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Fotis Jannidis Figur und Person

Jannidis, Fotis (2004) - Figur Und Person

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Fotis Jannidis Figur und Person

NarratologiaContributions to Narrative Theory/ Beitrge zur Erzhltheorie

Edited b y /Herausgegeben von Fotis Jannidis, John Pier, Wolf Schmid Editorial Board/Wissenschaftlicher Beirat Catherine Emmott, Monika Fludernik Jose Angel Garca Landa, Peter Hhn, Manfred Jahn Andreas Kablitz, Uri Margoli, Matas Martnez Jan Christoph Meister, Ansgar Nnning Marie-Laure Ryan, Jean Marie Schaeffer Michael Scheffel, Sabine Schlickers, Jrg Schnert

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GWalter de Gruyter Berlin New York

Fotis Jannidis

Figur und PersonBeitrag zu einer historischen Narratologie

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@ G edruckt a u f surefreiem Papier, das die U S-A N SI-N orm ber H altbarkeit erfllt.

ISS N 1612-8427 ISB N 3-11-017807-9Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische D aten sind im Internet ber < http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Copyright 2004 by W alter de G ruyter G m bH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschlielich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwer tung auerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustim m ung des Verlages unzulssig und strafbar. D as gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, berset zungen, M ikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in G ermany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin D ruck und buchbinderische Verarbeitung: H ubert & Co., G ttingen

VorwortSelbst eine Q ualifikationsschrift hat eine ebenso vielfache wie vielfltige A utorschaft. D e r D F G verdanke ich, da ich aufgrund eines grozgigen Stipendium s in Ruhe an diese A rbeit gehen konnte. D ie H am burger F o r schergruppe N arratologie insbesondere Jens E der, P eter H h n , T o m K indt, Jan -C h risto p h Meister, H ans-H arald Mller, W o lf Schm id u n d J rg S chnert hat m ir ebenso wie A nsgar N n n in g in G iessen die G elegenheit geboten, frhe Fassungen m einer G edanken vorzutragen, in der D iskussion zu erp ro b en u n d m ich m it scharfsinnigen Fragen gezw ungen, w eiterzuden ken. M it ihren ausfhrlichen Stellungnahm en h aben H en drik Birus, K onrad E hlich, W olfgang Frhw ald u n d Ja n -D irk Mller dazu beigetragen, da die D ruckfassung sich positiv v o n der ersten schriftlichen Fassung abhebt. W en n die F o rm des Textes n u n einigerm aen den V orstellungen des V erla ges entspricht, dann ist dies v o r allem das V erdienst v o n Renate Soltysiak, Sabine Bauer u n d Christine Brandtner. Zahlreiche H inw eise u n d E rg n zu n gen, die im kleinen wie im gro en dem T ex t aufgeholfen haben, kam en v o n K atrin Fischer u n d B rittaju b in . U ri M argolin sei fr seine au fm unternde u n d freundliche A ufnahm e der A rbeit gedankt. D as richtige M aterial zum richti gen Z eitp u n k t in die H nde zu bekom m en, ist m anchm al besonders f r dernd. D af r h at diesmal nicht nur der Zufall gesorgt, sond ern auch Peter T hannisch m it der unkom plizierten berlassung v o n M ateriel zu der v o n ihm b etreu ten Je rry CottonFigur< scheint ein so selbstverstndlicher Begriff der L iteraturw is senschaft, da einige Fachlexika sich nicht einmal die M he m achen, ihn zu definieren.2 N o c h 1997 klagt Mieke Bai in der zw eiten Auflage ihrer E in f h run g in die N arratologie, es gebe kein befriedigendes M odell der Figur, ja es gebe kaum systematische F orschun g zum T hem a,3 u n d T itzm an n h at diesen V o rw u rf 1999 w iederholt.4 hnliche K lagen sind seit ber 40 Ja h re n in der F igurenforschung zu lesen,5 u n d m a n kan n w o hl v o n einem stabilen T o pos

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D e r B e g r iff >narrativ< w ird in d e r N a rra to lo g ie teilw eise s e h r w e it v e rs ta n d e n u n d u m fa t alles, w as eine fiktive H a n d lu n g p r s e n tie rt, seien es n u n Film , C om ic, E r z h lte x t, D r a m a o d e r b e stim m te C o m p u te rs p ie l-G e n re s , teilw eise w ird e r s e h r e n g g e fa t u n d n u r f r E r z h ltexte v e rw e n d e t. I c h w e rd e m ic h au sschlielich a u f N a r r a tio n m ittels E r z h lte x te n k o n z en trie re n .

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Z.B . B r u n n e r /M o r itz (1997) o d e r R icklefs (1996). >Figur< s c h e in t a u c h kein B e g r iff d e r m o d e r n e n L ite ra tu rth e o rie z u sein; vgl. H a w t h o r n (1994). Vgl. B ai (1997: 1 15 ,2 2 5 ). T itz m a n n (1999: 183). A ls einzige G e g en beispiele n e n n t e r L o t m a n u n d Pfister. U m n u r einige d e r n e u e r e n z u n e n n en : W ilso n (1975: 191). K n a p p in seiner E in le itu n g z u m S o n d e rh e ft >Figur< d e r Z e its c h rift Style-, vgl. K n a p p (1990: 349); B o n h e im (1990: 310); S t c k ra th (1992: 40); C u lp e p e r (1996: 335).

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der einschlgigen F orschun g sprechen.6 W ie so m ancher T o p o s h at auch dieser eine gewisse Berechtigung: Die E rzhltheorie der Figur ist kein ausge bildetes F orschungsfeld m it klar konturierten P roblem zonen, m it >Klassikern< der D iskussion, au f die sich alle beziehen u n d die auch alle zur K e n n t nis genom m en haben, u n d m it einem F orschungsstand, der v o n den interes sierten F orschern als solcher w ahrgenom m en wrde. D as A ktantenm odell v o n G reim as ist w ohl einer der w enigen allgemein bek an n ten Bezugspunkte in dieser D iskussion, u n d gleichzeitig b esteh t allgemeine Einigkeit b er seine sehr beschrnkten A nw endungsm glichkeiten. A ndererseits gibt es eine betrchtliche M enge einschlgiger Forschungsliteratur.7 U m Z ahlen zu n e n nen: m indestens 100 T itel zum P ro b lem der Figur in fiktionalen T exten u n d ca. 250 erzhltheoretische Titel zum Them a. Sie w erden kaum zur K enntnis genom m en, u n d die dam it hufig verbu n d en en Folgen sind deutlich sichtbar: Bereits form ulierte P roblem e w erden als neu w ieder eingefhrt, bereits erle digte >Lsungen< w erden freudig erneut prsentiert. D ie topische Klage ber die fehlende F orsch ung ist also sicherlich falsch, richtig aber ist es, da sich bislang kein eigenes Forschungsfeld >Figur< etabliert hat. N o c h unbersichtlicher w ird die Sachlage durch die D ifferenzen zw i schen den Philologien: In einigen, z.B. der N eueren D eu tsch en L iteraturw is senschaft, spielt die Figur als literatur- oder erzhltheoretisches P roblem keine Rolle, in anderen, z.B. der angelschsischen L iteraturw issenschaft gibt es wenigstens einige A nstze dazu. D ie germ anistische Literaturw issenschaft h at sich nach dem K rieg w eitgehend desinteressiert gezeigt an erzhltheoreti schen M odellen; das nderte sich lediglich in den siebziger Jahre vorberge

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E s g ib t n u r w enig e abw eic h e n d e S tim m e n , z.B. k o n s ta tie rt B ria n R o s e n b e rg in d e r E in lei tu n g seiner B iblio g ra p h ie z u r F ig u re n fo rs c h u n g , d a sich 1 8 J a h r e , n a c h d e m H a rv e y b e r die m a n g e ln d e F o r s c h u n g z u r F ig u r geklagt h a b e, die S itu atio n d o c h s eh r g e n d e rt habe; vgl. R o s e n b e rg (1983: 200). A u c h Z a c h a ra sie w ic z sieht ein e n A u fs c h w u n g ; vgl. Z a c h a ra siew icz (1993: 296). Z a c h a ra sie w ic z m a c h t als V e ra n tw o rtlic h e f r die fehle n d e F o r s c h u n g z u r F ig u r S tru k tu ra lis m u s u n d P o s ts tru k tu ra lis m u s aus; d e m w id e rs p ric h t s c h o n d e r U m s tan d , d a H a rv e y bereits 1965 klagt, m a n w rd e in d e n le tz te n 30 J a h r e n k a u m m e h r F o r s c h u n g z u r F ig u r finden; vgl. H a rv e y (1965: 19). A u e rd e m liegen m it d e n strukturalis tisc h e n A rb e ite n v o n G re im a s u n d H a m o n in F ra n k re ic h , C h a tm a n in d e n U SA , P fiste r in D e u ts c h la n d u n d L o t m a n in d e r U d S S R ge ra de die th e o re tis c h a n sp ru c h v o llste n B ei trge v o r d e n 1990er J a h r e n vor.

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R o s e n b e r g v e rz e ic h n e t in seiner B ib liog rap hie, die sich n a h e z u ausschlielich a u f die englisch sp ra c h ig e F o r s c h u n g bis 1980 k o n z e n trie rt, im m e rh in b e r 110 Titel. Seine B i bliog rap h ie ist n ic h t vollstnd ig, u n d die L iste d e r T itel ist in d e n letz te n 20 J a h r e n u m zahlreiche w e itere T itel gew ac h sen . D a z u k o m m t die nicht-e n g lisc h e F o rsc h u n g , w e n n diese au ch z a h le n m ig w e it w e n ig e r a usm acht.

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hend, als das Fach einen V erw issenschaftlichungsschub erlebte u n d Lingui stik sowie das Paradigm a des Strukturalism us Leitbilder waren. L etztendlich v erstehen sich aber die m eisten deutschen Literaturw issenschaftler als H isto riker; E rfo lg h aben daher hier auch im w esentlichen historische T heorien u n d V erfahrensw eisen, sei es n u n die klassische Ideengeschichte, die histori sche Diskursanalyse, die Sozialgeschichte u n d ihre letzte M etam orphose in G estalt der Systemtheorie. E n tsp rec h en d ist auch das W ertsystem des Faches organisiert. D ah er gibt es im m erhin einige U ntersuchungen zu spezifischen Figurentraditionen, z.B. zur Faustfigur, oder zu Figurentypen, z.B. dem S on derling,8 aber kaum theoretische berlegungen zur Figur. B ezeichnend dafr ist auch eine gewisse V ernachlssigung der sthetischen S truktur des E inzel w erks zugunsten der jeweiligen W erkelem ente, die eine Z usch reibun g zu Ideen, D iskursen, gesellschaftlichen S trukturen erlauben. In den angelschsischen Philologien sieht die Forschungssituation ganz anders aus.9 Es gibt eine w ahre Flut v o n E inzeluntersuchungen zu Figuren in spezifischen T exten, u n d es gibt auch einige theoretische V ersuche zum T hem a, insbesondere seitdem die N arratologie G egenstand einer zwar in E nglisch publizierenden, aber zunehm end internationalen scientific community gew orden ist. D en n o c h kann m a n auch hier nicht v o n einer F orschungs/ra^tion sprechen, u n d die ob en erw hnten Klagen ber die m angelnde F o r schung finden sich zum eist in englischsprachigen A ufstzen, die die v o rh an dene Literatur grtenteils ignorieren. D o c h nicht n ur solche pragm atischen A spekte bestim m en die sehr zerris sene G eschichte dieser Forschung. Es gibt dafr auch gewichtige Sachgrnde. E s fehlt eine einheitliche B eschreibung des U ntersuchungsgegenstandes. F r die einen ist die Figur eine quasi reale E ntitt, fr die anderen ein O bjekt in einer fiktionalen W elt, fr die dritten n ur der K n o ten p u n k t eines textuellen Verweisnetzes. Diese Vielfalt an D efinitionen hngt m it einem zw eiten P u n k t zusam m en, der A bhngigkeit der Figurentheorie v o n m eh reren R ah m entheorien, insbesondere der zugrundegelegten Zeichen- u n d L iteratur8 9 M ey e r [1943] (1984) ; L th i (1993). D ie englisch sp ra c h ig e F o r s c h u n g s lite ra tu r z u r E r z h lth e o rie s ta m m t im m e r n o c h z u m g r te n T eil aus d e n U S A /K a n a d a o d e r G ro b rita n n ie n . O b w o h l es H in w e ise d a ra u f gibt, d a m a n m it g u te n G r n d e n w eitere B in n e n d iffe re n z ie ru n g e n in diese >angelschsische< P o s itio n e in fu h re n k n n te , soll dies im fo lg e n d e n n ic h t g e sc h e h e n , da dies e rs t n o c h v o n d e r W iss e n sc h a ftsg esc h ic h te z u e ra rb e ite n w re u n d b isla n g n u r v e rs tre u te H in w e ise vorliegen. W ilso n z.B. u n te rs c h e id e t 1976 zw isc h e n e in e r a m e rik a n isc h e n Z u g a n g sw eise , die d a ra n in te re s sie rt ist, m it w e lch e n T e c h n ik e n die F ig u r k o n s titu ie rt w ird, u n d e in er e n glischen, die sich st rk e r f r die v o m T e x t g e sc h a ffe n e Illu sio n d e r p e rs o n e n h n lic h e n F ig u r intere ssie rt; vgl. W ilso n (1976: 36).

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theorie. W ie die >Figur< konzeptualisiert wird, ist abhngig davon, welches M odell literarischer K om m unikation u n d sprachlicher sowie literarischer Z eichenprozesse zugrundegelegt wird. V o n diesen P roblem en w ird im fol genden n o ch hufiger die Rede sein. H in ter dem D esinteresse der germ anistischen L iteraturw issenschaft an narratologischen A nstzen verbirgt sich w ohl ebenfalls ein handfestes P ro blem. E rzhltheorie ist lange Z eit angetreten als V erfah ren zur B eschreibung v o n narrativen T exten, v o n allen narrativen Texten. Zw ei Knigsw ege haben sich dabei etabliert: die E rstellung einer berschaubaren, geschlossenen Sy stem atik u n d die B eschreibung einer h andh abb aren M enge v o n T iefenstruk turen, aus denen die Vielfalt v o n O berflchenphnom enen generiert wird. D as letztgenannte V erfahren, das seine berzeugungskraft v o r allem durch die O rientierung am V orbild v o n Chom skys T ransform ationsgram m atik gew ann, h at m eh r P roblem e aufgew orfen als gelst u n d w ird kaum m eh r verfolgt. D as erstgenannte V erfahren h at sich n u r d o rt als wirklich fruchtbar erwiesen, w o ohne R eduktion der T extp hn om ene eine systematische B e schreibung m glich ist, etwa bei der Z eitgestaltung in E rzhltexten. Beide A nstze h aben sich fr die Figur als ungeeignet erwiesen: D ie nich t b e r schaubare P hnom envielfalt lt sich bislang w eder system atisch beschreiben n o ch auf einige T iefenstrukturen reduzieren, zum indest nicht o hne allzu groe Verluste. D ie Situation der erzhltheoretischen F igurenforschung h at sich inzw i schen in m ehrfacher H insicht gendert. Z u m einen g ibt es auch in der deutschsprachigen L iteraturw issenschaft ein gesteigertes Interesse an der E rzhlth eorie10 u n d auch an der Figurenforschung,11 das m it einem w eit ber

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D ie s b e le gt e tw a d e r E r f o lg d e r b e rb lic k sd a rs te llu n g v o n M a r tin e z /S c h e ff e l (1999) o d e r die E in r ic h tu n g e in e r D F G - g e f r d e r te n F o r s c h e rg ru p p e in H a m b u r g u n te r d e r L e itu n g v o n W o lf Schm id. B e z e ic h n en d e rw e ise ist S ch m id Slaw ist, u n d M o n ik a F lu d e rn ik u n d A n s g a r N n n in g , d e re n B eitr ge in d e r in te rn a tio n a le n n a rra to lo g is c h e n D is k u ss io n w a h r g e n o m m e n w e rd e n , sind A nglisten. D ie G e rm a n istik tu t sich teilw eise n o c h etw as s ch w e r m it d e r T e iln a h m e a n in te rn a tio n a le r F o rs c h u n g , w ie e tw a die 1993 e rs c h ie n e n e A rb e it v o n J r g e n H . P e te rs e n belegt, d e r w e d e r G e n e tte , n o c h C h a tm a n , n o c h B ai alles K la s siker d e r E r z h lth e o rie a u ff h rt, d a f r a b e r G n te r M lle r (1948) u n d R o b e r t P e ts c h (1934); vgl. P e te rs e n (1993). M a g diese n ation alp h ilo lo g isc h e A u s r ic h tu n g a u c h ty pisch sein, so g ib t es d o c h n e n n e n s w e rte A u s n a h m e n , z.B. die m e h rfa c h b e ra rb e ite te D a r s te l lu n g d e r E r z h lth e o rie v o n j o c h e n V o g t, die g a n z s elb stv e rst n d lic h fran z sisc h e u n d a n g e ls ch sische F o r s c h u n g n e b e n d e r d e u ts c h e n einbe zie h t; vgl. V o g t (1990). W ie V o g t in s ein e m N a c h w o r t z u r s e h r s p te n d e u ts c h e n b e rs e tz u n g v o n G e n e tte s D iskurs der E rz h lung h e rv o rh e b t, h a t die fran z sisc h e E r z h lth e o rie w ie d e ru m e rs t s p t die d e u ts c h e n B ei tr g e w a h rg e n o m m e n , e tw a Stanzels Tjpische Formen des Romans, H a m b u rg e rs L ogik der

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die L iteraturw issenschaft hinausreichenden Interesse an der narrativen O r ganisation v o n E rfahrun gen zusam m enfllt. Z u m anderen gibt es ein zu nehm endes B ew utsein fr die A bhngigkeit auch der >berzeitlichen< narratologischen K ategorien v o n kulturspezifischen V orannahm en, fr die starke K ontextabhngigkeit v o n narrativen T exten u n d ein gesteigertes Interesse an historisch-kultureller Vielfalt, die nicht der E infachheit des theoretischen Instrum entarium s g eopfert w erden soll.12 N ich t zuletzt haben die F ortschrit te der kognitionsw issenschaftlichen F orschu ng u n d die V ersuche, sie auf die Literaturw issenschaft u n d die N arratologie zu bertragen, A nstze hervorge bracht, wie die angesprochenen P roblem e einer Analyse v o n Figuren in E r zhltexten gelst w erden knnen. D as P roblem feld >Figur in ErzhltextenGrundlagenforschung< bezeichnen knnte. Scheinbar ganz einfache Fragen sind entw eder n o ch nicht gestellt oder n u r in ersten A nstzen bearbeitet w orden, z.B. wie erkennt m a n eine Figur? W elche F o rm en der B enennungen fr Figuren gibt es, u n d was leisten sie? W ie in fo r m iert der T ex t den Leser, da eine B enennung au f eine bereits erw hnte Figur verweist? 2) E in zw eiter um fassender A sp ek t ist die Charakterisierung der Figur. Die In fo rm ation en zur Figur k n n en ber den gesam ten T ex t verstreut sein, sind aber alle au f die fiktive E n titt >Figur< bezogen. D as heit: A u ch fr die Figur stellt sich die Frage, wie die au f der D arstellungsseite vergebeDichtung o d e r L m m e rts Bauformen des Erzhlens-, vgl. G e n e tte [1972](1994: 301). D ie D a r s tellung v o n L u d w ig (1989) v e rz ic h te t z w a r w e itg e h e n d a u f eine eigene A rg u m e n ta tio n , m a c h t ab er im m e rh in m it d e n w ic h tig s te n s tru k tu ra listisc h en P o s itio n e n v e rtra u t. H Vgl. die b e id e n h e rv o rr a g e n d e n A rb e ite n v o n K o c h (1992) u n d S c h n e id e r (2000). B e z e ic h n e n d d a f r ist die E n tw ic k lu n g v o n M ieke Bai, die in d e n 1970er J a h r e n eine s tru k tu ra listisc h a rg u m e n tie re n d e E r z h lth e o re tik e rin w a r u n d n u n f r eine f f n u n g z u r C ultural A n a lysis pldiert; vgl. B ai (1998). A u sl se r d a f r ist, w ie sie in ih r e m N a c h w o rt Theses on the use o f narratologyfor C ultural A n a lysis s chreibt, an in c re a sin g a w areness o f the c u ltu ral e m b e d d e d n e s s o f narrative; vgl. B ai (1997: 220). Z u e in e m u m fa s s e n d e n b e r blick b e r die T e n d e n z e n in n e rh a lb d e r N a rra to lo g ie z u r s t rk e re n B e r c k s ic h tig u n g h i s to ris c h e r u n d ku ltu reller F a k to re n vgl. N n n in g (2001). D ie F o r s c h u n g z u m D r a m a d a g eg e n w ird in d ie se r A rb e it bis a u f einige A u s n a h m e n ig n o riert, da die g a ttu n g s sp e z ifis c h e n B e s o n d e rh e ite n eine b e rtra g u n g a u f die E r z h l th e o rie m e isten s s e h r s c h w e r m a c h en . D ie fo lgende Skizze n im m t einige E r g e b n is s e des zw eiten K ap ite ls v o rw e g , in d e m diese L iste w ic h tig ster F ig u re n p ro b le m e d u rc h die A n alyse v o n F ig u ren ty p o lo g ie n erm ittelt w ird.

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n en In form ation en zu einer E n titt gebndelt w erden u n d welche S truk tu ren diese E n titt hat. D ie In form atio nen zu einer Figur k n n en sich au f H andlungen besch rn ken (tat dies, sagte jenes), aber zum eist w erden zu einer Figur auch In fo rm ationen mitgeteilt, die b er den erzhlten M om en t hinausreichen, z.B. anhan d des A ussehens der Figur oder an h an d bestim m ter E igenschaften der Figur. D ie B ezeichnung der E ig en schaften folgt den jeweiligen kulturellen A n n ah m e n ber die a n th ro p o logischen oder psychologischen G egebenheiten des M enschen oder ein fach auch nur den Spielregeln bestim m ter fiktionaler Textgenres. 3) E in dritter, scho n seit A ristoteles diskutierter A sp ek t ist das Verhltnis der Figur zur H andlung. Etw as allgemeiner form uliert kann m a n sagen: D as v o n der E rzhlung berichtete G eschehen k ann in verschiedene M om ente zerlegt w erden: z.B. die H andlung, die Figuren, das Setting, aber diese Zerlegung ist ein analytischer K unstgriff, u m ein integrales G anzes zugnglich zu machen. 4) Schon aus didaktischen Zw ecken, aber auch zur schnellen V erstndi gung ber Figuren haben sich eine ganze Reihe verschiedener T ypologi en v o n Figuren etabliert. Sie auf ihre B rauchbarkeit hin zu p r fe n u n d v or allem die n o c h darin enthaltenen W erturteile zu explizieren, ist ein undankbares, aber notw endiges G eschft. 5) D er fnfte A sp ek t ist fr die m eisten L iteraturw issenschaftler w ahr scheinlich der wichtigste: D ie Figur trgt zur B edeutung eines literari schen Textes bei. Sie kann dies sehr direkt in F o rm der Personifikation tun, viel hufiger aber exemplifiziert die Figur durch ihre E igenschaften u n d ihr H andeln in einer bestim m ten K onstellation ein M om en t einer um fassenderen P roblem form ulierung. A u erd em k n n en figurenspezi fische In form atio nen Teil ornam entaler oder bedeutungskonstituieren der M uster sein. 6) Fr den N orm alleser ist vielleicht der sechste A sp ek t der interessanteste: D ie Figuren eines Textes leisten einen entscheidenden Beitrag zur Leserlenkung, u n d das w ichtigste M ittel dabei ist die v o m T ext bedingte Einstellung des Lesers zu den Figuren, insbesondere zum Protagonisten, etwa in der F o rm der Identifikation. Dieses w eit ausgedehnte F orschungsfeld kann im R ahm en einer M on ogra phie n icht um fassend bearbeitet w erden. Ziel m u te es also sein, einen zu sam m engehrigen Fragenkom plex herauszulsen. Sow ohl die G eschichte der Figurenanalyse in der Literaturw issenschaft als auch die eigene A rbeit zeigten sehr bald, da einen S chw erpunkt die Frage der Inform ationsvergabe durch den T ex t bildet u n d die v o m Leser v orzunehm en de A ggregierung der

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In fo rm ationen in kom plexere Gebilde. D er seit langer Z eit bekannte P ro blem kom plex der >direkten u n d indirekten Charakterisierung< ist n ur ein Teil davon, w enn auch ein wesentlicher. D ie V ielfrm igkeit der In fo rm atio n s verm ittlungen kann den L iteraturhistoriker allerdings schnell dazu veranlas sen, diese Vielfalt gar nicht m eh r systematisch, sondern lediglich in einer R eihung historischer Einzelflle zu ordnen. H ilfreich in dieser Situation erwies sich der R ckgriff auf eine Reihe v o n K o n zep ten aus der am erikanischen Sprachphilosophie (Paul Grice), der lin guistischen K ognitionsW issenschaft (Sperber/W ilson) u n d der Z eichentheo rie (Peirce). Sie erm glichen eine rationale R ekonstruktion n ich t n otw en di ger, also probabilistischer Inferenzprozesse. D ie Analyse solchen gezielten Ratens setzt ein K om m unikationsm odell voraus, das au f der A n n ah m e b a siert, sprachliche K om m unikation sei kein codebasierter Inform atio nstrans fer, so n d ern ein w eitgehend situationsgebundener Inferenzproze, bei dem Codes, W issen ber die K om m unikationssituation u n d ber kom m unikative Regeln Zusammenwirken. D ie E ntscheidu ng fr eine U ntersuchun g der figurenbezogenen In fo rm a tionsvergabe ist w eitreichender, als vielleicht auf den ersten Blick sichtbar wird. U nter dieser Perspektive m u selbstverstndlich v o r allem analysiert w erden, welche In fo rm ationen der T ex t vergibt, aber u m das angem essen v erstehen zu knnen, m u m a n ebenso rekonstruieren, was nicht im T ext steht, jedoch vorausgesetzt wird. So verschiebt sich der U n tersuchungs schw erpunkt v o n den T extstrukturen zur Interaktion v o n T ex t u n d Leser. E ine solche Analyse erhebt nicht den A nspruch, die tatschliche R ezeption zu erfassen, sond ern Textvorgabe sowie Inform ationsvergabe u n d G estalt bildung als intendierten P roze zu beschreiben. Dies w eicht w esentlich v o n der im m er n o ch w eitgehend prgenden strukturalen N arratologie ab. D er A usgangspunkt narratologischer T extbeschreibung bis in den P oststru k tu ra lismus ist eine strukturale R hetorik als altbewhrtes Inventar einer deskripti ven N om enklatur. In den letzten Ja h rz eh n te n w urde aber zu n eh m en d b e w ut, da sich sprachliche Z eichenprozesse, u n d dam it auch narratologische B efunde n ur schw er rein statisch auffassen lassen. In dem hier zugrundege legten M odell sprachlicher K om m u nik ation gibt es keine starren Bedeu tungszuw eisungen, die v o m w issenden Leser bei eventueller B ercksichti gung des K ontextes n ur n o ch entziffert w erden m ssen bzw. v o n d enen m an dan n sagen kann, sie w rd en endlos gleiten. D eutlicher w ird das Problem , w enn m a n sich klar m acht, da die struktu rale Beschreibung stets darauf b eruh t, da ein spezifisches T extp hn om en verstanden u n d dann als einer Kategorie zugehrig identifiziert wird. E in

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L ehrbuchbeispiel fr A ntonom asie, also die E rsetzu ng eines E igennam ens z.B. durch eine kennzeichnende U m schreibung, lautet alle such ten durch V erm ittlung des korsischen Emporkmmlings Stcke v o n D eutschlan d an sich zu bringen.15 E ine B eschreibung v o n >korsischer Em porkm m ling< als A n tonom asie ist vllig korrekt, aber sie verdeckt den P roze, der diese Be schreibung erst m glich m acht: Z u erst m u die Substitution als solche er k an n t u n d d ann aufgelst w erden, d.h. was sich im T ext findet, ist ein Suchauftrag: Irgendw o v o rh er w ar v o n etwas die Rede, das n u n u n te r der Be zeichnung >korsischer Em porkm m ling< angesprochen wird. V o n hier aus lassen sich einige weitere fruchtbare Fragen stellen: W elche V oraussetzungen m u jem and erfllen, u m diesen Suchauftrag erfolgreich auszufhren? Wie schwierig ist dies, d.h. ist die D istanz zw ischen dieser B ezeichnung u n d der v orhergehenden besonders gro, oder ist das W issen, u m die Z u o rd n u n g v o rn eh m e n zu knnen, b esonders esoterisch? D ie interessanteste A useinandersetzung m it der D ynam ik v o n Z eichen p rozessen w urde in den letzten Ja h re n nicht n ur im G ebiet der N arratologie, so n d ern auch in der Linguistik u n d der Psychologie v o n W issenschaftlern geleistet, die dem kognitionsw issenschaftlichen Paradigm a verpflichtet sind.16 E ine engere Z usam m enarbeit v o n herm eneutischen u n d strker em pirisch experim entell ausgerichteten H um anw issenschaften scheint endlich m glich gew orden zu sein. Liegt ein sprachliches P h n o m e n vor, das m it rh eto ri schen Begriffen als M etonym ie bezeichnet w ird, so k ann die P ro d u k tio n u n d V erarbeitung eines solchen Textelem ents m it kognitionsw issenschaftlichen M ethoden un tersu ch t u n d k n n en die kom plexen Inferenzprozesse rek o n struiert w erden, die das V erstndnis v o n den sehr unterschiedlichen P h n o m enen, die darunter fallen, erst genauer ermglichen. Dies f h rt no tg ed ru n gen zu einer im m er strkeren V erlagerung der A ufm erksam keit v o m T ext zur Rezipientenseite,17 ist also Teil eines allgemeineren T rends, der auch die Literaturw issenschaft seit der R ezeptionssthetik prgt. A u fg ru n d w elchen15 16 R ic ard a H u c h z itiert n a c h U e d in g /S te in b rin k (1994: 290). A u sf h rlic h e r d a z u u n te n S. 177ff.; z u r W irk u n g des k o g n itio n sw isse n sc h a ftlich e n P a r a digm as in d e r T e x tlingu istik vgl. Figge (2000). S e h r viel aktueller ist das ltere B u c h v o n R ic k h e it/S tr o h n e r (1993). Z u r k og n itiv e n P s y c h olog ie vgl. A n d e r s o n (1996). P o s ts tru k tu ralistische b e rle g u n g e n z u r D y n a m ik v o n Z e ic h e n p ro z e s s e n sind d a m it v e rg lic h e n relativ e in fa c h k o n s tru ie rt, h a b e n n ic h t die breite e m p irisc h e B asis u n d sind in ih re n E r g e b n is s e n w e n ig er fru c h tb a r, d a z u m e ist die E in s ic h te n d e r th e o re tis c h e n G r n d u n g s v te r w ie d e r h o lt w e rd e n ; vgl. z u r A u se in a n d e rs e tz u n g m it p o s tstru k tu ra lis tis c h e n F ig u r e n th e o r ie n a us f h rlic h e r u n te n S. 166. 17 D ie P r o d u z e n te n s e ite ist a b e r au ch v e rs t r k t in d e n Blick g e k o m m e n ; vgl. z u m berb lic k A n to s (2000).

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W issens k onstruiert der Leser aus einem T extelem ent auf welche W eise w el che Bedeutung, so lauten die forschungsleitenden Fragen. In der L iteratur w issenschaft w erden die angesprochenen E ntw icklungen der K ognitionsw is senschaften bislang w eitgehend ignoriert. Dies erscheint m ir unbefriedigend. D a wir n u n wissen, w elch grobes Be schreibungsinventar die strukturale D eskription ist, sollten w ir nicht eine N arratologie betreiben, die T ex tphnom ene in erster Linie statisch b e schreibt, sow enig wie m a n K om m unikations- u n d Zeichenm odelle v erw en den sollte, deren linguistische V orbilder inzw ischen w eitgehend durch k o m plexere M odelle ersetzt w o rd en sind. D ie theoretisch am bitioniertere Reaktion b esteh t darin, die kognitions w issenschaftlichen E rgebnisse zu b ern eh m en u n d au f die Analyse v o n T ex te n zu applizieren.18 F r eine historische Textw issenschaft ist diese E n tw ick lung aber fatal, weil ihr n ur Texte vorliegen u n d die P ro d u z en te n sowie auch die zeitgenssischen Rezipienten grtenteils der N eugier der W issenschaft ler entzogen sind. D a jedoch zahlreiche M om ente des v erstandenen Textes u n d das gilt im beso n d eren M ae fr die Figur als aggregiertes P hnom en eine E rgnzung des im m aterialen T ext G egebenen voraussetzen, m u der historische Textw issenschaftler m it einem K o n stru k t wie dem M odell-Leser (Eco) oder dem auktorialen P ublikum (Rabinowitz) operieren. D essen E r gnzungen sind so eines der E rgebnisse der vorliegenden A rb eit bereits fr ein basales Textverstndnis w ichtig u n d nicht n u r bei w eiterfhrenden interpretatorischen U nternehm ungen, deren K ontextbedingtheit allgemein b ek an n t ist. U nter dieser U ntersuchungsperspektive ist das V erhltnis v o n Figuren u n d P erso n en erneut problem atisch gew orden. Es g eh rt zu den B insen w eisheiten der L iteraturw issenschaft, da die Figur etwas kategorial anderes ist als eine P erso n in der lebensw eltlichen W ahrnehm ung. G leichzeitig ist bekannt, da fr die Figurenkonstitution epochen- oder auch autorenspezifi sche anthropologische u n d psychologische K onzepte w ichtig sind, sei es n u n die Melancholie fr H am let oder W erther, sei es der Typus der nervsen Frau fr die F rauenfiguren v o n Fontane. Wie aber n u n die kategoriale T re n nun g bei gleichzeitiger enger Relation theoretisch genau zu m odellieren sei, ist w eitgehend u n b ean tw o rtet geblieben. U m eine angem essene A n tw o rt zu finden, h at es sich als n otw endig erwiesen, den A ufbau einer Figur im T ext n o ch einmal v o n G ru n d auf, sozusagen u nter dem V ergrerungsglas, zu

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I n d e r A nalyse d e r D r a m e n fig u r h a t dies C u lp e p e r geleistet; vgl. C u lp e p e r (2001); in d e r N a rra to lo g ie z.B. S c h n e id e r (2000) o d e r E m m o t t (1997).

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u ntersuchen, u n d gerade in den ersten Schritten m ute die U ntersuchung etwas basaler geraten, als das selbst fr narratologische A rb eiten blich ist. Ziel eines solchen V erfahrens, das die herm eneutischen Prozesse gleichsam zerdehnt, ist es, ihre gedankliche D ynam ik u n d ihre Regelhaftigkeit sichtbar w erden zu lassen. D ie E rgebnisse w erden m it den theoretischen E n tw rfe n der E rzhltheorie konfrontiert, u m zu einem neuen deskriptiven M odell der Figur in erzhlten W elten u n d d en Strategien ihrer D arstellung zu gelangen. Ziel der U ntersuchung ist ein Figurenm odell, das einen Beitrag zum n eu en F orschungsfeld einer historischen E rzhltheorie leistet u n d ein theo reti sches A n g eb o t an die historisch interpretierende L iteraturw issenschaft dar stellt, indem es ihr ermglicht, B efunde kontrollierter zu erheben u n d zu beschreiben. G erade fr diese im w eiteren Sinne herm eneutisch arbeitenden L iteraturw issenschaftler w erden m anche der E rgebnisse aber n ich t vllig berraschend sein. Wie sollten sie auch bei der durchaus gew ollten N he zur historisch-interpretierenden, herm eneutischen Praxis? Was aber das glckli che u n d keineswegs hufige G elingen einer teils begriffslosen Praxis war, k ann durch einen engeren Brckenschlag zur E rzhltheorie insgesam t zu einer differenzierteren begrifflich geleiteten H euristik als G rundlage aller gelungenen Interpretation werden. F r diesen Brckenschlag ist es allerdings auch notw endig, die E rzh l theorie u m E lem ente zu erw eitern, die der historischen Vielfalt der P h n o m ene gerecht w erden. D ie E rzhltheorie hat lange Z eit das Ziel einer voll stndigen system atischen B eschreibung des fokussierten P hn om en s verfolgt u n d hat dieses Ziel in w enigen glcklichen Fllen auf fruchtbare W eise errei chen knnen, in vielen Fllen aber n u r u m den Preis einer drastisch reduzier te n K om plexitt. D e n N icht-N arratologen ist die R eduktion w ohl oft zu verlustreich gew esen u n d den h o h en begrifflichen A ufw and nicht wert. In zw ischen hat sich auch innerhalb der E rzhltheorie ein Bew utsein fr dieses P rob lem entwickelt, dem m a n etwa durch eine A usw eitung in R ichtung einer Cultural Analysis zu begegnen hofft. D ie A bhngigkeit der Figur v o n h isto risch variablen T ypologien ist in der Literaturtheorie schon lange bekannt, aber an einer genaueren M odellierung dieser A bhngigkeit hat m a n sich bis lang w eitgehend vergeblich abgearbeitet. A u ch in diesem P u n k t h a t sich m it der neueren K ognitionsw issenschaft eine W ende angekndigt, da n u n W is sensform en prziser beschrieben w erden knnen, u n d die ersten A n w e n d u n gen dieses Instrum entarium s sind vielversprechend. Sie w eiterzufhren u n d v o r allem den B rckenschlag zu A spekten der D arstellung zu finden, ist ein S chw erpunkt der vorliegenden Arbeit.

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berblick ber die A rbeit D ie scho n erw hnte A bhngigkeit einer T heorie der Figur v o n R ah m en theorien, z.B. einer T heorie der K om m unikation, m ach t es notw endig, im zw eiten K apitel einige wichtige K orrekturen am heute n o c h blichen Bild narrativer K om m u nik ation vorzunehm en. Im Z en tru m stehen die U m stel lung des verw endeten Modells v o n codebasierter au f inferenzbasierte K o m m unikation im K o n tex t einer literarischen Pragm atik u n d die K lrung einiger dam it verbundener Begriffe wie >AutorSituation< oder >Modell-LeserBenennen der Figur< w ird im vierten K apitel beschrieben, was eine E n titt der fiktionalen W elt zur Figur m acht, wie au f sie referiert w erden kann u n d wie ein Leser erkennt, da zwei B enennungen auf dieselbe Figur referieren. Im fnften K apitel w erden eine Reihe v o n V orschlgen gesichtet, wie das literarische P h n o m e n Figur theoretisch konzeptualisiert w erden kann. A usgehend v o n unterschiedlichem Material u n d auf unterschiedlichem argum entativen W eg gelangen das vierte u n d das fnfte K apitel zu einem K onzept, das die Figur als m entales M odell eines M odell-Lesers beschreibt. Im sechsten Kapitel w ird ausgehend v o n diesem M odell beschrieben, wie die Figur sow ohl auf der E b en e der D arstellung wie auch au f der E b en e der erzhlten W elt gebil det w ird u n d wie n icht n u r dieses m entale Modell, so n d ern gleichzeitig die intendierte Einstellung des Lesers dazu kom m uniziert wird. Fr die argum entativen A nalysen in den K apiteln davor w erden vier T ex te besonders hufig herangezogen, da sie in ihrer D iversitt sicherstellen sollen, da kein V orurteil, etwa zugunsten m im etischer Texte, das entwickel te M odell v o n v o rnherein in Frage stellt. Allerdings m u sich eine E rzh l theorie der Figur auch der Figurendarstellung im realistischen R om an des 19. Ja hrh underts w ohl eine der kom plexesten b erh a u p t gew achsen zeigen. Als Beispieltext fr diesen Typus w urde der fr narratologische Beispielana lysen sch on hufig verw endete R om an Buddenbrooks gewhlt. D as antipsycho logische G egenstck hierzu bildet der T ex t Bebuquin v o n Carl E instein, der n u r wenige Jahre nach den Buddenbrooks entstanden ist, aber eine erzhleri sche W elt m it ganz anderen Spielregeln entwirft. U m die Tauglichkeit des analytischen Instrum entarium s auch an einem historisch w eiter entfern ten T ex t dem onstrieren zu knnen, w urde Fortunatus ins K orpus aufgenom m en. Diese drei T exte gehren heute der kanonisierten Literatur an; es sollte w e

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nigstens ein Beispiel aus der nichtkanonisierten Literatur einbezogen w erden, u n d die sehr zufllige W ahl fiel au f einen T aschenbuch-R om an aus der Reihe Jerry C o tto n m it einem Titel, der das andere kulturelle Milieu scho n deutlich annonciert: Die Venus und das Superding.19 Einige P hnom en e lieen sich nicht d urch Beispiele aus den g enannten T exten belegen; in diesen Fllen w urden weitere T exte herangezogen.20 E in A bschlukapitel fat die w ichtigsten E r gebnisse dieser A rbeit zusam m en u n d verw eist auf A nschlum glichkeiten fr weitere F orschungen. W ie es in narratologischen A rbeiten blich ist, w erden eine Reihe v o n erzhltechnischen P h n o m en en abgegrenzt, b e schrieben u n d benannt. U m den berblick ber das so entstandene V o kab u lar zu behalten, findet sich im A nh an g ein G lossar m it den w ichtigsten Be griffen u n d D efinitionen. D ie G re des Forschungsfeldes >Figur< u n d die M enge an ungelsten grundlegenden Fragen haben den V erzicht au f A spekte notw endig gem acht, die der Interpretation, dem H auptgeschft der L iteraturw issenschaft, nher liegen. D er ob en angesprochene Fragenkom plex, wie Figuren in literarischen T ex ten entw eder B edeutung h aben oder zur B edeutung des Textes beitragen, bleibt unbercksichtigt. D as gilt auch fr eine Reihe v o n anderen figurenspe zifischen Fragen, die wenigstens erw hnt seien: die Figur des E rzhlers, die Analyse v o n Figuren, die in m ehreren T exten Teil der H an dlu ng sind, oder auch hier ist der V erzicht fr einen L iteraturw issenschaftler besonders naheliegend die em pirische Analyse der Figurenrezeption. Ziel der folgenden U ntersuchung ist es, ein In strum entarium zu erarbei ten, das es erm glicht, prziser zu beschreiben, was in der narrativen W elt der Fall ist, u n d dabei kulturelles W issen gezielt in einer prim r textorientier te n Analyse zu verw enden. E in solches In stru m entarium ist auch fr die Interpretation v o n Figuren in literarischen T ex ten v o n zentraler Bedeutung, eben weil au f diese W eise die F unktion v o n Figuren u n d F igureninform atio n en als Teil einer exem plifizierenden P roblem form ulierung genauer b e schrieben w erden kann. In hnlicher W eise lt sich die Figur u n d ihre Rolle bei der sthetischen Sinnbildung genauer ermitteln. In d em m a n prziser erfassen kann, wie einer Figur In fo rm ationen zugeschrieben w erd en u n d wie sie dadurch G estalt in der erzhlten W elt gew innt, ist eine bessere Basis fr w eiterreichende A ussagen gew onnen, deren Plausibilitt m it der B rauchbar19 D a d ie se r R o m a n d e n m e is te n L e s e rn u n b e k a n n t sein d rfte , fin d e n sich im A n h a n g A eine In h a lts a n g a b e sow ie einige allgem eine H in w e ise z u m P r o d u k tio n s - u n d P u b lik a tio n s u m fe ld des T extes. ^ E in e L iste d e r v e rw e n d e te n Q u e lle n u n d ih re r A b k rz u n g e n fin d e t sich in d e r e rsten S ek tio n des L iteratu rv e rz eic h n isse s.

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keit der B eschreibung steht u n d fllt. B evor wir aber sow eit sind, m u geklrt w erden, was eine Figur im E rzhltext eigentlich ist. D er B eantw ortung dieser Frage ist die folgende U ntersuch ung gewidmet.

2 Narrative Kommunikation2.1 Das ProblemG rundlage der narratologischen M odellbildung ist die T hese, literarische E rzhltexte seien E le m en t einer vielschichtigen K om m u nik ation .1 D as narratologische M odell2 dient v o r allem der B eschreibung u n d Analyse v o n T ex t1 E i n e n d e r w ic h tig sten V e rsu c h e , d e n B e g r iff >Kommunikation< g e n a u e r zu erfa sse n , stellt im m e r n o c h die A rb e it v o n K laus M e r te n d a r, d e r a u f d e r D a te n b a s is v o n 160 g e sa m m e l te n D e fin itio n s v e rs u c h e n eine E x p lik a tio n des B egriffs v e rs u c h t; vgl. M e r te n (1977). M e r te n s B e s c h re ib u n g v o n K o m m u n ik a tio n als in sachlicher, te m p o ra le r, u n d sozialer H i n sich t reflexiven P r o z e fug e n n e u ere A rb e ite n wie die v o n M a n f re d F a le r lediglich die B e to n u n g d e r M e d ie n b e d in g th e it v o n K o m m u n ik a tio n hin z u ; vgl. F a le r (1997). S ehr f r u c h tb a r f r die fo lg e n d e n b e rle g u n g e n w a r R u d i K ellers rn s tru m e n ta listisch e A u ffa s s u n g v o n B e d e u tu n g in sein e m M o d ell allgem einer u n d in s b e s o n d e re sp ra c h lic h e r K o m m u n ik a tio n ; vgl. K eller (1995). A lle n e u e r e n K o m m u n ik a tio n s th e o rie n le h n e n die V o rs te l lu n g ab, da K o m m u n ik a tio n die >bertragung< e in e r >Botschaft< sei. U neinigkeit b e ste h t v o r allem d a r b e r, o b u n d w ie K o m m u n ik a tio n m g lic h sei, w e n n die v e rw e n d e te n Z e i c h e n im V e rg leich m it d e m z u K o m m u n iz ie re n d e n u n te rs p e z ifiz ie rt sind. 2 D ie n a rra to lo g is c h e M odellbildung; ist s elb stv e rst n d lic h n u r ein S o n derfall im R a h m e n eines M o d ells lite rarisch er K o m m u n ik a tio n , ist a b e r a u fg ru n d d e r Spezifika d e r erz h leri sch e n K o m m u n ik a tio n d u rc h a u s eigenstndig. Vgl. z u r d e u tsc h e n T r a d itio n so lch e r e r z h lth e o re tisc h e n M odelle: J a n ik (1973). J a n ik s M o d ell w e n d e t sich explizit g e g en die gleichzeitige fran z s isc h e N a rra to lo g ie , die d e n A s p e k t d e r K o m m u n ik a tio n w e itg e h en d a u sblen det. A n die B eg rifflichkeit d e r R ez e p tio n s s th e tik k n p f t D ie tric h K ru s c h e an (K rn sc h e 1978). K a h r m a n n /R e i / S c h lu c h t e r [E D d e r N e u b e a r b e itu n g 1986, E D 1977] (1993: 19-63); Z e rb s t: [1982] (1995). S e h r viel a u sg e p r g te r w as m a n s c h o n an d e n N a m e n d e r B e itr g e r sieh t ist die angelschsische D is k u ss io n , die w ie d e rh o lt a u f S e y m o u r C h a tm a n s E n t w u r f z u r c k g re ift (C h a tm a n 1978: 151). D e rs e lb e n o c h einm al z u m >implied author< in C h a tm a n (1990: 74ff.); M a rtin (1986: 152ff.); O 'N e ill (1996: 107ff.). In s b e s o n de re die E in f h ru n g e n u n d L e h rb c h e r g e h e n v o m K o m m u n ik a tio n s m o d e ll aus, z.B. d e r S a m m e lb a n d klassisch er T e x te v o n O n e g a / L a n d a (1996: 11). S o w o h l die angelschsische als a u c h die d e u tsc h e D is k u s s io n in te g rie rt N n n in g (1989: 2 5 ff ). Vgl. au ch d e n b e r blick, d e r das K o m m u n ik a tio n s m o d e ll als A u s g a n g s p u n k t n im m t, in N n n i n g / J a h n (1994: 285). All diese M o d elle w e ise n bei aller te rm in o lo g isc h e n V e rsc h ie d e n h e it w e itg e h en d e b e re in stim m u n g e n auf, wie s c h o n fr h k o n s ta tie rt w u rd e ; vgl. F ie g u th (1973: 186). D ie klassische fran z sisc h e N a rra to lo g ie , wie sie z.B. in G e n e tte s D iskurs der Erzhlung [1972](1994) und in B a rth e s Einfhrung in die strukturale .Analyse von Erzhlungen [1966](1988) fo rm u lie rt ist, sieht, w ie s c h o n e rw h n t, v o n d e n k o m m u n ik a tiv e n G e g eb e n -

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N a rra tiv e K o m m u n ik a tio n

p hnom enen, im G egensatz zum Begriff der literarischen K om m unikation^ der in den letzten Ja h re n hauptschlich u n te r dem G esichtsp unkt des Sozial systems Literatur un tersu ch t w urde u n d der sich in dieser F o rm bislang nicht stringent auf die E bene der Textanalyse beziehen lie.3 K leinster gem einsa m er N en n e r der narratologischen Modelle ist die A n nahm e v o n drei E benen, au f denen die K om m unik ation sich ereignet. A u f der ersten E ben e k o m m u niziert ein realer A u to r mittels seines Erzhlw erks m it einem ebenso realen Leser. A u f der zw eiten E b en e kom m uniziert ein E rzhler m it der Leserrolle im T ex t u n d au f der dritten E b en e kom m unizieren die Figuren der E rz h lung m iteinander.4 D er unbestreitbare V orteil eines solchen Modells besteh t

h e ite n w e itg e h e n d ab. Z u m in d e s t G e n e tte h a t seine P o s itio n a b e r in s p te re n U n te rs u c h u n g e n revidiert, so b e z ie h t z.B. seine M o n o g ra p h ie >Paratexte< (1987) ge ra de die K o m m u n ik a tio n s situ a tio n u n d -S tru k tu r m it ein. Z u F lu dernik s K ritik am K o m m u n ik a tio n s m o d e ll vgl. F u n o te 63. Vgl. z u m P ro b le m k o m p le x , inw iew eit die L ite ra tu rw iss e n sc h a ft die E r g e b n is s e d e r P ra g m a tik b e r n e h m e n k a n n , a u c h u n te n die D is k u s s io n d e r K o n v e r sa tio n sm a x im e n u n d d e r R ele v a n z th e o rie S. 52. ^ D ie se V e rw e n d u n g s tra d itio n des B egriffs lite ra ris c h e K o m m u n ik a tio n b e z ie h t sich a u f sozialw issenschaftliche T h e o rie m o d e lle , d e re n p ro filiertestes z u r Z e it o h n e F rag e N iklas L u h m a n n s S y ste m th e o rie ist. A llerdings sind diese A n s tz e f r die T e x tanalyse w e n ig fru c h tb a r, d a sie a u fg ru n d ihres A b stra k tio n sg ra d s kein I n s tr u m e n ta r iu m f r die U n te rs u c h u n g v o n T e x te n b e reitstellen u n d aus ih re n th e o re tis c h e n A n n a h m e n w o h l a u c h keines a bzuleiten ist. D e n V e rsu c h e n , d o c h v o n d e n S o zialsystem en a u f die T e x te b e n e d u rc h zugreifen (Niels W e rb e r), sind bisla n g keine b e rz e u g e n d e n E r fo lg e b e sc hieden. D ie p ro m in e n te s te n V e rtre te r dieses in sich bereits s eh r d iffe re n z ie rte n A n sa tz e s sind w o h l die em p irisc h e L ite ra tu rw iss e n sc h a ft Siegener P ro v e n ie n z (S.J. S c hm idt), die je d o c h L u h m a n n kritisch g e g e n b e rs te h t, die A rb e ite n v o n G e rh a rd P lu m p e u n d N ie ls W e r b e r , z.B. P lu m p e / W e r b e r (1995), die L e id e n e r Schule m it H e n k de Berg; u n d M a tth ia s P ran g e l, z.B. de B e r g /P r a n g e l (1997). E in e n g u te n b e rb lic k b ie te n die fo lg e n d e n F o rsc h u n g sb e ric h te , die alle a u f d e n p ro b le m a tis c h e n Status des T e x te s in d e n re fe rie rte n M o d e lle n hinw eisen: J g e r (1994); O r t (1995); J a h r a u s /S c h m id t (1998). T a ts c h lic h sp eisen sich die textan alyti s c h e n V e rfa h re n in d e n m e is te n s y ste m th e o re tis c h e n U n te rs u c h u n g e n aus a n d e re n , o ft traditio n ell h e rm e n e u tis c h e n Q uellen. Z u r p rin z ipiellen Skepsis g e g e n b e r d e n V e rsu c h e n , d e n s y ste m th e o re tis c h e n K o m m u n ik a tio n s b e g riff f r die T e x ta n a ly se fr u c h tb a r z u m a c h e n , vgl. au ch J a h r a u s (1999). O p tim is tis c h e r ist R e in fa n d t (1997). A llerdin gs zeigen sei ne A u s f h ru n g e n w o h l w id e r W illen, da die s y ste m th e o re tis c h e n K o n z e p te , die f r k ontextuelle R ela tio n ie ru n g e n so e rgiebig sind, f r die n a rra to lo g is c h e n A sp e k te k a u m fru c h t b a r w e rd e n . D ie S a m m e lb n d e d e r R eih e .Archologie der literarischen K om m unikation, bis a u f einen B a n d h e ra u sg e g e b e n v o n A le id a A s s m a n n , sind n a c h anf n g lic h en e n g e re n B e z g e n z u m K o m m u n ik a tio n s b e g riff, e tw a in d e r A nalyse d e r b e s o n d e re n B e d in g u n g e n v o n M n d lic h k eit u n d Schriftlichkeit, n u n d u rc h s e h r w eite th e m a tis c h e V o rg a b e n wie >Weisheit< o d e r >Einsamkeit< e h e r E x p lo ra tio n e n des kultu rellen G e d c h tn isse s. ^ D ie g e n au e A n z a h l d e r E b e n e n s ch w a n k t, die g e n a n n te n E b e n e n b ild e n d e n k leinsten g e m e in sa m e n N e n n e r .

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in der offensichtlichen K om plexitt des Instrum entarium s, w enn m a n auch, wie o ft beklagt, dieses Vorteils verlustig zu gehen droht, sobald die N o m e n klatur ebenso kom plex wie das zu beschreibende P h n o m en ist. D ie erfolg reichen A nalysen der Zeitgestaltung oder des Problem kom plexes >Erzhler< geben ein Instrum entarium an die H and, das jede im T ext gegebene In fo r m atio n in Relation zu ihrer Quelle, zu anderen In form atio nen dieser A rt u n d zur narrativen W elt setzt. D iese Leistungsfhigkeit soll hier nich t in Frage gestellt w erden. Im Gegenteil, es soll im A nschlu daran ein analoges In strum entarium entwickelt w erden, das jede einzelne Figureninform ation erfat u n d in Beziehung setzt zu ihrer Quelle, zu anderen In form ation en zur gleichen Figur u n d zur P osition im N etzw erk der F igureninform ationen im T ext, beschrieben entlang der D im ensio nen D auer, M enge, H ufigkeit usw., u n d dies w iederum in Beziehung setzt zur Figur als Teil der erzhlten Welt. D er analytische G ew inn d urch ein solches klares Raster an Beschreibungska tegorien ist unbestreitbar, da auf diese W eise D ifferenzierungen prsent gehalten w erden knnen, die v o n m anchem hellsichtigen In terpreten m anchm al bercksichtigt, v o n den m eisten aber zum Schaden der T ex tb e schreibung u n d der darauf aufbauenden Interpretation vernachlssigt w er den. E ine solche B eschreibung m u sich aber v o r allem einem P roblem stel len: der ungeheuren Inform ationsm enge, die sie erzeugt. Schon n ach w eni gen Stzen einer E rzhlung sind zahlreiche In form atio nen zu einer Figur gew onnen, u n d weil sie auch u ntereinander relationiert w erden knnen, w chst die M enge der w eiter zu verarbeitenden In form atio nen exponentiell an u n d berschreitet bald jedes h andhabbare M a.5 M an kann dieses P ro blem n icht dadurch um gehen, da m a n auf das B eschreibungsinstrum entari u m grundstzlich verzichtet; dazu sind dessen Vorteile fr eine detaillierte systematische Beschreibung zu gro. A ber m a n d arf das P rob lem der In fo r m ationsberlastung auch nicht vernachlssigen, da jedes derartige M odell ansonsten das Schicksal zahlreicher strukturalistischer Modelle aus den 1970er Ja h re n teilen w ird, nm lich aufgrund seiner U nhandlichkeit u n d auf g ru n d der Flle an redund anten Inform ationen, die es erzeugt, keine V er w endu ng zu finden. E ine solche berfo rderung der Inform ationsverarbei tungskapazitten der L iteraturw issenschaftler w rde dann n u r w iederum einen R ckzug au f herm eneutische Strategien bew irken, die zw ar un v erb in d

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E in e m g lic h e A lte rnativ e b ie te t die V e ra rb e itu n g d e r I n f o r m a tio n e n m it d e m C o m p u te r. B islan g steckt diese F o r m d e r A nalyse allerdings n o c h in d e n K in d e rs c h u h e n ; vgl. z u m S ta n d d e r F o r s c h u n g u n d z u e in e m n e u e n M o d e lle n tw u r f M e is te r (2003).

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licher sind, aber in diesem P u n k t durchaus bew hrt. Sie legitimieren den Rckgriff au f die eigenen kom m unikativen K om petenzen, ausgebildet nicht nur in der A lltagskom m unikation, sond ern auch im U m gang m it zahlreichen historischen D o k u m en ten der verschiedensten T extsorten, u n d auf eine A usw ahl der w esentlichen In form atio nen aus dem Text. Will m a n das strukturale B eschreibungsinventar beibehalten u n d dennoch nicht in der Info rm ation sflut ertrinken, k nnte m a n die K om plexitt des B eschreibungsinventars reduzieren. D as aber htte die Folge, da die Be schreibung sich im m er w eit u nter dem N iveau befnde, das ein In terp ret aufgrund seiner herm eneutischen K om petenz als adquat beurteilen wrde. Bei der Analyse einer kon kreten Textstelle ist ja zum eist ein Teil des B e schreibungsinventars m indestens m it dem A uflsungsverm gen der angebo ten en K ategorien v o n n ten , aber eben n u r ein kleiner Teil. A u ch eine u n te r schiedliche D ifferenziertheit der K ategorien, die einen K ernbereich sehr detailliert, den R est aber n u r in w eitergefaten Begriffen behandelte, wre kein A usw eg aus diesem D ilem m a, da je nach der k o nkreten Textstelle, die beschrieben w erden soll, ganz unterschiedliche W ahrnehm ungen v o n dem entstnden, was den K ernbereich u n d was die Peripherie bildete. D as P ro blem ist in diesem Fall also weniger, b erh au p t In form ationen zu gew innen, son dern die A usw ahl aus der sehr gro en Flle v o n In fo rm atio nen. E in e n brauchbaren A n satzp u n k t fr eine L sung dieses Problem s bietet der bereits angesprochene U m stand, da bei der B eschreibung unterschiedli cher Textstellen v o m Interp reten jeweils unterschiedliche K ategorien des Beschreibungssystem s fr sinnvoller u n d adquater gehalten w erden. Die Systematik eines strukturalen K ategorienbaus w ird hier also u m etwas E x te r nes ergnzt, nm lich die Fhigkeit zu erkennen, was davon in w elcher Situa tion sinnvoll anzuw enden ist. W o ra u f basiert diese Fhigkeit? K an n sie so w eit explizit form uliert w erden, da sie als E lem ent in ein M odell narrativer K om m un ikation eingehen kann? D ie folgenden A usfhru ngen entfalten eine doppelte These: D ie Fhig keit zur A usw ahl basiert au f der kom m unikativen K om petenz des In terp re ten, die sich in der A useinandersetzung m it seinem historischen Q uellenm a terial entw ickelt h at u n d die, w enn auch im m er unvollstndig, die kom m u ni kativen K om petenzen des zeitgenssischen Lesers reproduziert. D ie k o m m unikative K o m petenz lt sich, so die zweite T hese, als grtenteils proze-

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durales W issen6 u m regelhafte Z usam m enhnge in der K om m unikation beschreiben. D iese Regeln oder K o n v en tio n en ,7 die bei einer A usw ahl aus den verfgbaren u n d m glichen In fo rm ationen zur A nw end ung kom m en, m ssen zum Teil des narratologischen Modells gem acht w erden das ist w ohl die einzige Mglichkeit, das P rob lem der Inform ationsberlastung in berpr fbarer W eise zu lsen. D ie Strategie zur E ntfaltung dieser T hesen m u au f den ersten Blick p a radox erscheinen, da in den ersten beiden Schritten erst einmal fr die E in beziehung v o n In stanzen des K om m unikationsm odells gew orben w ird, die bislang vernachlssigt w urden, u n d dam it also die Inform ationsm enge offen sichtlich v ergrert wird. Z u erst w ird die K om m unikationsebene >realer A u to r realer Leser< u n d ihre Relevanz fr die T extbeschreibung u n d interpretation skizziert, da sie in den narratologischen M odellen zw ar ange sproch en wird, zum eist aber nur, u m d ann gleich ausgeklam m ert zu werden. In einem zw eiten Schritt w ird gezeigt, wie der Begriff der K om m unikatio ns situation auch fr den Fall der schriftlichen narrativen K om m unikatio n ver w en det w erden kann. E rs t in einem dritten Schritt w erden die Selektionsstra tegien ausfhrlicher them atisiert. D o c h ohne die in den ersten beiden Schrit te n hinzugew onnenen In form atio nen kann m a n die A usw ahlregeln fr die v orh an d en en In form ation en ebensow enig wie die Regelhaftigkeit der A u s w ahl ermitteln. E ine E inschrnk ung vornew eg: Ziel einer narratologischen Figurenanaly se ist eine m glichst przise, textnahe Phnom enbeschreibung, die durch w eitgehenden V erzicht au f w eitreichende V orannahm en intersubjektive Plausibilitt auch gerade in Z eiten des M ethodenpluralism us beanspru chen darf. Leider funktioniert das so nicht. Schon bei der E rfassung der T ex tp h nom ene, bereits bei der Bestim m ung, was die G renze u n d G estalt eines T ex tphno m ens ist, spielen bekanntlich w eitergehende A n n ah m e n b er Z ei chen- u n d R ezeptionsprozesse eine Rolle. Dies gilt u m so m eh r fr hochag gregierte P hnom ene wie die Figur. W elches T extelem ent ist Teil der >Figur