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JED RUBENFELD TODESINSTINKT

Jed Rubenfeld...11 1 der Tod ist nur der anfang; das Schwierige kommt erst danach. Es gibt drei arten, mit dem Wissen um den Tod zu leben und seinen Schrecken in Schach zu halten

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Jed Rubenfeld

TodesinsTinkT

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Jed Rubenfeld

TodesinsTinkT

Roman

aus dem amerikanischen

von Friedrich mader

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Die originalausgabe erschien unter dem TitelThe Death Instinct bei Headline Publishing, London

Verlagsgruppe Randomhouse FSC-DEU-0100

Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifizierte Papier

EOS-P liefert Salzer Papier, St. Pölten, austria.

Copyright © 2010 by Jed Rubenfeld

Copyright © 2011 der deutschen ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, münchen

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Tamara Rapp

Gesetzt aus der 11/15,5 Punkt The antiqua

Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich

Druck und Bindung: GGP media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBn 978-3-453-26703-9

www.heyne.de

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Für meine klugen Töchter

Sophia und Louisa

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An einem klaren Septembertag wurde das

Finanzzentrum der Vereinigten Staaten in

Lower Manhattan zum Schauplatz des ge-

waltigsten terroristischen Anschlags, der

sich je auf amerikanischem Boden ereig-

net hatte. Man schrieb das Jahr 1920. Trotz

der bis zu diesem Zeitpunkt umfassends-

ten Kriminalermittlungen in der Geschich-

te der USA ist die Identität der Täter bis auf

den heutigen Tag ein Rätsel geblieben.

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Teil i

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der Tod ist nur der anfang; das Schwierige kommt erst

danach.

Es gibt drei arten, mit dem Wissen um den Tod zu leben

und seinen Schrecken in Schach zu halten. Die erste ist Ver-

drängung: man vergisst, dass er irgendwann kommen wird;

man tut, als gäbe es ihn nicht. Das ist das Rezept, an das sich

die meisten menschen halten. Die zweite art ist das Gegen-

teil: memento mori, gedenke des Todes. Behalte ihn ständig

im Sinn, denn nie kann man das Leben mehr auskosten als

in dem Glauben, dass heute der letzte Tag ist. Der dritte

Weg ist akzeptanz. Ein mensch, der sich mit dem Tod abfin-

det – wirklich abfindet –, fürchtet nichts und begegnet je-

dem Verlust mit transzendentem Gleichmut. alle drei Stra-

tegien haben dabei etwas miteinander gemein: Sie sind

Lügen. angst wäre zumindest ehrlich.

Doch es gibt noch einen anderen, vierten Weg. Es ist die

unstatthafte möglichkeit, von der kein mensch sprechen

kann, nicht einmal zu sich selbst in der Verborgenheit sei-

nes inneren monologs. Dieser Weg erfordert kein Verges-

sen, kein Lügen, kein Kriechen vor dem altar des Unver-

meidlichen. alles, was er verlangt, ist ein Trieb.

schlag zwölf Uhr am 16. September 1920 setzten dröh-

nend die Glocken der Trinity Church ein, und wie von

einer einzigen Feder bewegt, flogen überall an der Wall

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Street Türen auf, aus denen angestellte und Botenjungen,

Sekretärinnen und Stenografinnen strömten, um ihre

kostbare mittagsstunde zu genießen. auf der Straße bran-

deten sie um automobile, stellten sich vor ihren Lieblings-

geschäften an und hatten im nu die belebte Kreuzung von

Wall Street, nassau Street und Broadway bevölkert, die in

der Finanzwelt die Bezeichnung Corner trug – schlicht und

einfach Corner. Dort stand die Treasury, das Schatzamt der

Vereinigten Staaten, mit ihrer griechischen Tempelfassade,

behütet von einem majestätischen George Washington

aus Bronze. Dort stand auch die new Yorker Börse mit ih-

ren weißen Säulen, Seite an Seite mit der Kuppelfestung

der J.P. morgan Bank.

Vor dieser Bank scharrte eine alte braune mähre auf dem

Kopfsteinpflaster. Sie war vor einen schwer beladenen, mit

Sackleinen bedeckten Karren gespannt, der führerlos den

Verkehr behinderte. Dahinter ertönte aufgebrachtes Hu-

pen. Ein stämmiger Taxichauffeur stieg aus seinem Wagen,

die arme in rechtschaffenem Unmut erhoben. Doch statt

einen Kutscher vorzufinden, nahm er erstaunt ein merk-

würdiges Geräusch wahr, das gedämpft aus dem Karren

drang. Er legte das ohr an die Plane und hörte unverkenn-

bar ... ein Ticken.

Die Kirchenglocken schlugen zwölf. Der letzte mächtige

Ton war noch nicht verklungen, als der neugierige Taxi fahrer

einen Zipfel des mottenzerfressenen Sackleinens wegzog

und sah, was darunter verborgen lag. In diesem au genblick

wussten in dem Gedränge Tausender nur vier menschen,

dass der Tod über der Wall Street hing: der Chauffeur, eine

rothaarige Frau in seiner nähe, der fehlende Kutscher des

Pferdekarrens und Stratham Younger, der in fünfzig metern

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Entfernung einen Police Detective und eine junge Französin

hinunter auf die Knie riss.

»Gott steh uns bei«, flüsterte der Taxifahrer.

Dann explodierte die Wall Street.

Zwei Frauen, die früher eng miteinander befreundet waren

und sich nach Jahren wiederbegegnen, werden sich be-

stimmt mit einem überraschten aufschrei in die arme fal-

len und sogleich anfangen, sich in möglichst anschaulichen

Farben alle Ereignisse ihres Lebens zu erzählen, die die je-

weils andere verpasst hat. Zwei männer haben sich unter

den gleichen Umstände gar nichts zu sagen.

Um elf Uhr dieses Vormittags, eine Stunde vor der Explo-

sion, schüttelten sich Younger und Jimmy Littlemore am

madison Square die Hand, drei Kilometer nördlich von der

Wall Street. Der Tag war für die Jahreszeit ungewöhnlich

schön, der Himmel kristallklar. Younger nahm eine Ziga-

rette heraus.

»Schon eine Weile her, Doc«, bemerkte Littlemore.

Younger zündete ein Streichholz an und hielt es an die

Zigarette.

Beide männer waren über fünfunddreißig, aber ansons-

ten recht verschieden. Littlemore, ein Detective der new

Yorker Polizei, war eine Gestalt, die sich leicht in jede Um-

gebung einfügte. Größe, Gewicht, Haarfarbe, alles an ihm

war durchschnittlich, sogar die Gesichtszüge, eine mi-

schung aus amerikanischer offenheit und guter Gesund-

heit. Younger dagegen war imposant. Er war groß, bewegte

sich selbstsicher, seine Haut war leicht wettergegerbt, und

sein attraktives Gesicht wies kleine Unvollkommenheiten

auf, wie Frauen sie mögen. Kurz gesagt war der arzt in sei-

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ner Erscheinung markanter als der Detective, aber auch we-

niger liebenswürdig.

»Wie läuft’s in der arbeit?«, erkundigte sich Younger.

»Gut.« Der Zahnstocher zwischen Littlemores Lippen

wippte.

»Familie?«

»Der Familie geht’s gut.«

Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden war er-

kennbar. Younger hatte im Krieg gekämpft, Littlemore

nicht. Unmittelbar nach der Kriegserklärung im Jahr 1917

hatte Younger die Praxis in Boston und die wissenschaft-

liche Forschung in Harvard aufgegeben und sich freiwil-

lig gemeldet. Das hätte auch Littlemore getan, wenn er

nicht für seine Frau und derart viele Kinder hätte sorgen

müssen.

»Schön«, meinte Younger.

»Wollen Sie es mir erzählen«, fragte Littlemore, »oder

muss ich die Brechstange auspacken?«

Younger rauchte. »Die Brechstange.«

»Sie rufen mich nach so langer Zeit an und sagen mir,

dass Sie mir was sagen müssen, und jetzt wollen Sie es mir

nicht sagen?«

»Hier haben sie doch die große Siegesparade veranstal-

tet, oder?« Youngers Blick strich über die grünen Pflanzen,

die monumente und den Zierbrunnen des madison Square

Park. »Was ist mit dem Bogen passiert?«

»abgerissen.«

»Warum sind die männer so bereitwillig in den Tod ge-

zogen?«

»Welche männer?«

»Vollkommen sinnlos. aus evolutionärer Sicht.« Younger

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wandte sich Littlemore zu. »nicht ich muss mit Ihnen re-

den, sondern Colette.«

»Die Frau, die Sie aus Frankreich mitgebracht haben?«

»Sie müsste gleich hier sein. Wenn sie sich nicht verlau-

fen hat.«

»Wie sieht sie aus?«

Younger überlegte kurz. »Hübsch.« Kurz darauf fügte er

hinzu: »Da ist sie.«

Ganz in der nähe auf der Fifth avenue hielt ein Doppel-

deckerbus. als Littlemore sich umwandte, wäre ihm fast

der Zahnstocher aus dem mund gefallen. Eine junge Frau

in einem schmalen Trenchcoat kam die äußere Wendel-

treppe herab. Die zwei männer empfingen sie, als sie aus-

stieg.

Colette Rousseau küsste Younger knapp auf beide Wan-

gen und streckte Littlemore einen schlanken arm entge-

gen. Sie hatte grüne augen, anmutige Bewegungen und

langes, dunkles Haar.

»Sehr erfreut, miss.« Der Detective hatte sich wieder

einigermaßen erholt.

Sie musterte ihn. »Sie sind also Jimmy Littlemore. Der

beste und tapferste mann, den Stratham je kennengelernt

hat.«

Littlemore blinzelte. »Das hat er gesagt?«

»Ich habe ihr auch verraten, dass Ihre Witze nicht lustig

sind«, ergänzte Younger.

Colette wandte sich an den arzt. »Sie hätten zur Radium-

klinik mitkommen sollen. Sie haben dort ein Sarkom ge-

heilt. Und ein Rhinosklerom. Wie kann ein kleines Kranken-

haus in amerika zwei ganze Gramm Radium haben, wenn

es in ganz Frankreich nicht einmal ein Gramm gibt?«

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»Ich wusste gar nicht, dass man ein Rhinozerosaroma

heilen kann«, bemerkte Littlemore.

»Wollen wir mittagessen?«, fragte Younger.

Wo Colette aus dem Bus gestiegen war, hatte sich noch vor

wenigen monaten ein dreifacher Triumphbogen über die

gesamte Fifth avenue gespannt. Im märz 1919 jubelte eine

riesige menschenmenge den heimkehrenden Soldaten zu,

die durch das römische Bauwerk marschierten, das errich-

tet worden war, um den Sieg der nation im Großen Krieg zu

feiern. Bänder flatterten, Ballons stiegen empor, Kanonen

salutierten, und – da die Prohibition noch nicht begonnen

hatte – Korken knallten.

aber die Soldaten, denen dieser Heldenempfang be-

schert wurde, mussten am nächsten Tag feststellen, dass

die Stadt keine arbeit für sie hatte. auf den Kriegsboom

folgte der nachkriegseinbruch. Die soeben noch überlaste-

ten Fabriken vernagelten ihre Fenster. Läden schlossen. Der

Ein- und Verkauf kam zum Stillstand. Verarmte Familien

verloren ihr Heim und landeten auf der Straße.

Eigentlich hätte der Siegesbogen aus reinem marmor be-

stehen sollen. Doch da man sich diese Verschwendung

nicht mehr leisten konnte, errichtete man ihn stattdessen

aus Holz und Gips. Die Witterung ließ die Farbe abblättern,

und der Bogen verfiel. noch ehe der Winter vorbei war, wur-

de er abgerissen – und ungefähr zur selben Zeit war auch

das Land ausgetrocknet.

Die Erinnerung an den monumentalen, strahlend wei-

ßen und mittlerweile verschwundenen Bogen verlieh dem

madison Square etwas Geisterhaftes, das in Colette wi-

derzuhallen schien. Sie drehte sich sogar um, um zu er-

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kennen, ob jemand sie beobachtete. aber sie wandte sich

in die falsche Richtung. Sie blickte nicht über die Fifth

avenue, wo hinter den rasenden automobilen und rat-

ternden omnibussen tatsächlich ein augenpaar auf sie

gerichtet war.

Es gehörte einer einzelnen weiblichen Gestalt, reglos,

die Wangen eingefallen und bleich, so skeletthaft in ihrer

Statur, dass sie wohl nicht einmal ein Kind hätte bedrohen

können. Ihr trockenes, rotes Haar war fast ganz unter einem

Kopftuch verborgen, und ein Kleid aus dem vergangenen

Jahrhundert hing ihr bis zu den Knöcheln. Ihr alter war

nicht zu erkennen: Sie hätte genauso gut unschuldige vier-

zehn wie knochige fünfundfünfzig sein können. nur ihre

augen wiesen eine Besonderheit auf. Ihre fahlblauen Iriden

waren mit bräunlich gelben Flecken gesprenkelt wie eine

ruhige See mit treibenden Leichen.

Zu den Fahrzeugen, die der Frau den Weg über die Fifth

avenue versperrten, gehörte auch ein von einem Pferd gezo-

gener Lieferwagen. Gelassen richtete sie den Blick darauf. als

der trabende Gaul sie aus dem augenwinkel bemerkte,

bäumte er sich scheuend auf. Der Kutscher rief, Fahrzeuge

scherten aus, Reifen kreischten. Es gab keinen Zusammen-

stoß, aber plötzlich tat sich im Verkehr eine deutliche Lücke

auf. Unbehelligt überquerte sie die Fifth avenue.

littlemore führte sie zu einem Karren neben der U-Bahn-

treppe und schlug »Dogs« als mittagessen vor, woraufhin

sich die männer gezwungen sahen, der entsetzten Franzö-

sin die Zutaten dieser neuen kulinarischen Sensation mit

dem namen Hotdog zu erklären. »Das schmeckt Ihnen be-

stimmt, miss«, versprach der Detective.

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»meinen Sie?« Sie zog ein zweifelndes Gesicht.

auf der anderen Seite der Fifth avenue angelangt, legte

sich die Frau mit dem Kopftuch eine blau geäderte Hand

auf den Unterleib. Das war offenbar ein Zeichen oder Kom-

mando. Ganz in der nähe versiegten die sprühenden Fon-

tänen des Parkbrunnens, und als die letzten Wasserstrah-

len in das Becken fielen, wurde eine zweite rothaarige Frau

sichtbar, die fast wie ein Spiegelbild der ersten wirkte, nur

dass sie weniger bleich und abgemagert war. auch sie

drückte die Hand auf den Unterleib. In der anderen Hand

hielt sie eine Schere mit starken, gekrümmten Klingen. Sie

steuerte auf Colette zu.

»Ketchup, miss?«, fragte Littlemore. »Die meisten neh-

men Senf, aber ich bin für Ketchup. Hier, bitte.«

Unbeholfen nahm Colette das Brötchen mit dem heißen

Würstchen in Empfang. »na schön, ich probiere es.«

mit beiden Händen hob sie es hoch und biss ab. Die zwei

männer beobachteten sie. auch der Blick der beiden rothaa-

rigen Frauen, die sich aus verschiedenen Richtungen nä-

herten, hing an ihr. Ebenso wie der einer dritten rothaari-

gen Gestalt bei einem Fahnenmast am Broadway, die neben

einem Tuch auf dem Kopf einen mehrfach um den Hals

geschlungenen Schal trug.

»Wirklich gut!«, rief Colette. »Was haben Sie denn noch

auf Ihren getan?«

»Sauerkraut, miss«, antwortete Littlemore. »Das ist so

eine art saurer Kohl ...«

»Sie weiß, was Sauerkraut ist«, warf Younger ein.

»möchten Sie welches?«

»Ja, bitte.«

Die Frau unter dem Fahnenmast leckte sich die Lippen.

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Eilig hasteten die new Yorker an ihr vorbei, ohne ihr oder

ihrem Schal Beachtung zu schenken, der bei dem Wetter

eigentlich nicht nötig war und sich merkwürdig vor ihrer

Kehle wölbte. Sie hob eine Hand zum mund, und die ausge-

mergelten Fingerspitzen berührten die geöffneten Lippen.

auch sie strebte nun auf die junge Französin zu.

»Waren Sie schon weiter südlich?«, erkundigte sich Little-

more. »Wollen Sie sich vielleicht die Brooklyn Bridge an-

schauen, miss?«

»Sehr gern.«

»Folgen Sie mir.« Der Detective warf dem Wurstverkäufer

zwei kleine münzen als Trinkgeld zu und wandte sich zur

U-Bahntreppe. Dann klopfte er sich auf die Taschen. »mist,

wir brauchen noch ein Fünfcentstück.«

Der Straßenverkäufer, der die Bemerkung des Detectives

gehört hatte, fing an, in seiner Wechselgeldbüchse zu kra-

men, als er die drei einander seltsam ähnelnden Gestalten

bemerkte, die sich seinem Karren näherten. Die ersten zwei

hatten sich zusammengefunden und berührten sich im

Gehen mit den Fingern. Die dritte kam aus der entgegenge-

setzten Richtung und hielt den dicken Wollschal um ihren

Hals fest. Dem Verkäufer glitt die lange Gabel aus der Hand

und verschwand in einem Topf mit siedendem Wasser. Die

münzen hatte er vergessen.

»Ich hab eins«, sagte Younger.

»Dann los.« Littlemore trabte die Stufen hinunter, ge-

folgt von Colette und Younger. Sie hatten Glück: Gerade

fuhr ein Zug ein, den sie mit knapper not erreichten. Doch

auf halbem Weg aus der Station kam der Zug noch einmal

ruckend zum Stehen. Ächzend sprangen die Türen einen

Spalt auf, schnappten zu und öffneten sich erneut. an-

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scheinend hatten ein paar nachzügler den Schaffner dazu

bewegt, sie noch hereinzulassen.

in den engen Verkehrsadern von Lower manhattan – sie

waren an der Haltestelle City Hall ausgestiegen – wurden

Younger, Colette und Littlemore vom kapillaren Druck der

menge mitgerissen. Younger atmete tief durch. Er liebte das

Gewimmel der Stadt, ihre kämpferische Zweckgerichtet-

heit. Er war ein selbstbewusster mann, war es immer ge-

wesen. nach amerikanischen maßstäben war der arzt von

sehr vornehmer Geburt: ein Schermerhorn mütter licher-

seits, ein naher Verwandter der Fishes von new York und

über seinen Vater der Cabots aus Boston. Dieser erlesene

Stammbaum, der ihn inzwischen völlig kaltließ, hatte ihn

in seiner Jugend angewidert. Das Überlegenheitsgefühl sei-

ner Schicht erschien ihm so offenkundig ungerechtfertigt,

dass er beschloss, genau das Gegenteil von allem zu tun,

was von ihm erwartet wurde – bis zum Tod seines Vaters,

als ihn notwendigkeit und Realität einholten und die Frage

der gesellschaftlichen Schicht schlagartig jede Bedeutung

verlor.

aber diese Zeit war längst vergangen, weggespült von

Jahren der arbeit, des beruflichen Erfolgs und des Krieges.

an diesem Vormittag in new York spürte Younger fast so

etwas wie Unbezwingbarkeit. Wahrscheinlich, überlegte

er, war das lediglich auf das Wissen zurückzuführen, dass

nirgendwo Scharfschützen verborgen lagen, die ihn im

Visier hatten, und dass keine Granaten durch die Luft

kreischten, um ihn von seinen Beinen zu befreien. oder

es war das schiere Gegenteil: Der Puls der Gewalt war so

beherrschend in new York, dass ein mann, der im Krieg

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gekämpft hatte, atmen und sich zu Hause fühlen konnte,

dass er die noch von den nachwirkungen des hemmungs-

losen Tötens durchzuckten muskeln anspannen konnte,

ohne damit zum außenseiter oder Ungeheuer zu werden.

»Soll ich es ihm sagen?«, fragte er Colette. Rechts von

ihnen erhoben sich unbegreiflich hohe Wolkenkrat-

zer. Links schwang sich die Brooklyn Bridge über den Hud-

son.

»nein, das mache ich selbst.« Colette wandte sich an

Little more. »Es tut mir leid, dass ich Sie aufgehalten habe,

Jimmy. Ich hätte es schon längst erzählen sollen.«

»Ich habe alle Zeit der Welt«, erwiderte der Detective.

»nun, wahrscheinlich steckt nichts dahinter, aber ges-

tern abend kam eine Frau in unser Hotel und wollte mich

sprechen. Wir waren nicht da, also hat sie eine nachricht

hinterlassen. Hier.« Colette zog einen zerknitterten Zettel

aus ihrer Handtasche, auf dem mehrere hastig hingekrit-

zelte Sätze standen:

Bitte, ich muss Sie sprechen. Denn sie wissen, dass Sie Recht

haben. Ich komme morgen früh um halb acht wieder. Bitte

helfen Sie mir.

Amelia

»Heute ist sie allerdings nicht erschienen«, ergänzte Co-

lette.

»Kennen Sie diese amelia?« Littlemore drehte den Zettel

um, fand aber nichts auf der Rückseite.

»nein.«

»›Denn sie wissen, dass Sie Recht haben.‹ Worum geht es

da?«

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»Ich kann mir keinen Reim darauf machen«, antwortete

Colette.

»Das ist aber noch nicht alles«, warf Younger ein.

»Ja, am meisten Sorgen bereitet uns, was sie in den Zettel

gefaltet hat.« Colette kramte in ihrer Handtasche. Sie reich-

te dem Detective einen weißen Wattebausch.

Littlemore zupfte die Fäden auseinander. Vergraben in

dem Bällchen lag ein Zahn – der kleine, glänzende Backen-

zahn eines menschen.

Plötzlich wurden sie von wüsten Beschimpfungen un-

terbrochen. Ursache war eine Parade auf der Liberty Street,

die den Verkehr behinderte. alle marschierenden waren

schwarz. obwohl es mitten unter der Woche war, trugen die

männer ihren – zerrupften und verschossenen – Sonntags-

staat. magere Kinder trippelten barfuß zwischen ihren El-

tern. Die meisten sangen, und ihre Hymnen erhoben sich

über den Spott der Schaulustigen und die zornigen Rufe

der automobilisten.

»Immer mit der Ruhe«, rief ein Uniformierter, der selbst

noch fast ein Kind war, einem schäumenden Fahrer zu.

Littlemore entschuldigte sich und näherte sich dem of-

ficer. »Was machen Sie denn hier, Boyle?«

»Captain Hamilton hat uns hergeschickt, Sir«, antwor-

tete Boyle. »Wegen der nigger-Parade.«

»Wer patrouilliert an der Börse?«

»niemand. Wir sind alle hier. Soll ich den aufmarsch auf-

lösen, Sir? Sieht nach Scherereien aus.«

»Lassen Sie mich kurz nachdenken.« Littlemore kratzte

sich am Kopf. »Was würden Sie am St. Patrick’s Day machen,

wenn Schwarze Scherereien machen? Die Parade auflö-

sen?«

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»nein, die Schwarzen würde ich auflösen. Und zwar

ordentlich.«

»Richtig, mein Junge. Und hier machen Sie’s genauso.«

»Ja, Sir. In ordnung. He, ihr da.« mit gezücktem Schlag-

stock machte officer Boyle einen Schritt in Richtung der

marschierenden.

»Boyle!« Littlemores Ton war scharf.

»Sir?«

»nicht die Schwarzen.«

»aber Sie haben doch gesagt ...«

»Sie lösen die Unruhestifter auf, nicht die marschie-

rer. alle zwei minuten lassen Sie die Wagen durch. Diese

Leute haben genauso ein Recht auf eine Parade wie alle

anderen.«

»Ja, Sir.«

Littlemore wandte sich wieder Younger und Colette

zu. »na schön, das mit dem Zahn ist ein bisschen merk-

würdig. Warum sollte Ihnen jemand einen Zahn hinter-

lassen?«

»Ich habe keine ahnung.«

Sie setzten ihren Weg Richtung Süden fort. Littlemore

hielt den Zahn ins Sonnenlicht und drehte ihn zwischen

den Fingern. »Sauber, guter Zustand. Warum ist er dann

nicht an seinem Platz?« Er schaute wieder auf den Zettel.

»auf der nachricht steht nicht Ihr name, miss. Vielleicht

war sie gar nicht für Sie bestimmt.«

»Der Rezeptionist sagt, die Frau hat nach miss Colette

Rousseau gefragt«, entgegnete Younger.

»Vielleicht jemand mit einem ähnlichen nachnamen«,

sinnierte Littlemore. »Das Commodore ist ein großes Hotel.

Gibt’s da auch Zahnärzte?«

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Jed Rubenfeld

Todesinstinkt

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 624 Seiten, 13,5 x 21,5 cmISBN: 978-3-453-26703-9

Heyne

Erscheinungstermin: April 2011

Der Tag, an dem die Wall Street brannte Die Panik am 16. September 1920 ist groß: Ein gewaltiges Bombenattentat vor demBankierhaus J.P. Morgan erschüttert die Wall Street und fordert eine Vielzahl von Toten undVerletzten. Wer steckt hinter dem Anschlag? Jimmy Littlemore, Detective der New YorkerPolizei, nimmt die Ermittlungen auf. Noch ehe er dem ersten Hinweis folgen kann, stellt sichihm das übermächtige FBI in den Weg. Doch Littlemore ermittelt unbeirrt weiter und kommt baldeiner ungeheuren Intrige auf die Spur. Am 16. September 1920 wird Amerika zum ersten Mal in der Geschichte des Landes zurZielscheibe des Terrors. Es ist ein strahlender Herbsttag, als Unbekannte mehrere Sprengsätzeauf der New Yorker Wall Street deponieren. Während Dutzende Menschen in der Mittagspauseaus ihren Büros strömen, detonieren um exakt 12.01 Uhr die Bomben. Unzählige Menschenfinden den Tod. Jimmy Littlemore, Hauptermittler der New Yorker Polizei, sieht sich einemschwierigen Fall gegenüber. Nicht nur pfuscht ihm von Anfang an das FBI in seine Ermittlungen,sondern auch die Regierung in Washington legt ein besonderes Interesse an den Tag. Littlemorelässt sich jedoch nicht beirren. Mit dem befreundeten Arzt Stratham Younger an der Seite, stößter bald auf eine erste Spur. Doch die Umstände des Anschlags werden immer rätselhafter, bisLittlemore und Younger die erschreckende Wahrheit aufdecken.