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Jüdischer Verlag Leseprobe Dachs, Gisela Jüdischer Almanach Musik © Jüdischer Verlag 978-3-633-54279-6

Jüdischer Verlag - Suhrkamp Verlag · Jahren als »jüdische Punker« ins Rampenlicht geholt wur-den, ob sie es wollten oder nicht. In seinem Text über Je-wish Radicals geht er

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Jüdischer VerlagLeseprobe

Dachs, GiselaJüdischer Almanach Musik

© Jüdischer Verlag978-3-633-54279-6

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JÜDISCHERALMANACH

der Leo Baeck Institute

MusikHerausgegeben von Gisela Dachs

im Auftrag desLeo Baeck Instituts Jerusalem

Jüdischer Verlagim Suhrkamp Verlag

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Gefördert durch Nordelbisches Missionszentrum (NMZ), Nahostreferat,Referat für christlich-jüdischen Dialog

Im Dialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gesprächin Hessen und Nassau

Redaktionelle Beratung: Irene Aue-Ben-David und Na’ama SheffiUmschlagabbildung: Vered Navon

Das Leo Baeck Institut (LBI) ist benannt nach der Symbolfigur der deutschen Judenheit im20. Jahrhundert und besitzt Zentren in New York, London und Jerusalem sowie eine Wissen-schaftliche Arbeitsgemeinschaft in Deutschland. Es wurde 1955 in Jerusalem gegründet, umdie Geschichte und Kultur des deutschen und zentraleuropäischen Judentums zu erforschenund zu dokumentieren.

Seit 1993 gibt das Leo Baeck Institut Jerusalem den Jüdischen Almanach heraus. Dies knüpft aneine alte Tradition an, die durch den Nationalsozialismus gewaltsam abgeschnitten wurde.Erstmals erschien ein Jüdischer Almanach im Jahre 1902.

Leo Baeck Institute:Jerusalem: 33 Bustenai Street, Jerusalem 93229, Israel; www.leobaeck.org

London: 2nd Floor, Arts Two Building, Queen Mary University of London, Mile End Road,London E1 4NS, UK; www.leobaeck.co.uk

New York: 15 West 16th Street, New York, NY 10011, USA; www.lbi.orgFreunde und Förderer des LBI: Liebigstraße 24, Frankfurt 60323

Erste Auflage 2016© für diese Zusammenstellung Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag;

für die einzelnen Beiträge bei den Autorinnen und Autoren© für die Abbildungen Vered Navon

Berlin 2016Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in Germany

ISBN 978-3-633-54279-6

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INHALT

Zu diesem Almanach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

heidy zimmermann Was ist jüdisch an jüdischerMusik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

thomas gerlich und heidy zimmermann

Nah und fern zugleich. Ein Gespräch über Musikund Identität zwischen György Ligeti und MauricioKagel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

mark kligman Musik und Judentum . . . . . . . . 45

shoshana liessmann Hörner, Leiern, Kriegs-geheul. Was uns die Bibel über die Musik im AltenIsrael (nicht) verrät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

tina frühauf Ein Instrument und seine Folgen:Die Orgel in der deutsch-jüdischen Kultur . . . . . 64

robert dachs Wiener Publikumslieblinge –vertrieben, ermordet, unsterblich . . . . . . . . . . . 81

leo treitler Max Raabe in Israel:Lebendiges Erinnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

ruth frenk »Freizeitgestaltung«: Musik inTheresienstadt (1942-1944) . . . . . . . . . . . . . . . 108

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irit youngerman »Geächtete Musik dirigiert voneinem Flüchtling«: Mahlers Sinfonien imProgramm des Palestine Orchestra vor undwährend des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . . . . 116

na’ama sheffi Die Grenzen der Zensur: Musik,Shoah und Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

joel e. rubin »Aufgeschlossen und respektvoll«:Klezmer als Teil der jüdischen Alternativszene inDeutschland im frühen 21. Jahrhundert . . . . . . . 139

ofer waldman Israelische Musiker inDeutschland – ein lohnenswertes Nachhorchen? . 154

david witzthum Das Kostbarste der Jeckes-Seele:die Kammermusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

aviv livnat »Nicht so sehr im bewussten Leben,aber vielleicht in den Werken«:Gedankenspaziergänge mit dem KomponistenAbel Ehrlich (1915-2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

motti regev (Israelischer) Pop-Rock: ElektrischeGitarren, ästhetischer Kosmopolitismus undkulturelle Eigenart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

doron rabinovici Der Klang eines jungenTel Aviv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

edwin seroussi Jüdische Musiker in derislamischen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

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stuart j. hecht McCarthy gegen Mostel:Ein jüdischer Broadwaystar überlebt die SchwarzeListe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

tad hershorn Jazz, Juden und Afroamerikaner . 238

oren roman und susanne zepp

Jiddischer Tango . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

hanno loewy »We are giving them Treblinka«:Punk und Jewish Radical . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . 271

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Für meinen BruderRobert Dachs (1955-2015)

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ZU DIESEM ALMANACH

Welchen Beruf hat ein jüdischer Neueinwanderer aus derehemaligen Sowjetunion, wenn er bei seiner Ankunft amFlughafen in Israel keinen Geigenkasten unterm Arm trägt?Die richtige Antwort lautet: Er ist Pianist. Musiker gilt alsein jüdischer Beruf. Während sprachliche Hürden oftmalsnur schwer überwindbar sind, hat die Sprache der Notenund Klänge den klaren Vorteil, eine universale, transpor-tierbare zu sein – eine, die sich im Gepäck überall hin mit-nehmen lässt. Schon die biblischen Instrumente verweisenauf eine uralte Tradition im Judentum. Musik verbindet amShabbat und an Feiertagen; sie spendete darüber hinausTrost und Hoffnung in schwierigen Zeiten.Dieser Almanach ist diesem weitgefassten Thema gewid-met und setzt sich dabei auch mit den Grenzen auseinander,an die man stößt, wenn es um die Definition jüdischer Mu-sik geht. Bei liturgischen Synagogengesängen scheint diesnoch klar, aber wie steht es mit den Werken jüdischer Kom-ponisten, Textdichter sowie deren Interpreten? Inwiefernspielt die eigene Herkunft eine Rolle bei dem Schaffens-drang? Ist Musik, die unter grauenhaften Umständen derVerfolgung entstanden ist, eine jüdische? In ihrem Eröff-nungsbeitrag versucht Heidy Zimmermann darauf Antwor-ten zu geben. Sie betont, dass »jüdische Musik« keinesfallsals Einheit beschrieben werden könne und sieht das Faszi-nierende vielmehr an ihrer Heterogenität, ja Gegensätzlich-keit und manchmal einmaligen Vielstimmigkeit.Über diese Fragen und ihr eigenes Verhältnis zum Juden-tum haben sich im November 1990 zwei der profiliertesten

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Komponisten des 20. Jahrhunderts unterhalten: GyörgyLigeti und Mauricio Kagel. Wir drucken dieses bisher un-veröffentlichte Gespräch hier erstmals ab.Eindeutiger liegen die Dinge bei der Forschung nach mu-sikalischen Wurzeln in den Heiligen Schriften. In seinemArtikel befasst sich Mark Kligman mit der Musik von Ju-den in der Hebräischen Bibel, beim Aufbau Jerusalems alsZentrum des jüdischen Volkes und in den verschiedenenRegionen der Diaspora. Er beschreibt,wie sich zahllose Bei-spiele dafür finden lassen, dass der Musik in entscheidendenMomenten des religiösen Lebens eine große Bedeutungzukam. Aus jener Zeit gibt es keine überlieferten konkre-ten melodischen Spuren. Shoshana Liessmann hat versucht,ein Klangbild vom damaligen Musikschaffen zu erstellen.Sie ist sich aber nicht sicher, ob es im 21. Jahrhundert tat-sächlich gelingen kann, sich in die musikalische Welt desbiblischen Menschen einzufühlen, der – die Stille der Wüs-te und die göttliche Macht fürchtend – sang, tanzte und mu-sizierte.Bis ins 19. Jahrhundert hinein waren Gesänge allein münd-lich tradiert worden. Tina Frühauf beschreibt, wie die kan-toriale Improvisationskunst allmählich in den Hintergrundtrat und feststehenden Melodien wich. Eines der deutlichs-ten Anzeichen eines neuen musikalischen Selbstverständ-nisses war die Orgel als Begleit- oder Soloinstrument, waswiederum – als Symbol der Reform – die Abgrenzung zwi-schen traditionellem und modernem Gottesdienst markier-te. Obwohl ihr Status in der jüdischen Liturgie immer um-stritten war, setzte sie neue musikalische Entwicklungen inGang. Mit der Zerstörung der Synagogen in der Reichspo-gromnacht 1938 fand die jüdische Orgelkultur im deutsch-sprachigen Raum ein abruptes Ende. Spuren dieser Kulturfinden sich noch in den Vereinigten Staaten, wo Orgelmu-

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sik bis heute ein wesentlicher Bestandteil im Gottesdienstreformierter und liberaler Gemeinden ist.Die Nazis hatten nicht nur die Juden ermordet, sondernauch versucht, deren künstlerisches Erbe zu vernichten.In manchen Fällen erwies sich das als schwierig. Das zeigtder Fall der Wiener Populärkultur, die – wie Robert Dachsdarlegt – überwiegend von jüdischen Textdichtern, Kom-ponisten und Interpreten überhaupt erst erschaffen wurde.Da sich ihre beliebte Musik nicht verbannen ließ, musstendie Namen der Schöpfer von den Notenblättern und Pro-grammheften verschwinden.Die vergessene Tradition der Kabaretts, Varietés und Tanz-bars lässt Max Raabe wieder aufleben, wenn er im Stil derGoldenen Zwanziger einstige Ohrwürmer singt. Das führ-te ihn auch nach Israel. Über diese Konzertreise schreibtder amerikanische Musikwissenschaftler Leo Treitler, der –selbst noch in Deutschland geboren – mit seiner Familievor den Nazis geflüchtet war.Wie im Konzentrationslager Theresienstadt Musiker dieKraft fanden, künstlerisch tätig zu sein, damit beschäftigtsich Ruth Frenk. Sie beschreibt die Fülle an Werken, die un-ter unsäglichem Leid entstanden sind, und fragt sich, inwie-weit es überhaupt möglich ist, diese angemessen in der Ge-genwart zu interpretieren.Während das Judentum in Europa bereits dem Unterganggeweiht war, entstand 1936 in Palästina das spätere israe-lische Philharmonieorchester. Sein zügiger Aufbau vor demZweiten Weltkrieg war eine außerordentliche Erfolgsge-schichte. Man nahm damals Musikstücke ins Programm,die auf dem Alten Kontinent nicht mehr gespielt werdendurften, darunter vor allem auch Werke von Gustav Mah-ler. Irit Youngerman beschreibt die ambivalenten Gefühleder Bevölkerung im Hinblick auf den berühmten jüdischen

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Komponisten, der in ihren Augen zum Inbegriff der Assi-milation geworden war.Ein ganz anderer Fall ist der Umgang mit Richard Wagner.Seine Musik, die mit antisemitischem Gedankengut assozi-iert wird, wird in Israel immer noch weitgehend boykot-tiert. Über diese »freiwillige Zensur« – aus Respekt vorÜberlebenden – schreibt Na’ama Sheffi.Spricht man von jüdischer Musik, denken viele zunächsteinmal an Klezmer-Musik. Das Thema wird heute in ersterLinie unter dem Aspekt diskutiert, dass auch nichtjüdischeDeutsche sie spielen und lieben. In seinem Beitrag betrach-tet Joel E. Rubin die Klezmerszene mit einem differenzier-teren Blick und analysiert, wie es möglich werden konnte,dass heute jüdische und nichtjüdische Deutsche, Amerikanerund andere in Deutschland lebende Ausländer, die allesamtin der Klezmerszene des frühen 21. Jahrhunderts aktiv sind,sich austauschen und miteinander Musik machen können.Dass Musiker aus aller Welt in Scharen nach Deutschlandströmen, verwundert Ofer Waldman nicht. Er erklärt das –bei klassischer Musik – unter anderem mit den geradezu pa-radiesischen Tarifverträgen, die sich noch aus den Zeitendes Wirtschaftswunders in unsere Gegenwart gerettet ha-ben. Zudem berichtet der Israeli über seine persönlichen Er-fahrungen als Orchestermusiker in Deutschland.Über ganz besondere musikalische Treffen in Israel schreibtDavid Witzthum, der sich in seiner Freizeit seit zwanzigJahren mit anderen Jeckes (aus Deutschland stammenden jü-dischen Einwanderern) oder Nachkömmlingen von Jeckesder Kammermusik widmet. An dieser schmalen Brücke, diein die alte Heimat zurückführte, hielten viele der früherenJeckes einst fest. Sie dachten dabei wehmütig an ein Europa,das es in Wirklichkeit in vielerlei Hinsicht so niemals gege-ben hatte.

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Aus Deutschland stammte auch Abel Ehrlich, der 1934nach dem Abitur in Königsberg zunächst nach Jugoslawiengeflüchtet war und 1939 noch rechtzeitig eine Einwande-rungserlaubnis für Palästina erhielt. Mit über 3000 Kom-positionen zählte er zu den fruchtbarsten Musikschaffen-den in Israel. Er schuf Werke für Chor, Sinfonieorchesterund verschiedene Kammerensembles sowie viele Solostü-cke. Aviv Livnat erzählt aus einer persönlichen Perspektivevon seinem einstigen Lehrmeister.Längst gibt es heute aber auch eine starke und ausdifferen-zierte Pop-Musikszene in Israel. Motti Regev schreibt überdie Entwicklung und Besonderheiten des israelischen Rock,in dem die elektrische Gitarre von Anfang an eine wichtigeRolle spielte – angereichert mit orientalisch-mediterranenKlangfarben, die der arabischen Bouzouki nachempfundensind.Doron Rabinovici stimmt anschließend ein Lob an auf dieisraelische Indie-Band Acollective, deren Sound er als »Stim-me eines Milieus im postmodernen und postnationalen TelAviv« schätzt. Verschwiegen werden darf nicht, dass es sichbei den Gründern um seine beiden Neffen handelt, derenKarriere sich in eine Familientradition einbettet, die vonMusik durchwoben ist.Der heutige Konflikt im Nahen Osten verleitet oftmals zuder Annahme, jüdische und islamische Kulturen seien perse unverträglich. Doch haben die meisten Juden seit demAufkommen des Islams und bis ins 15. Jahrhundert in denriesigen arabischen und persischen und später in den osma-nischen Reichen gelebt,was auch zu einem fruchtbaren kul-turellen Austausch besonders in der Musik führte. Über dieRolle von Juden als Bewahrer der musikalischen Traditio-nen in den islamischen Ländern bis in unsere Zeit,weiß Ed-win Seroussi zu berichten.

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Jenseits des Atlantiks fanden im 20. Jahrhundert jüdischeAmerikaner auf den Broadwaybühnen eine neue Heimat.Allerdings wehrten sich Nationalisten gegen die Integra-tion anderer ethnischer Gruppen, auch Juden, die sie be-sonders in den Jahren nach den Weltkriegen mit den ge-fürchteten Kommunisten gern in einen Topf warfen. StuartJ. Hecht erzählt von der Karriere des legendären Theater-stars Zero Mostel,die im Schatten der Schwarzen Liste statt-fand.Jüdische Nordamerikaner, die es nach ihrer Einwanderungin die Städte und damit in die Modernität, gezogen hatte,sollten auch den Jazz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-derts dauerhaft beeinflussen. Viele von ihnen waren Ame-rikaner der ersten Generation, sie wurden Songschreiber,Musiker, Entertainer, besonders in New York,wo sie direktmit den afroamerikanisch geprägten Genres in Berührungkamen. In seinem Beitrag befasst sich Tad Hershorn mit die-ser produktiven,wenn auch nicht konfliktfreien Beziehungzwischen amerikanischen Juden und Afroamerikanern.Es existiert wohl kaum eine musikalische Stilrichtung, derJuden nicht irgendwie ihren Stempel aufgedrückt hatten.So die jüdischen Einwanderer in Südamerika, wo sie zurEntstehung des jiddischen Tangos beitrugen. Oren Romanund Susanne Zepp erzählen seine Geschichte.Wer wiederum von seiner Herkunft explizit Abstand neh-men wollte, das waren oft jüdische Protagonisten des Punk.Hanno Loewy weist darauf hin, dass sie erst in den letztenJahren als »jüdische Punker« ins Rampenlicht geholt wur-den, ob sie es wollten oder nicht. In seinem Text über Je-wish Radicals geht er auf die Querbeziehungen zwischenintellektuellem jüdischen Underground, Beat Poeten undmusikalischem Radikalismus – nicht nur in den USA, son-dern auch in England, Frankreich und Deutschland – ein.

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Was die vorliegende Sammlung von Texten auszeichnet,die alles andere als einen Vollständigkeitsanspruch erhebenmöchte, ist, dass hier, neben Experten und Kennern, auchviele aktive Musiker – oft in einer Person – zur Feder gegrif-fen haben, um über ihre Tätigkeiten und Leidenschaften zureflektieren.Die Bilder stammen von Vered Navon. Sie hat für diesenAlmanach Verkehrsinseln in der israelischen Stadt RoshHa’ayn fotografiert, die mit Skulpturen von Musikinstru-menten ausgestattet wurden.

Gisela DachsJerusalem/Tel Aviv

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HEIDY ZIMMERMANN

WAS IST JÜDISCH

AN JÜDISCHER MUSIK?

Spricht man über Musik in Hinblick auf das Judentum,steht unweigerlich die Frage nach einer »jüdischen Musik«im Raum. Kaum ein Begriff ist so vielschichtig und einerso wechselhaften Konjunktur unterworfen wie dieser. Inden letzten Jahrzehnten hat beispielsweise der weitreichen-de Klezmerboom das Verständnis geprägt, und unzähligeFestivals, Konzerte, Publikationen und Forschungsprojek-te haben mit dem Etikett »jüdische Musik« oder »jüdischeMusiker« Eindeutigkeit suggeriert, jedoch letztlich eherzur Verwischung von Konturen beigetragen. Die BiennaleBern stellte im Herbst 2001 mit einem ungewöhnlich breit-gefächerten Programm »jüdische Musik« zur Diskussion,setzte aber ein markantes Fragezeichen hinter den Begriff.Alexander Ringer, der aus Berlin in die USA emigrierteMusikwissenschaftler, der sich ein Forscherleben langin einschlägigen Arbeiten mit der Thematik auseinander-gesetzt hat, betonte dort, dass er die Einladung für einenVortrag bei dieser Biennale nur dank diesem Fragezeichenangenommen habe. In den Jahren seither ist die Katego-rie »jüdische Musik« im Zuge einer neuen affirmativenEthnisierung und in einer zunehmend globalisierten Weltso selbstverständlich geworden, dass sie auf der pluralisti-schen Karte von der Weltmusik als eine Landschaft untervielen aufscheint. Gleichzeitig ist diese Landschaft eineaußergewöhnlich vielfältige und schichtenreiche, und dieFrage bleibt aktuell: was kann jüdisch sein an Musik,

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und welche Rolle spielt Musik in der Geschichte der Ju-den?Der Begriff »jüdische Musik« ist erstaunlich jung. Er tauchtin den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts im Rahmen derallgemeinen Debatte über »jüdische Kultur« auf, die nachdem Ersten Weltkrieg immer intensiver geführt wird undunter den politischen Repressalien in den 1930er Jahren kul-miniert. Die Ursache für diese vergleichsweise späte Be-griffsbildung liegt unter anderem darin, dass die hebräischeSprache keinen abstrakten Oberbegriff für Musikalischeskennt und das Lehnwort »musiqa« nur für Theoretischesverwendet hat, während der traditionelle Alltag selbstver-ständlich von musikalischer Praxis, von »Singen« und »Spie-len« erfüllt war. Die Debatte über »jüdische Musik« bewegtsich daher im Spannungsfeld zwischen westlicher Kunst-musik und den funktional gebundenen Bereichen von Folk-lore und liturgischem Gesang.Im Emanzipationsprozess des europäischen Judentums seitdem 19. Jahrhundert spielte die Musik eine zentrale Rolle,bot sie doch – als vermeintlich universale Sprache – von al-len Künsten die beste Aussicht auf eine erfolgreiche Integra-tion. Dass gerade die Musik für die Juden auch zu einemidentitätsstiftenden Faktor werden konnte, hängt mit ihrerprinzipiellen Abstraktheit zusammen; Musik per se trans-portiert ja im Gegensatz zur bildenden Kunst keine Bilderund im Gegensatz zur Literatur keine Begriffe. Diese prin-zipielle Abstraktheit der Musik macht das Medium aberauch offen für die Zuschreibung von Bedeutungen und sym-bolischen Wendungen, nicht nur über beigegebene Texteund Titel, sondern auch auf der Ebene der Töne. Daher ha-ben sich sowohl der Kulturzionismus als auch national ori-entierte Fraktionen des Judentums von Anfang an auf dieMusik als einheitsstiftende Größe berufen. Aus dieser natio-

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nal orientierten Perspektive schiendas Bedürfnis nach einer»Musikgeschichte der Juden« oder einer »Geschichte der jü-dischen Musik«, analog zu zeitgenössischen europäischenModellen, naheliegend zu sein. Wurde bis dahin das Thema»Musik und Juden« in erster Linie religiös und lebenswelt-lich betrachtet, so ging es nun um die Konstruktion einerkontinuierlichen Geschichte von den biblischen Ursprün-gen bis zur Kunstmusik des 20. Jahrhunderts. Das Narrativdieser Geschichte schreitet in Jahrtausend- und Jahrhundert-schritten von mythischer Vorzeit ( Jubal als Erfinder der Mu-sik, das Meereslied von Mose, Mirjam und den »KindernIsrael«, Psalmen Davids) über einzelne schriftliche Zeugnis-se im Mittelalter (Obadja der Proselyt) und Salomone Rossials erstem Komponisten der Neuzeit bis zu Exponentender Emanzipation (Giacomo Meyerbeer, Felix Mendels-sohn, Jacques Offenbach). Fortgesetzt wird die Geschichtein Osteuropa mit der Lancierung einer »neuen jüdischenMusik«, einer Nationalmusik im Zeichen »jüdischer Renais-sance«, die schließlich im Mandatsgebiet Palästina in den»mediterranen Stil« mündet und im Staat Israel oder in denjüdischen Communities von Amerika sich der Gegenwartnähert.1

Mit diesem Narrativ geht einerseits die Prämisse einer be-sonderen Affinität von Juden und Musik einher, anderer-seits liegt ihm ein mehrschichtiger Paradigmenwechsel zu-grunde, dessen zentrale Komponenten nur teilweise insBewusstsein treten: Musik und Gesang waren im Judentumüber die Jahrhunderte hinweg eine der mündlichen Über-lieferung vorbehaltene Angelegenheit, wurden als solchebewusst gepflegt und in einer zeitlosen Sphäre der Tradi-tion bewahrt. Mit dem Wechsel in die Schriftlichkeit mu-sikalischer Notation erfolgt ein Schub der Historisierungund Rationalisierung, aber auch der Säkularisierung und

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der kulturellen Öffnung. Musikalische Aktivitäten sindnun nicht mehr nur eine Sache des Kollektivs und der Tra-dition, sondern sie werden zur Manifestation herausragen-der Persönlichkeiten. Während der Wiener Oberkantor Sa-lomon Sulzer sich als Sänger von Schubertliedern ebensoprofilieren konnte wie als Komponist von mehrstimmigenSynagogengesängen, wählten manche seiner Zeitgenossenden Schritt in die Assimilation, um in der Mehrheitsgesell-schaft ihren Weg zu machen. So schien bis gegen Ende des19. Jahrhunderts die Etablierung im europäischen Musik-leben immerhin möglich, auch wenn sie, wie im Fall desGeigers Joseph Joachim oder – noch prominenter – vonGustav Mahler, nicht selten mit der Taufe erkauft werdenmusste. Dass gleichzeitig im Zeichen eines zunehmend mi-litanten Antisemitismus den Juden eigene Kreativität abge-sprochen und ihre Teilhabe an der Mehrheitskultur infra-ge gestellt wurde, löste wiederum eine Gegenbewegunghin zu einem neuen jüdischen Selbstbewusstsein aus. DieHistorikerin Shulamit Volkov hat diese Entwicklung als»Dynamik der Dissimilation« beschrieben, eine Entwick-lung, die gruppenintern eine weitgehende Anerkennung ei-nes pluralistischen Judentums mit sich brachte.2

Auf dem Gebiet der Musik hat bekanntlich Richard Wag-ners Schrift Das Judenthum in der Musik (1850/1869) einekatalysierende Wirkung gehabt.3 Der lange Schatten diesesPamphlets hat nicht nur für Jahrzehnte antisemitische In-vektiven genährt, sondern auch jüdische Musiker und Mu-sikforscher immer wieder zu Stellungnahmen gezwungen.Während die einen Wagners Motiv, den Neid auf seine er-folgreichen jüdischen Kollegen (allen voran Meyerbeer)durchschauten und seinen Antisemitismus als Konkurrenz-problem zu ignorieren bereit waren, versuchten andere sei-ne Schmähungen zu widerlegen und dem Thema »Juden-

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tum in der Musik« eine positive Richtung zu geben. Jüdi-sche Wagnerianer tendierten dazu, den Ideologen und sei-ne Musik strikt voneinander zu trennen, gleichwohl gebenWagner-Aufführungen in Israel noch immer zu heftigenAuseinandersetzungen Anlass. So erscheint der Fall Wagnerbis heute als unumgänglich, und seine Schrift wird unwei-gerlich in jede Auseinandersetzung mit »jüdischer Musik«hineinzitiert.Der Begriff »jüdische Musik« selbst ist so vieldeutig, dass je-de Annäherung an das Thema eine gleichermaßen klärendewie differenzierende Definition erfordert. Wenn »jüdischeMusik« so viel meint wie »Musik der Juden« bzw. »von Ju-den praktizierte Musik«, drängen sich unmittelbar Fragenauf, die auch Kunst und Literatur betreffen: Wer ist ein Ju-de, bzw. wer versteht sich noch als Jude angesichts des kom-pliziert gewordenen Verhältnisses von Nationalität undReligion? Wie konstituiert sich jüdische Identität in derDiaspora und über die Zeiten hinweg, wenn Sprache, Ter-ritorium und Lebensgewohnheiten nur noch bedingt eini-gende Faktoren sind? Aufgrund des beschleunigten Säku-larisierungsprozesses ist eine Eingrenzung auf »Musik derJuden« vollends fragwürdig, läuft die Zuschreibung dochdarauf hinaus, jüdische Identität auf das Kriterium der Her-kunft zu reduzieren. Ebenso problematisch ist der Impuls,musikalische Produktion und Praxis in Israel umstandslosin eine Geschichte jüdischer Musik einzuschreiben. Auchder Versuch, »jüdische Musik« über inhaltliche Aspekte zudefinieren, bezogen auf artifizielle Musik etwa über dieVerwendung von Themen und Motiven aus der jüdischenGeschichte und Religion,von traditionellen Melodien odervon Texten in hebräischer Sprache bzw. jüdischen Dialek-ten, führt keineswegs zu Eindeutigkeit. Man kann durch-aus Verständnis aufbringen für den Wunsch, die Vertonung

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