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Zürcher Unterländer, 15. Mai 2012; Thurgauer Zeitung, 16. Mai 2012 Seele eines Begegnungsorts Solothurn. Am Auffahrtstag beginnen die 34. Solothurner Literaturtage. Es sind die letzten unter der Federführung von Vrony Jaeggi und damit der Abschluss einer lan- gen schönen Geschichte. Bernadette Conrad Vrony Jaeggi in ihrem Literaturtage-Büro in Solothurn Bild: Bernadette Conrad “Das Wort Geschäftsleiterin habe ich wahr- scheinlich zum ersten Mal benutzt, als ich die Arbeit schon zehn Jahre machte,“ erinnert sich Vrony Jaeggi lächend an die Anfänge der Solothurner Literaturtage. “Anfangs waren wir um die zehn in der Geschäftsleitung, das hat sich dann schnell reduziert auf Hanspeter Rederlechner, Noldi Lüthy und mich, wobei ich von Beginn an die Geschäfte übernahm.“ Es war eine andere, unbürokratischere Zeit, „eine Aufbruchstimmung, zu der auch die Gründung der Genossenschaft Kreuz gehört; es war eben die aktive Linke, eine ganz ande- re Denklandschaft als heute. Vieles hat sich inzwischen verflacht.“ Umso erstaunlicher, dass mit den Literaturta- gen als anspruchsvolles Literaturfest auch deren „Geist“ über die Zeit gerettet werden konnte: Die Solothurner Literaturtage blieben ein Festival, das neue Strömungen themati- sierte und aufnahm, ohne zum hektischen „Event“ zu werden. Die Begegnung von Au- toren und Lesern sowie die Auseinanderset- zung mit Texten steht noch heute im Mittel- punkt. „Der Erfolg hat viel mit dem Ort selbst

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Zürcher Unterländer, 15. Mai 2012; Thurgauer Zeitung, 16. Mai 2012

Seele eines Begegnungsorts Solothurn. Am Auffahrtstag beginnen die 34. Solothurner Literaturtage. Es sind die letzten unter der Federführung von Vrony Jaeggi und damit der Abschluss einer lan-gen schönen Geschichte. Bernadette Conrad

Vrony Jaeggi in ihrem Literaturtage-Büro in Solothurn Bild: Bernadette Conrad “Das Wort Geschäftsleiterin habe ich wahr-scheinlich zum ersten Mal benutzt, als ich die Arbeit schon zehn Jahre machte,“ erinnert sich Vrony Jaeggi lächend an die Anfänge der Solothurner Literaturtage. “Anfangs waren wir um die zehn in der Geschäftsleitung, das hat sich dann schnell reduziert auf Hanspeter Rederlechner, Noldi Lüthy und mich, wobei ich von Beginn an die Geschäfte übernahm.“ Es war eine andere, unbürokratischere Zeit, „eine Aufbruchstimmung, zu der auch die Gründung der Genossenschaft Kreuz gehört; es war eben die aktive Linke, eine ganz ande-

re Denklandschaft als heute. Vieles hat sich inzwischen verflacht.“ Umso erstaunlicher, dass mit den Literaturta-gen als anspruchsvolles Literaturfest auch deren „Geist“ über die Zeit gerettet werden konnte: Die Solothurner Literaturtage blieben ein Festival, das neue Strömungen themati-sierte und aufnahm, ohne zum hektischen „Event“ zu werden. Die Begegnung von Au-toren und Lesern sowie die Auseinanderset-zung mit Texten steht noch heute im Mittel-punkt. „Der Erfolg hat viel mit dem Ort selbst

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zu tun“, sagt Jaeggi und bezieht sich auf den malerischen Schauplatz zwischen Landhaus und Kreuz, gebettet zwischen Fluss und baro-cker Altstadt. Die Ausstrahlung dieser drei Tage intensiven Miteinanders zwischen Kreuz und Landhaus ist ungebrochen. 2011 hatten die Literaturtage mit 13.000 Eintritten einen neuen Rekord. Ein Mammutjob Vrony Jaeggi wuchs hinein in eine Arbeit, die sich längst zu einem Mammutjob mit weit mehr als 100 Prozent ausgewachsen hat. “Dass die Literaturtage Zukunft haben wür-den, war eigentlich klar, seit das Publikum im ersten Jahr kam”. Man hatte hinüber zu den Festivals nach Klagenfurt und zur Gruppe 47 geschaut – und wollte etwas entschieden an-deres. „Keinen Wettbewerb, keine isolierten Autorenauftritte! Demokratie und Begegnung seien die zentralen Stichworte gewesen, sagt Jaeggi. „Solothurn sollte Begegnungsort für all die verschiedenen Büchermenschen sein, die anreisten.“ „Distanz, Befremden, Stumm-heit“, schrieb Otto F. Walter programmatisch, könnten so „abgebaut werden. Literatur soll ins öffentliche Gespräch eingreifen und um-gekehrt sich diesem aussetzen“. Wahrscheinlich wäre es viel zu wenig, zu sagen: dies ist auch Vrony Jaeggis Verdienst. Ihre Handschrift steckt in allem. Neben Spon-sorensuche, Autorenkontakten, Organisation, Programmheft und Werbung verantwortet sie das Rahmenprogramm und macht „nebenbei“ auch die Buchhaltung. Und die Literaturtage wuchsen. Konnte man zu Beginn „noch das ganze Programm schlürfen“, lief es schon im dritten Jahr doppelspurig. Heute finden teils vier Veranstaltungen gleichzeitig statt! Auch die andere grosse Veränderung wurde nicht von allen Gründungsmitgliedern der Solothurner Literaturtage begrüsst: der Schritt ins Internationale. Seit 1992 ist die Zahl der ausländischen Gäste nicht von vornherein begrenzt; es besteht auch die Möglichkeit, etwa einen Länderschwerpunkt zu setzen – wie dieses Jahr auf den Nahen Osten. “Ich fand das grossartig, aber das ging nicht allen

so“, erklärt Jaeggi. Nie gerüttelt wurde an der rotierenden Besetzung der Programmkom-mission. Dazu Jaeggi: „Das ist genial, weil es garantiert, dass keine Richtung irgendwann die anderen dominiert – und immer wieder neue Ideen entstehen.“ Für neue Formate et-wa – wie letztes Jahr , als sich „Autoren als Leser“ dem Publikum präsentierten. Diesmal werden einige darüber erzählen, wie sich für sie der „Kuss der Muse“ vollzieht. Manchmal denke sie, man könnte den Anlass auch wie-der „zurückfahren und zu einer kleinen feinen Sache machen“. Ideen für die Zukunft Diese 34. Literaturtage werden die letzten unter Vrony Jaeggis Obhut sein. “Ich habe es nicht geschafft, mir über Assistenten oder Praktikantinnen eine wirkliche Entlastung zu verschaffen. Sehen Sie, mein ganzes Haus ist voll mit den Literaturtagen”, sagt Vrony Jaeggi und weist auf die meterhohen Bücher- und Papierstapel hin, die sich keineswegs auf ihr Büro beschränken. „Noch laufen alle Fä-den bei mir zusammen.” Als sie vor einein-halb Jahren bei Glatteis mit dem Fahrrad stürzte und sich die Kreuzbänder riss, habe sie Angst bekommen, denn “niemand würde aus dem Stand heraus das Ganze übernehmen können.” Da habe sie angefangen, übers Auf-hören nachzudenken. Leicht ist das nicht, „denn natürlich ist jedes Jahr wieder die Freude da, wenn ich das neue Programmheft in der Hand halte, oder wenn wir wieder mal ein neues Format probieren – das könnte ich noch lang weitermachen. Aber ich habe schon vor 40 Jahren in der Buch-handlung gekündigt, weil ich keine Zeit mehr zum Lesen hatte. Jetzt freue ich mich darauf, oder auch im Garten zu arbeiten, mich mit Freunden zu treffen.“ Sie wird weiterhin im Literaturtage-Verein aktiv sein. „Ich wünsche mir, dass die Litera-turtage ein vor allem literarischer Treffpunkt bleiben. Und vielleicht gibt es ja mal ein Lite-raturhaus für Solothurn? Lesungen unter dem Jahr, Platz für ein Literaturtage-Büro und mit einer kleinen Schriftstellerwohnung?“ Die Kreativität ist ungebrochen.