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BLOOMSBURY PUBLISHING • LONDON • NEW YORK • BERLIN Jamie Ford Keiko Roman Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence

Jamie Ford: Keiko

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Henry und Keiko, er chinesischer Abstammung, sie japanischer, lernen sich 1942 an einer Schule in Seattle kennen. Nicht nur sind sie dort beide Außenseiter, sie verbindet auch die Begeisterung für Jazzmusik. Schnell reift eine zarte Liebe zwischen ihnen heran. Doch dann wird Keikos Familie nach dem Angriff auf Pearl Harbor in ein Internierungslager für US-Japaner gebracht.

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BLOOMSBURY PUBLISHING • LONDON • NEW YORK • BERLIN

Jamie Ford

Kei koRoman

Aus dem Amerikanischenvon Werner Löcher-Lawrence

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DAS PANAMA HOTEL(1986)

Der alte Henry Lee stand wie gebannt da und verfolgte das Hin und Her vor dem Panama Hotel. Zunächst hatten nur ein paar Neugierige das Nachrichten-Team des Fernsehens dabei beobachtet, wie es sich dort für Dreharbeiten vorbereitete, aber mittlerweile war daraus eine kleine, friedliche Ansammlung von Einkaufenden, Touristen und ein paar Straßenkindern gewor-den, und alle fragten sich, um was es da wohl ging. Mit in vor-derster Reihe stand Henry, links und rechts mit Einkaufstaschen behängt, und fühlte sich, als wachte er aus einem lange vergesse-nen Traum auf. Einem Traum, den er als Junge einmal geträumt hatte. Das erste Mal war er mit zwölf zu dem altbekannten Seatt-ler Hotel gekommen, damals, 1942, in den »Kriegsjahren«, wie er die Zeit gerne nannte. Schon da war das alte »Junggesellen«-Hotel eine Art Scheidepunkt zwischen Seattles Chinesenviertel und Nihonmachi gewesen, dem Viertel der Japaner. Chinatown und Nihonmachi, das waren die Außenposten eines uralten Konflikts. Chinesische und japanische Einwanderer sprachen kaum miteinander, auch wenn ihre in Amerika geborenen Kin-der manchmal eine alte Dose aus dem Müll holten und damit gemeinsam auf der Straße Fußball spielten. Das Hotel war ein perfekter Treffpunkt. Auch für ihn und die Liebe seines Lebens, damals, 1942. Und heute stand er wieder hier, 1986, gut vierzig Jahre spä-ter. Er hatte aufgehört, die Jahre zu zählen, die zur Erinnerung wurden. Ein ganzes Leben lag zwischen damals und heute. Eine

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Ehe. Die Geburt eines undankbaren Sohnes. Krebs, ein Begräb-nis. Er vermisste seine Frau Ethel. Sechs Monate waren seit ihrem Tod nun vergangen. Aber er vermisste sie nicht so sehr, wie man hätte denken können, es war nicht so schlimm, wie es klang. Tatsächlich war ihr Tod so etwas wie eine Erleichterung gewesen, nach langer, schwerer Krankheit. Der Krebs in ihren Knochen war absolut vernichtend, für uns beide, dachte er. Die letzten sieben Jahre hatte Henry sie gefüttert, gebadet, ihr auf die Toilette geholfen, wenn sie musste, und wieder he-runter, wenn sie fertig war. Tag und Nacht war er für sie da ge-wesen, rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, wie man so sagt. Marty, ihr Sohn, dachte, seine Mutter sollte besser in ein Heim, aber Henry wollte nichts davon hören. »Nicht, solange ich lebe«, sagte er. Nicht nur, weil er Chinese war, wobei das natürlich zu seinem Widerstand beitrug. Die konfuzianische Idee des Respekts, der Achtung und Ehrerbietung für die Eltern war ein kulturelles Erbe, das Henrys Generation noch sehr be-stimmte. Er war dazu erzogen worden, dass man in der Fami-lie persönlich füreinander sorgte. Jemanden in ein Heim zu ge-ben, war undenkbar. Sein Sohn Marty begriff nicht, dass es tief in Henrys Leben eine Ethel-förmige Leere gab, durch die der kalte, bittere Wind der Einsamkeit wehte. Die Jahre flossen da-hin wie das Blut einer Wunde, die niemals heilt. Als sie gestorben war, musste sie beerdigt werden, auf die alt-hergebrachte chinesische Weise, dachte Henry, in schützende Tücher gehüllt, mit Essensgaben und tagelangen Gebetszere-monien, trotz Martys Anfall, sie doch unbedingt einzuäschern. Marty war so modern. Er war zu einer Beratung gegangen und hatte den Tod seiner Mutter mit Hilfe einer »Online-Selbsthilfe-gruppe« zu verarbeiten versucht. Was immer das war. Online zu gehen, das klang, wie niemanden zum Reden zu haben, womit Henry sich auskannte, im wirklichen Leben. Das war eine so einsame Sache. Fast so einsam wie der Lake-View-Friedhof, auf

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dem Ethel jetzt begraben lag. Sie hatte einen wunderbaren Blick über den See und war von chinesischer Prominenz Seattles wie Bruce Lee und dessen Sohn Brandon umgeben. Aber natürlich lagen sie alle allein in ihrem Grab. Für immer allein. Da war es egal, wer ihre Nachbarn waren. Sie antworteten nicht. Abends bei Einbruch der Dämmerung redete Henry mit sei-ner Frau und fragte sie, wie ihr Tag gewesen sei. Nicht, dass er sie noch hätte hören können. »Ich bin nicht verrückt oder so«, sagte Henry in die Leere vor sich, »nur aufgeschlossen. Man weiß nie, wer einem zuhört.« Dann machte er sich daran, die braunen Blätter von der chinesischen Palme und dem Immer-grün zu schneiden, die genau wie die anderen Hauspflanzen Zeugnis monatelanger Vernachlässigung ablegten. Endlich hatte er wieder Zeit. Zeit für etwas, das zur Abwechslung einmal wachsen und stärker werden würde. Gelegentlich jedoch kamen ihm statistische Überlegungen. Nicht zur Sterblichkeitsrate durch den Krebs, dem Ethel erlegen war. Nein, er dachte über sich selbst nach und die Zeit, die ihm noch blieb, folgte man den Tabellen der Lebensversicherungen. Er war erst sechsundfünfzig, ein junger Mann nach seinen eige-nen Maßstäben. Aber er hatte in Newsweek einen Artikel über den unvermeidbaren gesundheitlichen Niedergang hinterbliebe-ner Ehepartner in seinem Alter gelesen. Vielleicht tickte die Uhr tatsächlich schon? Er war sich nicht sicher, denn mit Ethels Tod hatte die Zeit zu schleichen begonnen. Ticken hin oder her. Er hatte sich auf einen Handel mit Boeing Field eingelassen, früher in Rente zu gehen, und war daher ganz ohne Verpflichtun-gen, hatte aber niemanden, mit dem er seine Stunden und Tage teilen konnte. Niemanden, mit dem er hinunter zur Mon-Hei-Bäckerei gehen konnte, um an kühlen Herbstabenden ping pei, Karotten-Mohnkuchen, zu kaufen. Stattdessen stand er nun hier in dieser Menge fremder Men-schen ein weiteres Mal vor der Tür des Panama Hotel. Ein Mann

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zwischen den Lebensaltern. Er stieg die rissigen weißen Mar-morstufen hinauf, die das Hotel wie ein Art-déco-Freigänger-haus wirken ließen, genau wie Henry zwischen zwei Welten ge-fangen. Nervös und erregt fühlte er sich, wie damals als Junge, wenn er hier vorbeigekommen war. Auf dem Markt hatte er vom Hotel reden hören, und so war er von der Videothek an der South Jackson herspaziert und hatte der wachsenden Größe der Menschenansammlung entsprechend erst einen Unfall vermu-tet. Aber dann hörte er nichts, keine Sirenen, kein Jammern. Sah keine zuckenden Lichter. Nur Menschen, die auf das Hotel zu-trieben, als zöge das Meer an ihren Füßen, spüle sie weiter und weiter, Schritt für Schritt. Henry trat näher, sah das Nachrichten-Team seine Ausrüstung nehmen und folgte ihm nach drinnen. Die Menge teilte sich, die kamerascheuen Schaulustigen traten zur Seite und machten den Weg frei. Henry ging direkt hinter den Fernsehleuten her, schob die Füße vorsichtig voran, um niemanden zu treten oder selbst getreten zu werden, und spürte, wie die Menge hinter ihm her-drängte. Vorne in der Lobby stand die neue Eigentümerin des Hotels und verkündete: »Wir haben etwas im Keller gefunden.« Was gefunden? Eine Leiche vielleicht? Oder eine Art Drogen-labor? Nein, wäre das Hotel Ort eines Verbrechens geworden, wäre längst die Polizei hier und würde alles absperren. Die neue Eigentümerin hatte das Hotel erst vor Kurzem über-nommen. Seit dem Krieg war es mit Brettern vernagelt gewesen, und während es seinen Dornröschenschlaf gehalten hatte, war Chinatown zum Ghetto und zum Schlupfwinkel der »Tongs« ge-worden, Banden aus Hongkong und Macao. Tagsüber boten die Wohnblöcke südlich der King Street ein reizend kitschiges Bild, und der Müll auf den Bürgersteigen wurde von den Touristen normalerweise übersehen, wenn sie zu den Eierstab-Ornamen-ten einer früheren Epoche aufblickten. Kinder auf Exkursionen, gekleidet in farbenfrohe Mäntel und Mützen, hielten sich bei den

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Händen, während sie ihren Nasen folgend zu den in den Fens-tern hängenden Grillenten gelangten, die ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen, dahängende rote Stifte, die in der Sonne schmolzen. Aber bei Nacht waren Straßen und Gassen in der Hand von Drogendealern und knochigen, ältlichen Huren, die ihre Dienste für eine Hand voll Kleingeld versahen. Der Ge-danke, dass diese Welt seiner Kindheit zu einem nur mehr not-dürftig zusammenhaltenden Crack-Haus wurde, erfüllte Henry mit einer Melancholie, wie er sie nicht mehr verspürt hatte, seit er Ethels Hand gehalten und sie zum letzten Mal hatte ausatmen sehen, langsam und gedehnt. Wertvolle Dinge scheinen einfach zu verschwinden, um nie wiederzukommen. Während er seinen Hut abnahm und sich mit der abgewetz-ten Krempe Luft zuzufächeln begann, drängte die Menge von hinten weiter vor. Blitzlichter flackerten auf. Henry stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte über die Schulter eines großen Nachrichtenmannes vor ihm. Die neue Hoteleigentümerin, eine schlanke weiße Frau, die etwas jünger war als Henry, verschwand kurz im Keller und hielt bei ihrer Rückkehr was in Händen? Einen Schirm? Als sie ihn aufspannte, schlug Henrys Herz schneller. Es war ein japa-nischer Sonnenschirm aus Bambus, leuchtend rot und weiß mit einem orangefarbenen Koi darauf, einem Karpfen, der wie ein riesiger Goldfisch aussah. Vom Schirm wirbelte eine dünne Staubschicht auf, die einen Moment lang in der Luft hing, als die Hoteleigentümerin den zerbrechlich wirkenden Gegenstand für die Kameras in Drehung versetzte. Zwei Männer brachten einen großen Überseekoffer mit Aufklebern von ausländischen Häfen und der zwischen Seattle und Yokohama verkehrenden Admiral Oriental Line herauf. Auf der Seite des Koffers stand der Name »Shimizu«, handgeschrieben in großen weißen Buchstaben. Der Koffer wurde für die neugierige Menge geöffnet. Darin waren

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Kleidungsstücke, Fotoalben und ein alter elektrischer Reisko-cher. Die neue Hoteleigentümerin erklärte, dass sie unten im Kel-ler die Besitztümer von mehr als dreißig japanischen Familien gefunden hätten, von denen sie annehme, dass man sie im Krieg damals verfolgt und eingesperrt habe. Ihre Besitztümer hätten sie offenbar vorher noch hier unterbringen können, jedoch nie wieder abgeholt. Dort unten im Keller lagerte eine Zeitkapsel aus den »Kriegsjahren«. Henry verfolgte stumm, wie sich ein kleiner Korso hölzer-ner Kisten und lederner Koffer die Treppe heraufbewegte und die Menge über die ehemals wertvollen Dinge darin staunte: ein weißes Kommunionskleid, angelaufene silberne Kerzenständer, einen Picknickkorb. Dinge, die über vierzig Jahre unberührt ge-blieben waren und Staub angesetzt hatten. Gerettet für glückli-chere Zeiten, die nie gekommen waren. Je länger Henry den schäbigen alten Kram, die vergessenen Schätze vergangener Zeiten, betrachtete, desto stärker wurde die Frage in ihm, ob dort unten wohl auch sein eigenes gebro-chenes Herz zu finden sei, versteckt zwischen den herrenlosen Besitztümern einer anderen Zeit. Verbarrikadiert im Keller eines abbruchreifen Hotels. Verloren, aber unvergessen.

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ICH BIN CHINESE(1942)

Im Alter von zwölf Jahren hörte der junge Henry Lee auf, mit seinen Eltern zu sprechen. Nicht aus einem dummen kindlichen Trotzanfall heraus, sondern weil sie ihn darum baten. So fühlte es sich wenigstens an. Sie baten ihn, nein, sie sagten ihm, er solle aufhören, Chinesisch zu sprechen. Seine Muttersprache. Das war 1942. Sie wollten alles daransetzen, dass er Englisch lernte. Was Henry ganz besonders verwirrte, als sein Vater ihm auch noch einen Button ans Schulhemd steckte, auf dem Ich bin Chi-nese stand. Der Widerspruch schien absurd. Das ergibt doch kei-nen Sinn, dachte Henry. Am Ende behält wie immer der Stolz meines Vaters die Oberhand. »Wo du bong?«, fragte Henry in perfektem Kantonesisch. Sein Vater schlug ihn ins Gesicht. Es war mehr ein leichter Klaps, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. »Nicht mehr. Nur du sprechen Amerikanisch.« Die Worte kamen auf Ching-lisch aus ihm heraus. »Ich verstehe das nicht«, sagte Henry auf Englisch. »Ha?«, fragte sein Vater. »Wenn ich nicht Chinesisch sprechen darf, warum soll ich dann diesen Button tragen?« »Ha, du sagst?« Sein Vater wandte sich seiner Mutter zu, die aus der Küche hereinsah. Sie schien ratlos, zuckte mit den Schul-tern und ging zurück an den Herd. Es roch nach Kastanienku-chen. Sein Vater drehte sich zurück zu ihm und scheuchte ihn mit einer Handbewegung zur Schule. Da Henry nicht auf Chinesisch fragen durfte und seine Eltern

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kaum Englisch verstanden, hakte er nicht weiter nach, sondern nahm seine Lunchdose und die Schultasche und lief die Treppe hinunter, hinaus in die salzige, nach Fisch riechende Luft China-towns.

Morgens erwachte die Stadt zum Leben. Männer in fischflecki-gen T-Shirts hievten Kisten mit Dorsch und Eimer voller geo-duck-Muscheln in die Läden, alles halb mit Eis bedeckt. Henry lief an ihnen vorbei und hörte, wie sich die Männer in einem chi-nesischen Dialekt anschrien, den er nicht verstand. Weiter ging es Richtung Westen über die Jackson Street, an einem Blumenwagen und einem Wahrsager vorbei, der Glücks-zahlen für die Lotterie verkaufte. Statt nach Osten zur chinesi-schen Schule zu laufen, die nur drei Straßen von ihrer Wohnung entfernt lag, bewegte sich Henry wie jeden Morgen gegen den Strom dutzender Kinder in seinem Alter, die allesamt in die ent-gegengesetzte Richtung strebten. »Baak gwai! Baak gwai!«, riefen sie, wenn auch einige nur auf ihn zeigten und lachten. Das hieß »weißer Teufel«. So wur-den eigentlich nur die Weißen gerufen, und das auch nur, wenn man sie wirklich beschimpfen wollte. Einige der Kinder hatten allerdings Mitleid mit ihm: Seine ehemaligen Klassenkameraden und Freunde wie Francis Lung und Harold Chew, die er seit der ersten Klasse kannte, riefen ihn »Caspar«, nach dem »freund-lichen Geist« aus dem Buch, zum Glück nicht Hermann oder Katnip oder Baby Huey. Vielleicht hat er ihn mir deswegen angesteckt, dachte Henry und sah auf den lächerlichen Button mit der Aufschrift Ich bin Chinese. Danke, Dad, aber warum klebst du mir nicht gleich ein Schild auf den Rücken, auf dem steht: »Gib’s mir, wo du schon mal dabei bist.« Henry beschleunigte seinen Schritt und kam endlich an die nächste Ecke, an der er sich nach Norden wandte. Nach der

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Hälfte seines Schulwegs blieb er wie immer am runden Eisen-tor an der South King Street stehen und schenkte Sheldon sein Mittagessen. Sheldon war Saxofonspieler und doppelt so alt wie Henry. Er arbeitete an der Straßenecke, spielte für Touristen und verdiente sich so etwas Kleingeld. Trotz der guten Geschäfte bei Boeing Field schien der Wohlstand Leute wie Sheldon nicht zu erreichen. Er war ein toller Jazzmusiker, und seine Armut hatte weniger mit seinen musikalischen Fähigkeiten als mit der Farbe seiner Haut zu tun. Henry hatte ihn gleich gemocht. Nicht, weil sie beide Außenseiter waren, obwohl Henry durchaus darüber nachgedacht hatte, ob das nicht vielleicht mit ein Grund dafür war, nein, er mochte ihn wegen seiner Musik. Henry kannte sich mit Jazz nicht aus, er wusste nur, dass es eine Musik war, die seine Eltern nicht hörten, und deshalb mochte er sie umso mehr. »Hübscher Button, junger Mann«, sagte Sheldon, der gerade seinen Kasten vor sich aufstellte. »Das ist eine verflixt gute Idee, nach Pearl Harbor und so.« Henry sah auf den Button an seinem Hemd, den er fast schon wieder vergessen hatte. »Die Idee ist von meinem Vater«, mur-melte er. Sein Vater hasste die Japaner. Nicht, weil sie die USS Arizona versenkt hatten, sondern weil sie jetzt schon seit vier Jahren unentwegt Tschungking bombardierten. Henrys Vater war noch nie dort gewesen, aber er wusste, dass die provisori-sche Hauptstadt Chiang Kai-sheks bereits die meistbombar-dierte Stadt der Geschichte war. Sheldon nickte zustimmend und klopfte gegen die Blechdose, die an Henrys Schultasche hing. »Was gibt’s heute zu essen?« Henry gab ihm die Dose. »Das Gleiche wie immer.« Ein Sand-wich mit Oliven und Ei, Karottenstreifen und eine Birne oder einen Apfel. Wenigstens war seine Mutter nett genug, ihm ameri-kanisches Essen einzupacken. Sheldon lächelte und ließ eine große Goldkrone sehen. »Vie-len Dank, Sir, und noch einen schönen Tag.«

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Seit seinem zweiten Tag an der Rainier-Grundschule gab Hen-ry Sheldon sein Mittagessen. So war es sicherer. Henrys Vater hatte sich sichtlich gefreut, als sein Sohn von der eigentlich Wei-ßen vorbehaltenen Schule ganz am Ende der Yesler Avenue an-genommen wurde. Dies war ein stolzer Moment für Henrys Eltern. Sie konnten gar nicht aufhören, den Freunden auf der Straße davon zu erzählen, auf dem Markt und im Bing-Kung-Wohltätigkeitsverein, wo sie samstags Bingo und Mah-Jongg spielten. »Sie geben Stipendium« war alles, was er seine Eltern je auf Englisch sagen hörte. Henry selbst war alles andere als stolz auf seine neue Schule. Für ihn ging es dort jeden Tag neu ums bloße Überleben, und es war weit mehr als einfache Angst, was er empfand, wenn er morgens das Schulgebäude betrat. Chaz Preston hatte ihn gleich am ersten Tag übel verprügelt und ihm sein Mittagessen abgenommen, weshalb er es jetzt immer Sheldon gab. Woran er allerdings auch ganz gut verdiente, durfte er sich doch jeden Tag auf dem Nachhauseweg einen Nickel aus Sheldons Kasten fischen. Einmal in der Woche kaufte Henry seiner Mutter von dem Geld eine feuerrote Lilie. Das war ihre Lieblingsblume. Er fühlte sich schuldig, weil er nicht aß, was sie so liebevoll für ihn zubereitete, aber mit der Blume machte er es wieder gut. »Wie hast du die Blume kaufen können?«, fragte sie ihn auf Chinesisch. »Alleswarheutebilligausverkaufsonderangebot«, erfand er dann auf Englisch und versuchte auf diese Weise eine Antwort auf ihre Frage und eine Erklärung für das zusätzliche Wechselgeld, das er vom Einkaufen auf dem Markt jedes Mal mitzubringen schien, zu finden. Schnell sagte er es, in einem Wort, und war sich sicher, dass sie ihn nicht verstand. Der verwirrte Ausdruck auf ihrem Gesicht wandelte sich schließlich in Befriedigung, und sie nickte und steckte die Münzen ein. Sie verstand nur wenig

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Englisch, aber Henry sah, dass ihr sein offensichtliches Talent zum Handeln gefiel. Hätten sich doch nur all seine Probleme mit der Schule so leicht lösen lassen. Für Henry hatte sein Stipendium wenig mit Schule, sondern vor allem mit Arbeit zu tun. Glücklicherweise war er ein schnel-ler Arbeiter. Das war notwendig, besonders, was seine Aufgaben direkt vor dem Essen betraf, für die er immer schon zehn Minu-ten früher aus dem Unterricht entlassen wurde, gerade früh ge-nug, damit er in die Schulkantine laufen und sich die gestärkte weiße Schürze umbinden konnte, die ihm bis über die Knie reichte. In ihr gab er das Mittagessen an die anderen Kinder aus. Während der letzten Monate hatte er gelernt, den Mund zu halten und die Hänseleien zu ignorieren, besonders von Rüpeln wie Will Whitworth, Carl Parks und Chaz Preston. Mrs Beatty, die Köchin, war auch keine große Hilfe. Sie war die geschwätzige, Haarnetz tragende Definition eines amerikani-schen Wortes, das zu Henrys Lieblingswörtern gehörte: broad – Weib. Sie kochte buchstäblich »von Hand« und maß alles mit ihren schmutzigen, faltigen Pranken ab. Ihre dicken Unterarme zeugten davon, dass sie niemals einen elektrischen Mixer benutz-te, und wie ein in einem Zwinger lebender Hund, der sich wei-gert, sein Geschäft da zu verrichten, wo er auch schläft, rührte sie nicht an, was sie gerade gekocht hatte, sondern brachte sich ihr eigenes Lunchpaket mit. Sobald Henry sich die Schürze umge-bunden hatte, nahm sie sich das Haarnetz ab und verschwand mit ihrer Lunchbox und einer Schachtel Lucky Strikes nach hinten. Sein Stipendium bedeutete für Henry, dass er es nie in die Pause schaffte. Wenn das letzte Kind mit dem Essen fertig war, aß er selbst schnell noch ein paar Dosenpfirsiche, allein in der Vorratskammer, umgeben von Riesenmengen Tomatensoße und Fruchtcocktail.