentrale Rolle. Sie wurde nämlich Vorbild für die Verwaltung grösserer

Unternehmungen. Liberale Ansichten, die in GB, den USA und in Frankreich dominieren,

spielten in Deutschland nur eine begrenzte Rolle.

Wie hat nun der Staat konkret in die Wirtschaft eingegriffen?

1) Der Zollverein (von Preussen in die Wege geleitet) hat einerseits zur nationalen Einheit

beigetragen, setzte aber anderseits ein gewisses Einverständnis zwischen den deutschen

Staaten (ohne Österreich) voraus. Dieses Einverständnis basierte auf der Einsicht in die

Machtlosigkeit ohne Zusammenarbeit.

2) Nach der Schaffung der deutschen Einheit verstärkte sich der Einfluss des Staates sehr

rasch, z.B. im Eisenbahnwesen. Der Bau neuer Linien war staatlich koordiniert. Der Staat

übernimmt auch immer mehr Eisenbahnlinien in Besitz: 1913 sind nur 3600 km von 62'000

km in Privatbesitz.

3) Der Staat spielte auch eine wichtige Rolle bei der Einführung fortgeschrittener

Produktionstechniken aus dem Ausland. Vor allem ging es darum, keine wesentlichen

Abhängigkeiten infolge ausländischer Direktinvestitionen entstehen zu lassen. Die Technik

sollte unter einheimischer Kontrolle bleiben.

[Englisches Kapital befand sich im Eisenbahnbau, französisches und belgisches Kapital in

Bergwerken und in der Metallindustrie].

Sehr wichtig: Um Basisindustrien zu entwickeln, wurden öffentliche Unternehmungen

(Musterunternehmungen) gegründet, technische Beihilfe an private Unternehmungen

gewährt und die Beschaffung von Know-how sichergestellt.

Von zentraler Bedeutung war die Gründung technischer Schulen und Hochschulen. Damit

setzte die systematische Verknüpfung von Wirtschaft und Wissenschaft ein. 1910 gab es

allein in Preussen etwa 1900 staatliche Techniken mit 339’000 Studenten.

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4) Sozialer Bereich: Zwischen 1883 und 1889 wurde durch Bismarck ein fast vollständiges

Sozialversicherungssystem geschaffen (Krankenversicherung, Unfallversicherung, Alters-

und Invalidenversicherung). [Nur die Arbeitslosenversicherung fehlte, weil der Begriff der

unfreiwilligen Arbeitslosigkeit nicht bekannt war; erst Keynes hat 1936 in der Allgemeinen

Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes die fundamentale Bedeutung der

unfreiwilligen und systembedingten Arbeitslosigkeit hervorgehoben.]

Jedenfalls war das deutsche Sozialversicherungssystem das erste in der Welt.

5) Der Staat übt auch eine zentrale Rolle bei der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung

aus; dabei wird Zusammenarbeit mit dem Privatsektor angestrebt, nicht Konkurrenzierung des

privaten Sektors. Diese Zusammenarbeit materialisiert sich beispielsweise im Austausch von

Führungskräften: Hohe Staatsbeamte gehen in die Privatwirtschaft: vielfach werden Beamte

in Privatwirtschaft delegiert.

1890 ist die Beschäftigung im öffentlichen Sektor in Deutschland doppelt so hoch wie in

Grossbritannien.

1913 sind die Staatsausgaben pro Kopf der Bevölkerung

D GB USA

25.7 $ 18.7 $ 12.7 $

obwohl das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland niedriger ist als in Grossbritannien und in

den USA.

Gründe: Einmal das rasche Wachstum der Militärausgaben (Heer und Flotte). Diese machen

1913 ¾ der Ausgaben des Zentralstaates aus, die wiederum 1/3 der gesamten öffentlichen

Ausgaben darstellen (Zentralstaat, Länder, Gemeinden).

Zum Zweiten gehen 21% der öffentlichen Ausgaben in die Erziehung (Bildung und

Ausbildung): dreimal mehr als in Frankreich.

Die öffentlichen Investitionen (inklusive Infrastruktur-Investitionen) machen 20-25% der

gesamten Investitionen aus. Sie spielen oft die Rolle der Initialzündung (autonome Ausgaben,

die die Wirtschaft im Rahmen des internen Entwicklungs-Mechanismus in Gang setzen).

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1. 5. Konzentration im industriellen Sektor

Die Konzentration im industriellen Sektor einer Wirtschaft ist nicht spezifisch für

Deutschland. Jedoch ist die deutsche Wirtschaft die erste in Europa, die durch grössere

Konzentrationsbewegungen gekennzeichnet ist.

Tatsächlich hat sich der Monopolkapitalismus (industrielle Grossbetriebe und umfangreiche

Kartelle) etwa ab 1880 in Deutschland und in den USA herausgebildet. Vorher (seit der

Industriellen Revolution in England 1770-80 bis etwa 1870-80) gab es allgemein den

Konkurrenzkapitalismus.

1. 5. 1. Zwei Konzentrationsformen sind wichtig

1) Einmal die Kartelle, die im Zusammenhang stehen mit der horizontalen Konzentration.

Die in Kartellen zusammengeschlossenen Unternehmungen produzieren ein ähnliches oder

ein gleiches Produkt; die Unternehmungen bleiben aber juristisch unabhängig. Kartelle

führen vor allem zu Preisabsprachen und zu einer bestimmten Organisation der Märkte

(z.B. Festlegung von Absatzgebieten). Der Anstoss zu Kartellgründungen erfolgte vor

allem während dem Kondratieff-Abschwung 1873-1896. Es ging in erster Linie darum, die

Produktionsmengen zu stabilisieren und einen Zerfall der Preise zu verhindern.

Kartelle wurden 1897 als legal erklärt und entwickelten sich bis 1914 auf allen Ebenen:

regional, national und international. 1914 nahmen deutsche Firmen an mehr als 100

internationalen Kartellen teil, in denen sie oftmals eine beherrschende Stellung einnahmen.

Die Kartellbildung erfolgt vor allem bei relativ homogenen Grundprodukten wie Kohle, Stahl,

Zement, Papier; diese Produkte sind sehr sensibel betreffend Preisdifferenzen, was die

gemeinsame Festlegung eines Einheitspreises erfordert. Kartelle sind deshalb eher defensiv

orientiert: Preiszusammenbrüche verhindern; Marktanteile halten.

2) Dagegen sind Konzerne eher offensiv ausgerichtet; es geht beispielsweise darum, neue

Märkte zu erschliessen oder einem Konkurrenten Marktanteile wegzunehmen.

Konzerne implizieren vertikale Konzentration; sie umfasst alle Produktionsstufen, nach oben

geht man in Richtung Rohstoffe, nach unten in Richtung Fertigprodukte (siehe das

untenstehende Schema) .

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Konzerne entstehen aus dem Wachstum der dynamischsten Firmen, vor allem in der

Schwerindustrie:

Erz- und Kohlenbergwerke 1. Stufe

Eisen- und Stahlproduktion 2. Stufe

Maschinenindustrie (inkl. Werkzeugmaschinen) 3. Stufe

Handelsgesellschaften (Vertrieb) 4. Stufe

Krupp war ab Ende des 19. Jahrhundert der führende Konzern in Europa: (1870: 10'000

Beschäftigte, 1887: 20'000, 1907: 64'000, 1914: 80'000). Krupp steht nicht isoliert da. Der

Thyssen-Konzern hat Kohlenbergwerke in der Ruhr, Eisenbergwerke in Lothringen,

Maschinenbauunternehmen in verschiedenen deutschen Regionen, Zementfabriken,

Transport- und Handelsgesellschaften.

Stinnes-Konzern: Kohlenproduktion, Maschinenbau, Schiffsbau, Chemie, Papier, Presse

(Zeitungen, Zeitschriften).

1. 5. 2. Die enge Zusammenarbeit zwischen Banken und Industrie

Diese ist typisch für die deutsche Wirtschaft. Es besteht eine gegenseitige Durchdringung von

industriellem und Finanz-Kapital. Schon ab 1850-70 spielen die Grossbanken eine wichtige

Rolle bei der Finanzierung der industriellen Investitionen.

Ein wichtiger Grund: Der Kapitalmarkt (Börsen) ist wenig entwickelt im Vergleich mit

Grossbritannien und Frankreich.

Jedoch bleibt die enge Zusammenarbeit zwischen Banken und Industrie auch später

erhalten.

1) Einmal durch direkte Beteiligungen von Banken an Industrieunternehmen (Aktienkauf

durch Banken).

2) Dann durch Platzierungen von Titeln beim Publikum; die Platzierungen sind für die

Unternehmungen und Zeichner von Aktion kostenlos oder sie erfolgen über günstige Kredite.

Als Gegenleistung erhalten die Banken die Ausübung des Stimmrechts, vor allem für kleinere

Aktionäre!

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3) Langfristige Kredite werden vielfach auf der Grundlage von kurzfristigen Depositen

finanziert. Das ist riskant; trotzdem gibt es wenige Bankenkonkurse, weil die

Bankenkonzentration sehr stark fortgeschritten ist: Neun Berliner Banken erhalten die

Hälfte aller Depositen! Im Falle von Liquiditätskrisen erhalten diese Grossbanken die

Unterstützung der Reichsbank, die ihnen Kredite gewährt [Grossbanken wurden also bereits

Ende des 19. Jahrhunderts, anfangs des 20. Jahrhunderts gerettet – es gibt nicht viel Neues

unter der Sonne].

4) Die Banken nehmen Einfluss auf das Geschäftsgebaren und damit auf die Lenkung der

industriellen Entwicklung: Wem wird für was ein Kredit gewährt?

Ein paar wichtige Fakten betreffend die zentrale Rolle der Banken:

Um 1913 waren 20% der Aufsichtsratmitglieder [in der Schweiz Verwaltungsrat]

Bankenvertreter; die Deutsche Bank war in 186 Aufsichtsräten vertreten.

Der Einfluss der Banken ist ein Stabilitätsfaktor in Krisenzeiten: es erfolgt eine Unterstützung

der Industrie – zum Beispiel überlässt man vom Konkurs bedrohte Unternehmungen, vor

allem Grossunternehmen, nicht ihrem Schicksal, sondern unternimmt alles, um sie zu retten.

Im Gegenzug fordern die Banken vermehrte Konzentration (Kartell- und Konzernbildung);

das erleichtert die Kontrolle und streut das Risiko!

Die Konzentration ist mit dem Protektionismus eng verbunden: Protektionistische

Massnahmen erfolgen ab 1879 (nach einer Freihandelsphase 1862-79). Jedoch sind jetzt die

Zölle nicht mehr Erziehungszölle wie 1840-60 (Schutz der entstehenden Industrie), sondern

die Zölle sind auf die Erhaltung der Profite ausgerichtet.

1. 6. Dynamik der deutschen Wirtschaft um 1914

1. 6. 1. Zentrales Kennzeichen Deutschlands ist das starke

Bevölkerungswachstum

Es besteht eine hohe Geburtenrate: im Durchschnitt 3,6% für den Zeitraum 1900-04, 3,3% für

1905-09.

Auf der anderen Seite nimmt die Sterberate rasch ab:

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Der Anteil der weniger als 20-jährigen beträgt vor dem Ersten Weltkrieg (1911) 44,7%.

Das hohe Bevölkerungswachstum macht Deutschland vor allem während dem Kondratieff-

Abschwung 1873-96 zu einem Emigrationsland. Die Auswanderung erreicht einen Höhepunkt

in den Krisenjahren 1880-93. In diesem Zeitraum wandern pro Jahr 130'000 Deutsche in die

Vereinigten Staaten aus.

Um 1900 herum nimmt jedoch die Auswanderung stark ab; zwischen 1895-1913 gibt es

jährlich noch 30'000 Emigranten.

Der Erfolg in der Arbeitsplatzschaffung ist der Hauptgrund für den Rückgang der

Auswanderung. Wahrscheinlich sind die rasch wachsenden Exporte entscheidend für die

Schaffung von neuen Arbeitsplätzen.

[Im Gegensatz zu Deutschland stagniert die französische Bevölkerung: 30 Millionen 1820; 40

Millionen 1950; dann nahm die französische Bevölkerung bis um 2000 auf 63 Millionen zu.]

1. 6. 2. Der Dynamismus der deutschen Wirtschaft zeigt sich auch in der

Zunahme der Investitionen

Bruttoinvestitionen 1851-70: 13,7% im jährlichen Durchschnitt

1891-13: 23%

1. 6. 3. Die hohen Investitionsquoten (I/Y) erfordern Umschichtungen in der

Einkommensverteilung

Entwicklung der Lohnquote (W/Y):

1850-54 81.9 1870-79 77.8 1890-94 74.1

1860-64 75.3 1875-79 80.0 1900-04 72.6

1880-84 76.6 1909-13 70.9

Krise Aufschwung

Die Lohnquote (W/Y) nimmt seit dem Beginn der Industrialisierung um 1850 kontinuierlich

ab und die Profitquote (P/Y) nimmt entsprechend zu. Eine Ausnahme bildet nur die

Krisenperiode 1875-79; in diesen Jahren ist die Lohnquote von 77,8 auf 80,0 angestiegen (die

Preise und die Profite sind auf dem Tiefpunkt der Krise gesunken).

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Dennoch steigen die Reallöhne im langfristigen Durchschnitt; Grund ist der starke Anstieg

der Arbeitsproduktivität: Sozialprodukt pro Beschäftigten im Profit-Sektor (A = Q / N).

Tatsächlich stiegen im Zeitraum 1850-1913 die Reallöhne in der Industrie um

durchschnittlich jährlich 2%, und um 1,5% in der Landwirtschaft.

Die steigende Lohn-Differenz zwischen Industrie und Landwirtschaft bewirkt eine

Wanderung vom Land in die Stadt.

1. 6. 4. Aussenwirtschaftliche Beziehungen

Deutschland holt bezüglich England in allen Sektoren auf; z.B. baut es seine Handelsflotte in

rasantem Tempo aus.

1873 betrug die deutsche Handelsflotte 1/6 der englischen.

1913 besass Deutschland mit 3,3 Mio. Registertonnen: die zweitgrösste Flotte der Welt,

jedoch wies die deutsche Flotte die grösste Wachstumsrate auf.

Das Wachstum der Handelsflotte wurde ermöglicht durch rasche Zunahme des

Aussenhandels; dies trotz des zunehmendem Protektionismus (!) vor dem Ersten Weltkrieg.

Der mengenmässige Zuwachs der Exporte betrug fast sechs Prozent (gX = 5,6%). zwischen

1893 bis 1913.

Absolut gesehen sind die deutschen Exporte 1913 praktisch gleich hoch wie die englischen.

Jedoch nehmen ab 1870 die Exporte an Industrieprodukten überproportional zu. 1913 ist

Deutschland erster Exporteur von Eisen und Stahl, Maschinen (auch Werkzeugmaschinen)

und chemischen Produkten.

Auf einem Gebiet ist Deutschland 1913 im Rückstand auf England und Frankreich: Es besitzt

fast keine Kolonien, die wichtig sind als Beschaffungsmärkte (Rohstoffe) und als

Absatzmarkt für Fertigprodukte.

Exporte nach aussereuropäischen Gebieten:

61% der britischen Exporte gehen in aussereuropäische Gebiete, davon der grösste Teil

nach den englischen Kolonien. Dagegen gehen nur 22% der deutschen Exporte in

aussereuropäische Gebiete (davon 1% nach seinen Kolonien)! Deutschland muss seine

Exporte erkämpfen, während Grossbritannien durch sein Imperial trade system gesicherte

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Absatzmärkte hat (englische Fertigprodukte gehen nach seinen Kolonien im Austausch gegen

Primärprodukte – Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte – aus den Kolonien).

So kommt es zur deutschen Forderung nach einer Neuaufteilung des Kolonialbesitzes, ein

Grund für den Ersten Weltkrieg.

2. Die wirtschaftliche Entwicklung in den Vereinigten Staaten

Das fundamentale Faktum der amerikanischen Wirtschaftsentwicklung besteht im Umfang

und in der Vielfältigkeit der natürlichen Grundlagen. Sehr weite Flächen an fruchtbarem

Land; reichhaltige Rohstoffausstattung: Baumwolle, Kohle, Eisenerz, später Erdöl.

Bis um etwa 1850 ist das Wachstum extensiv (Erschliessung neuen Landes).

Ab etwa 1850 setzt intensives Wachstum ein (Industrialisierung), eingeleitet durch die

Immigration und den Eisenbahnbau.

Sukzessive kommen zusätzliche Faktoren hinzu:

- Intensive Forschung und Entwicklung führen zu hohem Produktivitätswachstum

- Standardisierung und Massenproduktion führen zu einem dramatischen Rückgang des

Handwerks; eine Wegwerfgesellschaft entsteht; es wird nicht mehr signifikant

repariert. [Auch in der Sowjetunion wird das Handwerk und das Bauerntum

weitgehend vernichtet, aber aus ideologischen Gründen: Handwerker und

(selbständige) Bauern gelten als Kleinbürger, somit als Klassenfeinde, die eliminiert

werden müssen.]

- Konzentration auf den Binnenmarkt

- Aber auch Aussenhandel als dynamisches Element wichtig.

2. 1. Die Einwanderung in die USA

2. 1. 1. Ursachen von Wanderungsbewegungen: Auswanderungsdruck in

Europa und Anziehungskraft der USA

1) Auswanderungsdruck in Europa

Politische Ursachen:

Die gescheiterte Revolution von 1848 verhindert die vollständige Machtergreifung des

Bürgertums; in Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland bleibt der Adel an der Macht,

in England und Frankreich bleibt die politische Macht des Adels nicht unbedeutend; das

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heisst, dass intelligente Bürger sozial nicht beliebig aufsteigen können, weil vor allem

politische, militärische und administrative (hohe Beamte) Schlüsselposten von Adeligen

besetzt sind. Viele gut ausgebildete Bürger wandern deshalb in die USA aus.

Es gibt auch Repressionen: so ist etwa die Meinungsfreiheit nicht garantiert; vor allem in den

grossen Monarchien.

Wirtschaftliche Faktoren:

Wirtschaftliche und soziale Probleme (Arbeitslosigkeit, schlechte Wohn- und

Arbeitsbedingungen, im Extremfall Elend und Hunger, beschränkte

Investitionsmöglichkeiten) sind wichtige Gründe für die Auswanderung in die USA, vor

allem in Krisenzeiten. Tatsächlich fallen die grossen Emigrationswellen in bemerkenswerter

Art und Weise mit den Wirtschaftskrisen zusammen.

Gegen 1900 kommen die Immigranten vermehrt aus dem übervölkerten Osten; auch ethnische

Verfolgungen spielen eine Rolle, vor allem bei jüdischen Einwanderern aus Osteuropa.

2) Anziehungskraft der USA

Bei den so genannten Zugfaktoren spielt das Bild der USA eine wichtige Rolle:

- Die USA als Land der Freiheit

- Es herrscht religiöse Toleranz

- Es besteht Chancengleichheit

- Ökonomische Erfolgsmöglichkeiten dienen als Werbung für die

Schifffahrtsgesellschaften! Der amerikanische Traum (vom Tellerwäscher zum

Milliardär spielt dabei eine wichtige Rolle). [Der ausgezeichnete kleine Roman von

Scott Fitzgerald: The Great Gatsby (Penguin Classics), geschrieben in den 1920er

Jahren, entzaubert aber ein wenig den amerikanischen Traum. Scott Fitzgerald gilt als

der Schriftsteller des Jazz-Zeitalters und The Great Gatsby wurde verfilmt (die

Hauptdarsteller sind Robert Redford – The Great Gatsby – und Mia Farrow)].

Allgemein scheinen die Zugfaktoren wichtiger zu sein als die Druckfaktoren; auch in Zeiten

der Hochkonjunktur in Europa reisst der Immigrationsstrom nicht ab.

2. 1. 2. Statistischer Überblick über die Einwanderung in die USA

Es gibt drei Immigrationsphasen:

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1) 1820-96: Die meisten Einwanderer kommen aus Nord- und Westeuropa, inklusive

Zentraleuropa, vor allem Deutschland. Diese alten Einwanderer stellen heute noch die

gesellschaftliche Oberschicht dar.

2) 1896-1921: Die Einwanderer kommen vorwiegend aus Süd- und Osteuropa; in dieser Zeit

war die jüdische Einwanderung besonders stark, wegen Verfolgungen in Teilen Osteuropas

[der polnisch-amerikanische Schriftsteller Isaac Bashevis Singer hat dem Schicksal der

osteuropäischen Juden ein literarisches Erbe gesetzt (Das Landgut, Das Erbe). Isaac

Bashevis Singer schrieb auf Jiddisch; anschliessend wurden seine Werke ins Englische und

Deutsche übersetzt].

[Aus Wikipedia: „Jiddisch (שידיי oder שידיא, wörtlich jüdisch) ist die rund tausend Jahre alte

Sprache, die von den aschekanasischen Juden in Mittel- und Osteuropa gesprochen und

geschrieben wurde. Es ist nach allgemeiner Meinung eine aus dem Mittelhochdeutschen

hervorgegangene westgermanische, mit hebräischen, aramäischen, slawischen und weiteren

Sprachelementen angereicherte Sprache, die sich ab dem 11. Jahrhundert als Folge der Flucht

der Juden vor den christlichen Massakern im deutschsprachigen Bereich nach Osteuropa

verbreitete. Jiddisch diente als Alltagssprache, während Hebräisch und Aramäisch die

Sprachen von Liturgie und Gelehrsamkeit waren. Auch Jiddisch wird mit hebräischen

Schriftzeichen geschrieben.“]

3) ab 1921: restriktive Einwanderungspolitik (Einwanderungsgesetze von 1921 und 1924

beschränken die jährliche Einwanderung).

Die Gesamtzahl der Einwanderer aus Europa von 1820-1970 beläuft sich auf 45 Mio. Die

Schwankungen in der Auswanderung sind aufschlussreich:

1820-30 152‘000

1841-50 1‘713‘000

1861-70 2‘315‘000

1881-90 5‘2478‘000 (Krise in Europa; die Möglichkeit nach den USA

auswandern zu können, stellt ein soziales und

politisches Ventil dar)

1891-1900 3‘688‘000

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1901-10 8‘795‘000 (Gute Konjunktur in Europa; es wirken die

Anziehungsfaktoren)

1921-30 4‘107‘000

1931-40 528‘000 (Krise in den USA – starke Beschränkung der

Einwanderung! Das soziale und politische Ventil ist

in Europa nicht mehr vorhanden. Faschistische

Regierungen kommen in Europa an die Macht, vor

allem in Deutschland und Italien.)

1951-60 2‘515‘000 (relativ starke Auswanderung in die USA – die

Anziehungsfaktoren sind wieder wirksam; nach dem

Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust wollen viele

Europäer nicht mehr in Europa bleiben.)

Die Gesamtzahl der Einwanderer nach Ländern und Regionen (1820-1971) ist ebenfalls

aufschlussreich:

Grossbritannien 4'804'500 1888 1888: 108'700 (Krise in Europa)

Irland 4'715'000 1851 1851: 221'300 (Hungersnot in Irland)

Deutschland 6'925'700 1882: 250'600 (Krise)

Italien 5'199'300 1907: 285'700 (Anziehungskraft der USA

Kanada 3'991'400 1924: 200'700 (Wegen den Einwanderungs-

beschränkungen für Europäer in

den USA wanderten ver-mutlich

viele Europäer über Kanada in

die USA ein)

Höchste jährliche Einwanderung

2. 1. 3. Auswirkungen der Einwanderungen in den USA

1) Weil die Grosszahl der Immigranten zwischen 20 und 30 Jahren alt ist, kommt eine

günstige Bevölkerungsstruktur zustande (junge Bevölkerung). Die Geburtenziffer ist deshalb

höher als in Europa: 40.8‰ für die Jahre 1870-75; 34.3‰ für 1890-95; 27,5‰ für die

Zeitperiode 1910-15. Diese ökonomisch günstige Altersstruktur führt zu einer hohen

Erwerbsquote (Anteil der Arbeitsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung): 33% um 1870;

40% um 1910.

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2) Die Einwanderung hat dazu beigetragen, ein dünn besiedeltes Land zu erschiessen. Das

Bevölkerungswachstum war ein wichtiges Element für die Ausweitung des Binnenmarktes:

Die Nachfrage nach Konsumgütern (Nahrungsmittel, Kleider), Häusern und zusätzlicher

Infrastruktur (z.B. Schulen) nahm dramatisch zu. Alles musste neu geschaffen werden, was

riesige soziale und staatliche Investitionen erforderte.

Die Einwanderung und das damit verbundene sehr starke Bevölkerungswachstum hat also

die Konsumgüterindustrie (die Leichtindustrie) angekurbelt und erforderte den Aufbau

einer sozialen und religiösen Infrastruktur, z.B. Schulhäuser und Kirchen.

3) Die ersten Einwanderer (ab 1620) waren Mitglieder protestantischer Sekten

(Presbyterianer, Quäker), die mit der Englischen (Anglikanischen) Hochkirche in Konflikt

geraten waren (Nonkonformisten). Diese Nonkonformisten lebten nach strengen Regeln und

waren der festen Überzeugung, dass die Vereinigten Staaten das gelobte Land seien, in dem,

im Unterschied zum teilweise „lasterhaften“ und vielfach kriegszerissenen Europa, eine

bessere gottgefälligere Welt aufgebaut werden solle (amerikanisches Sendungsbewusstsein).

Die Freiheit alles tun zu können, das im Rahmen des Gesetzes liegt, ist der höchste Wert in

den USA geworden.

2. 2. Die zentrale Rolle des Eisenbahnbaus

2. 2. 1. Quantitative Dimensionen des Eisenbahnbaus

Zwischen 1840 und 1900 wurden in den Vereinigten Staaten fast ebenso viele Eisenbahnen

gebaut wie in der übrigen Welt. Für die USA war das besonders wichtig, weil Strassen und

Flusswege kaum vorhanden oder noch nicht benutzbar waren.

Zuerst erfolgte der Bau von nicht zusammenhängenden lokalen Linien in den Nord- und

Südstaaten. Um 1860 gab es ein Eisenbahn-Streckennetz von 25‘000 km sowohl in den

Nordstaaten wie auch in den Südstaaten.

Dann erfolgte der Bau der Kontinentaltransversalen. Die erste Linie wurde gleichzeitig von

zwei Baugesellschaften gebaut; die Union Pacific baute von der Ostküste her und die Central

Pacific von der Westküste her. Beide Bauplätze beschäftigten zehntausende (!) von

Arbeitern. Bei einem frenetischen Bau-Rhythmus wurden pro Tag mehrere Kilometer

Schienen gelegt. 1869 trafen die beiden Linien in Utah zusammen.

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Vier (!) weitere Transkontinentallinien wurden zwischen 1883 und 1893 fertig gestellt.

Insgesamt erfolgte ein rasanter Ausbau des Eisenbahnnetzes: 1860: 50‘000 km; 1880:

150‘000 km; 1914: 420‘000 km.

[Man kann sich leicht den Schrecken und Horror vorstellen, mit dem die Ureinwohner

Nordamerikas, die verschiedenen Indianerstämme, den Eisenbahnbau beobachtet haben. Die

Indianer hatten eine sehr grosse Ehrfurcht vor der Natur. So baten sie beispielsweise ihre

Götter um Verzeihung, bevor sie einen Baum fällten, um daraus ein Boot zu machen.

Pflanzen, Bäume und Tiere waren Teil der Natur und somit etwas Heiliges. Dazu gibt es ein

ausgezeichnetes Dokument: Wir sind ein Teil der Erde – Die Rede des Häuptlings Seattle

vor dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1855, Walter-Verlag,

Olten und Freiburg im Breisgau, 4. Auflage 1984; 1. Auflage 1982 (den Walter-Verlag gibt es

nicht mehr; deshalb kann man dieses kleine Büchlein (37 Seiten – grosse Buchstaben) nur

noch antiquarisch bekommen).

Ein paar Textstellen daraus:

1) „Der grosse Häuptling in Washington sendet Nachricht, dass er unser Land zu kaufen

wünscht.

Der grosse Häuptling sendet uns auch Worte der Freundschaft und des guten Willens. Das ist

freundlich von ihm, denn wir wissen, er bedarf unserer Freundschaft nicht. Aber wir werden

sein Angebot bedenken, denn wir wissen – wenn wir nicht verkaufen – kommt vielleicht der

weisse Mann mit Gewehren und nimmt sich unser Land. Wie kann man den Himmel kaufen –

oder die Wärme dieser Erde? Diese Vorstellung ist uns fremd.

Wenn wir die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers nicht besitzen – wie könnt Ihr sie

von uns kaufen? Wir werden unsere Entscheidung treffen.

Was Häuptling Seattle sagt, darauf kann sich der grosse Häuptling in Washington verlassen,

so sicher wie sich unser weisser Bruder auf die Wiederkehr der Jahreszeiten verlassen kann.

Meine Worte sind wie Sterne, sie gehen nicht unter [Hervorhebung H.B.]. Jeder Teil dieser

Erde ist meinem Volk heilig, jede glitzernde Tannennadel, jeder sandige Strand, jeder Nebel

in den dunklen Wäldern, jede Lichtung, jedes summende Insekt ist heilig, in den Gedanken

und Erfahrungen meines Volkes. Der Saft, der in den Bäumen steigt, trägt die Erinnerung des

roten Mannes“ (pp. 8 - 10).

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„Der grosse Häuptling [in Washington] teilt uns mit, dass er uns einen Platz gibt, wo wir

angenehm und für uns leben können [Reservate]. Er wird unser Vater und wir werden seine

Kinder sein. Aber kann das jemals sein? Gott liebt Euer Volk und hat seine roten Kinder

verlassen. Er schickt Maschinen, um dem weissen Mann bei seiner Arbeit zu helfen, und baut

grosse Dörfer für ihn [dabei muss man sich vor Augen halten, dass Indianer entscheidend zum

Bau von Wolkenkratzern beigetragen haben, weil sie schwindelfrei waren!]. Er macht Euer

Volk stärker, Tag für Tag. Bald werdet Ihr das Land überfluten wie Flüsse, die die Schluchten

hinabstürzen nach einem unerwarteten Regen.

Mein Volk ist wie eine ablaufende Flut – aber ohne Wiederkehr. Nein, wir sind verschiedene

Rassen. Unsere Kinder spielen nicht zusammen, und unsere Alten erzählen nicht die gleichen

Geschichten. Gott ist Euch gut gesinnt, und wir sind Waisen. Wir werden Euer Angebot,

unser Land zu kaufen, bedenken. Das wird nicht leicht sein, denn dieses Land ist uns heilig“

(pp. 11 - 13).

2) „[Der weisse Mann] behandelt seine Mutter, die Erde, und seinen Bruder, den Himmel, wie

Dinge zum Kaufen und Plündern, zum Verkaufen wie Schafe oder glänzende Perlen. Sein

Hunger wird die Erde verschlingen und nichts zurücklassen als eine Wüste“(p. 18).

[Ein anderer Indianer-Häuptling hat gesagt: „Wenn der letzte Baum gefällt und der letzte

Büffel getötet sein wird, dann erst wird der weisse Mann einsehen, dass man Geld nicht essen

kann.“]

3) „Ich bin ein Wilder und verstehe es nicht anders. Ich habe tausend verrottende Büffel

gesehen, vom weissen Mann zurückgelassen – erschossen aus einem vorüber fahrenden Zug

[Büffel abschiessen, wurde von den Weissen als eine Art Sport betrachtet]. Ich bin ein Wilder

und kann nicht verstehen, wie das qualmende Eisenpferd wichtiger sein soll als der Büffel,

den wir nur töten, um am Leben zu bleiben. Was ist der Mensch ohne die Tiere? Wären alle

Tiere fort, so stürbe der Mensch an grosser Einsamkeit des Geistes. Was immer den Tieren

geschieht – geschieht bald auch den Menschen. Alle Dinge sind miteinander verbunden“ (pp.

21 - 24). [In diesem Zusammenhang sagte Albert Einstein zum Bienensterben: „Sollten die

Bienen aussterben, würde der Mensch nicht mehr lange zu leben haben.“]

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4) „Könnt ihr denn mit der Erde tun, was ihr wollt – nur weil der rote Mann ein Stück Papier

unterzeichnet – und es dem weissen Manne gibt? Wenn wir nicht die Frische der Luft und das

Glitzern des Wassers besitzen – wie könnt Ihr sie von uns kaufen? Könnt Ihr die Büffel

zurückkaufen, wenn der letzte getötet ist?“ (p. 27).

--------------

In den Amerikas, vor allem in Nordamerika, sind also völlig unterschiedliche Zivilisationen

aufeinander getroffen: die europäische Zivilisation in materialistischer Form, die mit der

Natur oftmals brutal umging, und die indianischen Naturvölker mit hohen ethischen

Standards [unfähig zu lügen!], die in völliger Harmonie mit der Natur lebten.

Karl May (1842-1912) war ein deutscher Schriftsteller, der unter anderem das Leben der

nordamerikanischen Indianer beschrieb, auch ihren Kampf gegen die weissen Eindringlinge,

die ihnen das Land wegnahmen. Karl May hat insgesamt um 60 Bände (à etwa 800 Seiten)

geschrieben. Vielleicht das bekannteste Werk ist Winnetou, der Häuptling der Apachen war.

Zusammen mit drei Deutschen mit englischen Namen – Old Shatterhand, Old Surehand and

Old Firehand – kämpft Winnetou gegen hinterlistige und habgierige Europäer für

Gerechtigkeit und Frieden. Es gibt Filme zu einigen Werken von Karl May sowie

Freilichtspiele.

Zur Umwelt: Herman Melville (1819-1891) ist mit Moby Dick weltberühmt geworden. Moby

Dick ist ein Walfisch, der auf die Umweltzerstörung durch die Menschen reagiert und Schiffe

angreift.

Und das neueste zur Umweltproblematik:

Cormac McCARTHY (2006): The Road, London (Picador); deutsche Übersetzung: Die

Strasse: handelt von Amerika nach der Umweltkatastrophe!]

2. 2. 2. Auswirkungen des Eisenbahnbaus

1) Der Eisenbahnbau hat natürlich sehr starke multiplikative Effekte auf die

Industrieproduktion im Allgemeinen; vor allem entwickelt sich die Schwerindustrie rasant.

Die Schwerindustrie (Kapital- oder Investitionsgüterindustrie) besteht aus der Eisen- und

Stahlindustrie und der Maschinenindustrie.

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1870 arbeiteten 13,2% der Industriearbeiter in der Schwerindustrie (plus Transportwesen);

1910 waren es bereits 24,1%.

(Noch 1860 dominierte die Konsumgüterindustrie (Leichtindustrie) fast vollständig. Die

Investitionsgüter wurden importiert, vor allem aus England).

2) Wichtig: Der interne Markt für Industrieprodukte wird von 1857-1914 durch (sehr)

hohe Zölle geschützt (Dingsley tariff):

1857: Zolltarif: 20% des Importwertes; 1864: 48%! (Sezessionskrieg (1861-65)):

In den Jahren 1863-65 stammen 45% der Einnahmen der Bundesregierung aus Zöllen!

Wichtig: Der Sezessions-Krieg (1861-65) war in erster Linie ein Krieg des protektionistischen

Nordens (Friedrich List – Erziehungszölle!) gegen den freihändlerischen Süden (Baumwolle

nach Europa ausführen und Industrieprodukte von dort importieren).

Die Abschaffung der Sklaverei war natürlich auch ein wichtiger Kriegsgrund (Adam Smith:

Lohnarbeiter sind billiger als Sklaven, weil man Lohnarbeiter nach Belieben einstellen und

entlassen kann, nicht aber Sklaven!).

Vielleicht die berühmteste literarische Darstellung der Lebensbedingungen der Sklaven in den

Südstaaten ist Harriet Beecher Stowe: Onkel Toms Hütte.

Der Sezessionskrieg (1861 – 65) fand unter Präsident Abraham Lincoln (1809-65) statt. Er

brachte sozial gesehen den Untergang der Südstaaten-Kultur (Gutsbesitzer als Gentlemen und

ihre Frauen Ladies; meistens gute Behandlung der Sklaven auf den Baumwoll-Grossgütern!).

Der Untergang des südstaatlichen way of life ist in einem berühmten Buch festgehalten

worden: Margaret Mitchell: Vom Winde verweht (Gone with the Wind). Der auf

Grundlage dieses Buches gedrehte Film ist wie das Buch weltberühmt geworden (1940 erhielt

dieser Film 10 Oscars!).

Einige Angaben zum Film aus Wikipedia:

Produzent: David A. Selznick; Regie: Victor Fleming

Rolle Darsteller Synchronsprecher

Scarlett O'Hara Vivien Leigh Elfie Beyer

Rhett Butler Clark Gable Siegfried Schürenberg

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Melanie „Melly“ Wilkes Olivia de Havilland Tilly Lauenstein

Ashley Wilkes Leslie Howard Axel Monjé

Mammy Hattie McDaniel Erna Sellmer

Gerald O'Hara Thomas Mitchell Walter Werner

Prissy Butterfly McQueen Annemarie Wernicke

Onkel Peter Eddie Anderson Walter Bluhm

Pork Oscar Polk Herbert Weißbach

Belle Watling Ona Munson Hilde Hildebrand

Brent Tarleton Fred Crane Klaus Miedel

Frank Kennedy Carroll Nye Wolfgang Lukschy

----------

3) Der Eisenbahnbau führt zu sehr hohen Produktivitätsfortschritten in der

Schwerindustrie (Eisen-, Stahl- und Maschinenindustrie). Ein schlagendes Bespiel ist die

Zunahme der Arbeitsproduktivität in den Hochöfen (Index 1850 = 100):

1850 ist also der Index der Eisen- und Stahlproduktion 100; 1870 bereits 270; 1890 erreicht er

1060 und 1914 erreicht der Index fabelhafte 3180 (Ein Arbeiter in der Eisen- und

Stahlindustrie produzierte als 1914 fast 32 Mal mehr Eisen und Stahl als 1850!).

Wegen der steigenden Arbeitsproduktivität A = Qi/Ni in der Eisen- und Stahlindustrie sinkt

der Stahlpreis kontinuierlich. Eine Tonne Stahl kostete 1873: 100$; 1885: 20$; 1900: 12$.

Dies begünstigt natürlich die Verwendung von Stahl.

4) Der Eisenbahnbau trug dazu bei, die landwirtschaftliche Produktion zu entwickeln:

Die Senkung der Transportkosten ermöglicht den Transport von Getreide aus dem

Landesinnern – vor allem aus dem mittleren Westen an die Ostküste. Von hier aus wird

billiges Getreide nach Europa exportiert. Wie gesehen, schafft dies gewaltige Problemen für

die europäische Landwirtschaft, vor allem im Landwirtschaftsland Frankreich.

2. 3. Besondere Eigenschaften der amerikanischen Wirtschaft

Die US-Wirtschaft ist durch 4 zusammenhängende Phänomene gekennzeichnet:

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1) Mechanisierung

2) Konzentration

3) Produktivität (und hohe Löhne)

4) Massenkonsum (Nachfrage)

1) Mechanisierung

Für die einzelne Industrie gilt, dass eine zunehmende Kapitalintensität (Kapitalausstattung pro

Arbeiter) (Ki / Ni), d.h. Mechanisierung, zu einer höheren Arbeitsproduktivität Ai = (Qi / Ni)

führt; der Anstieg der Arbeitsproduktivität ist die Auswirkung der Mechanisierung.

a) Gründe:

1) Traditionell hohe Löhne sind ein Grund für die rasche Mechanisierung: eine hohe

Arbeitsproduktivität ist erforderlich, um hohe Löhne bezahlen zu können und gleichzeitig

hohe Profite zu erzielen.

2) Mechanisierung ist für den einzelnen Unternehmer ein Mittel, um im Konkurrenzkampf

überleben zu können; die Mechanisierung führt zu sinkenden Durchschnittskosten und

niedrigeren Preisen:

* bei gegebenen Geldlöhnen wG steigen die Reallöhne w (w = wG/p: p ist der Preis eines

Konsumgüterbündels; wG ist der Geldlohnsatz) und die effektive Nachfrage; die Kaufkraft der

Konsumenten steigt; dies ermöglicht wiederum höhere Produktionsmengen Qi und damit

steigende Arbeitsproduktivitäten Ai. Es kommen also unter Umständen kumulative Prozesse

zustande, in denen Nachfrage und Produktion sich gegenseitig hochschaukeln.

[Damit aber solche Prozesse zustande kommen, müssen aber die Reallöhne allgemein steigen,

am besten im Gleichschritt mit der Arbeitsproduktivität: wenn nämlich die

Arbeitsproduktivität schneller steigt als die Reallöhne, wird die Einkommensverteilung

ungleicher; die Nachfrage steigt dann weniger schnell als die Produktion; zunehmende

Arbeitslosigkeit ist die Folge. (Wiederum sieht man, dass die Theorie entscheidend ist für die

Interpretation von wirtschaftsgeschichtlichen Vorgängen.)]

b) Die steigende Mechanisierung ist verbunden mit einer hohen Investitionsquote:

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Im Zeitraum 1865-1914 betrug die durchschnittliche Brutto-Investitionsquote (IB/Y) etwa 22-

25%, die Netto-Investitionsquote (IN/Y) etwa 13-18% (das sind grobe Schätzungen).

Diese Quoten sind hoch, selbst im Vergleich mit Deutschland.

Die Netto-Investitionsquote (IN/Y) nimmt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasch

zu: im Durchschnitt 6-7%: 1805-40; 12%: 1849-58; ab etwa1870 findet eine Stabilisierung

bei ungefähr 18% statt. Eine steigende Netto-Investitionsquote impliziert eine höhere

Wachstumsrate: die Netto-Investitionen sind ja verbunden mit einer Ausweitung des

Kapitalstocks.

c) Die Mechanisierung wird in den USA erleichtert durch den Reichtum und die Vielfalt an

energetischen Ressourcen:

- Wasserkraft (wesentlich bei der Mechanisierung der Industrie).

- Kohle (1910 wird Grossbritannien im Pro-Kopf-Verbrauch überholt).

- Elektrische Energie (1913 werden 25% der Weltproduktion in den USA erbracht)

Um 1920 wird ⅓ der Fabriken mit elektrischer Energie betrieben.

- Erdölförderung: Die USA sind schon im 19. Jh. grösster Produzent.

d) In den USA gibt es in praktisch allen Industriezweigen eine systematische Suche und

Forschung, die auf Produktivitätssteigerungen ausgerichtet ist.

- In der Textil- und Metallindustrie findet eine Nachahmung englischer Techniken statt.

- In der Schuhindustrie scheinen Fortschritte schwer realisierbar; in den USA finden aber

spektakuläre Fortschritte im mechanischen Nähen von Leder statt; die Schuhproduktion

kann so mechanisiert werden; eine Billigproduktion von Schuhen kommt zustande, so

dass Schuhe exportiert werden können!

- Die Landwirtschaft ist jedoch das beste Beispiel für intensiven technischen Fortschritt:

Gegen Endes des 19. Jh. verbreiten sich Mäh-Dresch-Bündelungsmaschinen: Diese

Maschinen mähen den Weizen, dreschen und bündeln das Stroh. Diese

Riesenmaschinen wurden zuerst von 10-20 Pferden gezogen; später wurden natürlich

Verbrennungsmotoren eingesetzt!

Die Hektarerträge bleiben wegen des niedrigen Düngemitteleinsatzes relativ gering. Es wird

anfänglich extensive Landwirtschaft betrieben: Der Boden wird ausgelaugt, dann ziehen die

Bauern weiter, um Neuland zu bebauen. Beim ausgelaugten Boden wird die Erde staubförmig

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und trocken und wird nach Hitzeperioden vom Wind weggeblasen, so dass eine Verwüstung

eintritt! Diesen Praktiken wurde dann im Verlaufe des 20. Jahrhunderts allmählich ein Ende

gesetzt.

Als Folge der Mechanisierung war die Arbeitsproduktivität in der US-Landwirtschaft um

1910 herum 70-90% höher als in der deutschen und in der englischen Landwirtschaft.

e) Mechanisierung in der Industrie wird beschleunigt durch die Standardisierung der

Produkte; die Standardisierung dehnt sich rasch auf alle Produktionsbranchen aus.

So fand bereits um 1850 eine Standardisierung von Feuerwaffen (Colt-Revolver; bekannt aus

Wild-West-Filmen!), Nähmaschinen und landwirtschaftlichen Maschinen statt. Das

erleichterte allgemein die Arbeitsteilung und die Mechanisierung.

Die wissenschaftliche Organisation der Arbeit wird vom Ingenieur Taylor konzipiert; daraus

ist der Taylorismus hervorgegangen: Jede Bewegung der Arbeiter wird studiert und so

gestaltet, dass sich eine möglichst rasche Kadenz der Produktion ergibt.

Der Taylorismus verbreitet sich sehr rasch ab 1905, trotz negativer Begleiterscheinungen: Die

Steigerung der Kadenz führt zu nervösen Spannungen, Arbeitsmonotonie und

Disqualifikation! Als Weiterentwicklung des Taylorismus taucht die Fliessbandarbeit am

mobilen Produktionsband 1913 in den Automobilfabriken von Henry Ford auf.

Die Standardisierung wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus: Wohnung, Kleidung, Essen

(Konserven, Fast Food!).

Verbesserungen im Transportwesen (Eisenbahnen) vergrössern die Märkte. Das hat

Rückwirkungen auf Mechanisierung und Standardisierung, die eine teilweise Vernichtung des

Handwerks zur Folge haben.

Eine Folge dieser Entwicklungen ist, dass sich in der Produktion hochqualifizierte und

unqualifizierte Arbeiter gegenüberstehen: Spitzeningenieure und unqualifizierte Arbeiter. So

wird es schwierig, Erfindungen wirtschaftlich umzusetzen.

[Als Gegensatz dazu entwickeln in der Schweiz ETH-Ingenieure Konzepte, um inventions

(Erfindungen) in innovations (wirtschaftliche Umsetzung von Erfindungen) umzusetzen.

Techniker übernehmen diese Konzepte und bauen Prototypen, die dann verbessert werden.

Schliesslich wird die Produktion von hochqualifizierten Handwerkern durchgeführt. Durch

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diese Ausbildungshierarchie kommt Spitzenqualität zustande, die die Stärke der

schweizerischen, aber auch der deutschen und japanischen Wirtschaft ausmachen. In diesen

Ländern konzentriert sich der Fortschritt auf bestimmte Bereiche, die eine hohe Qualität

erfordern, z.B. chirurgische Instrumente und Uhren. Der Gegensatz Amerika (Quantität) und

Europa (Qualität) ist bezeichnend!]

2) Konzentration

a) Ausmass

Mechanisierung und technischer Fortschritt sind verknüpft mit Konzentration: Grossfirmen

bauen ihren Produktivitätsvorsprung durch hohe Bruttoinvestitionen sowie Forschungs- und

Entwicklungstätigkeit aus. Grossfirmen beschäftigen oftmals hunderte von Forschern, die

einen ansteigenden Strom von Erfindungen "produzieren". Einige Sektoren werden von der

Regierung unterstützt, was die Forschung angeht: Landwirtschaft, Bergwerke. Dies scheint

der liberalen Doktrin nicht zu widersprechen!

Heute stehen die militärische Forschung und Entwicklung im Vordergrund. Das hat

Auswirkungen auf den zivilen Sektor, z. B. die Flugzeugindustrie; im Zuge der beiden

Weltkriege ist der militärisch-industrielle Komplex entstanden, der heute das vielleicht

wichtigste Machtzentrum der Vereinigten Staaten darstellt.

b) Charakter der Konzentration

Wie in Deutschland entstehen Konzerne vielfach durch vertikale Konzentration; ein

Standardbeispiel ist die Carnegie Steel Company:

1) Kohle- und Eisenerzförderung

2) Hochöfen: Eisen- und Stahlproduktion

3) Maschinenbau

4) Vermarktung der (komplexen) Produkte, mit after-sale service im Zentrum.

[Andrew Carnegie ist das typische Beispiel der Verwirklichung des American Dream:

Andrew Carnegie war der Sohn eines irischen Webers, geboren 1835 in Dublin. Er war zuerst

Laufbursche, dann Handlanger im Bereich Maschinenreinigung und schliesslich höherer

Eisenbahnbeamter; 1868 führt er das Bessemer-Verfahren zur Stahlproduktion in den USA

ein (dieses Verfahren erlaubt es, Stahl von viel besserer Qualität als bisher zu produzieren); er

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gründet seine eigene Stahlfabrik. 1901 ist er alleiniger Mehrheitsaktionär der Carnegie Steel

Company, der grössten Stahl- und Maschinenfabrik der Vereinigten Staaten.]

*Kartelle (in den USA pools) konnten sich in den USA nicht halten. Der Wettbewerb und

damit auch der dynamische (Schumpetersche Unternehmer) setzte sich durch. Allerdings

wurde der Wettbewerb ein monopolistischer Wettbewerb (zwischen Grossunternehmen).

*Trust impliziert die Leitung mehrerer Unternehmungen durch ein Gremium von trustees

(Vertrauenspersonen, die den Aktionären gegenüber verantwortlich sind). Die Trusts hatten in

den USA nur eine kurze Existenzdauer:

Der Sherman Anti-Trust Act legt 1890 fest, dass Trusts, Kartelle und Absprachen illegal sind.

Dies kann jedoch die Konzentration nicht verhindern. Diese nimmt juristisch gesehen, andere

Formen an: vor allem die der HOLDING, eine Finanzgesellschaft, die die Aktienmehrheiten

mehrerer Unternehmung hält, und die Unternehmenspolitik (vor allem bezüglich

Finanzierung) weitgehend bestimmt.

Die HOLDING wird durch die Gesetzgebung und die Gesetzesauslegung toleriert! Beispiele:

Die Standard Oil von Rockefeller wurde 1882 als Trust gegründet, 1890 durch einen

Gerichtsbeschluss in 20 Gesellschaften aufgeteilt und 1899 in der Form einer Holding-

Gesellschaft wiederhergestellt.

Der Einfluss der grossen Holding-Gesellschaften auf die Wirtschaft nimmt ab 1890 in den

USA noch schneller zu als in Deutschland, was eine zunehmende Verflechtung von Finanz-

und Industriesektor impliziert. Zum Beispiel umfasst die Rockefeller Holding

1) eine Gruppe von Industrieunternehmungen

2) verschiedene Eisenbahngesellschaften

3) mehre Grossbanken (darunter zum Beispiel die National City Bank).

Die stärkste Finanzgesellschaft ist jedoch die Morgan Holding, die sich um die Investment

Bank gebildet hat. Riesenprofite aus dem Eisenbahnbau ermöglichen die Kontrolle über

- verschiedene Banken (z.B. die First National Bank),

- Finanzgesellschaften von erstrangiger Bedeutung,

- 25% (!) des Kapitals, das in die amerikanischen Eisenbahnen investiert war,

- die wichtigsten Versicherungsgesellschaften und

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- vielfältige Beteiligungen an Industriegesellschaften.

Die Morgan Finance spielt eine sehr aktive Rolle bei den Fusionen um 1900: zwischen 1895

und 1897 verschwinden 46 Unternehmen mit einem Kapital von 62 Millionen US $ durch

Fusionen, von 1898-1902 sind es 531 Unternehmen mit einem Kapital von 1260 Millionen

US $. Die damit verbundene Massenproduktion bringt drastische Preissenkungen.

Die Fusionen ergreifen alle Bereiche, von den Grundstoff - und Produktionsgütern bis zur

Konsumgüterindustrie, inklusive Vertrieb und Banken.

Die Kulmination dieses Fusionsprozesses stellte 1901 die Schaffung der US Steel

Corporation unter der Leitung von John Pierpoint Morgan dar: Die US Steel war die erste

Gesellschaft mit einem Kapital von substantiell mehr als einer Milliarde $. Diese

Riesengesellschaft fasst das Carnegie-(Stahl)Erbe und die meisten Konkurrenten

Carnegies zusammen. Sie kontrolliert 65% (!) der amerikanischen Stahlproduktion!

Impliziert horizontale Konzentration (Stahl) und vertikale: Maschinenindustrie!

Fazit: Der Sherman Anti-Trust Act konnte die Konzentration nicht verhindern!

In Folge sinken die Preise, die im Produktionsprozess bestimmt werden, und nicht auf dem

Markt; die Einkommensverteilung wird gegen Ende des 19. Jh. markant ungleicher. Trotz

sinkenden Preisen ermöglicht die mit der Konzentration sehr stark gestiegene

Arbeitsproduktivität hohe Profite.

Das Finanzkapital führt zur absentee ownership (Thorstein Veblen), d.h. zur Trennung von

Eigentum und Management. Die Eigentümer von Aktiengesellschaften (die

Mehrheitsaktionäre oder eben absentee owners) beziehen vielfach hohe Dividendenbeträge.

Deshalb kam die sozialistische Idee auf, dass Grossunternehmen verstaatlicht werden sollten,

wobei Klein- und Mittelbetriebe privat bleiben würden. Die für die Dividenden von

Grossunternehmen vorgesehenen Beträge würden dann in der Form von Steuern an den Staat

abfliessen. Das würde die allgemeine Bevölkerung steuerlich entlasten. Es ging also darum,

wem bedeutende Teile des sozialen Überschusses zufliessen, den Mehrheitsaktionären von

Grossunternehmen oder dem Staat. Dieses Problem hat den grundlegenden Widerspruch

zwischen Kapitalismus und Sozialismus verschärft und hat entscheidend zum

unversöhnlichen Gegensatz zwischen den beiden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem

beigetragen.

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c) Konzentration und Arbeitsbedingungen

Produktivitätsfortschritte werden in den USA nicht nur über hohe Bruttoinvestitionen,

sondern auch über harte Arbeitsbedingungen realisiert. Diese sind härter als in Europa, vor

allem was die

1) Kadenz (Intensität) der Arbeit und

2) die Arbeitszeit

anbetrifft.

Am Ende des 19. Jh. sind Arbeitstage von 10 Stunden die Regel (in den Stahlwerken von

Carnegie werden12 Stunden pro Tag gearbeitet).

Die Kinderarbeit nimmt vor allem im Süden bis zum Ersten Weltkrieg zu.

Arbeitsunfälle sind häufiger als in Europa (Fehlen von Reglementen und Kontrollen).

Arbeiter, die einen Unfall erleiden, werden vielfach von den Gerichten für den Unfall als

verantwortlich erklärt; sie erhalten deshalb keine Entschädigung. Ein

Sozialversicherungssystem (wie es in Deutschland besteht) kommt nicht in Frage. Bleibt auch

im 20. Jh. ein permanentes Problem. Hillary and Bill Clinton haben permanent versucht, ein

obligatorisches Versicherungssystem aufzubauen, vor allem, was die Krankenversicherung

angeht! Eventuell gelingt es jetzt Präsident Obama. Schwerwiegend ist das Fehlen des

Obligatoriums bei Krankenversicherungen. Weil die Prämien bei den privaten Kassen hoch

sind, versichern sich vor allem junge Leute nicht, was sich im Falle einer schweren Krankheit

oder eines Unfalls katastrophal auswirkt.

Die Bildung einer Arbeiterbewegung, obwohl diese gemässigt ist, ist mit harten Konflikten

verbunden:

Es gibt Streikwellen 1877, 1886, 1892-94, 1900-05; die Streiks werden oftmals regelrecht

niedergeschlagen, wobei ein knallharter Polizeieinsatz die Regel ist.

1898 erfolgt die Gründung eines gewerkschaftlichen Dachverbandes, der American

Federation of Labour (AFL); anfänglich ist eine sehr rasche Zunahme der Mitgliederzahlen zu

verzeichnen: 278‘000:1898; 1‘676‘000: 1904; dann erfolgt eine Stabilisierung.

Das Hauptziel der AFL ist die Anerkennung der gewerkschaftlichen Rechte. Der Justizapparat

ist gegen die Gewerkschaften eingestellt, gestützt auf den Sherman-Anti-Trust-Act

(Gewerkschaften bedeuten eine Beeinträchtigung der Konkurrenz!).

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Die Arbeitgeber haben das Recht im Arbeitsvertrag eine Klausel einzubauen, die die

Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft untersagt. Gestützt auf den Sherman-Anti-Trust-Act

werden (fragmentarische) Sozialmassnahmen einzelner Staatsregierungen sowie der

Bundesregierung annuliert!

Erst 1914: Clayton Act garantiert die Ausübung gewerkschaftlicher Rechte.

d) Konzentration, Löhne und Arbeitslosigkeit

Zwischen 1865 und 1915 hat sich das Reallohnniveau praktisch verdoppelt (+98%):

entspricht einer jährlichen Wachstumsrate von 1,4%, bedeutend weniger als das Wachstum

der Arbeitsproduktivität: Die funktionelle Einkommensverteilung ist ungleicher geworden.

Der relativ langsame Anstieg der Reallöhne, die vorher erwähnten harten Arbeitsbedingungen

sowie die Existenzprobleme der Gewerkschaften sind vermutlich auf die relativ hohe

Arbeitslosigkeit zurückzuführen, die in den USA bestand (Schätzungen; reale Zahlen

vermutlich viel höher):

Durchschnittliche Arbeitslosigkeit in Prozent pro angezeigten Zeitraum

1800-39 1840-69 1870-79 1880-89 1890-99 1900-09

1-3 3-6 10 (?) 4 (?) 10 0

Die schwache Stellung der Arbeitnehmer bewirkt relative hohe Arbeitslosigkeit.

Die Arbeitslosigkeit erklärt auch, dass die Mechanisierung nicht auf Substitution von Arbeit

durch Kapital (Arbeit war gewissermassen im Überfluss vorhanden!) bestand; sondern:

einzelner Arbeiter wird mit mehr Kapital ausgestattet, um billiger produzieren zu können →

wettbewerbsfähig bleiben.

----------

[Aus Wikipedia:

„08.11.2009, US-Arbeitslosigkeit angeblich so hoch wie 1931

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Offiziell liegt die Arbeitslosenquote der USA bei 10,2 Prozent. Doch laut der renommierten

"New York Times" [vom 08.11.2009] muss sie wohl deutlich höher veranschlagt werden –

jeder sechste US-Amerikaner sei mittlerweile ohne richtigen Job. Ein Wert, der an die Zeit

der großen Depression erinnert.

Die Arbeitslosigkeit in den USA hat nach einem Bericht der „New York Times“ inzwischen

fast das Niveau der großen Depression der 1930er Jahre erreicht: Die „echte“

Arbeitslosenquote liegt einem Bericht der Zeitung vom Samstag zufolge bei inzwischen 17,5

Prozent.

US-Arbeitsagentur: Jeder sechste Bürger des Landes soll ohne Job sein

Das US-Arbeitsministerium hatte am Freitag die Arbeitslosenquote im Oktober – trotz der

Konjunkturerholung – mit 10,2 beziffert, der offiziell höchsten Quote seit 1983.

In Wirklichkeit ist der „New York Times“ zufolge inzwischen mehr als jeder sechste US-

Arbeitnehmer ohne richtigen Job, das heisst etwa 17%. Die angesehene Zeitung begründet

ihre Analyse mit dem Verweis auf entmutigte Arbeitnehmer, die sich nicht mehr registrieren

ließen sowie Teilzeit-Arbeitnehmer, die einen Vollzeit-Arbeitsplatz wollten.

US-Präsident Barack Obama hatte den jüngsten Anstieg der Arbeitslosenquote als ein

„ernüchterndes Zeichen“ bezeichnet. Er unterzeichnete am Freitag ein Gesetz, das eine

Verlängerung der Arbeitslosenhilfe und Steuervergünstigungen für Erstkäufer von Häusern

vorsieht. Diese Maßnahmen würden das Wirtschaftswachstum fördern und Arbeitsplätze

schaffen, sagte Obama.

Wie das Arbeitsministerium mitteilte, fielen allein im Oktober 190.000 Jobs weg, 15.000

mehr als von Experten erwartet. Damit hat der Stellenabbau aber erneut an Schärfe verloren:

Zum Höhepunkt der Krise im Januar war etwa fast eine dreiviertel Million Arbeitsplätze

verloren gegangen, im September waren es noch 219.000. Im Oktober erreichte die Quote nun

10,2 Prozent, nach 9,8 Prozent im September.

Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit sei problematisch, weil sie der US-Regierung den Ernst

der Lage vor Augen führe, sagte Tom Sowanick von der Omnivest Group. „Washington wird

nun nach Möglichkeiten Ausschau halten, das Konjunkturpaket aufzustocken.“ Die

Entwicklung am Arbeitsmarkt ist entscheidend für die Konsumausgaben, die wiederum rund

zwei Drittel der Wirtschaftsleistung in den USA ausmachen.“]

[Arbeitslosenzahlen sind immer politisch hochbrisant. Die Regierungen versuchen deshalb,

die Arbeitslosenzahlen zu minimieren. Unabhängige Schätzungen, durch Zeitungen zum

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Beispiel, sind deshalb besonders wichtig. Das heisst auch, dass gute und unabhängige

Wirtschaftsjournalisten heute von grösster Bedeutung sind.]

-----------------

3) Produktivität und 4) Massenkonsum

Fordismus: Die Mechanisierung erhöht die Arbeitsproduktivität. Um die Produktion

abzusetzen, muss eine entsprechende Nachfrage geschaffen werden; das erfordert hohe

Löhne.

Henry Ford hat diese Theorie in die Praxis umgesetzt, deshalb Fordismus!

1913 haben die USA 500‘000 Automobile produziert (das ist ein Drittel des damaligen

Bestandes an Automobilen!).

Die Ford-Fabriken stellen mehr Automobile her als die übrige Welt zusammengenommen.

Henry Ford hat ausdrücklich festgehalten, dass ein Unternehmen hohe Löhne bezahlen sollte,

damit die Arbeiter ihre Produktion aufkaufen können. Das stimmt gesamtwirtschaftlich bei

(cW > cP): die Konsumneigung aus den Löhnen (cW) muss grösser sein als die

Konsumneigung aus den Profiten; wäre diese Bedingung nicht erfüllt, würden niedrigere

Löhne und steigende Profite den Konsum steigern! Also die Löhne müssen allgemein steigen,

damit der Konsum zunimmt.

Der Fordismus gilt jedoch nicht einzelwirtschaftlich:

1) Arbeiter geben nur einen relativ geringen Teil ihres Einkommens zum Kauf des

Gutes aus, das sie produzieren;

2) hohe Löhne verteuern das Produkt, so dass die Arbeiter anderer Sektoren weniger

von ihm nachfragen.

3) das heisst: alle Sektoren müssen hohe Löhne bezahlen: die Löhne müssen allgemein

steigen.

2. 4. Binnenmärkte und Autarkie; die Rolle des Aussenhandels

a) Binnenmärkte und Autarkie

Wegen ihrer hervorragenden Rohstoffausstattung bleiben die USA relativ autark: der Anteil

der Exporte und Importe am Sozialprodukt bleibt relativ gering; das war lange ein

Kennzeichen der amerikanischen Wirtschaft:

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Das Aussenhandelsvolumen der US-Wirtschaft [(X + M) / Q] betrug 1879 15.1%, 1909

10.5%. Die Aussenhandelsverflechtung hat also relativ (nicht absolut!) abgenommen. Das

zeigt auch die Entwicklung der Exportquote: 1879: 9% und 1909: 5.6%.

Die Entwicklung der US-Wirtschaft beruht demnach vor allem auf dem Wachstum der

Binnennachfrage

1) Das hohe Bevölkerungswachstum (wegen Einwanderung besonders hoch) führt zu einer

starken Nachfrage nach allen Konsumgütern (Nahrungsmittel, Kleider, Häuser und

Wohnungen, etc.), d.h. zu einem Aufbau einer Leichtindustrie oder

Konsumgüterindustrie.

- Die damit verbundene Nachfrage nach Investitionsgütern ist hoch (Ausstattung von

Arbeitsplätzen).

- Sehr hohe Immobiliennachfrage (Wohnhäuser), eben wegen der Einwanderung.

- Eine Infrastruktur muss aufgebaut werden (Schulen, Kirchen: die strenggläubigen

Protestanten – und später auch die Katholiken – legten darauf grossen Wert).

2) Der Eisenbahnbau führt zum Aufbau einer Schwerindustrie (Eisen- Stahl- und

Maschinenindustrie)

3) Der intensive technische Fortschritt erfordert hohe Ersatzinvestitionen (bestehende

Maschinen werden rasch durch neue ersetzt, vor allem wegen technischer, nicht physischer

Veraltung).

4) Der landwirtschaftliche Sektor wächst sehr rasch, auch wieder wegen dem starken

Bevölkerungswachstum, vor allem bewirkt durch die Einwanderung. Der

landwirtschaftliche Überschuss löst eine Nachfrage nach Industrieprodukten aus

(industrielle Konsumgüter; landwirtschaftliche Investitionsgüter); andererseits liefert der

landwirtschaftliche Sektor (Rohstoffsektor) dem Industriesektor

- Nahrungsmittel zur Ernährung der Industriearbeiter;

- Rohstoffe, die von der Industrie verarbeitet werden.

Das Zwei-Sektoren-Schema von Adam Smith (Zusammenspiel von Landwirtschaft und

Industrie) ist also im Landwirtschaftsland USA ähnlich wie in Frankreich, auch ein

Landwirtschaftsland, von grösster Bedeutung, wenigsten in den ersten Phasen der

wirtschaftlichen Entwicklung. [Heute führt die sehr gross US-Produktion an Weizen zu

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Exporten, die dann die Binnenwirtschaft positiv beeinflussen; die Weizenexporte sind in

der Regel sehr stark subventioniert.]

b) Die Rolle des Aussenhandels

Der Aussenhandel spielt eine wichtige Rolle als dynamisches Element, wenn auch seine

Bedeutung relativ gering ist:

Exporte wachsen (1860-1914) rasch, ähnlich wie deutsche Exporte. Die Importe werden

dagegen mit hohen Zöllen gebremst. Protektionismus besteht ab 1861, dem Beginn des

Sezessionskrieges:

Von 1861 – 1912 beträgt der durchschnittliche Zollsatz etwa 40%, und ist damit ungefähr

doppelt so hoch wie der Zollsatz derjenigen Nationen Europas, die den stärksten

Protektionismus betreiben! Etwa 50% der Staatsausgaben werden durch Zölle gedeckt – das

bedeutet, dass die Amerikaner niedrige Steuern bezahlten!

[Die Geschichte von Protektionismus und Freihandel in den USA von 1861 bis heute wäre ein

hochinteressantes Thema!]

Die Handelsbilanz ist im 19. Jh. vorwiegend negativ (bis etwa 1860); der Importüberschuss

wird durch europäisches Kapital finanziert. Ab 1875 entstehen jedoch regelmässige Export-

Überschüsse. 1913 beträgt der Export-Überschuss 30% der Importe!

Struktur der Exporte: Der Anteil der Rohstoffe und der landwirtschaftlichen Produkte am

Export nimmt ständig ab, der Anteil der Fertigprodukte stetig zu; in den Jahren 1906-10

stellten die Fertigprodukte im Durchschnitt 42% der Exporte dar!

Die USA werden bezüglich Industrieprodukte immer wettbewerbsfähiger. Sie sind in der

Lage die Zölle zu senken (der Underwood Simpson Act von 1913 senkt den

durchschnittlichen Zollsatz von 40% auf 29%. Am meisten entlastet werden Fertigprodukte

für die die USA einen Wettbewerbsvorsprung erzielt haben (Maschinen, Automobile). 1917

schliesslich, als Europa am Boden lag (Erster Weltkrieg), fordert Präsident Woodrow

Wilson Freihandel für alle!!

Die USA sind also durch eine knallharte merkantilistisch-protektionistische Politik zur

ersten Wirtschaftsmacht aufgestiegen; 1914 standen sie bereits ganz oben und der Erste

Weltkrieg brachte eine dramatische Ausweitung des US-Vorsprungs.

Tatsächlich haben die Vereinigten Staaten enorm von den beiden Weltkriegen profitiert: Der

Erste Weltkrieg machte die USA zur Finanzgrossmacht auf Kosten Englands. Und der Zweite

Weltkrieg, nicht der New Deal, hat die Vereinigten Staaten aus der Krise herausgeholt; in

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diesem Zusammenhang sagte der grosse amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith

einmal: Der Zweite Weltkrieg hat uns gerettet.