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Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

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Page 1: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

JENA • DESSAU • WEIMAR

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Wohnen/ Mischgebiet (Bestand/Planung)

Gewerbe-/Industriegebiet (Bestand/Planung)

• Schwerpunkt Handel

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JENA • DESSAU • WEIMAR

Page 5: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

KSPW: Transformationsprozesse

Schriftenreihe der Kommision

fUr die Erforschung des sozialen und politischen

Wandels in den neuen Bundeslandern e.v. KSPW

Herausgegeben vom Vorstand der KSPW:

Hans Bertram, Hildegard Maria Nickel,

Oskar Niedermayer, Gisela Trommsdorff

BAND 29

Page 6: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

JENA . DESSAU . WEIMAR

STADTEBILDER DER TRANSFORMATION

1988 - 1990 . 1995 - 1996

Herausgegeben von Wendelin Strubelt

Fotografien von JGrgen Hohmuth

mit Texten von JGrgen Hohmuth,

Dietmar Ebert, Iris Reuther,

Christine Weiske, Alfred Schwandt

und Rainer Mackensen

Leske + Budrich, Opladen 1997

Page 7: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

© by Leske + Budrich, Opladen

1. Auflage 1997

Aile Rechte vorbehalten. Jede Art der Vervielfiiltigung,

auch auszugsweise, nUT nach vorheriger

Genehmigung durch den Verlag.

Korrektorat: Uta Schafer, Berlin

Gestaltung: Sibyll Wah rig, Berlin

Gesamtherstellung: Presse-Druck, Augsburg

ISBN 978-3-322-95799-3 ISBN 978-3-322-95798-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95798-6

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EDITORIAL 6

VORWORT 8

BILDER UND IHRE HINTERGRONDE 13 Ein Gesprach zwischen Jlirgen Hohmuth (Fotograf)

und Wendelin Strubelt (Sozialwissenschaftler)

DIE INNENSTADTE. Fotografien 37 Jlirgen Hohmuth

FREMD SEHEN IN DER EIGENEN STADT 59 Dietmar Ebert

BILDER VOM TRANSIT 73 Ober den Zustand ostdeutscher Stadte

Iris Reuther

DIE ALTBAUGEBIETE. Fotografien 89 Jiirgen Hohmuth

BILDNIS HANNAH ARENDT VOR DER SILHOUETTE 111 EINES NEUBAUGEBIETES

Christine Weiske

DIE NEUBAUGEBIETE. Fotografien 133 Jiirgen Hohmuth

WOHNZUFRIEDENHEIT VERSUS ALLTAGSERFAHRUNG 157 Wie Umfrageergebnisse in der DDR nicht verwertet werden durften

Alfred Schwandt

STADTE VERANDERN IHR ALLTAGSGESICHT 167 Soziologische Gedanken zu Bildern der Transformation

Rainer Mackensen

DIE STADTRANDER. Fotografien 179 Jlirgen Hohmuth

DIE STADT lENA 189

DIE STADT DESSAU 193

DIE STADT WEIMAR 197

AN HANG 201 Kurzbiographien

Werkiibersicht des Fotografen Jiirgen Hohmuth

INHALT

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EDITORIAL

Der vorliegende Band prasentiert die Ergebnisse eines Fotoprojekts aus der zweiten For­

schungs- und Forderphase der Kommission fUr die Erforschung des sozialen und politischen

Wandels in den neuen Bundeslandern e. V. (KSPW).

Die KSPW', Ende 1991 auf Anregung des Wissenschaftsrates gegrOndet und aus Zuwen­

dungen des Bundesministeriums fUr Bildung, Wissenschaft. Forschung und Technologie

(BMBF) sowie des Bundesministerium fUr Arbeit und Sozialordnung (BMA) finanziert. hat

es sich zur Aufgabe gemacht

den sozialen und politischen Wandel in den neuen Bundeslandern zu erforschen bzw.

seine Erforschung zu fordern,

damit auch die empirischen und theoretischen Grundlagen fUr politische Handlungs­

empfehlungen zu verbessern sowie

angesichts des Umbruchs der Sozialwissenschaften in den neuen Bundeslandern das

sozialwissenschaftliche Wissenschaftler/innen-Potential und den Nachwuchs dort

zu unterstOtzen.

In einer ersten Forschungs- und Forderphase (1992) wurden 176 sogenannte "Kurzstudien"

vergeben (Antrags-Eingange: rund 1.700), von denen rund 150 Forschungsberichte als

Graue Reihe (alte Folge) der KSPW' veroffentlicht wurden. Die Kurzstudien sollten sozial­

wissenschaftliche Analysen anregen, das im Umbruch befindliche sozialwissenschaftliche

Potential in Ostdeutschland unterstOtzen sowie empirische Daten der ostdeutschen Sozial­

wissenschaft sichern helfen. Ausgewahlte Forschungsergebnisse der ersten Phase wurden

zudem in den Banden 9-29 der Reihe "KSPW': Transformationsprozesse" im Verlag Leske +

Budrich vom Vorstand der KSPW' herausgegeben.

In der zweiten Forschungs- und Forderphase (1993-1994) forderte die KSPW' vor allem 60

groBere Projekte zum ostdeutschen TransformationprozeB (Antrags-Eingange: rund 250), wo­

von ausgewahlte in den Banden 9-29 der Reihe "KSPW': Transformationsprozesse" ver­

offentlicht wurden.

Die dritte Forschungs- und Forderphase macht - Ober die Arbeit von 6 Berichtsgruppen -

die sozialwissenschaftliche Berichterstattung Ober den TransformationsprozeB zur zentra­

len Aufgabe der Kommissionstatigkeit Neben der laufenden Berichterstattung in Publika­

tionen, Konferenzen und Beratungen wurden die Ergebnisse der gesamten Forschungsan­

strengungen zu thematischen Berichten zusammengefaBt deren Konzepte 1993 entwickelt

wurde, deren Realisation ab Mitte 1994 begonnen hat und die in 6 "Berichten zum sozia­

len und politischen Wandel in Ostdeutschland" mit dazugehorigen 28 Banden mit "Beitra­

gen zu den Berichten" Ende 1996 publiziert werden.

Der vorliegende Band der Reihe "KSPW': Transformationsprozesse" ordnet sich in die ein-

6 HANS BERTRAM

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gangs genannten Ziele der Kommission ein: Zum einen finden interessierte Leser aus der

Wissenschaft. der politischen Administration sowie aus der sozialen und politischen Praxis

Materialien, Analysen und anwendungsbezogene Konzeptionen, die fur die tagliche Aus­

einandersetzung mit dem und im TransformationsprozeB genutzt werden konnen; zum an­

deren gibt er Sozialwissenschaftler/innen Gelegenheit die Ergebnisse ihrer Forschung hier

zu prasentieren.

Halle, im Juni 1996

Hans Bertram

Vorsitzender des Vorstandes

Kommission fur die Erforschung des sozialen und politischen Wandels

in den neuen Bundeslandern e. V.

Editorial 7

Page 11: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

VORWORT

Dieses Buch ist ein Experiment Es entwickelte sich aus der Arbeit der Berichtsgruppe

"Die lokale und regionale Dimension des sozialen und politischen Wandels in den neuen

Bundeslandem" der Kommission fUr die Erforschung des sozialen und politischen Wandels

in den neuen Bundeslandern e.v. (KSPW). Die Arbeit dieser Berichtsgruppe ist in einem Teil­

band des Gesamtberichtes der KSPW zusammengefal3t (Wendelin Strubelt u.a.: Stadte und

Regionen. Raumliche Foigen des Transformationsprozesses. Opladen: Leske + Budrich 1996).

Bei der Konzeption dieses Berichtes wurde von mir die Idee entwickelt die lokale und

regionale Dimension der Transformationsprozesse nicht durch sozialwissenschaftliche Ana­

Iysen allein zu erfassen, sondern neben den damit verbundenen Tabellen, Diagrammen und

Karten auch Fotos als Analyseinstrument zu nutzen - nicht nur als illustratives Element son­

dern in der Art einer eigenen Expertise, die mit entsprechenden Vorgaben von einem er­

fahrenen Fotografen durchgefiihrt werden so lite. Denn die Wahrnehmung oder die Wahr­

nehmbarkeit des Wandels einer Gesellschaft ist in hohem Mal3e immer auch das Resultat

von Bildern, von der Moglichkeit bildhafte Eindriicke zu gewinnen, die durch ihre Kompri­

mierung und Zuspitzung Hintergriinde, nicht nur augenscheinliche Vordergriinde, vermit­

teln. Das kann numerisch quantitativ oder verbal qualitativ nur selten ahnlich eindriicklich

erreicht werden. Dem kommt eine Tendenz in der Gegenwart entgegen, die versucht Kon­

zepte und Vorstellungen nicht nur verbal, sondern zumindest parallel. wenn nicht gar do­

minant visuell darzustellen. Das viel berufene und zitierte Bild der "bliihenden Landschaf­

ten" Iud geradezu ein, illustriert visuell belegt oder in Frage gestellt zu werden. Dies wird

sich fortsetzen.

Es stellte sich deshalb die Frage, ob auf die Nutzung der bildlichen Komprimierung von

komplexen Zusammenhangen im Sinne einer griffigen Reduzierung von Komplexitat iiber­

haupt verzichtet werden konnte, wenn sich die Berichterstattung der KSPW auch einer brei­

teren Offentlichkeit mit ihren Ergebnissen stellen will. Die wissenschaftliche Nutzung 501-

cher Materialien, ihr gezielter, aber auch professioneller Einsatz, nicht das zufallige Foto­

grafieren von reisenden Wissenschaftlern ist insgesamt eine Liicke im Bereich der

sozialwissenschaftlichen Forschung, auch wenn in jiingster Zeit verstarktVersuche gemacht

werden, hier durch eine Verbindung von sozialwissenschaftlicher Analyse und Fotografie ei­

ne Briicke zu schlagen. Wenn dieses gelingt kann in dieser Form, in dieser Nutzung, dem

systematisch-visuell Erkennbaren und Erfal3baren nicht mehr nur der Charakter eines er­

ganzenden illustrativen Elementes zugesprochen werden, so wichtig dies auch sein mag,

sondern es wiirde dariiber hinaus einen eigenen analytischen Stellenwert gewinnen.

Foigende Forderungen wurden deshalb mit dieser Expertise verbunden:

Die optische Verdeutlichung von Veranderungsprozessen der letzten Jahre in aus-

8 WENDELIN STRUBELT

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gewahlten sozial-raumlichen Einheiten,

die Gegenliberstellung von Raumen mit einer hohen Entwicklungsdynamik auf

der einen Seite und Raumen mit einer geringen Entwicklungsdynamik auf der an­

deren Seite,

das Aufspliren von Entwicklungspunkten mit Signalwirkung bzw. Symbolcharakter,

die Verdeutlichung der Transformation raumlicher Orientierungssysteme und des

Nutzungswandels von Raumen,

eine vertiefende Analyse komplexer Phanomene in ihrer visuellen Inzidenz.

Es war ein gllicklicher Zufall, daB schon vor der deutschen Wiedervereinigung im Rahmen

des sogenannten Kommunalen Praktikums an der Hochschule rur Architektur und Bauwe­

sen Weimar, das unter Leitung von Fred Staufenbiel regelmaBig mit Studenten des Stadte­

baus und der Gebietsplanung durchgeruhrt wurde, eine Verbindung von soziologischer und

stadtebaulicher Analyse mit professioneller fotografischer Dokumentation angestrebt wur­

de. In den Jahren 1988, 1989 und 1990 war Wrgen Hohmuth eingeladen worden, die Un­

tersuchungsergebnisse zu iIIustrieren, zu bebildern, aber auch analytisch zu begleiten. Da­

mit lagen rur die Stadte Jena, Dessau und Weimar bereits fotografische Produkte vor. Diese

Bilder aus der Zeit vor und wahrend der Wende stellten ein Material dar, das nach jetzt runf

Jahren mit Bildern aus dieser Zeit, mit annahernd gleichen Standorten oder mit ahnlichen

Perspektiven erneut aufgenommen und verglichen werden konnte.

1995 und teilweise auch noch 1996 machte sich Wrgen Hohmuth auf, diese erste Wel­

le der fotografischen Erhebung durch eine zweite zu erganzen. Aus diesen Bildern, die dann

von ihm selbst rur diese Expertise zusammengestellt wurden, sind ausgewahlte Fotos in die­

sen Band aufgenommen worden. Die Auswahl dieser Fotos geschah von ihm und einer be­

gleitenden Gruppe von Sozialwissenschaftlern, die sich rur dieses Experiment zur Ver­

rugung stellten.

In der Spannung zwischen unserem analytischen Ansatz, der nicht nur illustrativ sein

sollte, und dem fotografischen Material, das von Wrgen Hohmuth vorgelegt wurde, hat sich

dann die Idee entwickelt, diese Fotos mit entsprechenden Lokalisierungen und zeitlichen

Eingrenzungen rur sich selbst sprechen zu lassen in vier verschiedenen ortlichen Konkre­

tisierungen: Innenstadte, Altbaugebiete, Neubaugebiete und die Rander der Stadte. Diese

Bildblocke werden begleitet durch Texte, die nicht versuchen, diese Bilder noch einmal re­

petierend aufzunehmen, sondern eher versuchen, den Eindruck des Visuellen und seine

Moglichkeit rur die Analyse von Transformationsprozessen zu reslimieren. So entstanden

die Texte, die in diesen Band aufgenommen wurden und die neben den Bildern gelesen wer­

den konnen, so wie auch die Bilder neben der Lektlire der Texte ihren eigenstandigen Cha­

rakter bewahren. 1m Hinblick auf das Entstehen dieses Bandes und der Einordnung solcher

Bilder in die Entwicklung der frliheren DDR und der jetzigen runf neuen Lander haben

Vorwort 9

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JOrgen Hohmuth und ich ein Gesprikh gefuhrt, das wir in verschiedenen Wellen kompiliert

und redigiert haben und das jetzt zwar als ein Original, aber doch auch als ein analytisch

Korrigiertes in diesem Band dokumentiert ist Es ist so, wie Ansel Adams es gesagt hat im

Hinblick auf die Entstehung von Fotografien: "Der Vorgang ist erschreckend kompliziert in

seinen chemischen und physikalischen Aspekten, doch das Wunder Bild ist und bleibt ein

Triumph der schopferischen Phantasie und das Geheimnisvollste dabei ist das Zu­

sammenwirken von Maschine, Geist und Gefuhl..: (Das Wunder Bild. In: SOddeutsche

Zeitung vom 25.04.1996).

Entstanden ist jetzt ein Band, der nicht fur sich in Anspruch nehmen kann und will, ein

abgeschlossenes Werk darzustellen. Es ist wie gesagt ein Anfang, ein Versuch, es ist ein

work in progress, bei dem aus unterschiedlicher Sicht Sozialwissenschaftler einerseits und

der Fotograf andererseits mitgewirkt haben. Es ware zu wOnschen, daB diese Fotos und die

Texte einen kleinen Beitrag dazu leisten konnen, daB wir die Vorgange, die in der frOheren

DDR sich derzeit vollziehen, besser verstehen und Ober den ersten visuellen Eindruck hin­

aus, auch einen Einstieg suchen das Verstehen zu finden. In einem anderen Zusammen­

hang ist gesagt worden: "Die politische Stabilitat in der SBZlDDR war in nicht zu unter­

schatzender Weise davon abhangig, daB eine optimistische Grundstimmung erzeugt wur­

de. Die Reportagefotografie, das offentliche Bild Oberhaupt galt dafur als StOtzkorsett"

(Stefan Raum: Reportagefotografie in der DDR zwischen Alltag und Politik. In: Das deutsche

Auge. 33 Fotografen und ihre Reportagen, 33 Blicke auf unser Jahrhundert MOnchen: Schir­

mer/Mosel 1996, S. 48) Die hier prasentierten Fotos entstammen einer Generation von Fo­

tografen, die schon damals in der DDR "mehr wollten als Geld verdienen und schweigen".

Insofern stehen diese Bilder in einer Tradition der Dokumentation raumlicher Tatbestande,

die jetzt im Vergleich zwischen 1989/90 und 1995/96 erkennen lassen, daB Wandel bereits

stattgefunden hat daB dieser Wandel aber in vielen Bereichen noch in vollem Gange ist

Viele Bilder erschlieBen sich nur durch naheres Hinsehen in ihrer zeitlichen Einordnung.

Dies dokumentiert, daB der gewollte Effekt des Vorher/Nachher nicht eingetreten ist son­

dern die Bilder zeigen, daB wir uns noch mitten in einem Wandel befinden, der noch nicht

abgeschlossen ist, dessen gegenwartiger Stand hiermit jedoch dokumentiert wird. Ich wOn­

sche mir, daB dieser Versuch einer Kooperation und eines Dialoges zwischen Sozialwis­

senschaftlern, die sich mit raumlichen Prozessen befassen und Fotografen, der zum Beispiel

in Frankreich eine lange Tradition hat, auch in Deutschland intensiver genutzt wird und daB

dieses Buch einen AnstoB dazu geben moge.

Ich mochte mich bedanken fur die UnterstOtzung, die innerhalb der KSPW fur dieses

Projekt aufgebracht wurde.lch mochte mich bedanken bei dem Fotografen, den Autoren und

bei allen, die an diesem Fotoband mitgewirkt haben. Fabrice Devillers hat durch seine Arbeit

im Fotolabor zur Qualitat der Bilder beigetragen; von Mitarbeitern des Buros fOr Urbane

10 WENDELIN STRUBELT

Page 14: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

Projekte Leipzig wurden wesentliche Zuarbeiten fOr die Stadteportrats bereitgestellt; Ros­

marie Sobania und Gabriele Bockhecker haben mit viel Ausdauer daran mitgearbeitet, den

Tonbandmitschnitl des Werkstatlgespraches in einen konsistenten Text zu OberfOhren. Ich

mochte mich insbesondere auch fOr die Geduld des Verlegers, Edmund Budrich, bei der Kon­

zipierung dieses Bandes bedanken. Uta Schafer hat sehr wesentlich bei der redaktionellen

Oberarbeitung von Konzeption, Bildern und Texten mitgewirkt DafOr gilt ihr unser aller Dank.

FOr mich war dieses Experiment ein sehr fruchtbares, es ware ohne die vielen Diskus­

sionen, die ich mit Toni Sachs Pfeiffer Ober den Einsatz von Fotografie bei der Analyse von

raumlichen Prozessen gefOhrt habe, nicht moglich gewesen.

Bonn, November 1996

Wendelin Strubelt

Vorwort 11

Page 15: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

Zum atbeifen bin ic. g~ '1Enug, einrr~ Jndlf:BRD I kQn~,::¥!t ~UffsTim/l)t we rd r J. So welter leDc:n - nein

.6L.... ___ "",,""""-- JENA. Marktplatz. 1988

12

Page 16: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

BILDER UND IHRE HINTERGRUNDE

Ein Gesprach zwischen JOrgen Hohmuth (Fotograt)

und Wendelin Strubelt (Sozialwissenschaftler)

13

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STRUBELT: Herr Hohmuth, die Fotografie in der fri.iheren DDR war - wenn man es so im

Ri.ickblick sieht - keine sehr realistische - allenfalls eine "sozialistisch realistische" und sehr

progandistisch orientierte. Man sah entweder Hauser und Gebaude oder man sah gli.ickli­

che, strahlende Menschen, aber man sah im Prinzip nie das wirkliche Leben. Ich erinnere

mich z.B. an den 1969 erschienenen Band i.iber Halle-Neustadt ..stadte machen Leute".

HOHMUTH: Das ist eine verwegene Behauptung. Es gab das ganze weite Spektrum der Fo­

tografie bis hin zur Fotomontage, und es gab eine groBe Szene von Autoren-Fotografen, die

nach dem wirklichen Leben mit ihren Fotografien gesucht haben. Diese traf man weniger

bei den groBen Zeitungen an, obwohl es sie auch dort gab. Sie haben mit einer Doppel­

strategie gelebt Neben ihrem Auftrag haben sie die eigenen Bilder gesucht Ab Mitte der

70er Jahre haben kommunale Galerien die traditionelle Funktion von Magazinen i.iber­

nom men, indem sie gute Foto-Reportagen, die das "wirkliche Leben" gezeigt haben, aus­

stelite n. Das fand eine unerwartete Resonanz.

ST.: Diese Foto-Reportagen und ihre Resonanz waren aber nur in der DDR bekannt Dies ist

nicht nach auBen gedrungen.

H.: Wenig. Unter Insidern war das auch im Ausland bekannt Aber die meisten dieser Fo­

tografen wollten auch in der DDR weiter arbeiten, ihnen war das Wirken im Land wichtig.

Die Frage hieB: "Hier oder in der groBen weiten Welt?" Diese Behauptung ist vielleicht ein

Teil der Erklarung, weshalb sie hiergeblieben sind.

ST.: Es war ja auch nicht so ganz einfach, rauszukommen!

H.: Richtig. Andererseits war es i.iber den Ki.instlerverband zum Teil moglich. Ausstellungen

wurden privat organisiert und dann offiziell i.iber den Ki.instlerverband genehmigt Diese Aus­

stellungen hatten keine groBe Offentlichkeit Die Ki.instler waren sehr vorsichtig, bei den

groBen Magazinen im Westen zu veroffentlichen. Weil eben wirklich die Frage war, was

konnte dann hier passieren? Mir seiber ging es so, mit dem Foto des Ausreisedemonstran­

ten auf dem Jenaer Marktplatz hatte ich 1988 viel Geld verdienen konnen (siehe Seite 12).

Ich habe es einfach unterlassen, das Bild im Westen anzubieten. Mir war die ganze Ge­

schichte, die hier lief, zu wichtig.

ST.: Aber Sie sind - wenn man es auf die ganze Geschichte der DDR bezieht - immer noch

ein junger Mann. Sie decken nicht die ganze Zeit der DDR-Fotografiegeschichte ab, sondern

in etwa die letzten 15 Jahre. Davor gab es - auch mit progandistisch genutzten Werken wie

dem 1966 erschienenen Fotoband "Wir in Berlin", urn ein Beispiel zu nennen - Produkte,

die zum Teil noch zurOckgriffen auf die Arbeiterfotografie und auf die qualitativ hoch ste­

hende Dokumentarfotografie, wie sie z.B. in der Berliner IIlustrierten gemacht wurden, was

durch Emigranten starken EinfluB gehabt hat gerade auf die groBen Zeitschriften in den

Vereinigten Staaten, insbesondere auf Life. Nicht zu vergessen die groBe Tradition der

nachrevolutionaren, sowjetischen Fotografen vor ihrer stalinistischen Achtung. Diese Tradi-

14 WENDELIN STRUBELT UND JURGEN HOHMUTH

Page 18: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

tionen sind irgendwann abgebrochen. Es dominierte dann eine - ich sag's mal - staatser­

haltende oder eine staatskonservierende Fotografie in der Nachfolge sowjetischer Beispie­

Ie, das waren die von mir - eingangs berufenen - glOcklichen Menschen: die glOcklich Win­

kenden oder die groBen Aileen, also Architekturprachtfotografie zur Dokumentation eines

politischen Erfolgs. Diese Bildbande dokumentierten eine stadtebauliche Entwicklung wie

Halle-Neustadt etwa oder die "groBartige Entwicklung" der Hauptstadt Berlin. Wenn ich mir

diese anschaue, habe ich immer das Gefuhl, ich habe eine WerbebroschOre vor mir.

H.: Die groBe Tradition deutscher Fotografie hat im Krieg einen RiB bekommen. Viele Fo­

tografen sind emigriert, erst nach Paris, dann nach Amerika und dort mit ihren Arbeiten

berOhmt geworden.ln der DDR gab es dann Versuche eines Neuanfangs, z.B. angeregt durch

die "Family of Man", diese groBen Ausstellung, die in den 50er Jahren durch die Welt 109

und die ein Teil der in der DDR lebenden Fotografen durch die offene Grenze noch sehen

konnte. Da gibt es z.B. Evelyn Richter und Arno Fischer. ..

ST.: Aus der DDR?

H.: Aus der DDR. Ich gebe da jetzt Informationen aus dritter Hand weiter: Damals gab es

eine ganz klare Front zwischen den "Hofberichterstattern", welche fur die offizielle DDR ge­

arbeitet haben, und den Autorenfotografen, die auch deswegen zum Teil keine Auftrage hat­

ten, weil klar war, sie fotografieren anders. Sie sind im Eigenauftrag durch die Stadt gelau­

fen und haben nicht in Cottbus, Kuba oder Afrika die Revolution fotografiert Sie haben ih­

re Bilder gesucht

ST.: Wo sind die Bilder jetzt?

H.: Die kann man sich ansehen. Sie werden jetzt in New York und sonstwo ausgestellt Eve­

lyn Richter hat im letzten Jahr den Preis der Deutschen Gesellschaft fur Fotografie bekom­

men - nicht fur ihr Leben in der DDR, sondern fur ihre Fotografie.

ST.: 1st dies eine Fortsetzung der Dokumentarfotografie, die aus der alten deutschen Rich­

tung kommt und wie sie sich auch in Amerika unabhangig von der deutschen Tradition ent­

wickelt hat? Dabei gab es eine frOhe BerOhrung zwischen Fotografie und Sozialwissenschaft.

So ist es interessant daB Lewis Hine, der engagierte Sozialfotografie gemacht hat ur­

sprOnglich Soziologe war und dann zu einem Fotoreporter wurde, der im Auftrag von inter­

nationalen Organisationen vor Ort das soziale Elend fotografierte. Fotografen dieser Rich­

tung wollten mit ihren Bildern mehr machen als nur dokumentieren, sie wollten aufrOtteln.

H.: Das Problem in der DDR war, daB es kaum Medien gab, die so etwas veroffentlicht ha­

ben. Und da haben sich dann Mitte der 70er Jahre die Galerien engagiert Es gab mehrere

Fotografen, die durch wichtige Ausstellungen in der DDR relativ bekannt waren. 1m Dunst­

kreis dieser Galerien und des KOnstierverbandes, wo es eine Arbeitsgruppe Fotografie gab,

entwickelte sich eine rege und sehr differenzierte Szene. Relativ junge Leute, die zum Bei­

spiel durch Arno Fischer ermutigt wurden, ihre eigene Bildsprache zu suchen. Fur sie war

Bilder und ihre Hintergriinde 15

Page 19: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

er ein wichtiger Bezugspunkt Fur mich war seine Professur der Grund, an der Hochschule

fiir Graphik und Buchkunst in leipzig zu studieren. In den 80er Jahren war es dann schon

relativ einfach, mit interessanten Arbeiten eine Ausstellung zu realisieren.

ST.: Gibt es denn davon jetzt Bildbande? Kann man darauf zuruckgreifen? 1st es

moglich, die Sozialgeschichte der DDR, ruckwarts orientiert an hand der Bilder, die offiziell

nicht gezeigt wurden, auszugraben oder vielleicht sogar mit den offiziellen Bildern

zu konfrontieren?

H.: Bildbande gibt es nicht viele. Die Fotografien gibt es. Sie liegen bei den Fotografen.

Wenige in Sammlungen.

ST.: Aber es gibt sie nicht fiir einen leicht zuganglichen dokumentarischen Zugriff? Und die

Geschichte der DDR-Wirklichkeit im Spiegel dieser Bilder liegt noch nicht vor?

H.: Es stellt sich die Frage, wen interessiert denn das heute, wer macht diese Arbeit?

ST.: Das ist durchaus ein Problem.

H.: Sie erleben das doch bei jedem Verlag. Welchen Verlag konnte das interessieren? Fur

wen scheint das ein Geschaft zu sein? Wer wurde diese Bucher kaufen?

ST.: Gut die Verlage sind die eine Seite, aber es gibt ja zum Beispiel das Haus der Deut­

schen Geschichte und viele andere Museen, die historisches Bildmaterial aufbewahren und

auch mit Ausstellungen fordern.

H.: Ja, aber da gibt es doch wieder das Problem der Grenzuberschreitung. Das Museum fiir

Deutsche Geschichte kauft historisch wertvolle Bilder exemplarisch auf. Es gibt Sammlun­

gen, die kaufen Kunstfotografie auf.lch kenne niemanden, der sozialhistorisch wichtige gute

Fotografie sam melt so daB es fiir die Fotografen der Muhe wert ware, sich hinzustellen und

das alles - mit dem heutigen Blick - zu bearbeiten. Es gibt sicher noch Bildmappen aus der

damaligen Zeit die man seiber zu Hause hat oder die in Sammlungen liegen, aber das Gros

des Materials ist noch nicht aufgearbeitet

ST.: Da gibt es also eine richtige lucke? Die Geschichte der inneren Bildwirklichkeit ist al­

so noch zu schreiben?

H.: Sehe ich so. Ein absolut spannendes Feld - zumal im Vergleich mit der offiziellen Fo­

tografie und ihren Prachtbildbanden.

ST.: Nun haben wir hier mit dem vorliegenden Band keinen Prachtbildband und auch kei­

ne Sozialfotografie, sondern wir haben den Versuch, den Wandel oder den Umbruch, den

Abbruch oder den Neuanfang zu dokumentieren. Anhand eher zufallig ausgewahlter Stad­

te: Dessau, Jena und Weimar. Wo wurden Sie denn heute, wenn Sie gewissermaBen von

auBen Ihre Bilder, die hier abgedruckt sind, betrachten, diese einordnen? Welcher Tradition

wurden Sie sie zuordnen?

H.: Das ist schwierig. Es ist Sozialreportage oder Sozialjournalismus, Stadtbildfotografie -

in diesem Spektrum, sehr grenzubergreifend. Grenzuberschreitung ist das, was mich ei-

16 WENDELIN STRUBELT UND JORGEN HOHMUTH

Page 20: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

gentlich interessiert Deshalb habe ich oft Probleme, irgendwo eingeordnet zu werden. Aile

Dinge, die klar sortiert sind, interessieren mich nicht so sehr, mich interessieren die Bruche,

die Kanten. Und da bin ich naturlich oft unsicher, weil ich weif3 es ja seiber noch nicht so

genau. Das ist es, was mich als Mensch interessiert und auch als Fotograf.

Sie sprachen einmal von der .Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen"? Wie war das?

ST.: Den Tatbestand der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" hat Pinder, ein Kunsthisto­

riker, als Beg riff gepragt Er wandte sich gegen das Schuldenken, das viele Kunsthistoriker

haben, das deren Rezeption im allgemeinen pragt, wonach es eine klare zeitliche Trennung

der Stile gebe. Also es gibt erst Romanik und dann gibt es Gotik usw. Das gebe es seiner

Meinung nach in aller Regel nicht, sondern es existiert in der jeweiligen Gegenwart vieles

gleichzeitig nebeneinander oder zumindest uberlappend, obwohl es aus unterschiedlichen

Zeitstufen stammt Karl Mannheim hat dieses begriffliche Konstrukt in die Soziologie uber­

nom men, als Obernahme dieses kunsthistorischen Begriffs in die Sozialforschung, bei der

Erforschung der Lage von Generationen - ihren Oberlappungen. Auch er sagte, es gebe

stets ein Nebeneinander ganz unterschiedlicher Lebens- und Zeitstufen, die nebeneinander

leben, die an sich aus ganz anderen Stufen stammen, aber zur gleichen Zeit leben und wir­

ken. Sie stammen aus ganz anderen Hintergrunden, aus ganz anderen historischen Stufen,

aber sie existieren nebeneinander.

H.: Kommunizieren auch miteinander?!

ST.: Kommunizieren auch miteinander, werden auch wahrgenommen, aber leben naturlich

getrennt Das ist vielleicht auch das, was Ulrich Beck veranlaBt hat, seinen Fotoband her­

auszubringen: .Eigenes Leben. Ausftuge in die unbekannte Gesellschaft. in der wir leben"

mit Fotos von Timm Rautert fuBend auf einer Ausstellung. Da gibt es diesen schonen Satz:

.Soweit das eigene Leben sich gerade dem Zugriff des verallgemeinernden Denkens und

Forschens entzieht, wird notwendig, was in diesem Band versucht wird, Wissenschaft und

Kunst, Philosophie und Fotografie, biographische Rekonstruktion und soziologische Analy­

se zu verbinden mit dem Ziel, aus allen Himmelsrichtungen Licht auf die Ratsel des eige­

nen Lebens zu werfen." Bei uns kommt natOrlich das Problem hinzu, daB diese Ratsel des

Lebens, die er da sieht, zum Teil durch Evidenzen der Geschichte beiseite geruckt werden.

H.: Bei ihm?

ST.: Bei uns. Bei ihm sind es die Lebensumstande. Er hat sich die unterschiedlichen Le­

bensumstande von Menschen in Westdeutschland angesehen, wahrend wir hier mit einem

wirklichen Bruch umzugehen haben. Manchmal verdrangt die Augenscheinlichkeit dieses

Bruchs die Ziele des individuellen Lebens. Obwohl es da ist und das finde ich an ihren Fo­

tografien so gut, weil sie das trotzdem durchscheinen lassen: Dieses Bild der drei Grazien

etwa (siehe Titelfoto). Ich weif3 nicht, ob Ihnen das so einleuchtet

H.: Ich finde das schon spannend, wenn Sie als Sozialwissenschaftler mit diesen Fotos um-

Bilder und ihre Hintergriinde 17

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gehen. Ich sehe ein Bild und knipse! Ohne die sozialen Zusammenhange in dem Moment

zu sortieren, fUr mich ist es mehr ein Reagieren. Wie bei den Ladenfassaden zum Beispiel.

Ich hatte eine alte Aufnahme, die 1988 aufgenommen wurde und eigentlich schon 20 Jah­

re iiberholt war. Oas hat mich damals fasziniert und als es dann zu diesem Projekt kam,

kam mir sofort in den Sinn, heute wieder eine typische Ladenfassade zu fotografieren. Oas

ist ein Zeitdokument Oa ist klar, was meine Intention ist Bei dem Bild mit dem Trabant und

dem Carl-Zeiss-Werk im Hintergrund (siehe Seite 182), da kann ich einfach nur sagen, es

war Intuition.

ST.: Es ist ein Zeitdokument und kein Geheimnis im Sinne einer verborgenen Botschaft Es

zeigt ein Nebeneinander von GroBindustrie als Arbeitsplatz und privatem Riickzug. Oas

kommt zum Ausdruck, aber nicht subtil, auch sind Nutzungsspuren nicht so prasent wie in

dem Bild von dem Spiel platz, besser dem Nichtspielplatz. Oas zeigt mehr Nutzungsspuren.

Oas andere zeigt fast schon eine historische Konstellation.

H.: Das ist ein schOnes Wort

ST.: Vielleicht, aber ich will auf Ihre Frage hinaus, warum interessiert sich ein Sozialwis­

senschaftler fUr Fotos. Oas hat natiirlich viele Oimensionen. Oabei klammere ich jetzt mal

die eigene Erfahrung aus, warum man mit Fotos umgeht und warum man Fotos interessant

findet Wichtig ist, daB Sozialwissenschaft urspriinglich - und gerade bei der Stadtsoziolo­

gie hat man das nachgewiesen - auch eine Art von Journalismus war. Es wird etwas re­

cherchiert, man will Hintergriinde recherchieren, will eine Feldstudie machen. Oas kann al­

les sehr stark quantitativ mit Umfragen oder den sogenannten objektiven Daten der amtli­

chen Statistik gemacht werden, das ist die eine Richtung. Oie andere Richtung mochte

wissen, wie das wirkliche Leben ist und versucht, z.B. durch qualitative Methoden, etwa mit

umfassenden Tiefeninterviews, in die soziale Realitat einzudringen. Oas Problem dabei ist

immer, es gibt unheimliche Berge von Daten, aber keiner macht sie so richtig systematisch

klein. Es gibt Oatenberge und die bleiben da, manche kratzen tief, aber verlieren sozusa­

gen den Bezug zu einer Ordnung oder andere haben die Ordnung, aber verlieren den Be­

zug zur Realitat Und da sind Fotos dann immer eine Art Halt Andererseits weiB man im­

mer nicht, was bei Fotos manipuliert ist - man erkennt nur schwer das Manipulative an Fo­

tos, obwohl man weiB, daB viele beriihmte Fotos gestellt sind.

H.: Oft Ich werde das auch immer gefragt Und bei manchen Fotos, z.B. diesem Ausblick

auf den Neubau, wo Vater und Sohn auf dem Balkon stehen, fragen mich manche, ob ich

die Klammer da hingehangt habe, sie passe so schon ins Bild (siehe Seite 146).

ST.: Es ist komponiert und gibt die "Realitat" gleichwohl so schon wieder, wenn auch inszeniert

H.: Wenn auf meinen Fotos ein inszeniertes Element ist, dann sieht man es an der Art, wie

die Leute mich anschauen. Aber das ist der einzige Eingriff, jedenfalls bei diesen Fotos, um

die es hier geht Und da passieren in dem Moment Veranderungen der Situation. Die Pas-

18 WENDELIN STRUBELT UND JURGEN HOHMLJTH

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santen merken, sie werden fotografiert Das sieht man dann auf dem Foto und damit finde

ich es wieder ehrlich.

ST.: Ja, es gibt doch auch Fotos, wo Leute sich, ich denke an einen Band Paare aus den

70er Jahren, wo die Leute sich einfach so hinstellen sollten, wie sie selbst wollten.

H.: Da gibt es aus Ost-Berlin die Fotos von Christian Borchert oder die Portrats von Helga

Paris aus Halle.

ST.: Ich meine die "Menschenbilder" von Beate und Heinz Rose aus dem Jahre 1972 - wo

die Leute sich so hinstellen durften, wie sie wollten und sie wurden so abgelichtet An den

unterschiedlichen Korperhaltungen, deren Sprache diese Menschen mitteilen, sieht man

auch ihre historische Lage oder ihre Lebenslage.

Mir ist noch etwas anderes eingefallen. Ich war vor kurzem in Prag und fuhr mit einem

Taxi zum Flughafen. Da fcihrt man durch Neubaugebiete und es gibt Riesen-Rasenflachen.

Da wurde gemaht mit so kleinen Traktoren. Offensichtlich machten die Gartner eine Pause

und mit einmal standen vier solcher Minitraktoren mit der Schnauze nach vorne und die

darauf sitzenden Gartner unterhielten sich. Das war ein Bild. Ich habe mir gedacht dieses

Bild, das muBte man haben, aber ich fuhr vorbei und behielt es im Gedachtnis. Aber es war

von mir natorlich auch manipulativ, weil ich das so gesehen habe. Mir fiel dieses Merk­

wurdige auf, wei! Leute auf etwas sa Ben, was gar nicht furs Unterhalten gedacht war.

H.: Es gibt diesen Ausspruch, der Leonardo da Vinci zugeschrieben wird - sinngemaB:

Jeder Maler malt eigentlich doch nur sich selbst Bei Fotografen ist das, denke ich, genau­

so. Jeder fotografiert das, was er sieht Es gibt ganz unterschiedliche Beweggrunde zu foto­

grafieren. Bei mir ist es so, daB ich total neugierig und offen fur die Welt bin und das

ist glaube ich, die Qualitat dieser Fotos, natorlich aber auch ihr Handicap. Ich versuche

nichts reinzubauen, sondern ich mochte immer moglichst den Raum, die Atmosphare

spuren, die mir entgegenkommt Ich nehme mich zuruck. Das ist eine wichtige Vorausset­

zung fur diese Fotos.

ST.: Sie sagten mir, daB Sie schon mit 20 oder 21 Jahren angefangen haben, professionell

zu fotografieren. Es muB Grunde geben, warum Sie gerade das gemacht haben. Was war

der Aufhanger?

H.: Es gab keinen besonderen AniaB dafOr. Ich habe damals mit 14 Jahren Jugendweihe

gehabt und mir vom Geschenkgeld eine Praktika gekauft. Dann gab es eine Arbeitsge­

meinschaft in der Schule, wo ich bald der Matador war. Ich lernte einen Journalisten ken­

nen, der viel fotografierte. Dessen Umtriebigkeit Offenheit und Ehrlichkeit faszinierten mich.

Heute weiB ich, daB er fOr die Stasi gearbeitet hat

Ich stand dann vor der Berufsentscheidung, in der 9,/10. Klasse und hatte keine Lust

auf das Abitur. Aile waren sauer, mein Lehrer, meine Eltern. Ich stand vor der Entscheidung,

was ich werden sollte und habe mir uberlegt ganz simpel, wenn ich Fotograf werde, muB

Bilder und ihre Hintergriinde 19

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ich immer in der Dunkelkammer, oder einem Studio herumstehen. Es war mir wichtig, mog­

lichst viel mit Wald und freier Landschaft zu tun zu haben und unterwegs zu sein. Ich ha­

be mir uberlegt wenn du Forstarbeiter lernst kannst du ja dabei immer fotografieren.

ST.: Aber Sie haben nicht angefangen mit einer Fotografie des Forstarbeiters oder der foto­

grafischen Geschichte des Forstarbeiters.

H.: Nein, aber ich habe bei der Arbeit damals fotografiert

ST.: Und was?

H.: Die Leute bei der Arbeit

ST.: Die Leute beim Arbeiten?

H.: Die Leute bei der Arbeit Also nicht..

ST.: Also nicht den schonen Wald, den Sonnenuntergang?

H.: Weniger, fand ich zwar auch toll und hab das auch gemacht Romantik hat mich aber

nicht so interessiert

ST.: Aber das ist das, was die meisten Leute mach en - Fotografien der Sonnenuntergange,

oder sie fotografieren die Blumen.

H.: Ich habe auch Landschaft damals fotografiert aber mehr die Bruche. Das hat mich

interessiert, nicht die Harmonie zwischen Mensch und Natur, sondern die Kanten

und Obergange.

ST.: Gab es denn da irgendwelche Vorbilder, die Sie beeinfluBten oder irgendwelche Bucher?

H.: Mein Vater hat fotografiert hatte eine (ontax-Spiegelreflex, Lehrbucher und Zubehor.

Das konnte ich alles benutzen und er hat eine gebrauchte Dunkelkammerausrustung be­

sorgt Dann war immer das Bad im Haus meiner Eltern nicht zu benutzen, weil ich in der

Dunkelkammer saB.

ST.: Aber Ihr Vater hat sie auch benutzt?

H.: Ja, aber nicht mit der gleichen Intention, sondern um die Urlaubsbilder selbst

zu entwickeln.

ST.: Waren die Bilder Ihres Vater eingerahmt an der Wand oder waren sie nur im Fotoal­

bum?

H.: Mehr im Fotoalbum. Das hatte gehobenen Familienfotografie-Anspruch. Ich habe nach

etwas anderem gesucht Dann habe ich mir in der Bibliothek alles durchgelesen, was uber

Fotografie, VergroBern usw. zu bekommen war.

ST.: Also eher Interesse an der technischen Seite?

H.: Nee, das habe ich durchgeackert Ich empfand es als notig, um das Ganze zu beg rei­

fen, um bessere Bilder machen zu konnen.

ST.: Sie haben dann schon mehr gemacht? Sie haben sich mit dem theoretischen und dem

technischen Hintergrund des Fotografierens beschaftigt aber nicht mit irgendeiner einerTra­

dition des Fotografierens, also Sozialfotografie oder asthetischer Fotografie oder irgend so

20 WENOELIN STRUBELT UNO JURGEN HOHMUTH

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etwas. Sondern Sie sind sozusagen uber das Fotografieren - Vorbild Vater - dann zu eige­

ner Neugier gekommen.

H.: Genau. Und dann habe ich mir Bildbande besorgt das meiste aus der Bibliothek. Die

Bucher waren zwar nicht immer gut gedruckt aber es gab einige Klassiker der Fotografie,

die man sich anschauen konnte und das hat mich schon gepragt Die Mischung aus guter

Fotografie, die den Moment einfangt und gleichzeitig zeigt wie die Leute leben, hat mich

fasziniert Ich kann mich an Bilder in einer Ausgabe der DDR-Zeitschrift .Fotografie· erin­

nern, von einem Amerikaner (Milton Rogowin), einem Optiker, der in seiner Nachbarschaft

die Leute portratiert hat Das hatte eine Kraft - die Abgebildeten haben mit viel Selbstver­

trauen in die Kamera geschaut Das ist etwas, woran ich mich heute erinnere. Paul Strand

habe ich gesehen - "Das Land der Graser", das "New Yorkn-Buch mit Fotos von Karol Kal­

lay. Das hat mich beeindruckt

ST.: Es interessierte Sie also immer sehr stark das Dokumentarische, Authentische und nicht

das Gestylte, das Gestellte.

H.: Ja, genau. Es gibt Kollegen, die denken sich in ihrer Phantasie etwas aus, und dann su­

chen sie solange in der Wirklichkeit bis sie das Bild finden. Oder sie bauen in ihrem Stu­

dio diese Fotos auf. Das ist nie meine Sache gewesen. Ich bin viel zu neugierig, wie das Le­

ben drauBen ist Ich finde das aufregend, was ich entdecke und welche Leute ich kennen­

Ierne. Aber auch Theaterfotografie interessiert mich, die Atmosphare bei guten Proben hat

etwas von konzentriertem Leben. Und diese Mehrdeutigkeit der Bilder!

ST.: Der Fotograf als professioneller Neugieriger?

H.: Ja. Aber das hat auch seine Grenzen, wenn man dann tausende Fotos hat und merkt

das interessiert auBer mir niemanden. Dann denkt man schon mal, ich hor auf damit es

macht alles keinen SpaB mehr und es will ja doch keiner sehen. Die Einsamkeit des Foto­

grafen in der Dunkelkammer. Das Unspektakulare ist weit weg von dem heute ublichen.

ST.: Wie meinen Sie: 1st weit davon weg?

H.: Das ist einfach, die suchen das Spektakel - die aufklaffenden, blutenden Leichen mog­

lichst noch beim SchuB.

ST.: Also diese Fotos des Jahres.

H.: Ja genau. Selbst jemand, der heute fur seine Sozialfotos sehr beruhmt ist Sebastian

Salgado, hat so angefangen. Das erste beruhmte und gut bezahlte Foto seiner Laufbahn war

das Attentat auf Reagan. Er war dabei, weil er ihn ein paar Tage begleiten sollte und mit

diesem Foto hat er sich den finanziellen Ruckhalt verschaffl:, urn frei arbeiten zu konnen. Er

hat dadurch Moglichkeiten, die man normalerweise nicht in diesem Job hat Er kann sieben

Jahre lang ein Projekt betreiben, das sind dann ungefcihr genau soviel Fotos wie fur unser

Projekt oder vielleicht ein paar Fotos mehr und auch sicher in anderer Qualitat ich will mich

nicht vergleichen. Andere wurden in so einer Zeit sicher auch nur Schrott produzieren.

Bilder und ihre Hintergriinde 21

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ST.: Es geht ja nicht ums vergleichen, es geht um Intentionen und um Ihre Absicht Und es

geht natorlich auch darum, daB man damit schon irgendeine Aussage weitergibt Foto­

grafen konnen u.u. unter Insidern einen guten Namen haben, aber sie verdienen damit

gar nichts.

H.: Das ist die Differenz zwischen Intention und Markt

ST.: ... aber selten eine gute Kombination. Wie ist das, ich habe keinen so groBen Oberblick

Ober aile Fotos, aber wenn ich Zeitungen oder Rezensionen lese, dann bekommen doch im­

mer wieder die etwas stilleren und reflexiven Fotobande an sich eine gute Presse. Nehmen

Sie z.B. den Band von Marcellmsand "Paul und Clemence". Aber sie haben keine groBe Re­

sonanz, oder?

H.: Der Markt hierfOr wird enger, wie die Verleger sagen. Es gibt immer weniger Zeitungen

und Zeitschrifien, die so etwas bringen und immer mehr Fotografen, die so etwas machen

mochten. Es gibt ein paar Kollegen, die sind sehr streng zu sich, fahren Taxi oder fotogra­

fieren Bettwasche, was fur sie die gleiche Qualitat hat aur3er daB man mit Bettwasche fo­

tografieren ein bir3chen schneller das notwendige Geld verdienen kann, um eigene Projek­

te zu betreiben. Zu DDR-Zeiten haben wir das nicht so hart erlebt weil wir viel weniger Geld

brauchten. Die Jena-Bilder in diesem Band konnte ich machen, nachdem der eigentliche

Auftrag abgewickelt war. An dem BOchlein, das damals entstanden ist C,Lebensbilder aus

Jena"), habe ich im Prinzip ein Jahr lang gearbeitet mit Unterbrechungen. Das ist fur mich

heute, weil ich unter ganz anderen Zwangen stehe, viel schwieriger.

ST.: Ich mochte Ihnen jetzt zu einem anderen Bereich der Fotografie eine Frage stellen. Sie

arbeiten haufig mit offentlichen Aufiraggebern, also mit Kommunen oder mit halbstaatli­

chen Organisationen, die etwas dokumentiert haben wollen, sie wollen keine Interpretation.

Interpretationen geben Sie aber mit jedem Bild gleichwohl.

H.: Das ist eine ganz spannende Frage, es gibt eine nonverbale Sprache, eine Bildsprache,

die noch vie I zu wenig untersucht ist Die Frage ist fur mich, ob man Oberhaupt erklaren

kann, was an Assoziationen und Zusammenhangen sich aufbaut, wenn wir ein Bild sehen.

ST.: Oder an BOndelung - an mental vorgenommener BOndelung.

H.: Wenn man nur ein Stock Hauserwand fotografiert sind da bautechnische Details dar­

auf, sowie architektonische Details. Da sind Nutzungsspuren von Menschen drauf und

gleichzeitig ist es so, daB jedes dieser Teile gleichzeitig noch als Symbol gewertet werden

kann. Und das alles Oberlagert sich in unserem Kopf.

ST.: Ich meine, wenn ich ein bestimmtes Bild im Kopf habe - ich habe das ja an anderer

Stelle schon gesagt - dann bleibt es bei mir auch haften. Es ist ein bestimmter Bildeindruck

- auch etwas Statisches, etwas Geronnenes - und dabei sind naWrlich auch Interpretatio­

nen. Das sind Konstellationen, die man selbst hat Die Frage ist wenn ein Fotograf ein be­

stimmtes Sujet hat, es mit der Kamera ausschneidet und hinterher beim VergroBern es viel-

22 WENDELIN STRUBELT UNO JURGEN HOHMUTH

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leicht noch wieder anders zuschneidet dann werden damit natiirlich Markierungen gesetzt

und Beschrankungen in der Aufnahme. Das ist vielleicht das, was ich jetzt mal das foto­

grafische Auge nennen wiirde, das dann bei anderen iiber irgendwelche geheimen Geset­

ze des Bildes dazu fUhren kann, daB man das Gleiche wahrnimmt Anders als vielleicht

in der Literatur, denn da ist es heute geltende Meinung: Die Literatur ist Literatur, sie ist of­

fen und jeder nimmt sie fUr sich selbst auf. Die Rezeptionsasthetik will deshalb das Kunst­

werk nicht nur an sich betrachten, sondern auch in seiner Wirkung. Fotografie kann viel­

leicht pragender wirken und deswegen haben auch die politisch Machtigen sich ihrer im­

mer sehr angenommen, wie auch der Arch itektu r. Und hier haben wir nun beides - Fotografie

und Architektur.

H.: Das Verbliiffende ist ja wirklich, daB es einige wichtige Fotografen gibt welche in ihrer

Zeit als pure Abbilder, nicht einmal als Dokumentaristen, sondern nur als Handlanger fUr

Maler oder als Skizzenhersteller verstanden wurden. Atget der in Paris eigentlich nur Vor­

lagen fUr Maler geliefert hat Zille, der wirklich geniale Fotografien gemacht hat hat das fUr

sich selbst als pures Skizzeneinsammeln, als Hilfsmitlel verstanden. Da gibt es noch mehr,

die in ihrer Zeit sich als Presse-Fotografen verstanden haben, wie etwa Weegee oder der fo­

tografierende Sozialwissenschaftler Lewis Hine. Sie werden heute hoch gehandelt auf dem

Kunstmarkt Das ist ein verriickter UmwertungsprozeB, der da stattfand. Es zeigt meiner Mei­

nung nach, daB dieses Verhaltnis von Kunst Dokumentation und Journalismus immer

mehrschichtig interpretierbar ist Fotografie ist gleichzeitig subjektiv und objektiv. Sie ist ob­

jektiv ein Ausschnitl aus der Wirklichkeit aber dieser Ausschnitl ist subjektiv gesucht und

wird immer subjektiv interpretiert Selbst wenn ich ein Dokumentarfotograf bin und alles

ganz "gerade" und "realistisch" darstelle, ob ich die Kamera drei Zentimeter nach links oder

nach rechts riicke, ist schon meine Entscheidung. Es gibt sogar MeBbilder aus dem letzten

Jahrhundert die als Norm der ingenieurtechnischen Genauigkeit gelten und dennoch eine

eigenstandige Asthetik besitzen. Es vermischen sich da ganz verschiedene Dinge in der Fo­

tografie, das Technische und das Dokumentarische mit dem sehr Sinnlichen. Das ist fUr mich

etwas sehr Aufregendes.

ST.: Wenn Sie sagen, daB auch MeBbilder eine sehr klare Linie haben in der Asthetik, dann

ist das natiirlich das, was in der Moderne postuliert wurde, die Form leitet sich aus der Funk­

tion ab und es sollte nicht einfach eine Form iiber eine Funktion iibergestiilpt werden. Es

gibt verschiedene Moglichkeiten in der Kunst zwei wesentliche Richtungen. Die eine, die

sich sozusagen auf das Wesentliche und auf genaue Proportionen konzentriert wahrend

die andere den OberfluB, das Verspielte, das Manieristische bevorzugt - also derWiderspruch

zwischen klassischer Reduktion und manieristischem OberfluB. Bei der Fotografie, die eher

dem Dokumentarischen zugeordnet ist ist dies jetzt schwieriger geworden, zumal wenn

Farben eine Rolle spielen. AuBerdem gibt es moderne Formen der Bildverarbeitung, wo je-

Bilder und ihre Hintergrlinde 23

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der jetzt an seinem PC im Prinzip mit allen Formen oder Grundformen von Bildern etwas

Neues schaffen kann. So hat man jetzt ein neues Medium um frei zu schaffen, aber man

verliert naturlich das dokumentarische Element und die neu erstellte Botschaft wird unter

Umstanden noch "propagandistischer" als das strikte "reine" Fotografieren und Abbilden von

dem, was ist, obwohl manchmal die Wirklichkeit schon als Propaganda schreit

H.: Ich verfolge die Prozesse in der Bilddigitalisierung mit groBer Spannung. Aber ich den­

ke, daB gerade im Zuge der absoluten Inflationierung der beliebigen Bildwelten das doku­

mentarische Foto, das als "subjektives Dokumenf gewollt ist, sehr an Wert gewinnt Es ent­

steht eine neue Form von BewuBtsein fur das Original.

ST.: Fur das Authentische?

H.: Ja. Wenn ich mir anschaue, womit in diesen digitalen Zeitschriftenwelten geworben wird ...

ST.: .. .sie sehen es ja an jeder Wand als Reklame ...

H.: Ich bin nicht dagegen, die Bilder digital abzuspeichern und schneller verwertbar zu ma­

chen, und denke, wir als Fotografen haben da immer noch eine wichtige Funktion, das macht

uns nicht brotlos. Wir liefern das Rohmaterial - wenn wir das wollen.

Diese unbearbeiteten Fotos haben eine eigene Kraft. Es ist nicht alles perfekt bei den

Fotos, die in diesem Band sind, sondern sie sind wie das Leben: manchmal sehr durchein­

ander; sie versuchen ein biBchen zu sortieren, die Atmosphare einzufangen.

ST.: In einem anderen Zusammenhang, in dem Fotoband von Jindrich Streit, stand, daB sei­

ne Bilder - die Bilder stammen aus dem Dorfleben mit dem TIlel "Das Dorf ist eine globale

Welt" - gerade Soziologen begeistern, weil sie u.U. durch diese Bildwelt etwas sehr viel kon­

zentrierter ausgedruckt bekommen, als sie selbst durch Tabellen, durch Monographien oder

auch Fallstudien darstellen konnen. Und es wird weiter darauf hingewiesen, es sei gerade

das Interessante, daB obwohl solche Botschaften in den Bildern seien, es immer noch et­

was anderes gebe, es sei das Betorende. Sind Bilder betorend? Wollen Sie betoren?

H.: Will ich betoren? Schwierige Frage. Aber vielleicht schon. Ja, betoren nicht in dem Sin­

ne von Eitelkeit, also durch meine Originalitat, sondern ich mochte gerne betoren durch das,

was ich gesehen habe, und andere aufmerksam machen. Oft betort mich das Leben.

ST.: Was andere nicht gesehen haben, das wollen Sie aufzeigen?

H.: Ja, und wenn das passiert, kriegt man hin und wieder eine ROckmeldung. Das ist mir

so passiert in Borna, einer kleinen Stadt sudlich von Leipzig, als ich Dias zeigte. Es ging um

Stadtsanierung in einer BOrgerversammlung und die Stadtplanerinnen erzahlten dazu - da­

nach kam ein alterer Herr zu mir und fragte mich, wie lange ich denn im Ort gewesen wa­

re, denn ich hatte Dinge entdeckt, die er Zeit seines Lebens dort noch nicht gesehen habe.

Das ist dann etwas ganz Tolles, wenn mir das passiert

ST.: Das ist also sozusagen die persuasive Dimension, also Oberzeugungsarbeit, aber im

Sinne eines demokratischen Elements, wie Sie sagen. Sie wollen mit diesem Bild schon uber-

24 WENDELIN STRUBELT UND JURGEN HOHMUTH

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zeugen, etwas erreichen, eine Oberzeugung erreichen, aber auch Augen offnen?

H.: Nein, anders. Ich will mein eigenes Bild der Welt so wie ich die Welt sehe, gerne wei­

tergeben und wenn andere das erkennen und annehmen konnen ...

ST.: ... oder auch anders sehen ...

H.: ... und etwas Neues entdecken konnen, dann ist das ein gutes Gefiihl.

ST.: Und diese Form von Bildern oder von Freiheit des Sehens, die gab es vorher in der DDR

nicht auBer in den Zirkeln, die Sie benannt haben?

H.: Ja, es gab sicher ein Defizit Vielleicht ist auch deswegen bei den Leuten aus der DDR

so eine bestimmte Sensibilisierung dafiir da. Ein Freund und Kollege von mir (Klaus Ihlau:

"Kirschpfliicken in Weissack") ist mit Ton-Dia-Shows durch Jugendclubs, Kulturhauser und

Altenheime gezogen und hat tiber das Verschwinden eines Dorfes durch den Braunkohle­

tagebau berichtet Er hat wunderbar poetisch dariiber erzahlt - einfach tiber diesen Wech­

sel, den Heimatverlust die Trauer. Das wurde offiziell nie veroffentlicht aber er hat damit

sicher einige tausend Leute erreicht

ST.: Also ein weiteres Beispiel dafiir, daB die Geschichte der inneren Bildwirklichkeit der

DDR noch zu schreiben und auch aufzunehmen ist?

H.: Ja genau. Unabhangig von Kunstanspriichen, sondern durchaus unter diesem vermi­

schenden Aspekt: Journalismus, Sozialfotografie und Kunst Wobei ich mit Kunst immer vor­

sichtig bin, weil das sehr leicht mit Asthetizismus verwechselt wird.

ST.: Also eher mit I'art pour I'art wenn auch ein gewisser SchuB Asthetizismus immer ganz

gut ist denn dann stimmen namlich die Proportion en.

H.: Gut Aber ich will es nicht an der Kunst festmachen, sondern mehr an den Inhalten.

Und an einfach qualitativ hochwertiger Fotografie.

ST.: 1st denn die offizielle Fotografie, die es in der DDR gab, eher eine orthodoxe Interpre­

tation von Prinzipien der Asthetik, wenn man zuriickgreift auf die Arbeiterfotografie oder

auf Heartfield? Kann sie so gesehen werden?

H.: Nein. Heartfield hatja eine ganz andere Dimension gehabt Er hat das Widerspriichliche

in Fotos mit seinen Collagen weit iibertroffen. Sehr bewuBt Die Arbeiterfotografie schon eher.

ST.: Ja aber die Anfiinge in der DDR, von 1945 bis 1949, Anfang der 50er Jahre, da gab es

ja immer noch Riickgriffe, sogar mehr als in der Bundesrepublik, auf diese kiinstlerischen

Produktionen der mit der Arbeiterklasse sympathisierenden Ktinstler, es war ja nicht die Ar­

beiterklasse selbst

H.: Es war vielschichtig, auch in der kleinen DDR, aber das, was in den groBen Wochen­

zeitschriften passierte, war der Versuch, handwerklich gute Reportagen, guten Journalismus

zu machen. Dahinter standen natiirlich bestimmte Inhalte, die einfach vorgegeben waren.

Das ist meiner Meinung nach heute in den groBen Magazinen nicht viel anders.

ST.: Sie meinen jetzt in den groBen Publikumszeitschriften?

Bilder und ihre Hintergriinde 25

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H.: Ja.

ST.: Da macht Burda die eine Richtung mit der Bunten und Bertelsmann macht mit dem

Stern eine andere und der Focus und Spiegel geben je nachdem wieder andere Botschaften.

H.: Wenn die Kollegen losgeschickt werden, eine bestimmte Reportage zu machen, dann

miissen sie im Kopf haben, fi.ir welche Zeitung sie unterwegs sind, urn gedruckt zu werden.

ST.: Also sie miissen die Botschaft der Zeitung und die Orientierung der Zeitschrifi, die sie

dann auch fotografisch umsetzen sollen, kennen.

H.: In der Regel ist auch der Gestus der Fotos letztlich durch den Inhalt des Artikels vor­

gegeben, d.h. meistens illustrieren die Fotos einen bestimmten Inhalt und der ist von vorn­

herein klar.

ST.: Wo gibt es denn das andere? Wo gibt es denn, daB die Fotos fi.ir sich sprechen und fi.ir

sich eine Botschaft formulieren nach dem Motto: "Beniitze Fotos als Waffe" von John Heart­

field, wo gibt's das? Sei es nun als Hammer oder als Florett?

H.: Der klassische Fotojournalismus ist tot glaube ich. Man wird mir jetzt sicher diese Be­

hauptung widerlegen konnen mit einzelnen Reportagen. Die Magazine, die Wochenend­

magazine der groBen Zeitungen, der FAZ, der Siiddeutschen und der Zeit die praktizieren

das noch vereinzelt Aus der Schweiz, z. B. die Zeitschrift "du", und den Vereinigten Staaten

kenne ich auch Beispiele. Aber ich halte das fi.ir Ausnahmen. Ich will aber auch nicht ver­

schweigen, daB es sehr junge, moderne Zeitschriften gibt wie .Max", die eine ganz andere

neue Art von Fotografie fordern und betreiben, spannend und interessant Dort entstehen

in der Symbiose von Fotografie und Graphik am Computer neue Bildsprachen. Ich lese sie

nicht weil ich den Redaktionsteil und die Werbung schwer auseinanderhalten kann. Sieht

aber gut aus.

ST.: Wie ist es mit einer Zeitschrift wie GEO, die eine deutsche Variante der National Geo­

graphic ist?

H.: Mit GEO habe ich meine eigenen Erfahrungen gemacht Da darf die soziale Kompo­

nente oder die Harte einer Naturzerstorung ein bestimmtes AusmaB in einem Heft nicht

iiberschreiten. Es wird streng selektiert

ST.: Solange es iiberhaupt vorkommt kann man ja auch zufrieden sein.

H.: Ich will das nicht verurteilen. Ich sehe nur die Welt ein bir3chen anders.

ST.: Aber es ist doch ein ganz merkwurdiges Phanomen, daB in den Medien, die die Foto­

grafie einsetzen, das aufklarerische Element der Fotografie immer mehr zuruckgedrangt wird,

weniger vorkommt und weniger goutiert wird. Demgegenuber interessieren sich jetzt So­

zialwissenschaftler dafur, was die Fotografie an Erfahrungen bringen oder an Kondensie­

rungen der sozialen Wirklichkeit leisten kann, die die Soziologie oder Sozialwissenschaft

nur sehr umstandlich, nur sehr schwer - und vor allem nicht fUr die Aligemeinheit gleich

einsichtig und gleich verstandlich - ausdrucken kann.

26 WENDELIN STRUBELT UND JURGEN HOHMUTH

Page 30: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

H.: Da gibt es vielleicht zwei GrOnde. Was es der Sozialwissenschaft bringen kann, kon­

nen Sie besser erklaren. Es ist eigentlich ahnlich wie in der DDR, diese Art Fotografie fehlt

in den Zeitschriften. Um es Oberspitzt zu sagen, die Wirklichkeit suchende, unvoreinge­

nommene Fotografie ist ein Mangel. Und ich weiB, daB Architekten und Stadtplaner z.T. sehr

bewuBt mit Fotografien umgehen und wenn es jetzt bei den Sozialwissenschaftlern auch

eine neue Aufmerksamkeit dafOr gibt hat das vielleicht den Grund, daB diese Fotos in den

Medien fehlen. GEO verfolgt eigentlich ein ganz klassisches Prinzip. Es wird erzahlt wie

schon bunt und exotisch die Welt ist Der Unterschied zu frOher ist daB wir heute Ober die­

sen Schritt hinaus gehen konnten. Es gibt viele Menschen, die diese Orte schon gesehen

haben und sie nehmen dann immer noch mit einer gewissen Freude zur Kenntnis, daB die

Welt bunt und exotisch ist Gleichzeitig wissen aber aile, es geht dort auch anders ZU; nicht

nur bunt sondern oft ziemlich hart Selbst die groBen Stern-Reportagen zeigen die Welt als

Holle oder Paradies. FOr mich liegt die Wirklichkeit dazwischen. Sie ist eine sehr aufregen­

de Mischung daraus. Das ist ein selbstlaufender Kreislaufzwischen Leserumfragen fOrWer­

bekunden, und dem, was die Journalisten fOr interessant halten. Der Konkurrenzkampfzwi­

schen den Journalisten ist ein weiteres sehr wichtiges Element Die Zeitschriften pragen be­

stimmte Seh- und Lesegewohnheiten. Deshalb bin ich verblOfft, wie oft ich bei meiner

"Meckerei" Ober die Medien Zustimmung bekomme. Andererseits haben die wenigen gut

gemachten Zeitschriften groBe Absatzprobleme.

ST.: Aber allenthalben, gerade auch bei den politisch "Machtigen" wird die Macht des Bil­

des, des wie auch immer authentischen Bildes, als sehr hoch eingeschatzt 1m Hinblick auf

Foto und Film ist im WOstenkrieg gegen den lrak gesagt worden, daB er fOr die Offentlich­

keit gemacht und absolut gesteuert worden ist Man hat im Unterschied zum Vietnam-Krieg,

wo man den Reportern freie Bahn gelassen hat und im Prinzip sich damit selbst bildlich

gesprochen, ins Bein geschossen hat hier klar die Bilder gesteuert Also die Macht der Bil­

der wird akzeptiert und genutzt

H.: Es wird ja auch behauptet daB der Vietnam-Krieg anders verlaufen ware, wenn keine

Journalisten, besonders Foto-Journalisten, dabei gewesen waren. Beim Golf-Krieg haben die

Amerikaner daraus gelernt Das unterstreicht die These, im Kopf laufen Prozesse ab, non­

verbal: Wir reagieren auf Bilder und wir wissen nur nicht genau wie! Das ist ja auch der

Grund, weshalb die Werbung uns weniger mit SprOchen, sondern mit Bildern Oberhauft

und weshalb so viel Geld in die Bildverarbeitung flieBt also in das Manipulieren der Bilder.

Das unterstreicht den Wert des Dokumentarischen, wenn versucht wird, das Dokumentari­

sche aufzubrechen und zu negieren. Es wird ja auch regelmaBig wieder behauptet die Foto­

grafie sei tot

ST.: Oder ein abgelutschtes Medium.

H.: Genau, aber ich glaube, daB stehende, wirklich ganz bewuBt stehende Bilder, also nicht

Bilder und ihre Hintergrunde 27

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die laufenden, eine eigene Kraft haben und wenn wir uns den geschnittenen Video-Clip an­

schauen, dann sind das oft einzelne Bilder, die sich tief in unser BewuBtsein einpragen.

ST.: Ich habe den Eindruck, daB aile mit den Bildern manipulieren. Es manipulieren nicht

nur die Regierungsverantwortlichen oder die an bestimmte Interessen Gebundenen, wie z.B.

der militarische Zensor damals im Golf-Krieg, sondern es manipuliert ja ahnlich z.B. auch

Alexander Kluge, indem er vor kurzem Bilder von Tschernobyl, Ober die Wirkung von Tscher­

nobyl. veroffentlicht hat unter Nutzung von Fotografien eines Russens, die dieser fOr ganz

andere Zwecke und mit ganz anderen zeitlichen Dimensionen gemacht hat Er hat sich sehr

beklagt daB Kluge, ohne ihn zu fragen, diese Fotos manipuliert hat urn auf die Gefahren

der Atomkraft hinzuweisen, was durch diese Bilder real nicht abgedeckt wurde.

H.: Eines passiert kaum mit Bildern: Ein wertfreier Umgang, einfach schauen, was ist denn

wirklich da passiert Das hat viel mit Gewohnheiten zu tun. Wir sind es nicht gewohnt Bil­

der zu sehen, ohne daB uns eine Meinung manipuliert werden 5011. Andererseits fOhren Bil­

der ein Eigenleben, wenn der Fotograf sie herausgegeben hat ist keine Kontrolle da, was

denkt der Betrachter sich, was fOhlt er?

ST.: Aber die Bilderdarstellungen auf den Kirchenfenstern, gemalten Kirchenfenstern der

Gotik, waren ja auch Manipulation und sie hatten enorme Wirkung. Oder - um eine per­

sonliche Erfahrung zu nehmen - die Bilder, die ich in KinderbOchern gesehen habe oder in

BOchern, die ganz bestimmte historische Dimensionen darstellen wollten, Szenen aus der

deutschen Geschichte ( .. Deutsche Kulturbilder", 1934), das waren auch alles schon mani­

pulierte Bilder. Wirklichkeit ist das nie gewesen.

H.: Ich glaube, daB es ganz schwer fcillt mit ,,wirklichkeit" umzugehen.

ST.: Vielleicht wollen wir das gar nicht

H.: Ja, das konnte gut sein. Ich stelle immer wieder fest es gibt Fotografen mit erstaunli­

chen Bildern, die sind weitgehend unbekannt Ich glaube, es hat damit zu tun, daB es nicht

Mode ist und in kein Schema paBt Niemand kann es benutzen fOr einen bestimmten Zweck,

um zu sagen, seht her, so und so ist es und wir mOssen da und da gegen sein oder da und

da fOr. Solange sich Bilder nicht so benutzen lassen, ist ihre Verwendung ganz schwer. Und

das, was ich mit meinen Stadtfotos mache, ist auch eine LOcke. Also daB ich Nutzer gefun­

den habe, Stadtplaner und Sozialwissenschaftler, die mit Hilfe der Bilder genauer schauen

konnen, und diese sinnliche und differenzierte Sichtweise mit den Bildern weitergeben kon­

nen. Die Arbeit mit Iris Reuther und Marta Doehler, Stadtplanerinnen aus Leipzig, war in den

letzten Jahren sehr wichtig fOr mich.

ST.: Aber was ist dann letztendlich eine individuelle Wirkung? Wenn man selbst fotogra­

fiert z.B., also dann geht es mir so: Ich sehe eine Stadt ich sehe Stadtentwicklung und ich

sehe, wie sich Hauser wandeln, ich sehe, wie die Nutzung, die Raumnutzung sich wandelt

und ich weiB, ich kann das zwar auch fotografieren mit meiner kleinen Klickklack, aber ich

28 WENDELIN STRUBELT UND JURGEN HOHMUTH

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kriege das nicht so gut hin. Ich brauche sozusagen ein professionelles Auge, weil ich selbst

nicht in der Professionalitat des Fotografierens trainiert bin. Ich bin trainiert, vielleicht zum

Verfassen eines Fragebogens und zum Auswerten eines Fragebogens, was Sie vielleicht nicht

so gut konnen, aber ich bin eben darauf angewiesen, daB jemand dieses auch in dem Sin­

ne "kongenial" fUr mich versucht mit dem Medium Fotografie. Ich glaube, das ist die

Beruhrung, die wir haben zwischen den Sozialwissenschaftlern und den Fotografen, wobei

es andererseits so ist daB in der Hervorhebung bestimmter Sujets, sei es architektonischer

oder sozialer Ereignisse, natUrlich auch der Fotograf dem Sozialwissenschaftler sozusagen

Blickrichtungen weisen kann, die er selbst nicht hat Ganz abgesehen davon, daB er sie vie 1-

leicht gar nicht sieht Es gibt ja das schone Wort von dem Volkskundler oder Sozialanthro­

pologen, der in einem Dorf wohnt und eine Dorfstudie macht mit teilnehmender Beobach­

tung, indem er sich auf seinen Balkon setzt und teilnahmslos beobachtet

Die Sensibilitat fUrs Soziale ist auch nicht bei allen Sozialwissenschaftlern gegeben,

sondern es ist ein Berufwie jeder andere, den man mit Routine machen kann, urn sich selbst

beruhmt zu machen oder man macht es, urn ein bestimmtes Thema zu featuren und macht

das sein Leben lang, bleibt unbekannt unter Umstanden oder bleibt eine Randfigur, wah rend

andere auf dem Strom sehr elegant surfen und dadurch auch ihren Erfolg haben. Sozial­

wissenschaft ist also nicht per se eine engagierte Wissenschaft. Genauso wie Fotografie nicht

per se eine engagierte Kunst ist

Haben wir nun mit diesen Bildern den Umbruch erfaBt wenn Sie das jetzt so ruck­

blickend sehen vor Ihrem eigenen Hintergrund an Erfahrung? Sie haben ja den Um­

bruch selbst radikaler erlebt als wir es erlebt haben, wei! wir ja nur einen Teil der Ent­

wicklung der fruheren DDR beobachtet haben. Gut wir sind gereist kennen die DDR

zum Tei! auch noch aus fruherer Kenntnis. Viele haben auch fruher im Osten gelebt

die jetzt im Westen Ie ben und insofern gibt es ein allgemeines Image, das viele Leute

aus Westdeutschland gegenuber der Entwicklung in Ostdeutschland haben. Meinen Sie,

daB wir mit Ihren Bildern sozusagen das erfaBt haben, was Ihr Auge authentisch er­

fassen konnte?

H.: Ja, das ist die Frage, was kann mein Auge authentisch erfassen - und dann ist im ent­

scheidenden Moment der Film zu Ende. Also ich bin seiber befangen und vielleicht war es

ganz gut daB ich in den Jahren dazwischen fUr dieses Buchprojekt nicht fotografiert habe.

1988 bis Mitte 1990 sind die Fotos des ersten Teils entstanden, der zweite Teil 1995 und

1996. In der Zwischenzeit sind bei mir privat und beruflich aile moglichen Veranderungen

passiert mit groBen Verunsicherungen und Umbruchen. Da ist es schwierig, das immer um­

zusetzen und ich kenne auch nicht viele Ost-Kollegen, die das gut geschafft haben. Ulrich

Wust hat zwei eindrucksvolle Arbeiten in Galerien gezeigt Er hat in schlichtem Stilleben

eindrucksvoll Geschichte erzahlt

Bilder und ihre Hintergriinde 29

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Mit meinen zwei Kollegen von "leitOrt Bilddokumentation" versuche ich, den Umbau

von Berlins Mitte in sachlichen GroBformatbildern festzuhalten. Das sind solche Versuche.

ST.: Haben es denn westliche Kollegen gezeigt - Ihrer Meinung nach?

H.: Also es feillt mir auf Anhieb niemand ein. Ich habe eine Serie gesehen von zwei Foto­

grafen, die haben Leute im Harz fotografiert in dieser Wendezeit sie irgendwohin gestellt

und das war wirklich gut Wie alles Gute war das sehr schlicht

ST.: Es gibt einige Fotobande inzwischen Ober den Wandel. aber interessanter Weise hab

ich von unserem Verleger, Herrn Budrich, gehOrt daB diese Bande, die eher authentisch sind,

wie Blei in den Buchladen, insbesondere in der frOheren DDR. liegen. Wahrend die "scho­

nen" Fotobande, etwa Vorpommern in Bild und "Ton" oder das schone Rostock, die histo­

risch und schon bunt und mit untergehender Sonne arbeiten, vor blauem Himmel und blau­

em Meer, und alles ausklammern, was unliebsam ist also streng genommen manipulative

Fotografie sind, gut verkauft werden. Sowohl bei den Einwohnern, den .. eingeborenen" Be­

troffenen, wie auch den touristischen Besuchern.

H.: Das wOrde natorlich nicht nur die Frage nach sich ziehen, ob die Leute belogen wer­

den wollen, sondern ob vielleicht unser Bild von der Welt nicht stimmt?

ST.: Richtig.

H.: Vielleicht haben wir ein sehr problembezogenes Bild von der Welt Ich glaube das aber

nicht Mich wOrde sehr interessieren, ein Buch Ober eine Stadt zu machen, wo ich beides

zeigen kann und womit die Bewohner sich identifizieren konnen und sagen: Ja, das ist

meine Stadt und sich trauen wOrden, es dem Onkel in Amerika zu schicken. Die Mischung

ist interessant

ST.: Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, haben wir denn nun, Sie insbesondere

mit Ihren Bildern, den Wandel der Stadte getroffen?

H.: Ich wOrde mich freuen, wenn in den Fotos der Wandel der Atmosphare spOrbar

wird. Das ist fOr mich das einpragsamste, nachdem ich die Stadte wieder aufgesucht habe

Ober die Jahre. Es weht ein anderer Geist jetzt in diesen Stadten. Das ist fOr mich deutlich

zu spOren.

ST.: Was heiBt anderer Geist? 1st es, daB andere Autos fahren und Werbetafeln hangen und

viele Baustellen vorhanden sind und natOrlich auch die Leute anders angezogen sind in­

zwischen - ist es das? Was ist das?

H.: Ich kann es nur mit anderer Atmosphare beschreiben. Es sind andere Gerausche, an­

dere Musik, andere GerOche, andere Bewegungsmuster. Es ist die Summe dessen, was wir

mit unseren Sinnesorganen wahrnehmen. Die grobe Stadtstruktur ist geblieben. Und auf

den Bildern sieht man, daB es verblOffend wenig neue Hauser gibt Und daB auch noch gar

nicht so viele neu angestrichen sind. Aber man nimmt es an. Das hat mich seiber verblOfft

auf den Fotos, man nimmt es seiber anders wahr. Ich meine, wir spOren das Neue, es drangt

30 WENDELIN STRUBELT UND jURGEN HOHMUTH

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sich in den Mittelpunkt Und das ist es" was ich verbal schwer beschreiben kann. Abgese­

hen davon bin ich kein so guter Redner, deshalb fotografiere ich.

ST.: Nun ist das Wahrnehmen insgesamt immer sehr stark davon abhangig, was man selbst

fur eine Fragestellung hat Aile Antworten, aile Interpretationen hangen von der Fragestel­

lung abo Und die ist nie wertfrei, sondern hangt immer davon ab, wie gefragt wird und wie

man dann die Beantwortung interpretiert Das Wissenschaftliche oder das Objektive liegt

eben darin, daB man moglichst das, was man selbst als Fragestellung und Fragerichtung

hat auch offen legt damit jeder, der will, das nachvollziehen kann. So kann iiberpriift wer­

den, ob das die richtige Fragestellung ist ob man sie hatte anders stellen miissen. So ist die

"Botschafi", die man als Ergebnis der Analyse hat eben nicht nur manipulativ, sondern sie

bietet die Moglichkeit das nachzuvollziehen oder zu widerlegen. Und insofern, glaube ich,

sollte man moglichstviele Fotografien machen, aus ganz unterschiedlichen Richtungen und

mit unterschiedlichen Sichtweisen, weil man dann vielleicht wenn man verschiedene Quel­

len hat auch fur sich jeweils die Freiheit hat Urteile neu und eigenstandig zu fallen. Ich

meine, im Prinzip sollte es nicht nur Fotos geben von den Professionellen, sondern es 5011-

ten z.B. die Kinder fotografieren und es sollten aile fotografieren, denn das sind alles ei­

genstandige soziale Wahrnehmungen.

H.: Jetzt haben wir doch fast ein schOnes SchluBwort Dann miiBte es ganz viele Sozial­

wissenschaftler geben, die sich damit befassen, es gibt schon so viele Fotografien. Und

Fotoamateure fotografieren meist Sonnenuntergange, lachende Kinder, exotische Lander

und Familienfeiern. Such en Sie nach Alltag, finden Sie wenig. Es ist spannend, Kinder mit

einer Kamera durch die Gegend zu schicken: "Nehmt ganz bewuBt eure Umgebung auf!"

Es gibt Projekte in Entwicklungslandern, interessante Projekte, bei denen selbstgemachte

Fotowandzeitungen die Schriftzeitung ersetzen. Jeder kann die Inhalte "Iesen".

ST.: Enorme Mengen an Material. Das ist eine Art offener Dialog, der gefiihrt wird. Ich mei­

ne, ich kenne das aus friiheren Zusammenhangen, als die Soziologen mit den Architekten

zusammenarbeiteten, weil die Architekten der Meinung waren, es geniige nicht wenn ich

mir etwas vo rste lie, sondern ich muB auch wissen, was die Leute brauchen. Und dazu

brauchten sie die Soziologen, urn ihnen zu sagen, was die soziale Wirklichkeit sei. Der Punkt

war, als zu diesem Zeitpunkt die Soziologen herausgefordert waren, da haben sie sich natiir­

lich auch interessiert was Architektur oder Stadtplanung ist und haben dann gesagt aha,

das konnte man so oder so machen. Das Resultat war leider, daB aus dieser Diskussion kein

Dialog geworden ist sondern die Soziologen sind zu Amateurarchitekten geworden und die

Architekten sind zu Amateursoziologen geworden. Es hat keine richtige Kommunikation ge­

geben. Das ist finde ich, auch im Hinblick auf die Fotografie so wichtig. Ich glaube, wenn

ein Sozialwissenschaftler meint er wiirde mit Fotografie die Realitat besser erfassen als mit

Fragebogen oder mit einem offenen Interview, er einer Illusion unterliegt Er muB genau wis-

Bilder und ihre Hintergrunde 31

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sen, was sind die Fragestellungen, was ist sozusagen die beste Methode fOr die und die Fra­

gestellung. Und daruber gibt es insgesamt, glaube ich, noch viel zu wenig Erkenntnisse und

viel zu wenig dialogisches Verhalten.

H.: Ja, Dialog auch mit Fotos, ware eine neue Qualitat, weil ich erlebe, daB ganz unter­

schiedliche Sprachen existieren. Also Soziologen haben eine eigene, Stadtplaner haben ei­

ne eigene, Politiker haben eine eigene, und Arbeitslose haben eine eigene Sprache und ai­

le reden ganz oft aneinander vorbei. Mit Bildern passiert das viel weniger, entweder ist der

Gegenstand klar abgebildet oder er ist unscharf.

ST.: Das Problem ist, daB die unterschiedlichen Ebenen der Wahrnehmung relativ wenig

miteinander kommunizieren, sondern sie werden nur miteinander kommuniziert uber einen

Mittler und das ist heutzutage in aller Regel der Journalist

H.: Und der ist wiederum an einer moglichst starken Auflage oder Einschaltquote interes­

siert bzw. wird daran interessiert, sonst kriegt er keinen Auftrag mehr.

ST.: Er ist an der Aufmerksamkeit interessiert. ..

H.: Das klingt netter.

ST.: Und das ist das groBe Problem, glaube ich, daB dieser authentische Umgang oder Dia­

log fehlt Wir sind vermittelt uber Medien unterschiedlichster Art, und wir reden aile uber

Mittler, aber wir reden nicht miteinander.

H.: Aber dieser ProzeB, uber den wir reden, dieser Dialog, der ware wirklich anstrengend.

ST.: Der ist anstrengend. Aber es muB auch kompakte Informationen geben. Der Punkt ist,

daB diese kompakten Informationen in aller Regel schon tendenzios sind. Das Nuchterne,

was dem Einzelnen abverlangt, daB er sich daruber seine eigene Meinung bildet, das ist

zeitraubend und arbeitsintensiv.

H.: Es wird ein neues Buch, was wir hier gerade im Gesprach produzieren.

ST.: Hoffentlich nicht, aber ich meine, wir nahern uns der Kernfrage, was kann man mit Bil­

dern in einem gesellschaftlichen Kontext machen, der enorm besetzt ist von lauter ready­

made Interpretation. Und der davon gepragt ist, urn noch einen Neogermanismus zu be­

nutzen, von fast food in jeder Hinsicht Wohingegen das Nachdenkliche, das Interpretative

an sich nicht das Gefragte ist Vielleicht ist der Anspruch zu hoch, aber die vielen Anspruche

verhalten sich oft ebenso manipulativ. Deswegen hat mich auch das Beispiel von Kluge so

erschreckt, daB solche Leute, die fOr sich in Anspruch nehmen, eher das autk.larerische Ele­

ment vertreten, daB die genauso agieren. Man man daraus einen sozialkritischen, auch ei­

nen gesellschaftlich resignativen SchluB ziehen! Aber man sollte dies nicht tun, sondern

zum SchluB kommen: Seiber machen, seiber tun, sich nicht beirren lassen, immer offen sein.

H.: Ja und in kleinen, uberschaubaren Einheiten agieren. Also nicht versuchen, die groBen

Magazine zu verandern, sondern diesen ProzeB des Dialoges, den wir beschrieben haben,

in Wohngebieten zu fOhren oder bei Stadtteilplanungen, bei Rahmenplanungen, immer da,

32 WENDELIN STRUBELT UND JORGEN HOHMUTH

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wo es die Leute seiber betriffi, um ihnen eine Chance zu geben, einzugreifen, und dies nicht

nur verbal. Da gibt es sofort die BerufsbOrger, die 20 in jeder Gegend, wenn es Oberhaupt

so viele sind, die zu jeder Versammlung kommen und natOrlich ganz eigene spezielle In­

teressen haben, wah rend dessen etwa die weiteren 8.000, die da noch wohnen, die kom­

men eben nicht Und mit denen nicht nur verbal zu kommunizieren, viele von denen wol­

len auch gar nicht reden, sondern zu versuchen, andere Kommunikationswege zu finden

- das ist notwendig. Das konnten zum Beispiel Bilder sein. Die Kraft, die Bilder haben, ein­

fach mehr anzuerkennen und damit zu arbeiten. Und wir tun das ja eigentlich auch.

ST.: Ja, aber wir packen es natorlich auch jetzt auf einer etwas hOheren, losgelosten Ebene

an, eben nicht in der Nachbarschaft, sondern wir haben den Versuch an drei Stadten ge­

wagt, weil wir den Vorlauf aus der Hochschule in Weimar hatten. Vielleicht haben sich an­

dere an der Kunsthochschule in Berlin-WeiBensee auch mit solchen Sachen beschaftigt

Vielleicht gibt es auch ein Parallelbuch, wir wissen es nicht Es ware schon, wenn es das ge­

ben wOrde. Wir haben aus einem gegebenen Ansatz versucht, etwas Systematisches zu ma­

chen. Herausgekommen ist ein fotografischer Essay, der zwar aile typischen Stadtraume um­

faBt und Ober eine nicht unwesentliche Zeit hinweg beobachtet, aber es ist nur stockweise

ein analytischer Ansatz. Es ist und bleibt ein Zugriff, der dem Betrachter und dem Leser viele

Spielraume fOr eigene Interpretationen offen laBt Und das ist gut so. Es ist ein Versuch, dem

weitere folgen sollten, um diese wichtige Phase der deutschen Entwicklung angemessen zu

dokumentieren und darzustellen. Gefordert sind moglichst viele Blickwinkel. um die Kom­

plexitat des Ganzen so zu erfassen, daB sie auch anderen nachvollziehbar wird.

Bilder und ihre HintergrGnde 33

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UTERATtJR

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Strand, Paul/ Davidson, Basil: Das Land der Graser. Die Ausseren Hebriden. Dresden:

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34 WENDELIN STRUBELT UND JURGEN HOHMUTH

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Streit Jindrich: Vesnice je svet Das Dorf ist eine globale Welt Prag: Arcadia 1993

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Wiist Ulrich: AbschluBball. Mit einem VOIWOrt von Enno Kaufmann. Katalog. Berlin: Neue Gesellschaft Bildende Kunst 1993

Zille, Heinrich: Berlin urn die Jahrhundertwende. Miinchen: Schirmer/Mosel 1993

Bilder und ihre Hintergriinde 35

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JENA. Eichplatz. 1995

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DIE INNENSTADTE Fotografien

JOrgen Hohmuth

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JENA. Blick auf den "Uni·Turm". 1995

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JENA. Blick zum Zeiss-Hauptwerk vom Holzmarkl 1995

39

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lENA. Ernst-Thalmann-Ring. 1988

40

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JENA. Uibdergraben. 1995

41

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JENA. Marktplatz. 1995

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lENA. Marktplatz. 1988

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WEIMAR. HerderpJatz. 1995

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DESSAU. Zentraler Platz. 1995

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WEIMAR. Eeke GeleitstraflelWielandstrafle. 1995

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WEIMAR. Rathenauplatz. 1995

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lENA. Zwatzengasse. 1988

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DESSAU. Kava lie rstra l3e. 1995

49

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DESSAU. lohannisstraBe. 1995

50

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WEIMAR. Rittergasse. 1995

51

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JENA. Neugasse. 1988

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WEIMAR. Marktplatz. 1995

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JENA. Oberlauengass~ 1995

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WEIMAR. KaufstraBe. 1995

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JENA. Eichplatz. 1995

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JENA. Platz der Kosmonauten. 1988

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Page 61: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

JENA. Platz der Kosmona uten. 1988

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FREMD SEHEN IN DER EIGENEN STADT

Dietmar Ebert

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REs gingen immer Leute durch die Innenstadt; und es war nie hastig, aber die In­

nenstadt lebte einfach", erinnert sich Bernhard Wachter, emeritierter Professor fur Kunst­

geschichte an der Friedrich-Schiller-Universitat Jena. Weiter erzahlt er Ober das alte Jena

vor dessen Zerstorung im Marz 1945: "Wenn man in Jena in die Stadt wollte, das bedeu­

tete: Innenstadt Das Au Ben, das waren entweder zweckgebundene Viertel. wie das SOd­

viertel, wo die Leute von Schott und Zeiss wohnten, oder die Zeiss-Siedlung und im West­

viertel die Akademiker. Aber die Funktion der Kommunikation hatte ganz ausschlieBlich

das Herz der Stadt das Stadtinnere" (Wachter 1996: 2).

Eben dort westlich des Marktplatzes, befindet sich seit 1972 ein freier Platz, auf dem

sich das Universitatshochhaus erhebt In den siebziger Jahren hieB er Zentraler Platz. Hier

berichteten Waleri Bykowski und Siegmund Jahn Ober ihren Flug ins Weltall. Wahrend ih­

res Fluges hatten sie die im VEB Carl Zeiss Jena entwickelte Multispektralkamera an Bord.

Mit deren Hilfe waren vom Weltraum aus Aufnahmen der Erde mit groBer Genauigkeit

moglich. Seit dieser Zeit hieB der Zentrale Platz "Platz der Kosmonauten".

Dieser Platz war durch seine riesigen Dimensionen fur Kampfgruppenaufmarsche und

GroBkundgebungen wie geschaffen. Zugleich war er von oben einsehbar. Von der Terrasse

uber der Thomas-Mann-Buchhandlung ist alles, was sich auf dem Platz bewegt genau zu

verfolgen. Zugleich konnte die Terrasse als Tribune genutzt werden. Aber nicht immer liefen

GroBkundgebungen nach dem von Partei- und Staatsorganen erdachten Szenario abo Bei

einer verordneten Friedensdemonstration gegen den NachrustungsdoppelbeschluB der

NATO im Jahre 1983 sollte auf genehmigten Transparenten und Spruchbandern gegen die

Stationierung von Raketen in Westeuropa protestiertwerden. Spontan traten wahrend dieser

Demonstration Mitglieder der Unabhangigen Jenaer Friedensgemeinschaft mit eigenen Mei­

nungen und Transparenten auf. Mutig verteidigten sie ihren Standpunkt und wandten sich

gegen die Aufstellung von Raketen in Ost und West So tragt der Platz auch die Spuren ihres

Mutes, selbst wenn viele von ihnen das Land verlassen muBten. Junge Leute, die das Land

verlassen wollten, fanden sich im Juni und Juli 1983 samstags 9.00 Uhr auf dem Zentralen

Platz zusammen. "Der uberwiegende Teil tragt weiBe Hemden oder T-Shirts, einige mit dem

Aufdruck 'JA' (Jenaer Ausreise oder Ja zu Westen). Man halt sich an den Handen, ein Kreis

entsteht der WeiBe Kreis'." (Schmidt 1996: 13) Das Ziel der Teilnehmer des "WeiHe Kreis"

bestand darin, nicht tatenlos zu warten, bis einer Ausreise in die BRD zugestimmt wurde,

sondern selbst aktiv zu werden, urn so rasch wie moglich die DDR verlassen zu konnen.

"Sicher ist daB via WeiBe Kreis' zirka 70 Einzelpersonen, Paare und Familien, teils nach kur­

zer Wartezeit in den Westen ubersiedelten." (Schmidt 1996: 15) Diese Beispiele mogen ver­

deutlichen, daB der Zentrale Platz, konzipiert fOr verordnete Demonstrationen, bei denen die

Massen jubelnd der Politik der SED zustimmen sollten, auch die Spuren des Widerstands

Andersdenkender und -handelnder gegen eine erstarrte Ordnung tragt

60 DIETMAR EBERT

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An den meisten Tagen des Jahres war jedoch der Platz vollig leer. Ein toter Ort mitten

in der Stadt an dem nichts passierte. So hat ihn Jiirgen Hohmuth 1988 fotografiert Drei

Passanten iiberqueren den Platz und verlieren sich in der Leere.

Ein Jahr spater zeigt dieser Platz ein vollig anderes Bild. SelbstbewuBt und engagiert

ist er von der Jenaer Bevolkerung in Besitz genom men worden. Die jungen demokratischen

Bewegungen artikulierten sich offentlich. Der Biirgerwille verschaffte sich nachhaltig GehOr.

Und es waren nicht nur die aktuellen Gebrechen eines zerfallenden Gemeinwesens, die da­

bei zur Sprache kamen. Erneut erwachte die Emporung iiber die 1969 erfolgte Sprengung

eines groBeren Areals des historischen Stadtzentrums, dem Biirger- und Geschaftshauser

in der LeutrastraBe und an der Siidseite der JohannisstraBe sowie der historische Eichplatz

zum Opfer fielen.

So wie in Leipzig die Universitatskirche gesprengt ein Teil des kulturellen Gedachtnis­

ses der Stadt ausgeloscht wurde, urn Raum zu schaffen fUr ein Universitatshochhaus, das

ein aufgeschlagenes Buch symbolisieren so lite, so wurde in Jena ein Stuck intakte Stadt­

struktur zerstort damit ein urspriinglich fUr den VEB Carl Zeiss Jena erbautes Forschungs­

hochhaus sich emporstrecken und aile anderen Gebaude der Stadt iiberragen konnte. Nach

seiner Fertigstellung wurde der Bau der Friedrich-Schiller-Universitat iibergeben, obwohl die

Innenraume denkbar ungeeignet sind, urn Arbeitsplatze fUr Wissenschaftler oder Instituts­

bibliotheken zu beherbergen.

So ist das Jenaer Universitatshochhaus neben dem Berliner Fernsehturm und dem Hoch­

haus der Leipziger Universitat eines der wenigen realisierten Gebaude, die auf markante

Weise die Theorie der Architektur als GroBplastik und Bildzeichen reprasentieren (vgl. Topf­

stedt 1988: 66t). Die Konzeption der Bildzeichen-Architektur wurde vor allem von Hermann

Henselmann verfochten. In der zweiten Halfte der sechziger Jahre sollten fUr die jeweiligen

Stadte typische Symbole in monumentale Architektur umgesetzt werden. Der Irrglaube, sich

auf der Seite des historischen Fortschritls zu befinden, verband sich mit der wahnwitzigen Vor­

stellung, die westlichen Lander in wenigen Jahren aufwissenschaftlich-technischem und wirt­

schaftlichem Niveau iiberholt zu haben. Dieser Fortschritlsglaube sollte in der Stadtgestaltung

sichtbar werden. Den meisten ostdeutschen Stadten ist dieses Schicksal erspart geblieben.

Jena hat in Gestalt des Universitatshochhauses sein Bildzeichen erhalten. Es symboli­

siert ein Fernrohr und dominiert durch seine Hohe. Vor allem nimmt es dem Turm der Stadt­

kirche St Michael seine bestimmende Gestalt die er zuvor im Ensemble der Jenaer Altstadt

inne hatte. Ais Bildzeichen sollte es die Symbiose von wissenschaftlichem und technischem

Fortschritt architektonisch verkorpern. Es sollte ausdriicken: Nichts ist dem Menschen un­

moglich. Der Griff nach den Sternen steht unmittelbar bevor.

Da die Umsetzung der Bildzeichen-Architektur in den Stadtzentren erfolgte, geschah

das auf gewaltsame Weise. Urn .Baufreiheit" zu schaffen, muBten historisch wertvolle Ge-

Fremd sehen in der eigenen Stadt 61

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lENA. Platz der Kosmonauten. 1988

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baude gesprengt werden. Das neu zu Schaffende wurde als das Bessere apostrophiert Das

ging mit der Nichtachtung historischer Gebaudesubstanz einher.

In Jena waren bereits viele historische Gebaude dem Bombenangriff 1945 zum Opfer

gefallen. Teile des Marktes, WeigelstraBe, Rathausgasse, LobderstraBe und (ollegiengasse

sowie Teile der Leutra- und JohannisstraBe wurden zerstort Erhalten geblieben waren groBe

Teile der Johannis- und LeutrastraBe sowie der historische Eichplatz. Leutra- und Johannis­

straBe waren GeschaftsstraBen, die von Westen her zum Markt fiihrten und voller Leben

waren. Der Eichplatz hatte seinen Namen nach einer machtigen Eiche, die neben dem 1883

von Adolf Donndorf geschaffenem Burschenschaftsdenkmal stand. Beide dominierten den

Eichplatz. Die Eiche muBte dem Bau des Universitatshochhauses weich en, das Burschen­

schaftsdenkmal befindet sich heute - eher unauffallig - vor der Nordseite des Univer­

sitatshauptgebaudes. Mit der Sprengung der Burger- und Geschaftshauser in der Leutra­

straBe und an der Sudseite der JohannisstraBe sowie der Zerstorung des Eichplatzes wur­

den nicht nur wertvolle Gebaude vernichtet, es wurde auch die Struktur der StraBen und

Platze, auf denen sich die Menschen in der Innenstadt bewegten, radikal verandert Und

es entstand der groBe Platz vor dem Universitatshochhaus, der meistens leer war, eine

Wunde im Herzen der Stadt

Die gewaltsame Umgestaltung der Jenaer Innenstadt ist von der Generation, die die

Stadt vor dem 2. Weltkrieg und der nachfolgenden Generation, die ihre Stadt mit den Nar­

ben der Bombenschaden, aber noch dem Rest der Altstadt kannte, schmerzhaft wahrge­

nom men worden. Darin zeigt sich die enge Beziehung, die zwischen Stadtgestalt und den

in der Stadt lebenden Menschen besteht

"Wenn zwischen den Hausern, den StraBen und den Gruppen ihrer Bewohner nur ei­

ne rein zufallige Beziehung von kurzer Dauer bestande, konnten die Menschen ihre Hau­

ser, ihre StraBenviertel. ihre Stadt zerstoren und auf demselben Grund eine andere Stadt

nach einem andersartigen Plan wieder aufbauen; aber wenn die Steine sich auch verset­

zen lassen, so kann man doch nicht ebenso leicht die Beziehungen verandern, die zwischen

den Steinen und den Menschen entstanden sind. Wenn eine menschliche Gruppe lange an

einem ihren Gewohnheiten angepaBten Ort lebt, richten sich nicht nur ihre Bewegungen,

sondern richtet sich auch ihr Denken nach der Foige der materiellen Bilder, die ihr die

auBeren Gegenstande darbieten. Man lasse nun diese Hauser, diese StraBen, diese Durch­

gange verschwinden oder teilweise verschwinden oder modifiziere ihre Anlage, ihre Form,

ihr Aussehen oder die Lage, die sie zueinander haben. Die Steine und Materialien werden

einem keinen Widerstand entgegensetzen. Die Gruppen aber werden Widerstand leisten,

und in ihnen wird man sich am Widerstand wenn nicht der Steine, so zumindest ihrer fruhe­

ren Anordnung stoBen. Zweifellos ist diese fruhere Anordnung das Werk einer Gruppe ge­

wesen. Was eine Gruppe gemacht hat, kann eine andere zerstoren. Aber die Absicht der

Fremd sehen in der eigenen Stadt 63

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Menschen von damals hat in einer materiellen Anordnung, d.h. in einer Sache Gestalt an­

genom men; und die Macht der lokalen Tradition entstammt dieser Sache, deren Bild sie

war." (Halbwachs 1985: 1331) Da viele Jenenser der alteren Generation das Stadtzentrum

vor dem 2. Weltkrieg und die Reste des alten Jena vor der Sprengung der historischen Ge­

baude 1969 als inneres Bild in sich tragen, haben sie zu diesem Bild ein ungebrochenes

Verhaltnis: Ein gebrochenes Verhaltnis besteht jedoch vielfach zu dem, was sie als auBere

Realitat wahrnehmen.

Diese Kraft der inneren Bilder, die Macht der lokalen Tradition, von der Maurice Halb­

wachs spricht mag eine Erklarung sein, warum inmitten der Demonstranten, der Transpa­

rente und Sprechchore im Herbst 1989 plotzlich der Eichplatz wieder auftauchte. Der Platz,

der 1969 keinen Widerstand leisten konnte, war zwanzig Jahre spater plotzlich im Wider­

stand der Gruppen lebendig und gegenwartig. Foigerichtig wurde im luge der Umbenen­

nungen der StraBen und Platze der Platz der Kosmonauten in Eichplatz umbenannt Die Je­

nenser hatten nun einen Eichplatz, aber ihren Eichplatz hatten sie nicht wieder.

Seit Beginn der neunziger Jahre ist dieser Platz nun an Markttagen belebt An unifor­

men Marktstanden bieten mobile Handler Billigprodukte an, man kann gleichsam "ambu­

lante GeschaftsstraBen" sehen, die tags daraufwiederverschwunden sind. Dann ist der Platz

so leer, wie auf JOrgen Hohmuths Fotografie aus dem Jahre 1988. Die Markthandler wei­

chen nur, wenn Altstadtfeste angesagt sind, und Riesenrad, Geisterbahn und Karussells den

Platz beherrschen. Dann wirkt die Brunnenplastik am FuBe des Universitatshochhauses noch

verlorener als sonst Dabei war sie lange leit der einzig belebte Ort auf dem riesigen Platz.

1m Sommer wurde er von jung und alt genutzt Kleine Kinder planschten darin herum, Stu­

denten saBen am Brunnenrand, ein Buch in der Hand, die FOBe im Wasser, und alte Leute

suchten in der Nahe des Brunnens KOhlung.

Mittlerweile ist die Anlage, die den Brunnen mit Wasser versorgte, defekt Urn das Geld

fOr die Reparatur der Brunnenanlage zu sparen, wurde auf Grund einer Festlegung der Stadt­

verwaltung das einstige Becken mit Erde aufgefOlit und rings urn die Plastik mit Blumen

bepflanzt Die Brunnenplastik, die eine OrchideenblOte symbolisiert erschien, solange sie

sich aus dem Wasser erhob, einladend und lebendig. Jetzt da sie von StiefmOtterchen oder

Geranien umgeben ist die lebendigen Blumen die stilisierte Metallblote doppeln, wirkt sie

erstarrt Mit dem Wasser ist das Anziehende und Lebendige der Brunnenplastik ver­

schwunden. Es sieht zwar "ordentlich" aus, aber kein Mensch bleibt mehr stehen, denn der

Brunnen wurde begraben.

Auch die Marktstande sind seit Sommer 1996 vom Platz verschwunden. 1m luge der

beginnenden Bebauung in der LobderstraBe sind sie in die JohannisstraBe abgewandert

Der riesige Platz dient nun als Parkplatz.

64 DIETMAR EBERT

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Wenn bisher das fehlende Zentrum und damit die Ausbildung eines urbanen Milieus,

das der Tradition Jenas entsprieht, konstatiert wurde, so stellt sich die Frage, wie das unver­

wechselbare Kulturklima in Jena vor dem 2. Weltkrieg zu beschreiben ist GewiB kann man

ein wenig von dem, wie das Leben im alten Jena funktioniert hat, auf historischen Fotogra­

fien erkennen, aber vieles, was den Alltag bestimmte und wie man die Stadt als sozio-kul­

turellen Raum genutzt und empfunden hat, laBt sich nur noch aus Lebenserinnerungen re­

konstruieren. Was war das Besondere, vielleicht sogar Geheimnisvolle, das die alten StraBen

und Gassen ausstrahlten? Ober die westlieh des Marktplatzes gelegene Rathausgasse, de­

ren nordlicher Fluchtpunkt der Turm der Stadtkirche St Michael war, erzahlt Bernhard Wach­

ter: "Die Rathausgasse hat mich als Knabe sehr fasziniert, schon wegen der Geruche. Ais

ich einmal im Orient war, dachte ich: Rathausgasse Jena. Da mischten sich die Dufte von

Textilien, von frischem Leder, das noch nicht ausgelUftet war, von Bonbons, SuBigkeiten und

von Gewurzen, es war ein seltsames Durcheinander und vie I Luft war ja in dieser engen

Gasse auch nicht drin. Aber obwohl sie doch so eng war, war eigentlich immer Betrieb da

drin, es waren uberall kleine Geschaftchen" (Wachter 1996: 1).

Das waren Erinnerungen an die Rathausgasse, die beim Bombenangriffvollstandig zer­

stort wurde. Verlief die Rathausgasse parallel zum Marktplatz in Nord-Sud-Riehtung, so bil­

deten Johannis- und LeutrastraBe von Westen her den Zugang zum Marktplatz.

"Die Leutra- und die JohannisstraBe, die waren das Herz des lebenden Verkehrs. Auf

dem Marktplatz kam man zum Stehen, aber dort war er lebend, allerdings nicht hastig ...

Auf der JohannisstraBe, und ieh kenn das ja nun als Pennaler, dort war der Bummel. Man

ging vom Johannistor zum Stadtkirchenturm und dann andersrum wieder rauf, auf der ei­

nen Seite die Gymnasiasten, Oberrealschuler nicht so viele, Gymnasiasten eigentlich aile,

auf der anderen Seite die Lyzeumsmadchen, man guckte mal rOber, da wurde man rot, oder

ein Madchen wurde rot, aber man drehte sieh auch rum, tat aber so, als ob man's nicht ta­

te. Das hatle seinen Reiz, vor allem in der Tanzstundenzeit Das war ein regelrechter Ritus,

und das gab der JohannisstraBe noch eine besondere Bedeutung .. " Die JohannisstraBe hat­

te lauter Geschafte, die waren frequentiert In der JohannisstraBe gab es von Backwaren bis

zur Brille alles zu kaufen, und es gab dort das Cafe Wienke, das nahezu provinzgroBstad­

tisches Flair verbreitete, weil da zwei oder drei mOde Streichinstrumentenspieler und ein

nicht mehr sehr frischer Klavierspieler waren, die machten mitunter ganz zarte und zag­

hafte Musik, wobei Tango das Dollste und Modernste uberhaupt war. '" Ja, das war die Jo­

hannisstraBe, wahrend die LeutrastraBe genauso wie die JohannisstraBe stark frequentiert

war. Dort gab es noch mehr Geschafte, und da gab es die Lederhandlung Rieken, es gab

Uhren und sonstwas, und es gab am Ende, nach dem Markt zu, rechterhand, das Cafe Ger­

mer, das beruhmteste in Jena, mit dem beruhmtesten Eis, wo man wenigstens einmal im

Jahr festlich Eis gegessen haben muBte .. ,. Aber selbst nach dem Kriege war noch einiges

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an Leben vorhanden in Leutra- und JohannisstraBe, denn sie sind zum erheblichen Teil ja

stehen geblieben" (Wachter 1996: It).

GewiB wird das alte Jena, wie es in den Erinnerungen von Bernhard Wachter lebendig

wird, nicht wieder entstehen, werden die zerstorten historischen Gebaude nicht mehr auf­

gebaut werden konnen. Entscheidend ist jedoch, daB in der Innenstadt eine intakte Struk­

tur der StraBen, Gassen und Platze mit Geschaften, Cafes und Gaststatten vorhanden war,

die Innenstadt immer belebt war.

Wenn von einer Revitalisierung der Innenstadt gesprochen wird, so kann das Ziel nur

die Wiedergewinnung der Stadtmitte sein. Es muB eine Bebauung des zentralen Platzes er­

folgen, und es mOssen in der Stadtmitte kleine Geschafte aller Branchen, Gaststatten, Cafes,

Wohnungen sowie Statten der Kultur und Kommunikation entstehen. Es ist erforderlich, die

innerstadtischen Wegestrukturen so zu gestalten, daB die frOheren StraBen ihre Funktionen

fOr die innerstadtischen FuBgangerstrome wiedererlangen. Das ist die Voraussetzung, urn

ein pulsierendes, aber nicht hektisches Leben in der Innenstadt zu ermoglichen. Ein solcher

Rhythmus wird der Gradmesser sein, der anzeigt, ob es gelingt, die Innenstadt wieder mit

Leben zu erfOlien.

1st die Wiedergewinnung der Stadtmitte moglich, wenn das Universitatshochhaus er­

halten wird? Kann die alte Struktur der StraBen, Gassen und Platze wiederhergestellt wer­

den und kann sich ein der Innenstadt entsprechender Rhythmus herausbilden, wenn die

Funktion des Hochhauses als stadtbildpragende Dominante bestehen bleibt?

Die Frage, ob das Universitatshochhaus abgerissen oder saniert werden soli, beschaftigt zur

Zeit den Jenaer Stadtrat wie die Stadtbewohner.

Bis 1997 werden aile Institute der Friedrich-Schiller-Universitat das Hochhaus verlas­

sen haben, weil die Arbeitsbedingungen fOr Wissenschaftler und Studenten ungeeignet wa­

ren und die Unterhaltungskosten des Hochhauses das Budget der Universitat belasten.

In diesem Kontext veranstaltete die Lokalredaktion der ThOringischen Landeszeitung

im Mai 1996 eine Leserumfrage, ob der .Uni-Turm" abgerissen oder saniert werden soli und

welche Nutzung im Faile einer Sanierung fOr sinnvoll erachtet wird. Ober 500 Leserbriefe

erreichten die Redaktion, wobei sich eine knappe Mehrheit fOr die Sanierung des Hoch­

hauses ausgesprochen hat Vor allem die jOngere Generation, ob in Jena geboren oder zu­

gezogen, mochte den Turm erhalten wissen. Aber auch Menschen, die den AbriB der histo­

rischen Gebaude schmerzlich erlebt haben, sind heute der Meinung, daB sie sich an das

Universitatshochhaus gewohnt haben. Die Gewohnung an eine solche stadtbildpragende

Dominante ist ein deutliches Symptom jener "taktilen Rezeption", d.h. der beilaufigen und

zerstreuten Wahrnehmung stadtischer Raume, von der Walter Benjamin gesprochen hat (vgl.

Benjamin 1991: 504). FOr die jOngere Generation, die Jena nur so kennt, wie es sich heute

darbietet, wOrde ein AbriB des Universitatshochhauses ahnlich schmerzhaft sein wie der

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JENA. Eichplatz. 1995

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AbriB der historischen Gebaude 1969 es fUr die altere Generation war. Auch wenn taglich

ein verschandeltes Stadtbild wahrgenommen wird, so richtet sich doch, um mit Maurice Halb­

wachs zu sprechen, das Denken nach der Abfolge der Bilder, die die Generation aufge­

nom men hat die mit dem Universitatshochhaus groB geworden ist Fur sie ist es ein Wahr­

zeichen der Stadt oder zumindest ein Stuck Architektur, das man nicht als storend empfin­

del, weil es zum alltaglichen Erscheinungsbild gehort Phantasiereich sind die Vorschlage fUr

die Nutzung des sanierten lurmes. Sie reichen von Oko-Bank, Heliodrom, Patentamt und Disko­

thek bis zum "technischen Rathaus", das aile Amter der Kemverwaltung beherbergen 5011.

Fur die BefUrworter des Abrisses ist das Universitatshochhaus ein Storfaktor im Stadt­

bild. Die historischen Gebaude um den lenaer Marktplatz und in der 10hannisstraBe sind

in Hohe und Proportion in den die Stadt umgebenden Landschaftsraum hineingebaut wor­

den. Blickt man von der Nordseite des Marktes auf die gegenuberliegende Hauserzeile, so

sieht man uber den Dachem die Berghange um lena. Stadt- und natiirliche Landschaft ste­

hen in einer ausgewogenen Proportion zueinander. 1m Gegensatz dazu wurde das Univer­

sitatshochhaus nicht in den Landschaftsraum hineingebaut, sondern dagegen gesetzt Mit

der Errichtung des Hochhauses ging nicht nur die Stadtmitte verloren, es wurde auch die

durch lahrhunderte gewachsene Proportion von Stadt und Landschaft zerstort

Ein leil derer, die fur den AbriB des Universitatshochhauses votieren, erhebt die gewiB

nicht realisierbare Forderung nach Rekonstruktion der alten Gebaudesubstanz, ein anderer

leil besteht auf einer Bebauung der Innenstadt, die dem historischen StadtgrundriB Rech­

nung tragt

Ob der AbriB oder die Sanierung des Hochhauses erfolgen wird, werden letztlich die

Kosten entscheiden, die sie verursachen. In einem bisher vorliegenden Gutachten, von der

Jenoptik-Bau GmbH in Auftrag gegeben, wurden die Kosten, fUr die Sanierung des Hoch­

hauses mit Stadtverwaltung, Multiplexkino, Einzelhandel, Buros und Wohnungen errechnet

und einem Konzept gegenubergestellt, das im Faile des Abbruchs des lurmes eine ahnli­

che Bebauung, allerdings ohne "technisches Rathaus" vorsieht In diesem Gutachten wird

eingeschatzt, daB der AbriB des Hochhauses und die Neubebauung des Areals entschieden

kostengunstiger sei als dessen Sanierung und Betreibung. Das Land lhuringen wird als Be­

sitzer des Hochhauses weitere Gutachten einholen und nach einem Investor suchen, der

die kostengunstigere Variante umsetzen wird. Das schlieBt eine europaweite Ausschreibung

des Universitatshochhauses ein, um doch noch einen Investor zu finden. Ob es eine Mog­

lichkeit geben wird, das Hochhaus zu sanieren und so preisgunstig zu vermieten, daB die

Stadtverwaltung an diesem Ort konzentriert werden kann, ist derzeit vollig offen. Sollte ei­

ne solche Variante uberhaupt moglich sein, so werden die Stadtrate zu entscheiden haben,

ob die stadtische Kernverwaltung in das Hochhaus einziehen 5011.

68 DIETMAR EBERT

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Die Entscheidung, ob das Universitatshochhaus abgerissen oder saniert werden soli, ist

jedoch nicht allein eine Rechenaufgabe, sondern das brisanteste Problem der Stadtent­

wicklung und -gestaltung, das es in Jena zu IBsen gilt Gleichviel wie die Entscheidung fal­

len wird, was in Jenas Mitte erhalten werden oder entstehen soli, sie wird die Funktions­

fahigkeit und das Bild der Stadt bis weit ins nachste Jahrhundert bestimmen.

So vernOnftig die Nutzung des Hochhauses als technisches Rathaus auch sein mag,

seine Kombination mit Handelseinrichtungen, Kino und Wohnungen wOrde, wie immer das

architektonisch gelost wOrde, die stadtbildpragende Dominanz des Universitatshochhauses

eindeutig verstarken. Damit ware die Wiedergewinnung der Stadtmitte unmoglich.

Aus diesem Grunde votiere ich fOr den AbriB des .Uni-Turmes", weil damit das .ZurOck­

bauen" einer Innenstadt mit begrenzter Flache auf das ihr adaquate MaB moglich wOrde.

Wenn nach knapp 30 Jahren das Jenaer Universitatshochhaus abgetragen wOrde, so ware

das ein Signal der Abkehr vom Bildzeichen, das es verkorpert Der AbriB ware ein notwen­

diger Eingriff in den stadtischen Organismus, urn das gesamte Areal westlich des Marktes

entsprechend des historischen Stadtgrundrisses, einschlieBlich der Struktur des Eichplatzes,

als Ganzes gestalten zu konnen.

Insofern ware der AbriB des Universitatshochhauses nicht zu vergleichen mit der

Sprengung der historischen Gebaude in Leutra- und JohannisstraBe, die die Aura vergan­

gener Jahrhunderte ausstrahlten. Das war ein Eingriff in das steingewordene kulturelle

Gedachtnis Jenas.

Sollte es zu einer Neubebauung des gesamten Platzes, einschlieBlich der Flache, auf

der das Universitatshochhaus steht kommen, so wird ganz sicher ein stadtebaulicher

Wettbewerb ausgeschrieben werden. Dabei konnte eine Jenaer Tradition, die den Bau stadt­

bildpragender Gebaude wesentlich bestimmt hat aufgegriffen werden. Ais Theodor Fischer

zu Beginn unseres Jahrhunderts das Universitatshauptgebaude erbaute, hat er mehrfach

das architektonische Ensemble, in dem die Universitat ihren Ursprung hatte, das Collegium

Jenense, einschlieBlich der Collegienkirche, bewuBt zitiert Auch kOnftig konnten im Zen­

trum Jenas an neu entstehenden Gebauden Spuren der Vergangenheit sichtbar gemacht

werden, indem bewuBt historische Bauten zitiert werden. Werden beim Entwerfen moder­

ner Gebaude Elemente zerstorter oder erhaltener Hauser bewuBt zitiert so konnen urbane

Raume entstehen, die fernab historisierenden Bauens oder postmoderner Spielerei und Be­

liebigkeit in Spuren die VergangenheitJenas lebendig werden lassen und zugleich ein Stadt­

bild mitpragen, das die Identitat des Ortes verstarkt

Die Wiedergewinnung der Mitte in Jenas Innenstadt ist auch deshalb erforderlich, weil

sich rings urn die Innenstadt ein erweitertes Stadtzentrum herauszubilden beginnt Es ist

absehbar, daB in den nachsten zehn Jahren ein Ring urn die Innenstadt entstehen wird, in

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JENA. Eichplatz. 1996

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dem sich Verkaufseinrichtungen, offentliche Gebaude, Kultur- und wissenschaftliche Ein­

richtungen befinden werden.

Das bisher markanteste Beispiel ist die im Fruhjahr 1996 eroffnete "Goethe-Galerie".

Sie umfaBt das Areal des fruheren Zeiss-Hauptwerkes. Unter Einbeziehung der denkmal­

geschutzten Industriebauten entstand ein modernes innerstadtisches Quartier, das Ein­

kaufspassagen, ein Hotel und Teile der Friedrich-Schiller-Universitat sowie der Fachhoch­

schule Jena beherbergt GewiB ist es bedauernswert, daB an diesem Ort keine hochwerti­

gen optischen Produkte mehr hergestellt werden. Schaut man sich jedoch diesen modernen

innerstadtischen Einkaufs- und Dienstleistungskomplex naher an, so ist es derzeit der ein­

zige Ort in Jena, an dem urbanes Leben funktioniert Zugleich werden Passanten- und Kau­

ferstrome aus dem Innenstadtbereich in die Goethe-Galerie gelenkt was den Einzelhand­

lern, die bereits gegen die Konkurrenz der Einkaufszentren an den Stadtrandern zu kamp­

fen haben, zusatzliche Schwierigkeiten bereitet

Sollte es nicht gelingen, die Jenaer Innenstadt schnell zu revitalisieren, so werden

sich fragmentarisch urbane Zellen rings um das Zentrum bilden. Eben darum ist es not­

wendig, ein schlUssiges architektonisches Konzept fur die Bebauung des Stadtzentrums

westlich des Marktes zu entwickeln.

Aus meiner Sicht ist fur die Herausbildung eines funktionierenden Stadtorganismus eine

Innenstadtbebauung ohne Universitatshochhaus, die Wiederbelebung der alten Struktur der

StraBen, Platze und Gassen, der funktionierende Obergang von Innenstadt und erweitertem

Stadtzentrum und das Sichtbarwerden von Spuren der Vergangenheit im neuen Stadtzen­

trum wunschenswert Das birgt die reale Chance eines urbanen Kulturklimas und eines pul­

sierenden Lebensrhythmus' in Jena.

lllERATUR Benjamin, Walter 1991: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier­

barkeit (Dritte Fassung). In: Gesammelte Schriften (Sigle: GS), Band 1.2. Frankfurt a.

Main: Suhrkamp

Halbwachs, Maurice 1985: Das kollektive Gedachtnis. Frankfurt a. Main: Fischer

Schmidt, Elker 1996: Die unertragliche Last der StaatsbOrgerschaft (Jenas WeiBer Kreis,

ein herzerfrischendes Uberlisten des Staatsapparates). In: Gerbergasse 18, Forum fur

Geschichte und Kultur (Hrsg.: Geschichtswerkstatt lena e.v. in Zusammenarbeit mit

dem Landesbeauftragten ThOringen fur die Stasi-Unterlagen) 1 (1996) 2

ThOringische Landeszeitung (Lokalseiten lena) yom 9., 15., 23. und 30. Mai 1996

Topfstedt, Thomas 1988: Stadtebau in der DDR 1955 - 1971. Leipzig: Seemann

Fremd sehen in der eigenen Stadt 71

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JENA. Eichplatz. 1995

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BILDER VOM TRANSIT Uber den Zustand ostdeutscher Stiidte

Iris Reuther

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ANNAHERUNG

Ein Bild von Hirgen Hohmuth, das er 1988 in der Charlotte-Schlippen-Stral3e in Jena

aufgenommen hat, zeigt den hinteren leil eines seltsam geformten Fahrzeuges, das offen­

bar durch den Umbau eines Kleintransporters der Marke .Robur" zustandekam. Jemand hat­

te die seitlichen Fenster zugeschwemt und damit dem Gefcihrt einen beinahe hilflosen Aus­

druck verliehen. Das Auto ist halb auf dem Biirgersteig einer schmalen griinderzeitlichen

Stral3e abgestellt Auf seiner Oberflache und der dahinterliegenden Hauswand ist der Son­

nenschatten von Fenstern der anderen Stral3enseite zu sehen. Es ist wochenendstill hier.

Das kann natiirlich an den zahlreichen nicht mehr bewohnten Gebauden liegen. 1m rech­

ten Haus hinter dem Auto sind im Erdgeschol3 die Fensterladen geschlossen und im ersten

Stock fehlen Gardinen. Aul3erdem deutet der zusammengewehte Stral3enunrat vieler Mo­

nate dicht neben der Eingangstiir auf fehlende Mieter oder Hauseigentiimer. Die Sockel­

mauer des Hauses zeigt die Spuren aufsteigender Feuchtigkeit und erinnert an die Atmo­

sphare der Hausflure. 1m Friihjahr, wenn es das erste Mal warm wird, ist es dort unge­

wohnlich kiihl und im Herbst riecht man die Blatter und heruntergefallenes Obst aus den

riickwartigen Hofen. So war es in solchen Stral3en und Gegenden scheinbar schon immer

und dal3 es so bleiben wiirde, schien unertraglich, aber beinahe unausweichlich.

Am meisten riihrt mich auf dem Bild noch immer jenes handgeschriebene weil3e Wort

auf der Fahrerseite des Autos. Dort steht in etwa einem dreiviertel Meter hohen Buchstaben

der Name: ROSA. Was fur ein zartliches Wort fur ein solches Ungetiim an Fahrzeug. Grol3-

buchstaben und Schriftart gleichen Losungen aufTransparenten oder Wandzeitungen. Das

Auto konnte ein zugeschwemter Polizeitransporter sein. So gehort fur mich jener Vorname,

der eine Farbe und eine Blume assoziiert, zu Rosa Luxemburg. Ihre Worte von der Freiheit,

die auch immer die Freiheit der Andersdenkenden meint, setzten im Januar 1988 auf einer

Berliner Demonstration ein Zeichen. Jene, die das Zitat verwendet hatten, waren festge­

nom men und in den Westen abgeschoben worden. Nun gentigte ein kleines Wort mit vier

Buchstaben fur eine Botschaft iiber diesen ungeheuerlichen Vorgang. Gewi13 wohnte ihr Au­

tor in einem der unsanierten alten Hauser mit den grol3en Wohnungen ohne lelefon. Wie­

viel Mut und Ohnmacht steckt in einem solchen Ansinnen, die Nachricht auf einem Auto

zu transportieren, weil es keine Kopierer fur ihre Verbreitung gibt und die Zeitungen darii­

ber nicht berichtenen.

So konnte man die Zeichen der Zeit im offentlichen Raum der Stadt kurz vor der "Wen­

de" lesen. Sie deuteten auf Ve rfa II und Ignoranz, zeugten aber ebenso von informeller Kraft

und Sehnsucht Gerade diese alten Stral3en des industriellen Zeitalters erinnerten an die

Wurzeln der eigenen Situation und verwiesen auf einen unhaltbaren Zustand der Gesell­

schaft, die tiber ihre Verhaltnisse lebte und keine Kraft mehr hatte, ihren angeeigneten Be-

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JENA. SchlippenstraBe. 1988

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DESSAU. 1995

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sitz zu erhalten, geschweige denn zu erneuern. DaB es auch nicht im Vermogen jener stand,

die 1988 oder 1989 Schilder malten, steht auf diesem Bild bereits geschrieben. Aber das

wird erst jetzt lesbar. Der fotografisch festgehaltene Augenblick in einem Bildarchiv erweist

sich als RohstofffUr den ersten archaologischen Blick auf einen authentischen Schauplatz

des Umbruchs in den Stadten der ehemaligenDDRunddesheutigenOstdeutschlands.Er

vollzog sich zwischen den spaten achtziger lahren und den mittleren neunziger lahren wie

ein zu schnell ablaufender Film, in dem die Beteiligten die Schauspieler und Zuschauer zu­

gleich waren.

Wahrend das Bild aus lena noch den alten Zustand wiedergibt, zeigt ein 1995 im Des­

sauer Stadtzentrum entstandenes Foto schon das Neue und anders Gewordene. Wieder er­

regt ein Vorname meine Aufmerksamkeit: NICKI. Er assoziiert in seiner amerikanisierenden

Androgynitat ein Come back der siebziger Jahre und steht gleich dreimal auf einer halb­

metergroBen Ankundigungstafel fUr eine Veranstaltung, die am 7. Oktober stattflnden 5011.

Das uber einen Kopierer hergestellte Pia kat ist etwas fluchtig auf eine Hartfaserpappe ge­

heftet worden, die in knapper Augenhohe mittels einer Schnur am Masten einer StraBen­

leuchte befestigt wurde. An dieser Stelle tragt der Beton die Spuren vorangegangener Nach­

richten oder Werbungen. Ansonsten scheint sich an diesem Ort wenig verandert zu haben.

Das Gebaude auf der gegenuberliegenden StraBenseite wurde offenbar noch nicht saniert

Es ist ein fUnfgeschossiger Block aus den sechziger Jahren mit einer gleichformigen Rei­

hung dreigeteilter Fenster. An dieser Kreuzung zweier BundestraBen mitten im Zentrum der

GroBstadt Dessau wohnen direkt uber einem Geschaft noch immer ganz normale Leute, wie

an den verschiedenen Wohnzimmergardinen und den Kuchenfenstern uber dem Gebau­

deeingang zu erkennen ist Die in groBen Lettern auf einzelnen quadratischen Medaillons

angekundigte "Buchhandlung am Museum" nimmt einen erheblichen leil des langge­

streckten Eckgebaudes ein. Diese Hauszeile an einer Magistrale fUlite offen bar eine im Krieg

entstandene groBe Lucke in der historischen Altstadt, wie sie in Fragmenten um die Ecke

noch zu erkennen ist Weder ein Bodenpreis, noch die Vorgabe einer Bauflucht haben die

Dimensionierung und Positionierung der Bebauung an der sogenannten Museumskreuzung

von Dessau beeinfluBt Mitte der sechziger Jahre sollte eine neue Stadtstruktur mit Woh­

nungen und einer angemessenen Versorgung fUr die Werktatigen entstehen. Deshalb

wurde eine fUr marktwirtschaftliche Verhaltnisse riesige Buchhandlung direkt am Museum

in einer simplen Wohnzeile eingerichtet Die unbeholfene Proportion der Fenster, die har­

ten Kontraste der Farbgebung und die verwitterte Oberflache der Betonfassade bringen die

Macht des Banalen jener landesweit verbreiteten Bauart zum Ausdruck. Darin liegt ein Stuck

gebauter Programmatik des sozialistischen Stadtebaus, wie er sich aus einem ideologischen

Prinzip, einer starren Bauweise und einem Blick nach Westen ergab, wo gerade eine

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Stadtentwicklungsphase nach dem Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt zu

Ende ging.

Noch immer teilen sich an dieser Kreuzung Autos, Radfahrer und Passanten den

StraBenraum. Bei genauerem Hinsehen ist zu erkennen, daB der StraBenbelag, die Pflaste­

rung, aber auch die Ampelanlage und die Haltestellenuberdachung vor nicht allzulanger

Zeit erneuert wurden. Allerdings haben parkende Autos oder anfahrende Lieferfahrzeuge

die kleinformatigen Betonplatten bereits wieder zerbrochen.

Wer aber ist Nicki? Und warum fallt mir das Datum auf dem Pia kat sofort ins Auge?

Doch weder der Name, noch die abgebildete Person losen irgendein weitergehendes Inter­

esse aus. Ich kann nicht gemeint sein, weil ich in Dessau nicht in ein Pop-Konzert oder ei­

ne Disco gehen werde. Und auch das Grundungsdatum der ehemaligen DDR deutet nach

einer blitzartigen Vergewisserung auf keinen besonderen Tag mehr. So war der genaue Blick

nicht notwendig. Aber einfach wegsehen geht auch nicht Dieses Pia kat kann mir schon an

der ubernachsten StraBenleuchte wiederbegegnen, genau wie die H&M-Werbung in allen

Stadten zugleich in den Schaukasten der Haltestellen auftaucht oder die "Momente mit Wer­

nesgruner Bier" fUr ein bis zwei Wochen die mannshohen Werbeflachen vor Einfriedungs­

mauern oder freistehenden Giebeln fUlien.

Bemerkenswert an Nicki ist nur, daB sie erst auf dem Situationsbild eines Fotografen

zu entdecken ist Das Pia kat wurde nicht in der Perspektive der Passanten an der Kreu­

zung plaziert, sondern in der Blickrichtung wartender Rechtsabbieger. Der Stadtraum hat

sich mit Botschaften gefUllt, die vor allem aus dem voruberfahrenden Auto wahrnehmbar

sind. Ihre Information en sind auf einzelne Worte, Namen, Buchstabenkombinationen oder

markante Schriftzuge reduziert, so daB sie den schnellen Blick einfangen konnen. Befe­

stigungshohe und Grof3e von Bildausschnitten oder Schriften werden mit dem Abstand zur

StraBe und der Fahrerperspektive abgestimmt So kann es Fuf3gangern passieren, daB sie

auf den Burgersteigen mit uberdimensionierten Korperteilen Blickkontakt aufnehmen mus­

sen oder Schriften uber ihren Kopfen gar nicht vollstandig - wenn uberhaupt - wahrneh­

men konnen.

Die Ausmaf3e des Strukturwandels werden als Information im befahrbaren offent­

lichen Raum ablesbar. Je aufWendiger und wichtiger die Aufmachung, umso teurer das

Angebot; je kleiner und seltener die Schilder, umso weniger ist zu erwarten oder

zu verkaufen. Wahrend man in den landlichen Regionen, ausgedehnten Wohnsiedlungen

oder aufgelassenen Industriearealen die Gebaude und Freiraume wahrnimmt, so liest

man sich an den Ausfallstraf3en der Stadte durch eine beschriftete Oberflache, die Ge­

baude und Bauwerke verdeckt oder einhullt Vor allem an Kreuzungen, Kurven und Ein­

mundungen ist noch etwas zu lesen. An den Autobahnen oder BundesstraBen fallen nur

einpragsame Zeichen fUr einen Moment ins Auge. 1st der Firmenname unbekannt, so deu-

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tet in jedem Fall die signifikante Form des Gebaudes oder die Ansammlung mit anderen

Marken auf das Angebot hin.

Fotografische Abbilder eines solchen Zustandes von Stadtraumen sind analog zu den

dort benutzten Zeichen und Formen vieldeutiger geworden. Die Dokumentation von Ein­

zelheiten lauft Gefahr, Belanglosigkeiten oder Beliebigkeit wiederzugeben. Eine Wahrneh­

mung und Deutung der Bilder von Nicki oder Momenten mit Wernesgriiner erfordert sehr

genaues Hinsehen. In den aberwitzigen, historisch iiberformten Stadtraumen ist die Chro­

nologie mehrfacher Wandlungen festgehalten, die sich mindestens auf die Zeitraume vor

1945, vor 1989 und die partielle Dynamik der 90er Jahre beziehen.

EINE REISE IN DIE ZEIT

Wie eine genaue Betrachtung zeigt. kann die zeitliche Bindung zwischen noch und

schon iiber Fotos als Momentaufnahme der Realitat hergestellt und sichtbar gemacht wer­

den. Die Abbildungen aktivieren das Gedachtnis und verkniipfen sie mit Erinnerungen. Da­

mit werden Stadtraume, Gebaude und vergangene Zustande von Oberflachen und Details

vor dem totalen Verschwinden gerettet (vgl. Ullmann 1993). In ihrer Immaterialitat als Bild

geben sie Gelegenheit zum Abschied und vergewissern dennoch einen stattgefundenen ge­

schichtlichen Ablauf und eine spezielle Geographie der Erfahrung in den abgebildeten Stadten.

Die alteren Bilder aus den achtziger Jahren verdeutlichen die Krisenhaftigkeit der Si­

tuation in den Stadten der DDR. Sie berichten von einem iiberstrapazierten Prinzip des for­

distischen Zeitalters, das soziale Unterschiede zu verwischen suchte und dabei nur ver­

starkte, und das die Unfcihigkeit zur Selbstreftexion leugnete. Der Nutzer von Stadt war der

normierte Nutzer schlechthin. In den kaum iiber Marktmechanismen organisierten Raumen

hatten sich die iiberholten Standards genauso wie die informellen Bewaltigungsstrategien

der Betroffenen als Ausdruck gesellschaftlicher Agonie eingetragen. Das bezeugt ein Bild

des friiheren Romanjuk-Platzes in Dessau, wo sich auf einer Flache zwischen zwei Wohn­

scheiben aus den sechziger Jahren direkt neben dem Rathaus iiber mehrere Jahrzehnte ein

leerer Raum erhalten hatte, den sich anliegende Autobesitzer, Passanten iiber Trampel­

pfade und Besucher eines winzigen Wochenmarktes mit ein paar Buden teilten, aber kaum

zur Halfte ausfiillten. Die Bilder aus den neunziger Jahren geben einen wieder angeeigne­

ten, in Ansatzen segregierten und iiber Zeichen codierten offentlichen Stadtraum wieder,

der den Nutzer als unbekannten Konsumenten definiert Deregulierung hat die Bedeutun­

gen und Nutzungsintensitaten der Stadtraume polarisiert und in Strange oder Punkte ein­

geteilt. die von unsichtbaren Netzen und Raumen iiberlagert oder sogar durchkreuzt wer­

den. Die Trampelpfade im Dessauer Stadtzentrum sind Ladenzonen eines Rathauscenter ge­

wichen. Den gesamten Platz fiillen mehrere Etagen vermietbarer Gewerbe- und Biiroftachen.

Bilder vom Transit 79

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Da, wo es fruher leer war, ist der Stadtraum jetzt gefiillt Und da, wo sich fruher Leute drang­

ten, wie es am heruntergetretenen Pflaster eines ehemaligen Fabrikeinganges noch zu ah­

nen ist, wurde das Tor zugemauert Hinter den Mauern der ausgedehnten Industrieareale

ist es jetzt leer.

Obertlachlich betrachtet, ist mit einem Blick zuruck der Stillstand einer Art Beschleuni­

gung gewichen. Aber, es ist nicht alles anders geworden und betrifft immer nur Teile der

Stadt, die einer ganz bestimmten Lebenssituation entsprechen. Der Mythos von Verande­

rung pragt die Wahrnehmung eines am ersten Arbeitsmarkt beschaftigten, motorisierten,

kinderlosen Erwachsenen. Seine Stadt hattatsachlich ein neues Gesicht, andere Obertlachen,

schnellere Wege, inflationare Informationen und globalere Einflusse. Fur diesen Teil der Be­

wohner ostdeutscher Stadte hat sich der Strukturwandel baulich manifestierf, seine Ein­

drucke und Erfahrungen erreichen Kapazitatsgrenzen. Aus seinem Bildgedachtnis repro­

duziert sich ein verbreitetes Urteil uber die Transformation, das mit den Attributen einer stra­

paziosen Dynamik von Tempo bis Wahnsinn verse hen werden kann. Aber auf den Bildern

von 1995 sind seine Vertreter kaum zu entdecken. Sie sind mit der Kamera eines zu FuB

gehenden Fotografen im offentlichen Stadtraum kaum zu finden, weil sie sich in ihren pri­

vaten Mobilen bewegen oder in von Barrieren abgegrenzten Raumen aufhalten. In den ko­

stenfreien Landschaften der Stadt auf den Burgersteigen, an den Haltestellen, in den Grun­

anlagen und auf den Vorplatzen von GroBmarkten bewegen sich haufiger die anderen, die

Alten, die Kinder, die Autolosen, die Unbeschaftigten. In ihrer Umgebung zeigen sich viel

weniger Spuren der Erneuerung, deutlichere Zeichen unterschiedlicher Standards oder fast

unveranderte Situationen.

SCHAUPL.ATZE DER TRANSFORMATION

In den traditionellen Stadtzentren und Konzentrationspunkten des offentlichen Lebens

haben sich Marktmechanismen, kulturelle Bruche und ein Instandsetzungsstau in das

Stadtbild eingetragen. Eine Auswahl offentlicher Gebaude ist uber eine politisch optionier­

te Steuerung in einen verbesserten Zustand versetzt worden. Aufverfugbaren Brachflachen,

in geeigneten Gebauden und an Schnittstellen erwarteter Kundenstrtime haben Handels­

und Dienstleistungsunternehmen und vor allem Banken und Geldinstitute ihren natur­

gemaBen Platz eingenommen. Insgesamt haben ein uberhitzter Bodenmarkt und ein spe­

kulatives Bauverhalten die Innenstadte verandert Neue oder auch nur erneuerte Gebaude

sind in ihren vermietbaren Nutzflachen sichtlich oder sogar maBstabverandernd vergroBert

worden. Hinter mehreren Altstadtfassaden verbergen sich haufig durchgehende GeschoB­

flachen und die ausgebauten Dacher lassen die Hauser nicht groBer, sondern eher zu eng

fUr ihre volumintisen Inhalte erscheinen. Die Grundstucksausnutzung zielt wieder in die Tiefe

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und kaum eine groBere Stadt hat inzwischen nicht eine Passage oder ein blockweites Cen­

ter, fur das Bezeichnungen wie "BOropraxenu oder "Wohnanteilu eingefuhrt wurden.

Die Konkurrenz der Innenstadte mit den schneller verfiigbaren und kostengOnstigeren

Einzelhandelstlikhen auf neu erschlossenem Gelande hat sich in beinahe allen groBeren

ostdeutschen Stadten an der Peripherie verraumlicht Die Stadte erweisen sich als zu klein,

ihre historischen Strukturen als zu teuer fur die nachzuholende Modernisierung. An den

Stadtrandern oder auf groBen zusammenhangenden Bautlachen hat sich eine neue Ge­

baudegeneration angesiedelt deren Raume zu HOlien vertlacht sind, die als geschlossene

farbige Obertlache Trager medialer Botschaften werden. Diese eher autistischen Gebilde las­

sen sich aufwenige typologische Elemente reduzieren und variieren das Thema einer Kiste

mit zentralem oder Ober Eck plaziertem zeichenhaften Eingangsportal, das in der Regel den

vorgelagerten Parkplatz Oberragen muB. Die eingeschossigen Bauwerke geben einen ge­

nau dimensionierten Bruttorauminhalt wieder, der unter Optimierung von Tragkonstruktio­

nen und GebaudehOllen inzwischen fast dem MaB der verfiigbaren Nutztlache gleichkommt

Sollte ein Hochregallager seine Kapazitatsgrenzen erreichen, so kann auf der dafur vorge­

sehenen Seite in wenigen Tagen ein weiteres Feld angefugt werden und die HOlle ent­

sprechend vergroBert werden. Eine effektivere Form der Gebaudeherstellung ist kaum

noch denkbar.

Diese Gehause sind Ereignisarchitektur. Die Geste der Offnung - das ist ein Glasportal -

verbindet sich mit der Szenerie der Eroffnung. Beides wird in der Werbung benutzt Das Bild

des Eingangsportales erscheint als gedruckte Vignette und die Eroffnung findet in Verkaufs­

aktionen ihre Fortsetzung. Erschreckend ist der rasche moralische und physische VerschleiB

dieser Architektur, der mit der Neueroffnung eines Konkurrenten beginnt und an den bald

schon ramponierten Blechverkleidungen oder der rasch verblassenden Farbe der Au Ben­

wande ablesbar wird. Diese .. neuen Mitten" der Stadte haben Zentralitaten und Bedeutun­

gen der Stadte verandert Sie sind in den Schwerpunkt individueller und z.T. auch offentli­

cher Verkehrswege gerOckt und haben Raum-Wege-Zeiten ganzer Regionen verandert Sie

sind Objekte neuer Stadterfahrung und Aufenthaltsorte einer transformierten Stadtbevolke­

rung. Hier finden Familienleben, Gruppenaktionen und Kontaktaufnahme statt Selbst auBer­

halb der Geschafiszeiten halten sich hier zahlreiche Passanten auf, Jugendliche nutzen die

befestigten Flachen und in den Fastfood-Restaurants werden Kindergeburtstage gefeiert

Diesen neuen Konzentrationspunkten des offentlichen Lebens der Stadte steht ein

wachsendes MaB brachliegender Flachen und leerstehender Raume gegenOber, wie es

durch den Wegfall von Produktionen, alte und neue Leerstande von innerstadtischen Ge­

werbebauten und erfolgte Abrisse von Fabrikanlagen im Vorgriff auf erwartete Investitionen

entstanden ist FOr die ehemaligen, nur noch teilgenutzten oder vielfach aufgelassenen In-

Bilder vom Transit 81

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dustriegelande und ihre Gebaude oder Anlagen gilt in besonderem MaBe die Archivierung

der Erinnerung. Sie umschreiben am deutlichsten die Indikatoren fOr soziale Transformati­

on, ihre Leere findet in den aktuellen Sozialstatistiken Ausdruck. Viele Klinkergebaude der

Jahrhundertwende, Stahlbetonkonstruktionen der Zwischenkriegszeit und Fertigteilbauten

der DDR-Epoche haben insbesondere die mitteldeutsche Landschaft wie kein zweites Merk­

mal gepragt Sie sind schon lange nicht mehr .schOn all" oder sind es nie gewesen. Die we­

nigsten von ihnen erlangen industriearchaologische oder gar denkmalpflegerische Auf­

merksamkeit verweisen aber im Vergleich zu den neuen Gewerbebauten auf ein erheblich

hOheres MaB an Raumqualitat und ursprunglichen baulichen Aufwand. Ihre Anwesenheit

im Stadt- und Landschaftsraum bezeugt Nutzungszeit und Bedeutungsverlust stadtischer

Adressen, so daB sie im Verbund mit der Besiedelung durch Natur eine morbide Identitat

annehmen. Eine solche kann sich als nachhaltig erweisen, weil nicht aile Flachen bald oder

uberhaupt wieder in den Betracht von Nutzung fOr Arbeitsplatze kommen werden. So ist auf

den ausgedehnten Industriebrachen nicht nur ein vergangenes Zeitalter zu betrachten, son­

dern auch ein Zukunftsversagen aktueller wirtschaftlicher Strategien zu konstatieren.

Die alteren Wohngebiete der Stadte, ehemalige Dorfkerne, kaiserzeitliche Erweiterun­

gen und Siedlungen der Zwischenkriegszeit erleben auf Grund der wiederbelebten Parzel­

Ie als stadtebauliches Regulativ eine differenzierte Erneuerung, die sich grundstucksscharf

im Stadtraum abzeichnet und als Nachbarschaft zwischen sanierten und weiter alternden

Gebauden, zwischen gepflasterten Parkplatzen und leerbleibenden Brachflachen erlebt

wird. Von erhOhten Standpunkten ist das AusmaB der Sanierung am Verbreitungsgrad neu­

er roter Dacher ablesbar.ln gewisserWeise sind diese Bau- und Raumstrukturen in ihre Ent­

stehungsverhaltnisse zuruckgesunken und ihre Gebaude erleben genau wie ihre Nutzer und

Mieter eine Polarisierung uber die zu zahlenden Preise. So definieren sich noch einmal die

alten Demarkationslinien der Stadt

Bleiben die Neubaugebiete - alias GroBsiedlungen - der DDR-Epoche, die einer Un­

terscheidung hinsichtlich ihrer Entstehungszeit bedurfen. Wahrend die stadtebaulich de­

terminierten Baustrukturen der spaten fOnfziger und der sechziger Jahre mit einer uber­

schaubaren Zahl von Blockbauten in integrierten stadtischen Lagen und einem simplen,

aber bereits herangewachsenem Abstandsgrun ihrem Siedlungscharakter treu bleiben kon­

nen, so sind die komplex geplanten, in den siebziger und achtziger Jahren an den Stadt­

randern oder auf abgebrochenen Stadtquartieren errichteten Gebiete tatsachlich ein eigen­

standiges Kapitel extensiver Stadterweiterung des 20. Jahrhunderts. Die alteren und kleine­

ren Siedlungen werden bereits saniert was an den tieferen Fensterlaibungen, den glatteren

und farbigeren Oberflachen, den inzwischen eingesetzten neuen Plastikfenstern und Haus-

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eingangstOren mit Oberdachungsvarianten und an den umgestalteten Balkonverkleidun­

gen der Wohnblocks nachvollziehbar ist Unter den "neuen Kleidern" ist das gleichgeblie­

bene Grundmuster der Gebaude wiederzuerkennen. Mindestens fOr die mittlere und altere,

hier lebende Generation bleibt diese Wohnform ein nachgefragtes Segment am Woh­

nungsmarkt das fOr vergleichbare soziale Situationen einen adaquaten raumlichen Aus­

druck behalt Waren die Wohnungen zur Entstehungszeit fOr die betroffenen Familien zu

klein, so sind sie jetzt gerade klein genug; war die Ausstattung mit Versorgungs- und Be­

treuungseinrichtungen frOher Teil eines wirtschaftspolitischen Programms, so sind sie in­

zwischen ein verfOgbares Raumpotential. das neuesten Wohnsiedlungen oft noch fehlt

Die groBeren Wohngebiete auf den sogenannten Komplexstandorten des Wohnungs­

baus in Plattenbauweise gehoren inzwischen zu den Problemzonen der Stadte. Hier tariert

sich das MaB der sozialen Transformation in ostdeutschen StMten aus. Auf Grund hoherer

Dichten und einer Reduzierung samtlicher AusfOhrungsstandards dieser Wohngebiete von

der Versorgung mit Infrastruktur bis zur Gebaudegestalt und Wohnungsausstattung erle­

ben die Bewohner eine Abwertung ihrer Wohnumwelt in der gesellschaftlichen Offentlich­

keit und individuellen Erfahrung gleichermaBen. Sanierungskonzepte der zustandigen Ei­

gentOmer und Nachverdichtungen durch Einzelhandelsangebote greifen nur punktuell und

werden im Gesamtbild der groBen Wohngebiete bisher kaum nachhaltig wirksam. Mit dem

noch vor wenigen Jahren vergleichsweise hohen Wohnungsstandard konkurrieren inzwi­

schen innerstadtische und regionale Angebote fOr die Besserverdienenden.

ART UND MASS DER STADT 1M FOTOGRAFISCHEN BILO

Eine Bildreise in die Zeit des Wandels ostdeutscher Stadte bezeugt daB aile Stadtrau­

me in einem bestimmten MaBe Schauplatze derTransformation sind. Ein Foto aus den acht­

ziger Jahren kann kein Foto aus den neunziger Jahren sein. Irgendein Detail. eine noch al­

ter gewordene Oberflache oder ein bildlich herstellbarer Bezug - oder besser: Vergleich -

dokumentiert einen abgelaufenen Zeitraum und eine eingetretene Veranderung. Am Ende

des industriellen Zeitalters Oberlagern sich in den Stadtstrukturen und Stadtbildern minde­

stens drei Landschaften oder Zeitebenen, die bei genauerem Hinsehen auf allen Fotos sicht­

bar werden und als Information abgelegt sind.

Von der ersten Landschaft der naturraumlichen Gegebenheiten und einer ur­

sprOnglichen Besiedelung oder Nutzung als unterster Schicht sind nur Fragmente und Ober­

formte Spuren geblieben. Das meint Zasuren eines Wegenetzes, besondere Adressen

oder Gebaudestellungen, die auf frOhere Landeigner deuten, verbliebene Landschafts­

elemente oder die wieder freigelegten Erdschichten auf beraumten Flachen und in offe­

nen Baugruben.

Bilder vom Transit 83

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Die zweite Landschaft, die als flachenhafte Ausdehnung der Stadt nach all ihren Er­

weiterungsphasen und als gebaute Struktur die tragende Schicht ausmacht reprasentiert

die Aufteilung und Aneignung des Bodens oder des bereits Gebauten, die Intensitaten ver­

gangener und gegenwartiger Nutzungen und die Festpunkte moglicher raumlicher Veran­

derungen. Dabei sind verschiedene Wachstumsphasen der Stadte bis zum ersten Weltkrieg,

in der Zwischenkriegszeit und in der DDR-Epoche unterscheidbar.

Die dritte Landschaft ist als die gegenwMig zu beobachtende, punktuelle, nicht immer

lokalisierbare , aber zugleich auch erosionsartige Veranderung die in Bewegung geratene

Schicht der Stadt Sie ist immateriell und virtuell, aber auch als signifikante Botschaft im

Stadtraum erkennbar. Hier erreicht die Darstellbarkeit durch traditionelle Bildproduktion ih­

re Grenzen, weil diese fur die Dokumentation der zweiten Landschaft erfunden wurde. Die

weiterentwickelten Formen der Bilderzeugung und Bildinformation sind an der Existenz ei­

ner dritten Landschaft der Stadt beteiligt

Neben den Raumen und Oberflachen ist ein weiteres Phanomen fur die transitorischen

Lebenswelten in den ostdeutschen Stadten aufschluBreich: die Zeit Das meint die Ge­

schwindigkeit der Bewegungen und Nutzungen, der Informationen und Lebensprozesse. Da­

bei liegen Rasanz und beinaher Stillstand ganz dicht beieinander. Erstere entzieht sich den

traditionellen Formen bildlicher Wahrnehmung. Letzterer ist mit bloBem Auge kaum oder

gar nicht zu erfassen und erfordert eine adaquate Methode zur "Entdeckung der Lang­

samkeit" sozialer und okologischer Prozesse. Nimmt man aile drei Aspekte - Raum, Ober­

flache und Zeit - zusammen, dann ist eine bildliche Auseinandersetzung mit dem Zustand

des Stadtischen angemessen nur moglich, wenn qualitative Methoden von Serien und Ver­

gleichen akzeptiert und subjektive rsp. heuristische SchlOsse im Bezug auf eine Bildaus­

wahl zulassig werden. Insofern kann sich das fotografische Abbild zur Beurteilung von Art

und MaB der Stadt in einem TransformationsprozeB legitimieren.

Sie wurden Vorbilder, die Bilder der FSA-Fotografen (Farm Security Administration), die

in den 30er Jahren als Dokumente in den traditionellen Industriegebieten der Vereinigten

Staaten von Amerika entstanden. In einem Umbruch sollten Bilder im amerikanischen Kon­

greB berichten, wie es in den von der Depression betroffenen Gegenden aussah. Die Bilder

der MAGNUM-Fotografen waren als schwarz-weiHe Berichte aus einer fremden Wirklichkeit

und verschlossenen Welt auf eigentOmliche Weise vertraut Ihre Entstehung war nachvoll­

ziehbar und mit der Sehweise hiesiger dokumentarischer Stadtfotografie vergleichbar. Je­

mand hatte sich in bekannter Art mit einer Kamera und vielleicht sogar mit einem Stativ

auf beschwerliche oder sogar gefcihrliche Wege begeben, urn Bilder einzufangen, die den

Moment auf das MaB der Ewigkeit ausdehnen konnen. Denn die Fotografie selbst hat kei­

ne Zeit ihr gehort der Augenblick der Aufnahme. Das Produkt dieses technischen Doku-

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mentationsvorgangs ist eine authentische Aufzeichnung des Abgebildeten, solange wir mit

Negativen und Papierabzugen oder Dias umgehen und unser Urteil daran bilden. DaB Fern­

sehen schneller, digitale Aufzeichnungen manipulierbarer und Computer flexibler sind,

steht auBer Zweifel. Aber noch sind Bilder verfiigbar, fur die sich der Fotograf nachweislich

Zeit nahm, um tatsachlich dahin zu gelangen, wo die Stadt ihre Art findet der Ort seine Be­

stimmung, das Detail sein MaB und die Person ihren Platz.

Je nach Abstand, Objektivwahl und NegativgroBe gibt es die Moglichkeit den Stadt­

raum zu dokumentieren, die Horizontlinie von der einen bis zur anderen Ecke des Blick­

winkels abzutasten, um dabei Abstande, Grenzlinien und Distanzen zu erleben. Auf diese

Weise vermittelt sich dem Betrachter der Ort der Standort in seinem Kontext den wir Stadt­

struktur, Stadtlandschaft Bebauung oder Freiraum nennen. Hier werden die MaBe des Of­

fentlichen, die Sichtbarkeit die Hor- und Rufweite und die Moglichkeit zur Ansammlung von

Menschen, Autos, temporaren oder festen Baulichkeiten deutlich. Ein Stuck naher heran tre­

ten die Gebaude, die StraBenbreiten, die Zasuren zwischen dem Allgemeinen und Privaten,

dem Offentlichen und dem Zuordenbaren aus dem Bild hervor. Die Grenzlinien der Stadt

erscheinen als Fall roh re, Mauern, Zaune, Tore oder wechselnde Oberflachen. Das MaB an

Verganglichkeit an Erneuerung oder an Aufwand tritt in das Blickfeld der Wahrnehmung

und wird vermittelbar. In dieser Entfernung wird der menschliche MaBstab sichtbar oder die

Intensitat von Nutzung, aber auch der Bezug zu bereits vergangener Nutzungszeit SchlieB­

lich hat der Fotograf die Moglickeit Details in die Mitte des Bildes zu holen. Der Stadtraum

erscheint nur noch als angeschnittene Horizontlinie oder tritt vollends in den Hintergrund,

den man bei genauerem Hinsehen auch im eigenen Rucken spuren kann. Bilder aus die­

ser person lichen oder gar inti men Distanz sind oft viel eindringlicher wirksam und allge­

meiner in ihrer Aussage, als sich zunachst vermuten laBt 1m Detail liegt der ganze Kosmos

eines Ortes, seine Bestimmung, sein Alter, die Sorgfalt seiner Behandlung, die Spuren sei­

nes Gebrauchs. Oberdeutlich tritt der .standard" hervor. Das ist so, als wenn man jeman­

dem nahe genug gekommen ist um die Marke seines Schreibgerates zu erfahren, die Qua­

litat seiner Kleidung zu prufen oder die Ausstrahlung seiner Personlichkeit zu spuren.

Wenn in dieser allmahlichen Annaherung an das Bild der Stadt sogar die Gesichter ihrer

Bewohner hervortreten, dann verwandeln sich die Erklarungsmuster und definierbaren

Aspekte fur das Stadtische in einem unerwarteten MaBe. Wir sind bei jener Distanz an­

gekommen, die den eigenen Bezug herausfordert Mit welcher Behutsamkeit und Verant­

wortung mussen Bilder entstehen oder ausgewahlt werden, die solche Blicke ertraglich ma­

chen und fur die Offentlichkeit ermoglichen. In einer allmahlichen raumlichen Annaher­

ung, wie sie mit den immer scharfer werdenden Einstellungen eine Kamera moglich ist

findet die Stadt ihre lesbaren Abbilder. Es sind die Kategorien, in denen ein Planer denkt

und arbeitet

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Wahrscheinlich sind noch nie so viele Bilder von den ostdeutschen Stadten gemacht

wahrgenommen und wieder vergessen worden, wie in den vergangenenen funf Jahren. Da

angesichts medialer Verarbeitung und Verbreitung von Bildern die Authentizitat der Foto­

grafie auf den Moment der Aufnahme reduziert ist muB ihr doch in einem transitorischen

Zustand der Gesellschaft ein aufklarendes Potential zugestanden werden. Gemeint ist die

dokumentarische Fotografie fur ein "Archiv der Wirklichkeif und die Herstellung von Bild­

nissen, die in einer Zeit des Abschieds und des Verschwindens ein wesentliches Potential

fur Erinnerungen sein konnen. Es ist das stehende Bild einer nach dem Moment der Auf­

nahme bereits vergangenen Situation, das Medium der Geschichte wird (vgl. Sachsse 1994).

Daruber hinaus kann dokumentarische Fotografie als "Zeichen der Zeit" Prozesse sichtbar

machen, indem sie Gegenwart beinahe surreal zeigt und damit Postionsbestimmungen pro­

voziert und Kommunikation ermoglicht

RESUMEE

Die Profession der Fotografen mag von einer Erschutlerung betroffen sein. Dennoch hat

sich dokumentarische Fotografie im Gebrauch erneut legitimiert Der Blick in Archive, die

gemeinsame Suche nach Aufnahmeorten, die durch Fotografie erweiterte Analysemethode

stadtplanerischerTatigkeit und die Benutzung von Bildern in Planungsprozessen haben das

Verstandnis von Stadt und ihrer Planung verandert Das meint eine wachsende Skepsis ge­

genuber einer verbrauchenden Architekturproduktion und Planbarkeit raumlicher Prozesse

im Sinne generalisierender Steuerung. Der klassische Stadtebau und insbesondere seine

letzten Kapitel im TransformationsprozeB ostdeutscher Stadte haben das althergebrachte ur­

banistische Prinzip verbraucht Es ist arm ohne soziale Phantasie und das Bildgedachtnis

einer existierenden Stadt Angesichts von Entscheidungsnotstanden, EinfluBohnmachten

und Selbstuberschatzungen ist eine Besinnung der urbanistischen Profession auf tatsach­

lich gebrauchte, nicht immer zu materialisierende Akzente einer Entwicklung, auf die stra­

tegische Ebene und auf punktuelle Eingriffe notwendig.

Ein Bekenntnis zur Erneuerung vorhandener Stadtraume erfordert bildliche Darstel­

lungsformen nahe am Realen.lnsofern ist das fotografische Dokument ein Medium fur qua­

litative Betrachtungen und die Moglichkeit. minimalistische Veranderungen, vielleicht sogar

das Verschwinden, vorzuschlagen, nachzuweisen und in den Resultaten zu prufen.

Planung erzeugt Verunsicherung. Ihre Natur ist die Dungung von Arealen mit Moglichkei­

ten, die nicht nur auf feste Strukturen mit definierten Grenzen, sondern auf komplexe Fra­

gestellungen oder bewegliche Untergrunde Bezug nimmt Insofern reicht erst eine Bildrei­

he fur den Uberblick oder eine fotografische Annaherung in verschiedenen MaBstaben bzw.

eine Bildsequenz zur Auslotung der Tiefe oder Unscharfe einer Situation.

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Punktuelle Eingriffe beziehen sich nicht auf das Neue, wohl aber auf das Modifizierte

einer raumlichen Gegebenheit , die zunachst vermitlelt und verstanden werden muB. Zu­

gleich brauchen beteiligte Akteure einen gemeinsamen Informationsstand, der sich als Bild­

vorrat zur Beurteilung eignet und angesichts komplexer Themen, weitraumiger Betrach­

tungsgebiete und rascher Veranderungen keine gemeinsame Begehung mehr sein kann.

Insofern kann ein dokumentarisch verantwortetes Bildangebot diesen Vorgang ablosen.

Hierfiir eignen sich Reportagen, wie sie mit den Bildern vom Transit ostdeutscher Stadte ver­

sucht wurden.

LIlERAlUR

Sachsse, Rolf 1994: Stillstand im Wandel. In: VorOrt-Eine Sammlung topografischer

Fotografien Ostdeutschlandands. Hrsg. von Verbundnetz Gas AG. Leipzig

Ullmann, Gerhard 1993: Feste Raume, fliichtende Bilder.ln: Deutsche Bauzeitung 127

(6/93)

Bilder vom Transit 87

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JENA. Magnus-Poser-Stral3e. 1995

88

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DIE ALTBAUGEBIETE Fotografien

JOrgen Hohmuth

89

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DESSAU. KarlstraBe. 1989

90

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DESSAU. GoethestraBe. 1995

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DESSAU. Karlstral3e. 1989

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WEIMAR. Untergraben. 1995

93

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DESSAU. MarienstraBe. 1995

94

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DESSAU. Ziebigker StraBe. 1995

95

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WEIMAR. Cranachstrafle. 1990

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DESSAU. Fischereiweg. 1989

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JENA. MagdeJstieg. 1988

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DESSAU. Dessau·Nord. 1989

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JENA. Karl-Liebknecht-Strafle. 1995

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WEIMAR. Cranachstral3e. 1990

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DESSAU. Triftweg. 1989

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JENA. Tatzendprommenade. 1988

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DESSAU. Heinrich-Heine-StraBe. 1989

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WEIMAR. Karl-Borchert-StraBe. 1990

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DESSAU. Kiefernweg. 1995

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WEIMAR. 1990

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JENA.1988

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lENA. HornstraBe. 1988

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DESSAU. 1995

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BILDNIS HANNAH ARENDT VOR DER SILHOUETTE EINES NEUBAUGEBIETES

Christine Weiske

111

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Wenn es eine gebrauchliche Methode der Renaissance-Portratkunstwar, eine reale Per­

son vor einer idealischen Landschaft anzuordnen, kehre ich dieses Verfahren um und stel­

le eine idealische Person - Hannah Arendt - vor eine reale Landschaft, genauer eine Stadt­

landschaft, vor die Silhouette eines Neubaugebietes. Jeweils werden verschiedene Objekte

und MaBstabe, die vorlaufig nichts miteinander zu tun haben bzw. hatten, in einem Rah­

men zusammengefUhrt und aufeinander bezogen. Darauf kam es mir an. Die Reibung und

die Spannung, die zwischen dem Verschiedenen entstehen kann, sollte umgemlinzt werden

in eine analytische Kraft, die zur Erhellung des Untersuchungsgegenstandes fUhren kann.

ANORDNUNG EINER TRIADE: ALLTAG - POLITIK - SELBSTDEUTUNG

EINSCHLlE6L1CH DEREN BELIEBIGER UMKEHR

Der Untersuchungsgegenstand sind die Neubaugebiete der DDR. Kein ganz bestimm­

tes, in der Verallgemeinerung kann man sicher liber aile reden. Das sind die Orte, an denen

sich die politischen und sozialen Absichten des untergegangenen Staates am deutlichsten

manifestieren. Sie sind einerseits in Beton gesetztes Credo eines politischen Systems, an­

dererseits sind sie Hlille und Verlaufsform fUr den ganz alltaglichen Lebensvollzug sehr vie­

ler Menschen im Osten geworden. Es sind rund 20 % der ehemaligen DDR-Bevolkerung. In

Jena zum Beispiel lebt mehr als ein Drittel der Stadtbevolkerung in Neu-Lobeda.

In diesen Neubaugebieten verschrankten sich Systemwelt und Lebenswelt miteinander.

Die Differenz dazwischen schmolz, wie ja Entdifferenzierung einer von mehreren Hinwei­

sen auftotalitare Zustande ist Mit dem Untergang der alten Systemwelt, mit ihrer Diskredi­

tierung und Selbstdiskreditierung, wirken die Verschrankungen jedoch weiter. Die Diskredi­

tierung greift auf die Lebenswelten und damit auf die Identitat der Neubaugebiets-Bewoh­

nerinnen und Bewohner liber. Imageverluste und Abwanderungen gehen nunmehr Hand

in Hand.

Ich will dieses Phanomen der Neubaugebiete hier nicht als wohnungspolitisches Pro­

blem, sondern als ein Medium behandeln, in dem das Zusammenspiel von Ligaturen und

Optionen, der Bindungen und Entbindungen, der Wahlmoglichkeiten und der Wahlakte zu

beobachten ist - als einen Vorgang der Transformation.

Aus den Befunden, die die DDR-Stadtsoziologie seit den 70er Jahren gesammelt hat,

laf3t sich die Innenperspektive dieser Neubaugebiete rekonstruieren. Sowohl die Perspekti­

ve der Neubaugebietsbewohner auf ihre eigene Lebenssituation als auch die Perspektive

der Stadtplaner und -planerinnen auf ihre professionellen Produkte. Was bislang feh!t, ist

die Auf3enperspektive. Der andere MaBstab, der fremde Blick, der den V-Effekt bringt, wie

Brecht das in seiner Dramaturgie genannt hat

112 CHRISTINE WEISKE

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Die Brechung der Perspektive des "reinen Alltags" 5011 Hannah Arendt bewirken. In "Vi­

ta activa oder Yom tatigem Leben" wahlt sie ein Instrumentarium zur Analyse, das im Riick­

griff auf Aristoteles und die stilisierte .$elbstdeutung der Griechen", wie Jiirgen Habermas

das in seinem .$trukturwandel der Offentlichkeir (1961: 16) konstatiert, seine "eigentiim­

Iich normative Kraft - bis in unsere TageU bewahrt hat Diese eigentiimlich normative Kraft

gebraucht Hannah Arendt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Marxismus, genauer mit

der Geschichtsphilosophie des Marxismus. Und diese Auseinandersetzung fuhrt sie nicht

als fanatische Antikommunistin, sondern mit dem analytischen Abstand einer prinzipiellen

Demokratin. Wenn sie die totalitaren Elemente im Marxismus seziert, dann zur theoretischen

Fundierung demokratischer Verfassungen und zur praktischen Eroffnung der lugange zum

Handeln. Genau das macht sie geeignet, Theoretikerin eines Transformationsprozesses -

eines Wandels zu sein.

In ihrem Verstandnis ist das "Handeln ... die Fahigkeit, etwas Neues zu beginnen"

(Young-Bruehl 1991: 444). Der analytische Blick auf aile erreichbaren der moglichen Welten

bringt sie zu dem Ergebnis, daB die Fahigkeiten zum Handeln und damit die Chance, etwas

Neues zu beginnen, ungleich verteilt sind - und zwar per Geburt ungleich verteilt sind. Die­

ses Thema ist ihr gelaufig auf der biografischen Ebene - als Jiidin und als Frau. Aber die

Konsequenz daraus ist nicht ein sozusagen ewiges Kastenwesen, sondern ein Streben nach

Emanzipation, das bei Hannah Arendt immer gleichzeitig zwei Dimensionen hat: die politi­

sche Dimension, in der sich ein Gemeinwesen konstituiert und die psychische Dimension,

in der die oder der Einzelne seinen Anspruch auf Emanzipation mit Wiirde - und nicht mit

unmenschlichen Verletzungen - aufrecht erhalten und durchsetzen kann. Das MaB dessen,

das sie politisch fur erstrebenswert oder durchsetzungswiirdig im konkreten Kontext befin­

del. macht sie fest an der Kraft konkreter Menschen, Neues in ihre Welt zu bringen. Sollte

ich solch eine Haltung bewerten, dann fie len mir Apostrophierungen wie Respekt und lu­

neigung fur andere ein.

Nun gehe ich iiber zur Darstellung ihres analytischen Instrumentariums, das sie in "Vi­

ta activa" entwickelt hat Ausgangspunkt fur die Marx-Kritik ist der eminent hohe Stellen­

wert, den er seiner Theorie der Arbeit einraumt sowohl in seiner Okonomie wie in seiner Ge­

schichtstheorie. Unter dem Begriff der Arbeit subsumiert er aile moglichen unterschiedli­

chen Tatigkeiten, die eine menschliche Existenz ausmachen. Der Sinn fur diese Entscheidung

Iiegt darin, in einer eschatologischen Geschichtsphilosophie den Antrieb zu finden, der den

historischen ProzeB auf sein lief hintreiben kann. 1m Gegensatz zu theologisch begriinde­

ten Eschatologien - also Erlosungstheorien bzw. Erlosungslehren - ist dieser Antrieb dem

Menschen inharent als eine anthropologische Kraft.

Das zweite Motiv fur Marx, der Arbeit diesen schopferischen Rang zu geben, ist die Ver­

kniipfung von Arbeit und Effizienz, die es erlaubt, eine Richtung in die Geschichte zu be-

Bildnis Hannah Arendt vor der Silhouette eines Neubaugebietes 113

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kommen, die Fortschritt heiBt Sowohl die politischen Institutionen, die Herrschaft ausuben

konnen, als auch das Reich der Freiheit, in dem es MuBe und freie Wahl der Betatigung

gibt, je nach Vorliebe und Begabung, sind die Foige effizienter Arbeit .Das Reich der Frei­

heit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und auBere ZweckmaBigkeit

bestimmt ist, aufhort; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphare der ei­

gentlichen materiellen Produktion" (Marx 1981: 828).

Diese Idee der historischen Aufeinanderfolge (Diachronie) bringt es erst mit sich, daB

es denkbar wird und legitim erscheint, daB Menschen Opfer bringen, damit andere nach ih­

nen das Reich der Freiheit erreichen konnen. Die ,Chaussee der Enthusiasten' fiihrt direkt

zum Karakum-Kanal. auf dessen Grund die Skelette der Enthusiasten neben denen der po­

litischen Kritiker der Sowjetmacht und neben denen von Kriminellen liegen. ,Wie der Stahl

gehartet wurde" von Nikolai Ostrowski (1932/34) ist die Geschichte der Industrialisierung

und die Geschichte der Verhartung von Gefiihlen, Hoffnungen und Wunschen.

Hannah Arendt dagegen befindet, daB die Vita activa, die menschliche Lebenskraft, sich

verschiedentlich auBern kann - als Arbeiten, als Herstellen und als Handeln. Ihre Begriff­

lichkeit entwickelt sie an der Geschichte der Griechen, wie sie sie von sich selbst ,stilisiert"

haben. Die Faszination, die die antike Hochkultur nicht nur fiir Hannah Arendt hat, scheint

mir in der Reife zu liegen, mit der ihre Verhaltnisse ausgelegt sind. Die Klarheit in den Ver­

haltnissen (gegeben in der Literatur als Realitat 2. Ordnung) erlaubt die Klarheit der Be­

grifflichkeit Aristoteles ist sicherlich die wichtigste Quelle dieses Denkens.

Alles Arbeiten, das dem Leben dient und Lebensmittel hervorbringt, die aufgegessen

und vernutzt werden, so daB sie bald nicht mehr da sind, gehort zum Haushalt Die Grie­

chen trennten ganz eindeutig und scharf den Haushalt (oikos) von der Polis als der Stadt

der Burger. Der Haushalt war allerdings viel umfanglicher als das heute bei einem moder­

nen Haushalt der Fall ist Aile Verrichtungen, die mit der Erhaltung des Lebens notwendig

verbunden waren, hatten ihren Ort im Haushalt Und auch das Herstellen, das auf der Erde

eine Welt errichtet, in der Menschen leben konnen, ist im Haushalt verortet Der Haus­

halt bezeichnet den Rahmen des "Naturhaften Zusammenlebens, in dessen Mittelpunkt

das Haus und die Familie" (Arendt 1981: 28) stehen. Das Haus ist der Mittelpunkt des

oikos, dazu kommen die Felder, Garten, Werkstatten, die Wege und StraBen, das Bordell, die

Schule. Der Bereich des Wirtschaftens in den Strukturen des Haushalts war gleichbedeu­

tend mit dem Privaten.

Dem Haushalt steht der Hausherr vor. Es herrscht das patriarchale Recht, das vom Haus­

herren ausgeubt wird, und aile anderen Haushaltsmitglieder in Abhangigkeit vom Haus­

herren hierarchisch anordnet: Frauen, Kinder, Sklavinnen und Sklaven, mitunter auch freie

Handwerker, die herstellen. Durch seine Hauswirtschaft, die ihm die Unabhangigkeit von

den Zwangen der Lebensnotwendigkeit verschafft. erlangt der freie Mann die MuBe, in den

114 CHRISTINE WEISKE

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Raum der Polis und in ihre Offentlichkeit einzutreten. Die Offentlichkeit der Polis ist in er­

ster Linie ein sozialer Raum, der zwischen freien und unabhangigen Menschen - Mannern

im Gesprach entsteht Dieses Gesprach setzt ihr wirkliches Zusammentreffen, die Ver­

sammlung, voraus. Agora heiBt sowohl die Versammlung der freien Manner der Polis - das

Ereignis -, als auch der Platz, auf dem diese Versammlung stattfinden kann.

Die Agora ist die Manifestation des politischen Prinzips von Offentlichkeit in der Struk­

tur der antiken Stadt Was offentlich verhandelt werden mu/3te, waren die Angelegenheiten,

die aile gemeinsam betrafen. " ... das Handeln und Sprechen vollzieht sich in dem Bezugs­

gewebe zwischen den Menschen, das seinerseits aus Gehandeltem und Gesprochenem ent­

standen ist, und muB mit ihm in standigem Kontakt bleiben" (Arendt 1981: 180). So ent­

steht Geschichte als Raum des Handelns. Handlungen oder auch "groBe Taten" waren ein­

zig in der Lage, das Ende einer mensch lichen Existenz zu uberdauern und Spuren zu

hinterlassen, die sich in die Unendlichkeit der Natur eingraben konnen. Die antiken Men­

schen verstanden ihre Sterblichkeit als ihre Sonderstellung in der durch Ewigkeit charakte­

risierten Natur- und Gotlerwelt Die grof3en Taten waren eine Moglichkeit der Annaherung

an die Vollkommenheit und an die Ewigkeit Die grof3en Taten, die Transzendenz in die

menschliche Existenz bringen konnten, konnte es nur im Raum der Polis und der Offent­

lichkeit geben. Der Haushalt diente der Endlichkeit - daher bezogen die freien Griechen ih­

re Geringschatzung der Arbeit, die sie als sklavisch a uffaBten.

Oikos und Polis bezeichnen zwei verschiedene Seinsordnungen der anti ken Gesell­

schaff, der auch verschiedene Rechtsordnungen folgen. Despotie und Hierarchie auf der ei­

nen Seite und Freiheit und Gleichheit auf der anderen Seite.

Handeln und Sprechen, von Hannah Arendt nahezu identisch verstanden, lassen die

sozialen Arrangements zwischen den formal gleichen Mannern durch die Geltung des Ar­

guments entstehen. Die hochste Geltung erreicht der Vortreftliche - der der Vollkommenheit

Nachste. Anerkennung durch die anderen ist das Aquivalent, auf das er rechnen kann. 1m

Akt des Zueinandersprechens konnen sich die Sprecher ihres Handelns und Denkens ver­

gewissern und sie konnen sich ihrer selbst vergewissern.

Pluralitat als die Tatsache, nicht allein zu existieren, sondern sich selbst finden und er­

leben zu konnen im Wortwechsel und im Blickwechsel mit einem anderen, zahlt Hannah

Arendt zu der "human condition", die den litel der amerikanischen Ausgabe ihres Buches

abgibt Sie schildert eindringlich sowohl die politische Bedeutung als auch die psychische

Bedeutung, die in der freien Kommunikation liegen, und die das Gesprach, der Dialog, der

Disput je miteinander verknupfen.

1m Arendt'schen Deutungsmuster von Geschichte - in Kritik zu Marx - bestehen die

Reiche von Notwendigkeit und Freiheit nicht nacheinander, sondern nebeneinander in ei­

ner Zeit Wenn auch die Zugangsbedingungen zur zweiten Seinsordnung hoch reglemen-

Bildnis Hannah Arendt vor der Silhouette eines Neubaugebietes 115

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tiert waren und den groBten Teil der Gesellschaft ausschlossen - aile Unfreien, aile Frauen,

aile Kinder - aber dieses Nebeneinander der Seinsordnungen bricht die Teleologie und Es­

chatologie in der Geschichte, die .geschlossene" Gesellschaften begiinstigen, weil sie Ele­

mente des Totalitaren abgeben.

Soviel also zu einigen wichtigen Kategorien politischen Denkens, die Hannah Arendt

in ihrer .Vita Activa" entwickelt Sie sind geeignet, zur Analyse realer Situationen herange­

zogen zu werden. Dieses Denken kann tatsachlich .konkret und praktisch werden", eine

Aufgabe, die Hannah Arendt fUr die Philosophie akzeptiert hatte (Young-Bruehl 1991: 306).

DER GROSSE HAUSHALT UNO DER VERLUST VON STADT

Die Bilder von Neubaugebieten, die sich darstellen, wenn man durch diesen Focus

schaut, zeigen Stadtteile, die iiberdimensionale Haushalte sind. Das Wohnungsbaupro­

gramm der DDR-Regierung sah in etwa 15 Jahren zwischen 1976 und 1990 den Bau bzw.

die Sanierung von etwa 3 Millionen Wohnungen vor. Ais Wohnungsbauprogramm war es

kein Stadtebauprogramm. Es entstanden Wohnungen, Kaufhallen, Kindergarten, Schulen,

Ambulanzen, StraBenbahnlinien, Gebietsgaststatten, Schwimmhallen, aber es entstanden

keine Stadte.

Der Verlust von Urbanitiit war offensichtlich und er loste auch fachwissenschaftliche

Debatten aus zwischen Architekten, Stadtplanern, Kulturwissenschaftlern, Politikern u.a. Leu­

ten. Auch die Soziologen beteiligten sich an dieser Diskussion. Der Befund war: ES FEHLT -

es fehlt beispielsweise an Kinos, an Theatern, an FuBgangerbereichen, an Platzen. Es war

vor allem der Verlust des Politischen, der spiirbar wurde. Es gab aber niemanden, der das

zeitgleich so hatte sagen konnen.

Brigitte Reimann, die Autorin des fUr die DDR wichtigen Romans "Franziska Linkerhand",

war 1960 nach Hoyerswerda gezogen. In einem Artikel fUr die "Lausitzer Rundschau" von

1963 verwendet sie folgende Formulierungen, urn ihr Unwohlsein auszudriicken: Einerseits

mangelt es der Stadt an .Intimitaf' und "Atmosphare", es fehlt ihr der "eigene(n) Duft, ihre

eigene Farbe ... und ein(en) unverwechselbare(n)r Zauber". Die Foigen von Industrialisierung

und Standardisierung hinterlassen in der modernen sozialistischen GroBstadt das GefUhl

von Verwechselbarkeit und Austauschbarkeit: "Wir leben in einer Stadt aus dem Baukasten:

eine schnurgerade Magistrale, schnurgerade NebenstraBen, standardisierte Hauser, stan­

dardisierte Lokale (man ist nie ganz sicher, in welchem man denn nun sitzt), ... ein Glas Bier

in einem Lokal. das nach Eile und Igelit aussieht... Eine Stadt der Typenbauten kann zum

Problem werden ..... Andererseits fehlt es den Neubaugebieten genauso an wirklich stadti­

schen Lebensaufkrungen. Brigitte Reimann beschreibt das folgendermaBen: "Eine Zeitlang

habe ich mich einer iibertriebenen Empfindlichkeit verdachtigt. weil mich die langweiligen

116 CHRISTINE WEISKE

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DESSAU.1989

117

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Fassaden der Magistrale bedriicken (nein, es macht keinen SpaB, dort entlang zu bummeln,

es gibt nicht einmal Schaufenster zu besehen), und weil ich den Ausblick auf eine Kolon­

ne von Miillkiibeln und Leinen voll trocknender Wasche nicht schOn finde, der trotz der

Griinflachen einen Eindruck von kleinstadtischer Enge hervorruft Inzwischen habe ich mich

mit vie len Leuten unterhalten, die ein ahnliches Unbehagen verspiiren ... Es ist ein Irrtum zu

glauben, daB eine Stadt modern wird durch die Freude am Wohnkomfort ... in den Woh­

nungen leben Menschen, die mehr brauchen als Bad und Fernheizung." (Reimann 1994:

20t) Die Stadt hat nichts Intimes und auch nichts Otfentliches und Stadtisches - sie hat

sozusagen einen reduzierten Spannungsbogen.

Die .Privatisierung des Politischenu (Wolfgang Engler) ist das eigentliche defizitare Pro­

blem. Die kleine, rote DDR mit ihren riesigen Transparenten, den Maidemonstrationen und

Jugend- und Sportfesten, dem taglichen ND und der Aktuellen Kamera war so unpolitisch

wie nur moglich.

Der Haushalt mit seinem Niitzlichkeitsdenken war iiberall hingeschwappt Am ehesten

kollidierten die Kiinstler und Wissenschaftler mit ihren kontemplativen und auf Reflexion

ausgehenden Anspriichen an sich und ihr Publikum, ohne die sie ihren Beruf an den Na­

gel hangen konnten, mit der haushaltsfOrmigen Gesellschaft Auf diesem Hintergrund gab

es kaum Verstandnis fOr formale Experimente, fOr I' art pour I'art. fOr philosophische Dispu­

te oder auch nur fOr Streitgesprache.

Es ist bezeichnend, daB die Talk-Show nicht in der DDR "erfundenu wurde. Das Genre

mit seinen Spielregeln hat das Arrangement des Politischen in etwa behalten: Leute mit den

gleichen Moglichkeiten, namlich anwesend zu sein und sprechen zu diirfen, tauschen ihre

Gedanken aus. Das Ergebnis ist offen. Es wird von der Geltung der Argumente bestimmt

Und ware Nina Hagen zu DDR-Zeiten je zu einer Gesprachsrunde ins Fernsehen eingela­

den worden und hatte sie auch da die Zunge in die Kamera gestreckt wie sie das im ZDF

oder der ARD gemacht hat dann ware zumindest das herausgeschnitten worden, weil"man das nicht macht" und weil es sich ohnehin urn eine Aufzeichnung gehandelt hatte. Wen

wollte sie damit provozieren? Vielleicht bedeutete die Geste auch etwas ganz anderes. Wir

hatten uns niemals Gedanken dariiber machen konnen, denn wir hatten's nicht erlebt

Ahnlich wie das Fernsehprogramm in diesem Sinne privatisiert war, war die Otfent­

lichkeit aus dem Stadtraum verdrangt und das Politische fand nicht statt Das mag ver­

wundern, wenn man die Begriindung des Landeskonservators zum Denkmalschutz des En­

sembles urn den Marx-Kopf im Zentrum von Chemnitz liest Es wird als Hochform der Ma­

nifestation der Ideologie des Marxismus-Leninismus definiert. aber es ist darum nicht

gleichzeitig Manifestation von Politik, wenn ich im Begriffsverstandnis von Hannah Arendt

bleibe. Die Formulierung von Thomas Topfstedt iiber die groBen Platze fOr die FlieB- und

Standdemonstrationen ist von den Feuilleton-Schreibern der groBen Zeitungen oft zitiert wor-

118 CHRISTINE WEISKE

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den, meist ohne Ouellenangabe. Er schreibt 1988: "Bei der Konzipierung dieser groBraumi­

gen Ensembles spielten verkehrsplanerische Oberlegungen zwar eine nicht unwichtige Rol­

le, doch lag der entscheidende Antrieb in dem BemOhen, fOr die FlieB- und Standdemon­

strationen einen festlichen stadtebaulichen Rahmen zu schaffen. DaB insbesondere die

groBen Platze nur wenige Tage im Jahr fOr Manifestationen, Volksfeste und Aufmarsche

benotigt wurden, aber im unfestlichen stadtischen Alltag auf Grund eines Unterangebotes

an Kommunikationsmoglichkeiten sich nicht bewahrten, wurde als Problem erst spater zur

Kenntnis genommen." (fopfstedt 1988: 48)

Dieses litat wird oft gegen die Architekten und Planer solcher Bauwerke gewendet als

hatten sie lediglich opportunistisch die Dekoration aufgebaut fOr die Machtgeilheit unserer

alten Manner. So einfach ist das nicht Natiirlich ging der Maiumzug am Marx-Kopf vorbei.

Natiirlich fanden dort die Vereidigungen der Soldaten statt und Kranzniederlegungen am

Tag der Republik. Auch der Marx-Engels-Platz in Berlin war der Platz der Demonstrationen,

jedoch niemand fand es skandalos, daB ansonsten auf diesem zentralen Platz, auf dem das

SchloB als Symbol von Macht abgeraumt wurde, urn fOr eine andere Geschichte Platz zu

haben, daB hier Autos abgestellt wurden, das war praktisch und nOtzlich, die Blasphemie

wurde nicht konstatiert Es gab keinen Auftraggeber oder Bauherren, der eine Umgestal­

tung des Platzes in Gang gebracht hatte.

FOr Architekten und Planer war es schon ein Problem der Berufsehre, daB ihre Platz­

gestaltungen sich nicht bewahrten, wie Topfstedt sagt Db StrauBberger Platz, ob Alexan­

derplatz, ob Altstadter Markt in Dresden oderThalmann-Platz in Halle. Die Platze hatten kein

Leben. Der stadtische Alltag hatte lediglich "ein Unterangebot an Kommunikationsmog­

lichkeiten". Auch das stimmt in einem gewissen Sinne. Das eigentliche Problem war, daB es

im stadtischen Alltag ein Oberaus geringes Bedarfnis nach offentlicher Kommunikation gab.

Wenn also die Architekten durch ihre Profession sich berufen und beauftragt fOhlten, die

angemessene Gestaltung fOr Kommunikation im Raum der Stadt zu finden, gab es schon

den Stadter und die Stadterin nicht mehr. Es war niemand mehr da, der hatte sprechen wol­

len oder konnen.

Bruno Flierl, ein Architektur-Theoretiker in der DDR, der nicht stromlinienfOr­

mig angepaBt war in seinem Denken, schreibt noch 1991, daB "kommunikative len­

tralitat" eins der wichtigsten konzeptionellen Anliegen fOr die Gestaltung der len­

tren der sozialistischen Stadte war (Flierl 1991: 59). Diese Einschatzung trifft er sowohl

aus der Perspektive des Bauherren, aus der Perspektive der Architekten als auch aus der

Perspektive der Architektur-Kritik. Bis zur letzten Minute haben die Expertinnen und Ex­

perten gemeint sie mOBten die architektonisch und asthetisch "richtigen" Bedingungen

schaffen, dann wOrden die Stadte urbaner. Dieses Thema der Kommunikation in der

Offentlichkeit der Stadt ist ein treffendes Beispiel fOr die Selbstverkennung, die eine Gesell-

Bildnis Hannah Arendt vor der Silhouette eines Neubaugebietes 119

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schaft Ober sich seiber haben kann (und zu der im Obrigen auch ich mit meiner Arbeit

beigetragen habe).

DISTANZ ALS GEWINN UND ALS AUFGABE

In seinem Essay .Die GroBstiidte und das Geistesleben" gibt Georg Simmel ein Psy­

chogramm des GroBstadters: er schildert sehr eindrOcklich die Ambivalenz, die in einem Le­

ben liegt, das unter vielen anderen und fremden mit einer groBen Distanziertheit eingerichtet

wird, das Entwurzelung aushalten soli, das den Verstand vor das GemOt setzt Er beschreibt

einen Menschen mit modernen Beziehungen unter den Bedingungen von Verstandesherr­

schaft und Geldwirtschaft. Diese Menschen waren in der DDR selten .• Die Lebenssphare der

Kleinstadt ist in der Hauptsache in und mit ihr selbst beschlossen. FOr die GroBstadt ist dies

entscheidend, daB ihr Innenleben sich in WelienzOgen Ober einen weiten nationalen oder

internationalen Bezirk erstreckt Weimar ist keine Gegeninstanz, wei! eben diese Bedeutung

seiner an einzelne Personlichkeiten geknOpft war und mit ihnen starb, wahrend die GroB­

stadt gerade durch ihre wesentliche Unabhangigkeit selbst von den bedeutendsten Einzel­

personlichkeiten charakterisiert wird - das Gegenbild und der Preis der Unabhangigkeit, die

der Einzelne innerhalb ihrer genieBt" (SimmeI1993: 200f)

Die proletarische Revolution richtete sich gegen den Bourgeois als BOrger und mehr

oder weniger auch gegen den Citoyen als BOrger. Die soziale Figur des Stadters und der

Stadterin ist abgewandert aus der alten DDR - durch Weggehen oder Abhauen, durch den

Tod der Alten, und indem sie nicht nachwachsen konnten.

Die Ambivalenz des Lebens in der GroBstadt mit Freiheit und mit Kalte, mit vielen Mog­

lichkeiten und mit Anonymitat ist ein Dauerproblem nicht nur auf der Ebene der personli­

chen Lebensgestaltung - auch in der politischen Theorie. Moderne Gesellschaften im Wan­

del mOssen andauernd das MaB zwischen ligaturen und Optionen ausbalancieren. Die DDR­

Gesellschaft allerdings war eine Gesellschaft mit starken ligaturen, mit viel Bindung und

mit wenigen Wahlmoglichkeiten. Sie verstand sich eher als Gemeinschaft denn als Gesell­

schaft. Die "Sechzehn Grundsatze des Stadtebaues·, von der Regierung der Deutschen De­

mokratischen Republik 1950 beschlossen, formulieren, daB der Wiederaufbau und die Ent­

wicklung der Stadte "dem sozialistischen Gemeinschaftsleben" dienen sollen - daher auch

.Gemeinschaftseinrichtungen". Damit bin ich wieder im Neubaugebiet - sozusagen in der

groBen Haushaltung.

1m Neubaugebiet wurde in erster linie geschlafen, die Wasche gewaschen, gekocht,

Hausaufgaben gemacht, auf dem Balkon gesessen und Kaffee getrunken. Es war der Ort

des Haushalts, der Feierabenderholung. Am Wochenende ging's raus in den Garten oder

zum Wandern, Verwandte besuchen oder in die Stadt Der Freiraum diente vor allem haus-

120 CHRISTINE WEISKE

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DESSAU. Romanjukpiatz. 1989

121

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wirtschaftlichen Verrichtungen, wie Wasche aufhangen, MOil wegbringen, Auto waschen,

Teppich klopfen, FuBwege kehren, Vorgarten pflegen. Die nachbarschaftlichen Beziehungen

waren freundlich, offen. Konflikte selten. Die Leute kannten sich. Meist sind sie gemeinsam

eingezogen und da es wenig Fluktuationen gab in der DDR. wohnen sie oft schon Jahr­

zehnte TOr an TOr.

Hauswirtschaft und Gemeinschaft waren die okonomischen und sozialen Strukturen,

die den Rahmen fOr das Leben im Neubaugebiet abgegeben haben. Die hatten auch ihre

asthetische Erscheinungsweise: Manner in Trainingshosen und Hausschlappen montieren

an ihren Autos, Frauen in der KittelschOrze gehen mal eben durchs Treppenhaus. GeblOm­

te Tapeten kleben auch im Schulzimmer. Gardinen und geblOmte lischdeckchen sogar in

der Polizeibehorde. Die Asthetik des Wohnzimmers ist Oberall, weil das Private Oberall ist

und das Politische ausgetrieben hat "Privat geht vor Katastrophe" ist ein Spruch aus dem

DDR-Repertoire, der genau das ausdrOckt Der private Bereich war das, was man kannte und

bis zu einem bestimmten Punkt auch handhaben konnte. Er bot auch eine gewisse

Barriere gegenOber den Obergriffen aus der Systemwelt, gegenOber der es sinnvoll war, sich

zu solidarisieren.

So gesehen sind die Neubaugebiete exemplarisch sozialistische Orte. Kann das auch

anders werden? Soli das anders werden? Wer will, daB es anders wird? Haben diese Stadt­teile und haben die Leute darinnen eine Chance, den TransformationsprozeB mitzumachen,

und wer sind Oberhaupt diese Leute?

1993 veroffentliche Alfons Silbermann eine Studie unter dem litel: "Das Wohnerlebnis

in Ostdeutschlandu• In seiner, fOr die alte DDR reprasentativen Stich probe markieren sich die

Neubaugebietsbewohner folgendermaBen: Es sind im Sinne eines Prototyps Oberdurch­

schnittlich gut ausgebildete Leute, mittleren Alters, die in Familien leben und Ober ein mitt­

leres Einkommen verfOgen. Der wichtigste Grund, der zu DDR-Zeiten fOr eine Wohnung im

Neubaugebiet sprach, war der Komfort - und das hieB: Heizung, warm Wasser, Innen-WC

und Balkon. Dieser Komfort war nicht einfach nur eine Angelegenheit von Bequemlichkeit,

von hedonistischen AnsprOchen an ein schones Leben - dieser Komfort hatte nicht nur ei­

nen Sinn in Bezug auf die Lebenslauflogik, sondern war auch Ausdruck sozialer Gerech­

tigkeit Das sei ohne Zynismus gesagt

In den biographischen Kontexten der politischen Klasse der DDR spielten die proleta­

rischen HerkOnfte und Lebensverhaltnisse eine wichtige Rolle. Derlischler, der Dachdecker

- bei Lenin sollte es sogar der Kochin moglich werden, den Staat zu leiten. Die verinner­

Iichte Stigmatisierung durch die kleine Herkunft, die Diskriminierung durch die Adresse, die

auf eine Stube-Kammer-KOche-Existenz hinweist, gehOrte zu den Lebenserfahrungen der

StaatsgrOnder und der Aufbaugeneration der DDR. Die neue Stadt, die sozialistische Stadt,

sollte der Gegenentwurfwerden - hell, luftig, hygienisch, praktisch, im GrOnen - das waren

122 CHRISTINE WEISKE

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die Pendants zum dunklen Hinterhof, der eng en StraBe, dem Klo auf dem Hof, der Enge,

der Stickigkeit

Die Wohnungsbautltigkeit des Staates war immer auch Sozialpolitik. Ihre Adresse wa­

ren die Werktatigen, die Schichtarbeiter, die jungen Familien, die Kinderreichen - daher

kommt es zu solchen Vereinseitigungen und Schichtungen in der Besiedlung der Neubau­

gebiete, daB relativ junge Leute gemeinsam eingezogen sind und gemeinsam alter und alt

werden. Der Wohnungsmarkt ist durch die Staatspolitik und Staatswirtschaft ganz bewuBt

auBer Kraft gesetzt worden, damit die Wohnung keine Ware ist Es sollte ein proletarischer

Traum in Erfiillung gehen, daB das Recht auf eine Wohnung jedem zusteht - am ehesten

denen, denen eine besondere Dringlichkeit zugestanden wurde. Die staatlich subventio­

nierten Mieten, die weit ab von den Kostenmieten lagen, waren eine Art der Umverteilung

des Bruttosozialproduktes im Sinne einer zweiten LohntOte.ln dem MaBe, in dem das Brutto­

sozialprodukt geringer wurde, wurde es zynischerweise eine Umverteilung von Schulden,

die heute bei der Bundesbank zu Buche schlagen.

Der Lebensstandard im Neubaugebiet wurde also allgemein aufgefaBt und verstanden

als der "Normalfall von Leben". Er gab den MaBstab ab fur die Bewertung der Lebenssitua­

tion auch in anderen Lebensverhaltnissen - z.B. fur die Ziele und den Umfang der Sanie­

rung im Altbau. In diesem Sinne war die Neubauwohnung nicht nur eine Wohnung - sie

war auch so etwas wie eine Bestatigung fur ein Lebenskonzept Eine positive ROckmeldung

fur "richtige" Entscheidungen im Leben.

Unter keinen Umstanden ins Neubaugebiet gezogen sind die, denen das MaB der ,,50-

zialistischen Normalitat" zu eng war als kulturelles Muster oder als Flachennormativ. Die

durchschnittliche Neubauwohnung hatte 58 qm. Die das MaB der Normalitat in der DDR fur

sich ablehnten, wohnten dann eher am Prenzlauer Berg oder in der Dresdner Neustadt ne­

ben den en, die nicht in die Vergabemuster der Wohnungsamter paBten - das waren die

Nicht-Arbeiter, die Nicht-jungen-Familien und die Nicht-Familien im Sinne der Kernfamilie

von Mutter-Vater-Kind(ern). In der Statistik zur Sozialstruktur der Stadtteilbevolkerungen war

dieser Sortier- oder Segregations-Effekt nicht ablesbar. Der Anteil von Arbeitern, Intelligenz­

lern, Angestellten unterschied sich kaum zwischen einem Alt- und einem Neubaugebiet

wenn man allein die Zahlen anschaut Die Entscheidung, die Neubauwohnung zu tauschen

gegen eine heruntergekommene Altbauwohnung, lag auf einer anderen Ebene der Per­

sonlichkeitsstruktur und des Lebensstils.

Sowohl vor der Wende als auch nach der Wende gibt es soziologische Befragungen

zur Wohnungszufriedenheit mit den Neubauwohnungen. Sie bringen jeweils ahnliche Er­

gebnisse. Die Wohnungszufriedenheit ist hoch. Es sind weit mehr als die Halfte der Befragten,

die uneingeschrankt zufrieden mit ihrer Wohnung sind und nur ein knappes Viertel und

weniger ist unzufrieden.lch beziehe mich hier aufErhebungen von 1991 am GroBen Dreesch

Bildnis Hannah Arendt vor der Silhouette eines Neubaugebietes 123

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in Schwerin (Weiske/Schafer 1993) und von 1993 in Weimar-Nord (Zapfu.a.1995). Die Woh­

nungen seiber sind nicht starker unter Kritik geraten als zu DDR-Zeiten auch. Auch die Kri­

tikpunkte sind nach wie vor dieselben.

Die Kritik richtet sich auf die Freiraume im Gebiet Gut daB es zu viele Autos und zu

wenige Parkplatze gibt weiB inzwischen jeder. Was aber die Stellplatzdebatte unabhangig

von diesem konkreten Thema zeigt ist die Tatsache, daB die bisherigen Regularien uber le­

gitime und nichtlegitime Verhaltensweisen vor der Tur nicht mehr gelten.

Diese Regularien gingen bislang von der Gemeinschaft bzw. von den Gemeinschaften

aus - Nachbarschaften und Hausgemeinschaften. Wichtig in unserem Zusammenhang ist

nicht der Grad der Organisation, sondern das Gefuhl von Zugehorigkeit Der Systembruch

hat dieses Gefuhl der Zugehorigkeit erschUttert weir ohne ein offenes Gesprach nicht zu

klaren war, ob die Gemeinschaft weiter besteht - z.B. nicht mehr als formale Hausgemein­

schaft mit HGL (also Hausgemeinschaftsleitung) aber vielleicht als Mieterversammlung oder

als Versammlung der Genossinnen und Genossen, urn die Angelegenheiten mit dem Vor­

stand oder der Geschaftsleitung der Genossenschaft zu klaren. Das unsichere Gefuhl, ob je­

mand noch dazu gehoren mochte oder nicht resultiert auch aus der Unsicherheit ob aus

der Zugehorigkeit Diskriminierung erwachsen kann oder nicht Wenn z.B. eine Frau mit ih­

rer DFD-Gruppe im Advent eine Kaffeerunde organisiert hat bei der Handarbeiten fur den

Solibasar gestrickt oder gehakelt wurden: was ist verwerflich daran? Andererseits war der

DFD (Demokratischer Frauenbund Deutschlands) eine der politisch kontrollierten Massen­

organisationen der DDR.

1m Moment zerfallen oder sind schon zerfallen die lokalen Gemeinschafien, von denen

die Regulative fur das angemessene Verhalten urns Haus im Stadtteil ausgingen. Es ent­

stehen sowohl Konkurrenzen urn die Raume, die nun "frei" im Sinne von unbestimmt sind,

wie auch Angste und Unsicherheiten daruber, daB man nicht mehr weiB, was nun gilt Die­

se Verunsicherung wird durchaus als Enteignung wahrgenommen. "Das ist nun nicht mehr

meins", ist eine Formulierung einer Bewohnerin des Heckert-Gebietes in Chemnitz, die in­

zwischen mit ihrer Familie ins Umland gezogen ist Fur sie ist es ein ganz bewuBter Bruch

mit der Stadt die nicht mehr Karl-Marx-Stadt ist MEIN'S meint hier nicht Besitz in einem ju­

ristischem Sinne, sondern das Recht aufVerfugung und Nutzung. Das Recht zu gehen und

zu stehen, den FuB hinzusetzen.

Die Angstlichen folgen anscheinend eher derVerunsicherung und ziehen sich aus dem

Freiraum zuruck - je geringer sie ihre Durchsetzungsf<ihigkeit empfinden, desto eher. Von

Frauen ist zu horen, daB sie abends nicht mehr auf die StraBe gehen oder sich von ihren

Mannern bringen und hoi en lassen. Aber auch ein Ehepaar, das fruher in Konzerte und ins

Theater ging, lam das nun sein. Der Mann sagt, er wolle sich nicht abends anpobeln oder

verprugeln lassen.

124 CHRISTINE WEISKE

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DESSAU. Lustgarten. 1995

125

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Die Kinder und die Jugendlichen gehen anscheinend offensiver mit dem freiwer­

denden Raum um. Allerdings verfiigen auch nicht sie iiber den Riickzugsraum der Woh­

nung, sondern ihre Eltern. Wenn sie den Reglementierungen dort entgehen wollen, dann

miissen sie raus. Diese raumgreifende Kraft lost bei den Erwachsenen zusatzliche Ver­

unsicherung, aber auch Neid aus. Die Jugendlichen, die im Freiraum agieren z.B. als

Scateboardfahrer oder als biertrinkende und rauchende Gruppe wirken ungemein pro­

vokativ auf die Alteren, die ihre Angste auf die Jiingeren projizieren. In dem MaBe je­

doch, in dem die Jugendlichen sich den freien Raum nehmen und aneignen, wecken sie

bei den Erwachsenen VerlustgefUhle. Das vage Gefiihl der Enteignung laBt sich nun mit

Personen verbinden. Es entsteht Raumkonkurrenz, noch bevor konkrete Nutzungsan­

spriiche miteinander konkurrieren konnten, die in einem verniinftigen Planungsverfah­

ren gegeneinander abgewogen und harmonisiert werden konnten. Diese Raumkonkur­

renz wird eigentlich nicht um Flachen und Nutzungen im Freiraum des Wohngebietes

gefUhrt, sondern um Lebensperspektiven, um Hoffnungen, um ein Bild von Zukunft und

ein LebensgefUhl, das einem die MuBe verschafft, einfach so an der Ecke zu stehen, zu

quatschen und zu rauchen. Was die Jugendlichen in ihrer Gruppe eigentlich so bewe­

gen, was sie zusammenhalt, welche Konflikte sie ihrerseits haben, wissen die Erwach­

senen kaum.

So geht der Verfall der alten lokalen Gemeinschaften einher mit zunehmenden Kon­

flikten, die neue Inhalte und Anlasse haben, und die auch in der Struktur von Generati­

onskonflikten ablaufen konnen oder schon ablaufen. Das ist in gewisser Weise auch neu

fiir die alte DDR, die ihre Generationskonflikte unter der Decke gehalten hat Nicht um­

sonst gab's bei uns kein '68. Die Vater hatten die Sohne und erst recht die Tochter ganz

gut an der Kandare.

Die Verlustangste, die mit dem Verfall der Gemeinschaften verbunden sind, werden

nicht als solche zur Sprache gebracht Sie finden andere Oberschriften, die als nicht so

beschamend empfunden werden wie Angst Eines dieser Themen heiBt "Ordnung und

Sauberkeit". Dieses Thema muB nicht eigens begriindet werden, es ist sozusagen evident

unter "anstandigen Leuten". Es driickt sowohl die Verunsicherung der Sprecherinnen und

Sprecher aus als auch ihre Wiinsche nach einer allgemeinverbindlichen Norm, von der

Sicherheit ausgehen konnte. Gleichzeitig laBt es zu, die Aggressionen zu adressieren an

die, die die Ordnung storen und die den Dreck verbreiten. Es ist das Prinzip Siindenbock,

das unter dem Thema Ordnung und Sauberkeit abzulaufen scheint

Allerdings gibt es auch Neubaugebiets-Bewohner, fUr die die Distanzierung in den

Nachbarschaftsbeziehungen genau das ist, was sie gut finden. Die soziale Kontrolle

wird schwacher und interpersonelle Anordnungen sind weniger hierarchisch als in

den alten Gemeinschaftsbeziehungen.

126 CHRISTINE WEISKE

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SELBSlVERTRAUEN UNO OFFENTLICHKEIT

Ich kann in das Lamento Ober den Verfall alter Gemeinschaften nicht einstimmen. Ich

deute den Verfall der alten lokalen Gemeinschaften als notwendigen Schritt eine Bezie­

hungskultur des Politischen zu ermoglichen. Wenn Gemeinschaftsbeziehungen zugewie­

sene Beziehungen sind durch Verwandtschaft oder im Faile der Nachbarschaften durch das

Wohnungsamt, kommt es jetzt auf gewahlte Beziehungen an. "Mit WEM will ICH WAS un­

ternehmen?" ware die Frage. Die Frage klingt so simpel und wenig theoretisch abgehoben,

aber sie hats in sich.

In Schwerin 1991 fragten wir z.B.: "Wofur interessieren Sie sich in Ihrem Wohngebiet?"

Bei den Antworten rangierte auf dem 1. Rangplatz "lch habe keine Interessen." (86 Nen­

nungen); (2.) ..Ich interessiere mich fur Ordnung und Sauberkeit" wurde 48 mal genannt; (3.)

.,Seit der Wende interessiere ich mich fur nichts mehr" wurde 33 mal angefuhrt und (4.) "FOr

das GrOn und die Hausgarten", war eine Antwort, die 21 mal gegeben wurden. Auf dem 5.

Rangplatz folgten "Parkplatze" und .,Sport- und TanzveranstaltungenU mit jeweils 6 Nen­

nungen, die weiteren 56 Antworten streuten so breit, daB wir sie nicht mehr Rangplatzen

zuweisen konnten (Weiske/Schafer 1993: 122).

Die sozialen Reservoirs, aus denen sich eine andere Beziehungskultur entwickeln

konnte, waren nach der ErschOtterung der Wende sehr bescheiden. Die Aktivitatspotentia­

Ie sind auch heute noch gering. FOr die sozialwissenschaftliche Forschung ergibt sich hier

die Frage, wie diese Potentiale zu unterstutzen und zu erweitern sind, damit die Lethargie

und die Sehnsucht zurOck sich nicht verstarken, sondern damit sich eine Perspektive offnet

fur moglichst viele Leute.

Aber nun zum SchluB will ich auf Hannah Arendt zurOckkommen. Es geht urn

nichts Geringeres als urn die Gewinnung des Politischen und des Offentlichen. Wenn

solche Stadtteile, wie z.B. Jena-Lobeda, ein stadtisches Leben entwickeln konnten, dann mOB­

te es eine interne Entwicklung auf der Beziehungsebene und dann eine auBerliche, wahr­

nehmbare auf der stadtebaulichen Ebene geben. Ais urbane Stadte werden solche be­

zeichnet, die spontan und lebendig sind, die eine offene Atmosphare haben, so daB jeder

am Leben sich beteiligen kann und auch selbst lebendig sein kann: als Zuschauerin

oder ZuhOrerin bei einer StraBenmusik. als Mitspielerin z.B. bei einem Werbequiz, als Kau­

ferin in einem Laden, als Kundin in einem Cafe, als Diskutandin in einem Streitgesprach

Ober Gott und die Welt oder die Hundekacke Oberall, als Helferin fur eine Frau mit einer

groBen Tasche.

Die Tage rund urn den verhOllten Reichstag haben genau diese Situation hervorgebracht

Die Gewinnung des Politischen bedeutet ja nicht allein, daB ich an einer Demo gegen die

Abholzung des Regenwaldes oder den OTV-Streik teilnehmen mOBte, obwohl beides in den

Bildnis Hannah Arendt vor der Silhouette eines Neubaugebietes 127

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Raum des Politischen gehOrt, sondern daB der freie Raum mit Ereignissen erfiillt werden

kann, die nicht durchreglementiert sind, deren Ausgang offen ist

Bewahrt haben sich dafiir in der mensch lichen Kultur die StraBe und der Platz. Das

sind kulturelle Muster, die lesbar sind, die verstanden werden, die es lohnt zu kultivieren.

Wenn Sie sich zum Beispiel in eine digitale Stadt im Internet einloggen, dann finden Sie

dort StraBen und Platze, auf denen Sie entlanggehen konnen und die Sie durch die Stadt

fiihren. Sie konnen zielgerichtet eine Adresse aufsuchen oder bummeln und einfach mal

gucken, was Sie finden. Also auch da, wo kein Stein auf dem anderen liegt, wird das Mu­

ster STADT virtuell wiederholt

1m Neubaugebiet spielen StraBen und Platze fast keine Rolle, weil es sie nahezu nicht

gibt Ais Raumanordnungen gibt es sie nicht, weil mit der Platte schwerlich solche Raume

hergestellt werden konnten. Es entstehen andere Arten von Raumen, die anders genannt

werden mtiBten, "freiflieBende Raume" hat sie z.B. Joachim Bach, einer der Architekten von

Halle-Neustadt, genannt In diesen freiflieBenden Raumen ist es schwieriger zu klaren, was

wo geht und was nicht Sie enthalten zu wenig Strukturen und zu wenig Orientierung - und

verhindern damit eher Aktionen, als daB sie sie ermoglichen. Obwohl es im Neubaugebiet

schwerlich StraBen und Platze gibt, mtissen also Strukturen gefunden werden, die wie

StraBen und Platze funktionieren, damit verhandelt werden kann, was aile gemeinsam be­

schaftigt oder angeht Und dennoch wird dort nur etwas passieren, wenn es Leute gibt, die

gemeinsame Angelegenheiten haben.

Eine Stadt entsteht dort, wo Stadterinnen und Stadter eine Stadt bauen und betreiben

- das zeigt das Beispiel der digitalen Stadte gut Jetzt scheinen wir uns im Kreis zu bewe­

gen, denn das ist wieder die oft gestellte Frage, ob zuerst die Henne war oder das Ei.

Aber es hilft nichts - es ist tatsachlich ein Zirkel. dessen SchluB immer wieder auf seinen

Anfang verweist

Was als Thema zur Verhandlung ansteht, ist eben der Stadtumbau seiber. Wenn diese

Verhandlung stattfindet, dann ware das ein Schritt, das Offentliche und Politische wieder

herzuholen, und es ware eine mogliche Form der Bewaltigung der psychischen Foigen ei­

ner Despotie des Haushalts mit seinen totalitaren Elementen. Wenn es das Offentliche und

den offentlichen Raum klinftig in einem Neubaugebiet gibt, dann muB sich auch das Pri­

vate und Intime deutlicher abgrenzen lassen. Diese Grenzlinie zwischen den beiden Seins­

ordnungen war im Verstandnis von Hannah Arendt wichtig, weil tiber diese Grenze der Zu­

gang oder der AusschluB von Personen zu bzw. aus der politischen Sphare geregelt wurde.

Wenn die DDR als Gesellschaft durch die "Privatisierung des Politischen" zutreffend zu

charakterisieren ist, dann sind auch die Manner nicht in die politische Sphare liberge­

wechselt, weil es die nicht gab und der groBe Haushalt hat lediglich zur Domestizierung

selbst des Hausherren und seiner Sohne gefiihrt Und wenn diese Domestizierung die Grund-

128 CHRISTINE WEISKE

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lage der Gleichstellung der Sohne und der Tochter war, dann haben zumindest die Tochter

nichts gewonnen dabei, jedoch die Sohne veri oren.

Unter den Bedingungen des groBen Haushalts etwas zu werden, konnte fUr die Frau­

en und die Tochter nur heiBen, eine groBe Haushalterin zu werden. Das ist nichts Verwerf­

liches. Und die hausfraulichen Fahigkeiten vieler Frauen in der DDR waren bewunde­

rungswurdig, sie konnen Marmelade koch en und stricken, nahen und backen, verstehen

etwas vom Garten und von Kinderpftege und -erziehung, manche auch von ihrem Trabi. In

einer Gesellschaft ohne Markt muBte vieles in der Hauswirtschaft seiber hergestellt werden.

Mit derselben hausfraulichen Umsicht sind sie oft an ihren Beruf herangegangen - die Kin­

dergartentante ist bis zu ihrem Namen, der aus der verwandtschaftlichen Gemeinschaft ent­

nommen wurde, ein guter Beleg dafUr.

Xanthippe war auch eine groBe Haushalterin, ohne ihre umsichtige HaushaltsfUhrung

ware Sokrates wahrscheinlich verhungert und vergammelt Wie man bei Brecht nachlesen

kann, hat sie seine Heldentaten auf dem Schlachtfeld mitgetragen und ihm ein FuBbad her­

gerichtet und den Dorn aus seinem FuB gezogen. Dieser Dorn, den er sich eingetreten hat

als er abhauen wollte, hatte ihn so zum Schreien gebracht daB er mit seinem Geschrei die

Feinde verjagt hat Sie war eine fUrsorgliche Frau. Und was ihr den weniger schmeichel­

haften Leumund eingebracht hat war der Umstand, daB sie den Sokrates immer wieder an

seine Pflichten als Hausherr erinnert hat ihn zuruckgeholt hat in die Hauswirtschatt, weil

aus ihrer Perspektive das Private wichtiger war als das Politische.

Das Private muB in einen anderen Zusammenhang gestellt werden - in den Zusam­

men hang zum Politischen. Denn das sollte uns der Zusammenbruch der DDR gelehrt ha­

ben: der Katastrophe entkommt man nicht im Privaten.

Die Verdeutlichung der Grenze zwischen dem Privaten und dem Offentlichen ist

wichtig, weil sich am Obergang uber diese Grenze der Anspruch geltend machen muB,

als freies Mitglied der Polis, des politischen Gemeinwesens, gelten zu wollen. Hannah

Arendt hat niemals den Haushalt als die Sphare des Privaten und Intimen gering geschatzt

oder gar abgewertet Sie hat diese Sphare geschlitzt und nur wenige Freunde einge­

lassen. Aber sie gehorte zu den Frauen, die ihren Anspruch aufs Sprechen und Handeln

immer aufrecht erhalten haben. Sozusagen wollte sie Xanthippe und Sokrates in einer

Person sein. Von der privaten in die offentliche Sphare zu gehen, hielt sie fUr ihr Blirger­

recht Und das war ihr Beruf als Intellektuelle. Von der offentlichen in die private Sphare

zu gehen, war ihr ein Bedlirfnis, urn Schutz zu haben, sich zu entziehen, sich zu

erholen. Georg Simmel philosophierte in seiner ..soziologie des RaumesU (1903/1992:

229): "Die Grenze ist nicht eine raumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen,

sondern eine soziologische Tatsache, die sich raumlich formf. Wenn also die Grenze zwi­

schen Offentlichkeit und Privatheit in den raumlichen Strukturen des Neubaugebietes

Bildnis Hannah Arendt vor der Silhouette eines Neubaugebietes 129

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schwer zu finden ist oder nicht zu finden ist dann spiegelt die raumliche Entgrenzung

eine soziale.

Entgrenzte Zustande sind immer strukturschwache Zustande, dicht am Kollaps. Des­

halb ist es wichtig, daB die Unbestimmtheit die in solchen schwachdefinierten Zustanden

wie dem Freiraum der Neubaugebiete liegt reduziert wird. Durch Planung zum Beispiel. Und

doch muB es auch immer wieder moglich sein, die Definition zu andern. Durch Gegenpla­

nung zum Beispiel.

Dieser Gedanke, daB NICHTS auBerhalb von Strukturen sein kann, daB Nachdenken

und Reflektieren heiBt Strukturen zu setzen, war Hannah Arendt genauso naheliegend, wie

der Gedanke, daB jede Struktur mit politischer Relevanz demokratisch legitimiert werden

muB und somit verhandelbar und anderbar wird. Damit schlagt sie ein Verfahren vor, mit

dem Ligaturen geknupft werden, urn Irritationen und Verunsicherungen abzuwenden, da­

mit der Mensch auf der Erde eine Welt haben kann - und gleichzeitig halt sie die Optionen

frei, daB diese Ligaturen wieder entflochten werden konnen. Die lebendige Kommunikation

ist die Institution, die das leisten kann. In ihrer das Gemeinsame stiftenden Funktion ist sie

nicht ersetzbar durch ein technisches Medium.

Die Vita activa haust sozusagen im freien und offenen Gesprach.

LlTERATUR Arendt, Hannah 1981: Vita Activa oder Vom tatigen Leben. MGnchen: Piper

Reimann, Brigitte/Henselmann, Hermann 1994: Briefwechsel. Hrsg. von Ingrid

Kirschey-Feix. Berlin: Verlag Neues Leben

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Flierl, Bruno 1991: Stadtgestaltung in der ehemaligenDDRalsStaatspolitik.ln:

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Simmel, Georg 1992: Schriften zur Soziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

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130 CHRISTINE WEISKE

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Bildnis Hannah Arendt vor der Silhouette eines Neubaugebietes 131

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JENA.. BinswangerstraBe. 1995

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DIE NEUBAUGEBIETE Fotografien

JOrgen Hohmuth

133

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lENA. Lobeda-West. 1995

134

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JENA. Lobeda-West 1995

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Page 139: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

JENA. Blick zum Heizkraftwerk von Jena-Winzerla. 1995

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JENA. Fritz·Ritter·StraBe. 1995

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JENA. Werner-Seelenbinder-Stra13e. 1995

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WEIMAR. Moskauer StraBe. 1990

139

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DESSAU. Pappelgrund. 1989

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DESSAU. ViethstraBe. 1995

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JENA. Emil-Wtilk-Stral3e. 1995

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JENA. Stauffenbergstrai3e. 1995

143

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JENA. Lobeda-West. 1995

144

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DESSAU. Otto·Langwagen-StraBe. 1989

145

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JENA. Lobeda-West. 1988

146

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JENA. BinswangerstraBe. 1995

147

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JENA. Karl-Marx-Allee. 1988

148

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DESSAU. Neuendorfstral3e. 1995

149

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DESSAU. Am Lustgarten. 1995

150

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JENA. Richard-Sorge-StraBe. 1988

151

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JENA. Werner-Seelenbinder·Strafle. 1988

152

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lENA. Stadtrodaer-StraBe. 1995

153

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DESSAU. 1995

154

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DESSAU. Bauhofstral3e. 1995

155

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WEIMAR-WEST. 1990

156

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WOHNZUFRIEDENHEIT VERSUS ALLTAGSERFAHRUNG

Wie Umfrageergebnisse in der DDR nicht verwertet werden durften

Alfred Schwandt

157

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Die Fotos dieses Bandes drucken es aus: Das stadtische Leben im Wendegebiet hat

sich in wenigen Jahren deutlich verandert Selbst in Schwarz-WeiB wird erkennbar, daB die

Stadte anders geworden sind, bunter. Reklametafeln beherrschen das StraBenbild, Markte

gehoren zum Alltag, die Blumen- und Gemuseladen zeigen nie geahnte Farben und

Formen. Ober Jahrzehnte vernachlassigte alte Hauser werden erneuert oder verschwinden,

haBliche Baulucken fUlien sich mit Arch itektu r, die ihre computergezeichnete Herkunft

nicht verleugnet

Die wichtigsten - und wohl auch teuersten - Veranderungen vollziehen sich allerdings

zuerst in Bereichen, die nur als Baustelle erlebbar und solange fUr Passanten eher ein Ar­

gernis sind: in und auf der Erde. Denn von dort, von den Versorgungsleitungen und Ver­

kehrswegen her, drohte diesen Stadten uber kurz oder lang der endgultige Kollaps. Fur ihre

Erneuerung reichte vor der Wende die Investitionskraft nicht aus, sie wurden nur im Havarie­

fall notdurftig geflickt

Kein Zweifel, die Stadte werden schoner, bunter, lebendiger. Aber wie erleben die Be­

wohner diesen ProzeB, hat sich denn ihr Urteil uber die Stadt im gleichen MaBe positiv ver­

andert? Sicher, nur ein Ignorant konnte gegenuber den sichtbaren Wandlungen in seiner

Stadt gleichgultig bleiben. Man muB die beginnende Verschonerung der Stadte begruBen,

auch wenn nicht alles, was da neu entsteht, gelungen scheint und sich respektvoll zum Vor­

handenen fiigt

Doch heiBt dies im UmkehrschluB, daB die Bewohner in Zeiten vor der Wende, als sich

die Bautatigkeit im Umfeld der Stadte konzentrierte und die durchaus gewollte Erneuerung

der Innenstadte den Wettlauf mit der Zeit nicht gewinnen konnte, ihre Stadt ungunstiger

beurteilen muBten als heute, daB sie einfach unzufriedener waren? Die Frage wird nur

schwer und mit zunehmendem Abstand immer schwerer zu beantworten sein, da die fruhe­

re Zeit in der Geschichte versinkt und Belege fiir das Urteil der Menschen uber ihre dama­

lige Lebensumwelt kaum existieren.

Es ware die Aufgabe der Soziologie gewesen, solche Belege zu sammeln und zu do­

kumentieren. Diese aber litt unter einem weitestgehenden Wirklichkeitsverlust und hatte

ihren ureigensten Forschungsauftrag, die kritisch-distanzierte Gesellschaftsanalyse, vollig

preisgegeben. In dieser Hinsicht war die Soziologie in der DDR in einer ahnlichen Situation

wie die Fotografie: soweit sie unter Kontrolle waren, duldete man sie nur in ihrer system­

stabilisierenden Funktion. NatGrlich gab es eine gesellschaftskritische Fotografie ebenso wie

eine gesellschaftskritische Soziologie. Beide aber entwickelten sich abseits der Offentlich­

keit und blieben standig beargwohnte Privatsache einzelner Akteure.

Gesellschaftskritische Momente findet man mehr oder weniger in allen soziologischen

Untersuchungen der damaligen Zeit, doch sie blieben meist auf das Bekritteln von Belang­

losigkeiten beschrankt und fanden selten zur analytisch-kritischen Auseinandersetzung mit

158 ALFRED SCHWANDT

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konstitutiven Elementen der Gesellschaft:. So gab es zwar auch Untersuchungen zum Ver­

haltnis der Bewohner zu ihrer Wohnumwelt oder Stadt die unter dem Stichwort "Wohnzu­

friedenheir Auskunft geben sollten liber das MaB der Identifikation mit den als .soziali­

stischU bezeichneten Erscheinungsformen neuer Baukultur. Aber man muB den Ergebnis­

sen auch dieser Untersuchungen allesamt miBtrauen, denn sie waren nur oberflachlich auf

das Erfragen von Pauschalurteilen aus und zu wenig analytisch und auf das Hinterfragen

von Verursachungen angelegt

Man hat sich liberhaupt nicht darliber zu wundern, daB diese Untersuchungen durch­

weg Mehrheiten fi.ir die Bejahung der Lebens- und Wohnumwelt signalisierten, selbst in tri­

sten GroBplatteneinoden, die noch halbfertig und miserabel ausgestattet waren. Diese Be­

fragungen brachten die gleiche Erfahrung wie aile ahnlich gearteten soziologischen Unter­

suchungen zur Wohnzufriedenheit: Alles in allem und pauschal fallt die Antwort

liberwiegend stets positiv aus. Egal. ob die Menschen in einer neuen oder morbid gewor­

denen Wohnumwelt leben, ob ihre Wohnungen zu groB sind oder zu klein, die Hauser grau

oder bunt die Stadte laut und voller Leben oder still und vertraumt sind. In aller Regel wen­

den sich Planer enttauscht von solchen Befragungsergebnissen ab, denn ihr so oder so ge­

artetes Vorurteil gegenliber bestimmten baulichen Situationen findet keine direkte Bestati­

gung in den Einstellungen der Leute. Diese wollen, so ganz im allgemeinen, ihre Lebens­

und Wohnumwelt positiv sehen, hier wie liberall.

Die meisten Menschen konnen eben nicht auf Dauer mit einer negativen Grundein­

stellung leben. Wie ihre Lebensumstande auch sind, sie verstehen sich darauf einzustellen,

mit ihnen fertig zu werden und, wenn es irgend geht sie zu bejahen. Zuzugeben, daB

man sie ablehnt bedeutet ja auch zuzugeben, daB man sie nicht meistern kann und daB

man irgendwie doch auch ein kleines biBchen seiber Schuld tragt in solche Umstande ge­

raten zu sein. Lieber hat man es gerade so gewollt und findet es im groBen Ganzen schon

in Ordnung.

Ober die bloBe Frage nach der Wohnzufriedenheit erfcihrt man also nicht viet sie ist im

gesellschaftsanalytischen Sinne unergiebig. Deshalb durfte sie in der DDR auch gestellt wer­

den und konnte den Verantwortungstragern fi.ir die Erscheinungsformen des sozialistischen

Wohnungs- und Stadtebaus stets Genugtuung verschaffen, jedenfalls solange, wie die Ur­

teile der Bewohner pauschal blieben und die Abstufungen des Urteils nicht auf ihre Verur­

sachung im Konkreten liberprlift wurden.

Durch solche Analyse aber wird die allgemeine Wohnzufriedenheit auf den Prlifstand

gestellt und es kann sich zeigen, daB die pauschale Bejahung der Lebensbedingungen in

der Detaillierung auf konkrete Sachverhalte a,us dem tag lichen Lebensvollzug sich durch­

aus ins Negative umformen kann, entgegen oder trotz der Bejahung im allgemeinen. 501-

che Forschung hatte entlarvend sein konnen und das positive Urteil der Bewohner liber ihre

Wohnzufriedenheit versus Alltagserfahrung 159

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DESSAU.1989

160

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sozialistische Wohn- und Lebensumwelt wieder in Frage stellen konnen. Deshalb waren die

Aufiraggeber fUr soziologische Forschung in der DDR an solchen vertiefenden Analysen nie­

rna Is interessiert, deshalb haben sie sie entweder verhindert oder hielten sie geheim.

Ein einziges Mal wurde in der DDR der Versuch unternommen, ein Umfrage­

ergebnis zur Erkundung der Wohnzufriedenheit fUr eine solche vertiefende Analyse zu

nutzen. Grundlage dafUr war eine Befragung, die im September/Oktober 1975 vom Institut

fUr Meinungsforschung im Aufirag des ZK der SED in zwolf Neubauwohngebieten durch­

gefUhrt worden war. Wie an dieser Stelle ublich, war auch dieses Umfrageergebnis nicht

fUr weiterfiihrende Forschungen bestimmt sondern diente in der Rohform von auf­

gelisteten Ja- oder Nein-Anteilen lediglich der direkten Information seiner Aufiraggeber.

Auf die Zusicherung .nur internen Gebrauches· sind diese Listen aber doch an eine

Forschungseinrichtung der Bauakademie gelangt und fanden dort fUr die Er­

arbeitung einer soziologischen Analyse Verwendung. Sie wurde im Miirz 1977 fertiggestellt

und unter dem Titel: .Neubauwohngebiete im Urteil der Bewohner" der Abteilung Bauwesen

beim ZK der SED als Beleg ubergeben. Die Arbeit stieB auf Interesse und gelangte 50-

gar bis ins Politburo. Nach einer dort kontrovers gefUhrten Diskussion wurde eine

Weitergabe des Ergebnisses strikt verboten und die Vernichtung aller vorhandenen

Ormig-Exemplare angeordnet Das Forschungsergebnis konnte keine Wirksamkeit entfal­

ten, nicht einmal eine fachinterne Diskussion war moglich. Warum diese enorme

Empfindlichkeit und Geheimnistuerei? Die Grunde dafUr liegen auf der Hand; sie wurden

bereits genannt

Fur die Umfrage waren zwolf gerade fertiggestellte oder noch im Bau befindliche Neu­

baugebiete in Berlin, Cottbus, Erfurt, Halle-Neustadt Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), Magdeburg,

Potsdam, Rostock und Stadtroda-Hermsdorf ausgewahlt worden. In allen Wohngebieten

wurden jeweils etwa 300 Bewohner befragt Ihnen wurden standardisierte Fragebogen im

Umfang von 26 Fragen zugeschickt die sich mit verschiedenen EinfluBfaktoren auf die

Wohnzufriedenheit beschafiigten sowie mit einigen Wohnwunschen, mit mehreren Sach­

fragen zur Wohnsituation und mit der Entwicklung von Gemeinschaftsbeziehungen im

Wohngebiet Der Schwerpunkt der Untersuchung lag in der Ermittlung des AusmaBes der

Zufriedenheit der Bewohner mit ihren Neubaugebieten, sowohl im allgemeinen wie auch

auf einzelne Elemente des Wohnmilieus bezogen.

Auch diese Untersuchung konnte ein uberwiegend positives Gesamturteil uber

die jeweiligen Wohnbedingungen registrieren, trotz aller Unfertigkeit und offenkundigen

Mangel der Gebiete. 86% der Befragten beurteilten ihr Wohngebiet mit gut oder

wenigstens befriedigend, nur der geringe Rest empfand es als unbefriedigend. Ware die Un­

tersuchung damals bei dieser Aussage stehengeblieben, dann hatte sie sicherlich

fUr die Propagierung des .sozialistischen Wohngebietes· Verwendung gefunden.

Wohnzufriedenheit versus Alltagserfahrung 161

Page 165: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

Sie blieb aber nicht dabei. Denn der Rest des Forschungsberichtes diente dem Nach­

weis, daB .das pauschale Kompliment an die Neubauwohngebiete die Befragten nicht dar­

an hindert. sich zu vielen funktionellen Einzelheiten auBerst kritisch zu verhalten". Der Ver­

such, die in den einzelnen Positionen von Gebiet zu Gebiet unterschiedlichen Befragungs­

ergebnisse aus den vor Ort tatsachlich vorgefundenen Bedingungen zu erklaren, fiihrte

zwangslaufig zur kritischen Bewertung der Voraussetzungen fiir das Alltagsleben in den

Neubauwohngebieten. Die kritische Analyse des Alltags aber war den Auftraggebern uner­

traglich, andere sollten nicht auf die realen Wirkungen der sozialistischen Wohn- und

Lebensumwelt aufrnerksam gemacht werden.

Eine der wichtigsten Alltagserfahrungen im sozialistischen Wohngebiet war der Ein­

kauf, oder, wie es damals hieB, die Versorgung fiir den tag lichen Bedarf. Bei der Gestaltung

der dafiir vorgesehenen Einrichtungen war den Planern vor allem ein Gesichtspunkt von In­

teresse: die Zeitokonomie fiir den Einkaufsaufwand der Werktatigen. Dafiir wurde ein Sy­

stem ersonnen, das fiir festgelegte Einzugsgebiete jeweils eine nach vorgegebenen Kenn­

ziffern bemessene zentrale Kaufhalle mit universalem Warenangebot vorsah. Soweit dieses

System funktionierte, konnte eigentlich jeder Nutzer zufrieden sein - und war es ja auch.

Nur, es funktionierte nicht immer und nicht Oberall, und zwar aufgrund systemimmanenter

Fallstricke. Die soziologische Analyse legte genau diese Fallstricke bloB.

In den meisten Untersuchungsgebieten gab es passable bis vorbildliche Kaufhallen die­

ser Art. und die Befragten zeigten sich zufrieden. Zu erklaren war aber, warum in einigen

Gebieten, die nach den gleichen Kennziffern ausgestattet waren wie die anderen, die Leu­

te dennoch erhebliche Unzufriedenheit mit den Einkaufsbedingungen bekundeten. Dafiir

konnten durch die Analyse der Befragungsergebnisse mehrere GrOnde gefunden werden.

Die Konkurrenzlosigkeit der einen Kaufhalle innerhalb eines wohlbemessenen Ein­

zugsgebietes hatte im Prinzip nicht viel zu bedeuten, denn bei Oberall gleichem Warensor­

timent und gleichen Preisen erObrigt sich die Auswahl. Aber die Warendecke war stets zu

dOnn, so daB sie nicht fiir aile reichte und es oft in der einen Kaufhalle gab, was es in der

anderen nicht gab. Die Foigen wurden in der Analyse benannt: "Es ist wie immer in solchen

Fallen: Wenn die Waren nicht zu den BOrgern gelangen, dann folgen die BOrger den Wa­

ren, auch wenn sie dafOr zusatzliche Belastungen in Kauf nehmen mOssen". Wenige blie­

ben .,ihrer" Kaufhalle treu, die meisten gingen immer dort hin, wo sie mehr vermuten konn­

ten. Die so schon errechnete Zeittikonomie war unter solchen Bedingungen natOrlich eine

Farce. Jeder Werktatige, so wurde damals gespottelt wenn er nicht gerade arbeitet befindet

sich bestandig auf Nahrungssuche.

Verstarkt wurde dieser Effekt noch dadurch, daB es eine Hierarchie der Belieferung gab:

Stadtische Einrichtungen wurden besser beliefert als landliche, Schwerpunkthallen reich­

haltiger als andere, Bezirksstadte eher als sonstige usw. Wo das bessere Angebot war, sprach

162 ALFRED SCHWANDT

Page 166: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

sich schnell herum. Solche Kaufhallen wurden natiirlich starker frequentiert als von den Pla­

nern bemessen, andere sehr viel schwacher. All das hatte negative Auswirkungen auf den

Lebensalltag der Menschen und auf ihre Stimmung. All dies hatte man aus den Umfrage­

ergebnissen herauslesen konnen.

1m Spiegel der Befragung erwiesen sich auch noch andere Saulen sozialistischer Han­

delspolitik als verfehlt So etwa das gleichwertige Monopol der zwei Handelsketten HO und

Konsum. Sie besetzten mit ihren Kaufhallen die Einzugsgebiete abwechselnd: eins du, eins

ich. lu unterscheiden waren sie nur dadurch, daB man beim Konsum Mitglied sein und Ra­

battmarken kleben konnte. Damit war immerhin die Weihnachtsgans zu finanzieren, ein

Vorteil, den viele nutzten. Was aber, wenn ihr Konsum erst im nachsten Einzugsgebiet war?

Dann muBten sie eben dorthin pilgern - und hatten zusatzliche Miihen und leitverluste.

Die Planer konnten die Folgen auch dieser Fehlkonstruktion aus den Befragungsergebnis­

sen erfahren.

Ein geradezu vernichtendes Urteil sprachen die Bewohner der zwolfin die Untersuchung

einbezogenen Gebiete iiber das vorhandene Angebot an gastronomischen Einrichtungen.

lwei Dritlel der Befragten zeigten sich damit unzufrieden, nur 14 % empfanden sie als gut

Dabei reichten die Unterschiede in den einzelnen Gebieten von 0,0 % bis 52 % fUr "gut"

und 10 % bis 96 % fUr "unbefriedigendu• Gerade diese Unterschiede, die nicht nur aus dem

bloBen Vorhandensein oder dem volligen Fehlen von Gaststatten in den neuen Wohnge­

bieten zu erklaren waren, ermoglichten auch hier den Nachweis der eigentlichen Ursachen.

Wie fUr aile "gesellschaftlichen" Einrichtungen gab es auch fUr die Gastronomie vor­

gegebene Kennziffern, nach denen die Wohngebiete entsprechend der lahl ihrer Einwohner

mit Gaststattenplatzen auszustatten waren. Auch in diesem Faile galt die Konzentration al­

ler moglichen Platze in einer einzigen zentralen Einrichtung als die rationellste Variante.

Die Untersuchung empfahl, das niederschmetternde Befragungsergebnis zum "An laB

einer generellen Uberpriifung der lweckmaBigkeit und der bediirfnisgerechten Orientierung

der angewendeten Gaststattentypenu zu nehmen. Sie kam zu der Feststellung, daB sich die

zentrale GroBgaststatte in Wohnungsnahe nur einer sehr geringen Beliebtheit erfreue, zu­

mal dann, wenn sie nur mit "Kantinenmobeln und Plastedeckenu ausgestattet sei. Urn von

den Bewohnern angenommen zu werden, miiBte sie aber mindestens drei Grundbe­

dingungen erfiillen, die haufig nicht gegeben seien: sie miiBte eine behagliche Atmospha­

re bieten, sie miiBte die Moglichkeit zum kulturvollen GenuB von Speisen und Getranke bie­

ten und sie miiBte - den Besucher als willkommenen Gast behandeln. Ach, das Alltags­

leben in der DDR!

Die Analyse der auf diese und auf weitere Wohnerganzungsfunktionen in den Neu­

baugebieten - z.B. Dienstleistungs- und Gesundheitseinrichtungen - bezogenen Befra­

gungsergebnisse miindete in der Erkenntnis, "daB weniger die bauliche und funktionelle

Wohnzufriedenheit versus Alltagserfahrung 163

Page 167: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

Qualitat der Einrichtungen fUr ihre Beurteilung ausschlaggebend sind, sondern mehr die

Qualitat ihrer Versorgungsleistungen". FOr die teilweise vernichtenden Urteile der Bewohner

waren also kaum Architekten oderTechnikerverantwortlich zu machen, sondern die Schuld

muBte in den sozialistischen Handels- und Versorgungssystemen selbst gesucht werden.

Dies muBte zu SchluBfolgerungen fUhren, die nicht zugelassen werden durften.

Der besondere Stolz der Erbauer dieser Gebiete galt der den Planungen zugrunde lie­

genden Gestaltungsidee. Das kOnstlerische Prinzip, nach dem die Wohnblocke in die land­

schaft gestellt und zu "groBzOgigen" stadtebaulichen Raumen formiert wurden, galt als das

eigentlich "sozialistische" an den Neubaugebieten und man hoffie, daB die Bewohner die­

se neue Gestaltungsqualitat erleben und bejahen wOrden. In den siebziger Jahren wurde

die bis dahin Obliche "offene" Bebauung (Zeilenstruktur) durch die "geschlossene" Bauweise

(Blockstruktur) ersetzt und gerade die in die Umfrage einbezogenen Gebiete dokumentie­

ren diesen Wechsel durch Anwendung beider Baustrukturen in besonderer Weise. Deshalb

wurde die Frage nach der Einschatzung der architektonischen und stadtebaulichen Qua­

lita! dieser Gebiete gestellt in der Erwartung, daB die Bewohner den Fortschritl in der Ent­

wicklung sozialistischer Gestaltungsprinzipien erkennen und honorieren wOrden.

Das Ergebnis der Befragung muBte auch in dieser Hinsicht ernOchternd wirken. Es zeigten

sich zwar tatsachlich groBe Unterschiede in der Bewertung der einzelnen Gebiete und fast

immer fiel das Urteil eindeutig positiv oder negativ aus. Die Suche nach der Verursachung

dieser Urteile ergab jedoch keinerlei Hinweise darauf. daB sie von der Erlebbarkeit einer so

oder so gearteten Gestaltungsidee beeinfluBt wOrden. Das Gegenteil war der Fall: Die

schlechteste Bewertung fanden gerade jene Gebiete, in denen eine gestalterische leitidee

durchgestanden und vom ersten bis zum letzten Wohnblock und vom ersten bis zum letz­

ten stadtebaulichen Raum abzulesen war. Es handelte sich dabei durchweg um Wohnge­

biete "auf der grOnen Wiese", deren "sozialistische" Qualitat von den Bewohnern also

offensichtlich nicht honoriert wurde.

Wesentlich besser schnitlen dagegen solche Gebiete ab, bei denen auf vorhandene Be­

bauung und stadtebauliche Strukturen ROcksicht genommen werden muBte, die also Ele­

mente des Zufalligen und Einmaligen enthielten. Offenbar fiel es deren Bewohnern leich­

ter, sich mit dem entstandenen Wohnmilieu zu identifizieren und sich darin heimisch zu

fOhlen, als in der Monotonie der nach einem Gesamtkonzept gestalteten Gebiete.

Aus der Sicht des Bewohners, so wurde argumentierl, scheint es besonders wichtig zu sein,

eine Foige wechselnder Raumerlebnisse zu schaffen, die sowohl Ober die Funktion wie Ober

die Form eine Vielzahl von Kontrasterlebnissen bietet Man sucht im Wohnbereich den Wech­

sel von Raumformen, um sich orientieren zu konnen, man benotigt die Intimitat und Ge­

schlossenheit des engeren Wohnbereiches ebenso wie das Erlebnis der Weite und Ver­

flechtung in ein Obergeordnetes Ganzes. Je weniger das Zuhause aus den Fensterreihen

164 ALFRED SCHWANDT

Page 168: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

der doch immer gleichen Fassaden zu erkennen ist urn so mehr muB es an anderen und

mtiglichst einmaligen Merkmalen des auBeren Raumes abzulesen sein.

50lche Gesichtspunkte schienen zum damaligen Zeitpunkt bei der 5uche nach der "neuen

sozialistischen Qualitat" der Wohngebiete vtillig in den Hintergrund geraten zu sein. Ge­

staltungsideen wurden auf Bebauungsplanen und Modellen mitgeteilt und erlebbar ge­

macht wah rend das reale Leben in den entstehenden 5trukturen kaum noch Beachtung

fand. 50 konnte die Monotonie der graBen Neubaugebiete mit ihren immer gleichen Ge­

baudeformen und AuBenraumen entstehen. 50 auch konnten sich maBstablich vtillig Ober­

zogene stadtebauliche Raumstrukturen entwickeln, in denen sich die Bewohner nicht mehr

behaglich und behaust fuhlen konnten. Zwischen den Hausern seines Gebietes, so brach­

te es einer der Befragten auf den Punkt "habe man immer das Gefuhl. in einem nach allen

5eiten offenen Zimmer zu leben, in dem sich weder Fenster noch TOren schlieBen lassen,

in dem also auch keine Warme entstehen und in dem man nie fur sich sein kann."

5tadtebau, so das ResOmee der Analyse, der nur im Formalen begrOndet ist ist lebensfremd.

Jede gestalterische Absicht muB auf das Leben innerhalb der entstehenden stadtebaulichen

Raume berechnet sein. FOr die Wirksamkeit einer Bebauungsidee kame es nicht darauf an,

daB im Bebauungsplan graphische Effekte erzielt werden oder daB sich Gestaltungsprinzi­

pien durch Betrachtung des Modells erschlieBen. Nur wer damit rechnen dart; daB die nach

solchen Prinzipien gestalteten Gebiete auch im tag lichen Gebrauch als wohltuend emp­

funden werden, nur dann haben sie wirklich eine Berechtigung.

Die Analyse mOndete in der These, daB ein Wohngebiet das vom Bebauungsplan her kei­

ne Konsequenz in der Durchsetzung einer kOnstlerischen Leitidee erkennen laBt dafur aber

echte Lebensraume fur die Bewohner bietet in seiner stadtebaulich-architektonischen Qua­

litat hoher einzuschatzen ist als ein Gebiet das zwar einer Leitidee folgt in seiner kOnstle­

rischen Wirkung aber abstrakt bleibt weil sie nicht auf das maBstabliche Verhaltnis zu den

Menschen berechnet ist die in der entstehenden Umwelt leben mOssen.

Die Analyse der Umfrage von 1975 wurde 1977 Obergeben. Viele der graBen Neubauge­

biete in der DDR sind erst danach entstanden. Vielleicht hatte eine Diskussion solcher Ge­

sichtspunkte einiges bewirken konnen. Man hat diese Diskussion nicht gewollt - man

hatte Ober das reale Leben sprechen mOssen.

Wohnzufriedenheit versus AJltagserfahrung 165

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DESSAU-NORD.1989

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STADTE VERANDERN IHR ALLTAGSGESICHT Soziologische Gedanken zu Bildern der Transformation

Rainer Mackensen

167

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STADTISCHE TRANSFORMATIONEN

Das Gesicht der Stadte wird standig verandert Bewohner wie Besucher halten sich gem

an das Bekannte; dies aber schwindet dahin. Die .herrschenden Machte" greifen in das Stadt­

bild ein, und sie selbst wechseln. Sie nehmen auf die altemde Substanz keine Rucksicht;

das wollen sie auch gar nicht sondem sie wollen .der Stadt" ihren Stempel aufdrucken, den

Stempel der - jeweiligen - Modernitat

Transformation ist Machtwechsel. und so zeigen die Stadte auf dem Hintergrund ihrer

verdrangten Geschichte die leichen der vergangenen wie der neuen Macht Transformation

ist auch Szenenwechsel: Die prominenten Akteure treten ab, andere nehmen ihre Stelle ein.

Transformation ist Rollenwechsel; kaum einer spielt nachher die gleiche Rolle wie zuvor.

Die Menschen bleiben, groBenteils. Einige sind ausgewichen, andere hinzugekommen.

Fur die Neuen ist die Stadt anfangs fremd; sie wird ihnen allenfalls bekannt als ein Gemisch

aus Geschichte und den Merkmalen der vergangenen wie der neuen Macht In dem Gewirr

finden sie die Moglichkeit allein zur Wiederherstellung oder zur Erneuerung, je nach Nei­

gung und Interesse. Eine Orientierung an der Kontinuitat der Stadt finden sie nicht

Auch den Gebliebenen rinnt solche Orientierung durch die Finger. Sie halten sich fest

am Gewohnten, am alten wie am uberholten; das Neue ist ihnen noch fremd. Sie erkennen

auch weder ein liel derVeranderungen noch eine Kontinuitat fUr ihre Orientierung. Die Stadt

ist im FluB.

Die vorausgegangenen Stadien sind schon vergessen: Auch diese Stadte der DDR wa­

ren zuvor nationalsozialistische, davor burgerliche, weiter zuruck fUrstliche Stadte; die Sta­

dien sind zu Episoden geschrumpft, deren leichen - untergemengt in den Substanzen ei­

ner langen Geschichte - verschwimmen. Die leichen und mit ihnen die Geschichte war fUr

Jahrzehnte dem Verfall uberlassen. Das sollte auch so sein: Die Geschichte sollte erst 1949

einsetzen, neu begonnen und geschrieben werden. Die Stadte zeugen davon.

Die Umwelten des Alltags hangen nur mit wenigen Faden an den Signaturen der hi­

storischen Stadt welche als Symbole fUr die Identitiit der Einheimischen und fUr die Identi­

fizierbarkeit durch AuBenstehende gelten. Wah rend diese fUr die Einmaligkeit der Stadt ste­

hen, sind die Alltagswelten austauschbar.

Auch in ihnen sind Stadtkern, Wohngebiete und Randzonen unterschieden, und inso­

weit gleichen diese sich unter den Stadten doch wieder. Sie gleichen einander auch uber

Episoden, Epochen und Herrschafissysteme hinweg: Untersuchungen in verschiedenen

Stadten sozialistischer Lander (Musil 1960; Szeh~nlyi 1974) haben gezeigt daB die sozialen

Merkmale der Stadtzonen denjenigen in kapitalistischen Landern (Hamm 1977; ders. 1982;

Hamm/Neumann 1996; Friedrichs 1977; ders. 1996) ahneln, obgleich sie doch in diesen ge­

rade der Macht der Bodenpreise zugeschrieben wurden, welche in jenen beseitigt waren.

168 RAINER MACKENSEN

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Hinter solchen Kraften stehen offenbar noch fundamentalere, namlich solche der gesell­

schaftlichen Hierarchien und Statuszuweisungen, welche sich lediglich mit unterschiedlichen

Mechanismen - hier Bodenmarkt, dort Zuteilungen von Nutzungsrechten - durchsetzen.

Die Alltagswelten werden auch die Transformation i.iberstehen, wenngleich bei Aus­

tausch der funktionalen Eliten wie ihrer Helfershelfer einerseits, der Randstiindigen ande­

rerseits. So i.iberdauert die Stadt doch die sozialen Systeme wie die Machtstrukturen; die

sichtbaren Zeichen andern sich, wie der Alltag, mit ihnen. Sie andern sich nicht plotzlich

und durchgangig; vielmehr fressen sich die neuen allmahlich in den Bestand der Zeichen

aus vorausgegangenen Zeiten hinein.

Wie wird die Stadt schlieBlich aussehen? Wann wird sie ein neues Gesicht ausgebildet

haben, das verstandlicher ist als das zerrissene Bild der Hautungsperiode? Welche Men­

schen werden sie schlieBlich beleben?Welche Sozialstrukturen werden kennzeichnend wer­

den? Das alles ist noch offen.

Vorerst erscheinen Mischungen, Uberblendungen, Eindringendes charakteristisch fi.ir

die voranschreitende Transformation. Alteres scheint durch und Altes. Das Verfallene verfallt

zusehends vor sich hin, wenn ihm nicht eine neue Fassade alten Stils vorgesetzt wird. Das

Vori.ibergegangene hat Bestand, wird freilich schabiger - oder aufgeputzt Das Alte wird zum

Denkmal - oder iiberfliissig, beseitigt ersetzt

Nicht alles Alte kann zum Denkmal mutieren, neue Fassaden bekommen, aufgeputzt

werden. Selbst dann ware es noch Element der Uberschichtungen, die jede Stadt pragen.

Aber es wird daneben auch Verfall bleiben. In den Sozialstrukturen ist das nicht anders. Vor­

erst zeigt es sich in Gesichtern, Kleidungen, Korpersprachen.

Die Stadte Ostdeutschlands haben iiber die "vierzig Jahre" ihr Gesicht behalten; aber

es ist alt geworden. Nur wenige Bauten politisch unverdachtiger Erinnerung wurden zuletzt

doch wiederhergestellt: das niitzte dem internationalen Ansehen und dem Tourismus. Nur

die Bezirkshauptstadte waren als Versorgungsmitlelpunkte anerkannt; sie verloren dennoch

Einwohner an die industriellen Zentren und, insbesondere, an die Hauptstadt Der biirgerli­

che Mitlelstand der Stiidte fand keine Unterstiitzung. Er unterliegt auch jetzt den Investo­

ren in Versorgungszentren auf der Griinen Wiese und den Ablegern westdeutscher Pro­

duktionsunternehmen. Aber: waren die neuen Handelszentren nicht zumindest anfangs not­

wendig, um den Versorgungsstand schnell auszugleichen?Wer hatle ein Abwarten zumuten

konnen - und ware das hingenommen worden? Jetzt veroden die Zentren der Stadte zum

dritlen Mal, nach Zerstorungen im Krieg und der Vernachlassigung seither.

Bis sie in den BOer Jahren zu adretlen Mitlelstiidten wurden, brauchten die Stadte West­

deutschlands drei Jahrzehnte; bis dahin waren sie vielfach kaum besser dran als ihre Pen­

dants in Ostdeutschland. Schneller wird es auch bei diesen nicht gehen konnen, wenn iiber­

haupt Und es wird anders gehen.

Stadte verandern ihr Alltagsgesicht 169

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Die ostdeutschen Stadte Oberholen die westdeutschen. Die Transformation bleibt nicht

Nachahmung, wenn sie auch so begonnen hal Das Eigenstandige kommt wieder zum Vor­

schein, die Epoche DDR inklusive. Das Neue setzt sich schneller durch, rOcksichtsloser, mo­

dernistischer. Derart zeitgeistig waren die westdeutschen MittelstMte nie, wie sich die aktuel­

len MaBsiabe momentan im Osten geltend machen; aber auch hier wird es nicht so bleiben.

Die langen Wellen haben in Westdeutschland ein SOd-Nord-Gefalle der Stadtentwick­

lungen (Friedrichs u.a. 1986) entstehen lassen; doch auch der Schwung der sOd lichen Auf­

steigerstadte ist inzwischen erlahml Eine neue lange Welle greift in Sachsen und ThOrin­

gen; ihre Stadte konnten die westdeutschen schlieBlich hinter sich lassen. Wird diese Welle

auch die Neuen Stadte der Lausitz erfassen? Wird der Schwung des Aufbruchs das zweite, ma­

gerere Jahrfiinft Oberstehen? Werden die zerstorten Industrielandschaften zur Blote kommen?

SOZIALE OBERGANGE

Oberholt werden zunachst die schOchternen Neuanfange des Einzelhandels durch die

Supermarkte, die renovierten StraBen und Platze durch die Parkraumnot die handwerkli­

chen Arbeitsstatten durch die Produktionsautomaten, die sich endlich verbreitenden Telefo­

ne durch die Handy's, Wird sich die Oberholende Modernisierung auf den Markten bewahren

und erhalten konnen? Und was bleibt dann Obrig? Sicher auch: Verfall, Abfall, Streusand,

Ausgesonderte, Nicht nur in Einzelfallen, sondern selbst quartiers-, stadt- und gebietsweise.

Auch die Epoche der Transformation wird bleibende Zeichen hinterlassen, eine eigene

Schicht innerhalb der Oberschichtungen, baulich wie sozial.

Wird sich der Zusammenhalt wieder herstellen? "Wieder"? War der Zusammenhalt denn

zuvor wirklich vorhanden? Seit der Romerzeit seit den Erben Karls des GroBen, seit dem al­

ten und dem neuen Rheinbund, seit den vor allem in SOddeutschland aufgenommenen kon­

stitutionellen Impulsen der Franzosischen Revolution und der Europaischen Neuordnung

unter Napoleon gibt es den Unterschied (und die Fremdheit) zwischen West- und Ost­

deutschland: Das "Zusammenwachsen" hat nicht nur die vierzig Jahre DDR zu Oberwinden.

Zugleich waren es jene historischen Perioden, in denen die Stadte aus den Rechts- und

Marktprivilegien ihrer FOrsten ihren Wohlstand und ihren Ruf aufbauen konnten; das hat

das Bild der Stadte nachhaltig gepragl Aber die Privilegien sind (schon seit fast zweihun­

dert JahrenD dahin und an ihre Stelle sind die Industrie- und spater die Dienstleistungspo­

tentiale getreten, welche sich nicht an den ortlichen Bedingungen, sondern an Oberregio­

nalen und zuletzt globalen Chancen und Konkurrenzen orientieren muBten und mOssen;

ihr Verhaltnis zur Entwicklung des Wohlstandes, des Renommees und auch der Baugestalt

der Stadte ist distanzierter, vielleicht gar gleichgOltiger als das der aufstrebenden StadtbOr­

ger und der wohlhabenden Einwohner vergangener Jahrzehnte.

170 RAINER MACKENSEN

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Der erforderliche Sprung ist zu weit; er muB in wenigen Jahren Strukturentwicklungen

von Jahrzehnten iiberwinden und zugleich in eine Neue Zeit hineinfiihren, deren Merkma­

Ie noch niemand kennt Aber es blieb keine Zeit fiir einen behutsamen ProzeB. Die .Umer­

ziehung" der Jahre nach 1990 in Ostdeutschland hat nicht so iiberzeugend gewirkt wie die

in West- und Ost-Deutschland nach 1945; war sie weniger sorgfciltig vorbereitet und kon­

zeptionell sowie strategisch weniger iiberzeugend angelegt?

Auch die Stadte sind in andere Hande geraten; wenn es wenigstens .westdeutsche"

waren! Aber es sind oftmals .juristische Personen", die eine Herausgabe des friiheren Ei­

gentums von natiirlichen und hingehOrigen Personen fordern oder Arbeitsstatten und Ver­

sorgungseinrichtungen errichten, technische GroBprojekte durchfiihren - ohne ein perso­

nelles Verhaltnis zu den Orten, zu den Einwohnern der letzten Jahrzehnte und der Gegen­

wart zu den Traditionen und Briichen zu gewinnen: Eine Solidaritat mit Menschen und

Siedlungen konnen sie nicht haben oder entwickeln. Ihnen sind die Umstande gleichgiiltig,

die aus ihrem Kalkiil entstehen, auch die neuen Abhangigkeiten, in welche sie die Menschen

versetzen. Die aber erfahren lediglich, daB sie aus der einen Herrschaft und Verwaltung, in

welcher sie machtlos waren und gehalten wurden, in eine andere versetzt worden sind.

Die umfangreichen Erganzungen des Wohnungspotentials der Stadte in der DDR

wurden, namentlich in den letzten zwei Jahrzehnten, fast ausschlieBlich in Randlagen, als

GroBsiedlungen und in industrieller Bauweise vorgenommen. Ais Schlafstadte trugen

diese Wohngebiete zur Pendelwanderung und Verkehrslast der Stadte bei; das hat sich

schnell vervielfacht Abgesehen von der oft unzureichenden Ausstattung mit Ver­

sorgungsleistungen und den bautechnischen Mangeln, welche fiir diese Bauten - trotz

der ihnen eingeplanten Unveranderlichkeit - eine begrenzte Lebensdauer setzen,

veranderte diese Stadterweiterungspolitik die Sozialstruktur der Stadte: die Wohnungen

wurden zumeist jiingeren Familien und besonders verdienten Funktionaren, Ingenieuren

und Technikern oder Kiinstlern oder aber ganzen Werksbelegschaften zugewiesen. Das

hat zur Folge, daB sich in ihnen jetzt eine vergleichsweise qualifizierte und relativ wohl­

situierte, aber bald alternde Rentnerbevolkerung konzentriert wahrend in den ver­

nachlassigten Altbaubestanden eher die weniger bemittelten Einwohner leben. Diese sind

dazu - im Gegensatz zu jenen - in vielen Fallen den Problemen der Riickiibertragung von

Eigentumsrechten und der Modernisierungskosten, namentlich auch fiir eine (oft iiber­

dimensionierte) Versorgungstechnik, ausgesetzt Die BaumaBnahmen, die eigentumsbe­

dingten Leerstande und die Kostensteigerungen fiihren zu Verdrangungseffekten. Die

dadurch ausgelosten Unsicherheiten schlagen auch auf die notwendigen wirtschaft­

lichen Aktivitaten (und auf die politischen) durch. Die Mobilitat aus den Altbaugebieten in

neue Wohnviertel halt an - und diinnt das soziale Potential der Innenstadte weiter aus

(GeiBler u.a. 1992).

Stadte verandern ihr Alltagsgesicht 171

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lENA. 1988

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Der .kurze Traum immerwahrender Prosperitat" (Lutz) ist in den Stadten Westdeutsch­

lands nach drei Wohlstandsjahrzehnten ausgetraumt; in Ostdeutschland dauerte er kaum

zwei Jahre - und ruckte den erwarteten Wohlstand in eine kaum mehr wahrnehmbare Fer­

ne. Der kurze Aufschwung wurde zunachst - nicht nur von den Einwohnern dort - als

dauerhafte Entwicklung miBverstanden.

Das Schicksal (West-)Berlins, das aus der groBten deutschen Industrie- und Kulturstadt

zum Ableger westdeutscher Unternehmungen und zum Subventionsempfanger wurde, hat

sich auf ganz Ostdeutschland ausgeweitet Nun mussen Berlin und die Neuen Lander ihre

Chancen gemeinsam neu kalkulieren und wahrnehmen - unter erschwerten Bedingungen.

Galt der Industriebesatz in den letzten Jahrzehnten als Qualifikationsmerkmal der Sied­

lungen, so wird der Zusammenbruch gerade der industriellen Beschaftigung nun zur schwe­

ren Belastung der Gemeinden. Die kommunale Sozialhilfe, als Notgroschen fUr Einzelfalle

konzipiert, hat sich zum groBten Ausgabenposten der Kommunen entwickelt Schon bei de­

nen, die uber 40 Jahre alt sind, versagen zumeist die UmschulungsmaBnahmen; und die

Beschaftigungsgesellschaften und ABM-MaBnahmen machen den Kleinunternehmern, die

ihre Markte nur muhsam aufbauen konnen, zusatzlich Konkurrenz.

Die Organisation der sozialen Versorgung, welche durch die Kombinate und Betriebe

organisiert worden war, muB nun von den Kommunen und den Landern neu aufgebaut

werden. Ihnen fehlen dazu jedoch die Einnahmen aus den Steuern und Abgaben einer

dauerhaft lebensfcihigen, soliden Stadt- und Landeswirtschaft

Wenn sich die Lebensleistung unversehens als entwertet erweist und keine Chancen

zur Wiederherstellung der sozialen Anerkennung sichtbar sind, kann die Stimmung - auch

bei verbesserten Ausstattungs- und Konsummoglichkeiten - nicht gut sein.

Die sozialistische Lebensweise uberlieB allein die Privatsphare der eigenen Disposition

und Initiative. Wohnung und Wochenendgarten wurden zum Fokus der privaten Interessen,

Familien und Nachbarschaft zu den starksten Tragern der sozialen Solidaritat und wech­

selseitigen Unterstutzung, ohne welche niemand seine Existenz bewaltigen konnte. Jetzt er­

scheint diese Sphare in verklartem Licht zumal sie oftmals das Einzige ist was einem aus

einem doch auch befriedigenden und erfolgreichen Leben ubriggeblieben ist Und selbst

dies ist mit Haus und Grund allzuoft durch die unklaren Rechtsverhaltnisse gefcihrdet die

sich aus dem fruheren staatswirtschaftlichen Verfahren, aus der Erschwerung der privaten

Unterhaltung von Hauseigentum, aus der Verwendung der Hinterlassenschaften der Aus­

gewanderten, die sich als Republikfluchtlinge strafbar gemacht hatten, aus der ubersturz­

ten Eigentumssicherung der letzten DDR-Regierung und aus der Notwendigkeit einer Neu­

regelung ergeben haben.

Erst jetzt erhalten die Menschen die Chance, ihre Verhaltnisse selbst neu zu ordnen;

aber von welchem Niveau der Arbeitsorganisation, der Produktionsbedingungen, der Ab-

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satzchancen, der sozialen Lage aus! Sie mOssen ihre Leistungen gegen etablierte Organi­

sationen in Wirtschaft und Gesellschaft geltend machen, die aus der jetzt allgemein gel­

tenden Rechtsordnung hervorgegangen und langst in ihr stark geworden sind.

ZUSAMMENFINDEN

Tatsachlich haben sich in der letzten Zeit die Menschen auf beiden Seiten Deutsch­

lands darum bemOht die Wirklichkeit der Zuslande wahrend der Zeit der DDR und ihre Fol­

gen, die Lasten des Obereilten Beitritts und die Notwendigkeit sowohl der Siebenmeilen­

stiefel-Schritte in die Moderne wie der Erfindung ganz anderer Wege in die Zukunft. als sie

aus der westlichen Erfahrung ableitbar sind, ehrlich zu erkennen. Das schlieBt auch die

Selbstkritik an den Entwicklungen und Zustanden in Westdeutschland mit ein. Aber mit ei­

ner auch noch so zutreffenden Beschreibung ist es nicht getan.

Ober die Charakterisierung der Wirklichkeit hinaus erscheint als zentrale Substanz des

Getrenntseins und als Determinante auch der Perspektiven der geforderten Einheit gerade

der Sachverhalt daB zwar viel Ober die Unterschiede in Vergangenheit und Gegenwart Ober

die Leistungsbereitschaft und die erbrachten Leistungen (und deren Defizite) auf beiden Sei­

ten gesprochen wird, aber kaum miteinander.

Die lange und die jOngere Geschichte und ihre Foigen mOssen aufgearbeitet werden:

sicher auch von Experten, Schriftstellern und Redakteuren, aber noch mehr von den Men­

schen auf beiden Seiten - als die Grundlagen ihrer je ganz personlichen Existenz und Pra­

gung. Sie begegnen sich, beheimatet in Ost und West auch jetzt noch kaum. Die Ost-West­

Wanderer aus wirtschaftlichen und personlichen GrOnden und die West-Ost-Wanderer aus

wirtschaftlichen, Karriere- und idealistischen GrOnden tragen zur Begegnung bei - aber sie

sind viel zu sehr mit der Bewaltigung von alltaglichen Aufgaben (und Konflikten) beschaf­

tigt als daB sie sich ausgiebig personlich miteinander befassen wOrden. Und da sind auch

die Scheu voreinander, das BewuBtsein mangelnder Erfahrungen aus der anderen Welt das

BedOrfnis der Rechtfertigung, die Unf<ihigkeit zum Eingestandnis der eigenen Fehler auf

beiden Seiten. Und diese Wanderer zwischen beiden Welten sind viel zu wenige und drin­

gen nicht in aile Nischen der regionalen (wie der individuellen) Existenzen vor.

Haben nicht die Westdeutschen zu selbstverstandlich die Realitat der Lebensbedin­

gungen im .,real existierenden Sozialismus" insgesamt und zu pauschal verurteilt und wa­

ren und sind zu fraglos davon Oberzeugt, daB die eigene Oberzeugung und Lebensart der­

jenigen, die sich in der DDR zu entwickeln vermochte, entschieden vorzuziehen sei? Es sind

doch die konstitutionellen und wirtschaftlichen Systeme nicht identisch mit den Personen,

die in ihnen zu leben gezwungen waren. Vor den Beurteilungen ware die schlichte Kennt­

nisnahme notwendig. Die Wahl der Rechts-, Verfassungs- und Wirtschaftsordnung ist doch

174 RAINER MACKEN SEN

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1991

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eindeutig ausgefallen; aber vollkommen ist diese wahrhaftig auch nicht Zu vielen fehlt die

Bereitschaft, Ober beide Vergangenheiten offen und fair zu sprechen. Die WOrde der Le­

bensleistung aufgrund anderer Bedingungen wird einfach Obersehen. Das macht das drin­

gend notwendige Gespr;:ich fast unmoglich; es laBt den Ostdeutschen kaum die Chance,

sich zu erlautern. So gehen beide miteinander so gut wie sprachlos um.

Die Vollzieher der Einheit haben - sie hatten zwar keine andere Wahl, aber sie haben

eben doch faktisch: Institutionen und Betriebe aufgelost Personen aus ihren Funktionen

entfernt, Studienrichtungen ersetzt, Lehrgebiete umdefiniert; und haben an ihre Stelle

- ohne Widerrede zu dulden - die eigenen Institutionen, Personen und Lehrgebaude

gesetzt Was konnte einer dem entgegenhalten? Und: Was hatie er denn sagen sollen?

Selbst die kulturellen, technischen und etwa die sportlichen Leistungen wurden

Obersehen, Oberrollt Erst jetzt wird allmahlich erkennbar, was alles untergepflOgt

worden ist Kann daran noch einmal angeknOpft werden? Die Experten aus DDR-Zeiten

muBten langst in andere Sparten abwandern, um irgendeine soziale Position zu sichern,

wenn auch nicht die frO here wiederherstellen zu konnen. Haben die Deutschen in Ost

wie West nicht den Sturz aus anerkannten Positionen in Armut und soziale Unerheblich­

keit schon einmal erlebt als die Vertriebenen im sicheren Land ankamen, und haben sie

denn vergessen, welche Energien bei dem Verlangen freigesetzt wurden, die einstige soziale

Position unter neuen Bedingungen wiederzuerlangen? Damals aber lagen nicht Jahr­

zehnte zwischen Verlust und Neubeginn, und die damals neue staatliche wie die wirt­

schaftliche Ordnung muBte von allen zugleich und von Vertriebenen und Eingesessenen

gemeinsam wieder aufgebaut werden; der Zwischenraum war, so groB er auch war, doch

wesentlich geringer.

WOrde es gelingen, das Gesprach doch noch in Gang zu setzen, das zur Oberwindung

der - langfristigen und jOngeren - historischen Trennung und als Voraussetzung der "in­

neren" Einheit unausweichlich ist: vielleicht wOrde sich daraus ja auch jetzt noch etwas Neu­

es ergeben - es konnte ja auch "westliche" Oberzeugungen in Frage stellen. Zumindest

konnten beide dazulernen - Ober Erfahrungen, die sie jeweils nicht selbst durchstehen muB­

ten. Sie mOssen doch wohl beide noch lernfahig sein!?

Die Stadte, ihre Erscheinungen und Bilder, konnen auch nicht anders ausfallen als die

Menschen, die sie nutzen und standig umgestalten. Die Transformationen, von denen man

meinte, daB sie in wenigen Jahren Oberstanden sein mOBten, haben gerade erst begonnen:

Der Schock des plotzlichen Systemwechsels mOndet wohl nun allmahlich in eine Periode

der Gestaltung der neuen Lebensbedingungen ein. Diese wird - auch wenn der Bauboom

schon zuende zu gehen scheint - viele Jahre beanspruchen: Es ist nicht die erste Euphorie,

es ist auch nicht der schnelle Konsumrausch, es ist nicht die GrOnderzeit welcher die Stad­

te gestalten wird. Sondern es ist der Lebensstil, der sich in einer menschlich, sozial, wirt-

176 RAINER MACKENSEN

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schaftlich und baulich nachhaltigen, also dauerhaft tragfcihigen Form erst noch herausbil­

den muB, welcher die Stadte kOnftig und langfristig pragen wird.

Ihr endgOltiges Bild ist heute noch nicht zu erkennen. Nur die Schmerzen derTransformation

konnen schon dokumentiert werden.

LITERATUR Friedrichs, JOrgen 1977: Stadtanalyse - Soziale und raumliche Organisation der Ge­

sellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag

Friedrichs, JOrgen 1995: Stadtsoziologie. Opladen: Leske + Budrich

Friedrichs, JOrgen/ HauBermann, Hartmut! Siebel, Walter (HrsgJ 1986: SOd-Nord-Ge­

falle in der Bundesrepublik? Opladen: Westdeutscher Verlag

GeiBler, Clemens/ Heuwinkel, Dirk! Kujath, Hans-Joachim/ Schubert Herbert! The­

bes, Manfred 1992: Zur Entwicklung der Binnenwanderung im geeinten Deutsch­

land - Neue Paradigmen. In: Informationen zur Raumentwicklung 9.10/1992. Bonn:

BfLR, s. 709-720

Hamm, Bernd 1977: Die Organisation der stadtischen Umwelt Frauenfeld/Stuttgart:

Huber

Hamm, Bernd 1982: Einfuhrung in die Siedlungssoziologie. MOnchen: Beck

Hamm, Bernd/ Neumann, Ingo 1996: Siedlungs-, Umwelt- und Planungssoziologie.

Opladen: Leske + Budrich

Musil, Jiri 1960: Die Entwicklung der okologischen Struktur Prags. Deutsch in: Her­

Iyn, Ulfert (Hrsg.): Stadt- und Sozialstruktur. MOnchen: Nymphenburger Verlag 1974,

S. 133-145

Szelenyi, Ivan 1974: Wohnungssystem und Gesellschaftsstruktur. In: Balla, Balint

(Hrsg): Soziologie und Gesellschaft in Ungarn. Bd. IV: Vom Agrarland zur Industrie­

gesellschaft. Stuttgart: Enke, S. 98-109

Stadte verandern ihr Alltagsgesicht 177

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JENA. Ruthaer StraBe. 1996

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DIE STADTRANDER Fotografien

JOrgen Hohmuth

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JENA. Tatzendpromenade. 1995

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lENA. Tatzendpromenade. 1988

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lENA. Blick auf das Zeiss-Werk vom Vogelberg. 1989

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JENA. Zum Paradies. 1988

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JENA. Blick von der Lobdeburg auf Lobeda. 1996

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lENA. Blick auf Lobeda. Gewerbegebiet Ruthaer Stral3e. 1996

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JENA. Zum Paradies. 1995

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JENA. Landgraf. 1989

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Jena

A4

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DIE STADT JENA

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Jena gehort als Oberzentrum zum Verdichtungsraum derThuringer Stadtekette zwischen

Eisenach und Gera. Die Stadt im mittleren Saaletal hat sich seit den Ursprungen im 9. Jahr­

hundert zwischen Kalkhangen und Hochplateaus in einem vielgestaltigen Landschaftsbezug

entwickelt Jena ist bekannt als Wissenschaftsstadt mit einer bereits 1557 gegrundeten Uni­

versitat an der u.a. Haeckel und Abbe natur- und technikwissenschaftliche Traditionen be­

grundeten, als Industriestadt mit einer weltbekannten feinmechanisch-optischen Produkti­

on sowie als Ort mit national bedeutsamen geistig-kulturellen Traditionen, die sich u.a. an das

Wirken von Goethe, Schiller, Fichte und Hegel knupfen. In der Schlacht bei Jena und Auer­

bach erlitt PreuBen im Jahre 1806 seine entscheidende Niederlage gegen Napoleon. Die

Stadt ist auBerdem als Ort demokratischer Oppositionsbewegungen bekannt: im Jahre 1818

wurde hier die erste Burschenschaft Deutschlands gegrundet und auch in der DDR galt Je­

na in den siebziger und achtziger Jahren als ein Zentrum der oppositionellen Bewegung.

Die Industrialisierung begann in Jena mit der Einrichtung einer ersten mechanischen

Werkstatt durch Carl Zeiss im Jahre 1846 - aus der die Zeiss-Stiftung hervorging - und der 1884

erfolgten Grundung eines glastechnischen Laboratoriums durch Schott - dem spateren Jenaer

Glaswerk. Die Entwicklung der wenigen groBen Industriestandorte zunachst in der Nahe der

Altstadt und nach dem II. Weltkrieg im sud lichen Jena-Goschwitz fUhrten zu einer Nord-Sud­

orientierten Urbanisierung des naturraumlich wertvollen, von haufigen Inversionswetterla­

gen belasteten Saaletales. Das Zeiss-Kombinat gehorte zu den Schwerpunktstandorten der

DDR-Industrie, so daB Jena insbesondere infolge eines aus den Autarkiebestrebungen der

DDR-Wirtschaft herruhrenden "Mikroelektronikbeschlusses" einen erheblichen Bevolke­

rungszuwachs zu verzeichnen hatte.1975 erreichte die Stadt den GroBstadt-Status. Zwischen

1970 und 1988 siedelten sich fast 20.000 Einwohner in Jena an. Deshalb wurden im Suden

der Stadt und in unmittelbarer Nahe zur Autobahn mit Lobeda und Winzerla zwei GroB­

siedlungen in Plattenbauweise errichtet in denen heute fast die Halfte aller Einwohner lebt

Bestimmten vor der Wende neben dem Zeiss-Kombinat lediglich zwei GroBbetriebe das

Industrieprofil in Jena, so vollzieht sich seit 1990 ein drastischer Strukturwandel. Das Zeiss­

Unternehmen wurde zergliedert und mittels umfangreicher Wirtschaftsforderung im High­

Tech-Bereich konnten industrielle Kerne der ehemaligen Produktionen erhalten und auf der

Basis von etwa einem Sechstel der Arbeitsplatze in einer differenzierten Branchenstruktur

stabilisiert werden. Neue Gewerbegebiete wurden durch die Nachnutzung aufgelassener in­

nerstadtischer Industrieareale und die Ausweisung neuer Flachen mit Autobahn- bzw. Bun­

desstraBenanbindung erschlossen. Eine wichtige Rolle fUr die Stadtentwicklung spielen die

Profilierung der Universitat die auf eine erhebliche VergroBerung der Studentenzahlen setzt

und die Ansiedlung weiterer wissenschaftlicher Institutionen, so daB Jena als eine von drei

Regionen in Deutschland im Rahmen des Programms "Biotechnologie 2000" des Wissen­

schaftsministeriums vom Bund gefordert werden soil.

190 DIESTADTJENA

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Die AnsprOche eines technologieorientierten Industriestandortes mit zweifellos gOnsti­

gen weichen Standortfaktoren konfrontieren Jena mit weitreichenden Entwicklungsfragen

und stadtstrukturellen Veranderungen. Mit der politischen Wende und der Aufltisung der

GroBbetriebe begann ein erheblicher Einwohnerverlust, der den GroBstadt-Status in Frage

stellt und der durch eine 1994 von WidersprOchen begleitete Eingemeindung umliegender

Orte sowie durch eine gezielte Siedlungsflachenpolitik aufgefangen werden soil.

Die Versorgungsdefizite wurden mit einer raumgreifenden Ansiedlung von groBflachi­

gem Einzelhandel und Gewerbeflachen im SOden der Stadt abgebaut, die aber zugleich

regelrechte Verwerfungen der kleinteiligen Handels- und Dienstleistungsstruktur in der Alt­

stadt verursachten. Diese sollen mit 2 innerstadtischen Sanierungsgebieten, der "Goethe­

galerie" auf dem Gelande des ehemaligen Zeiss-Stammsitzes und dem Projekt "Stadtuni­

versitat" kompensiert werden.

In den beengten StraBenraumen der Stadt eskalieren die Verhaltnisse im ErschlieBungs­

und Durchgangsverkehr; Erweiterungen und Verlagerungen von BundesstraBen- und Auto­

bahnkapazitaten kollidieren jedoch mit den Forderungen des Natur- und Landschafts­

schutzes in unmittelbarer Stadtnahe.

Insgesamt gehtirt die Stadt Jena zu den Gewinnern des Strukturwandels in Ost­

deutschland und zeigt zugleich, mit welchen gravierenden sozialen und stadtraumlichen

Veranderungen dieser ProzeB einhergeht und welche Steuerungsinstrumente, Ftirderkondi­

tionen und Mittel erforderlich sind, urn ihn einzuleiten, zu tragen und dauerhaft zu gestalten.

Flache in qkm 114,21

Einwohner 1986 107.612 1988 108.010 1989 105.825 1990 102.518 1993 100.093 1994 102.204 1995 99.945

Sozialversicherungs- 1990 62.000 pflichtig Beschaftigte 1995 46.181

Betriebe im ver- 1991 16 arbeitenden Gewerbe 1994 31

Beschaft~te im ver- 1991 23.211 arbeiten en Gewerbe 1994 7.798

Arbeitslosenquote Ende 1991 7,4 in % Ende 1995 13,2

Mille 1996 15,0

Verschuldung der Stadt Stand 1994 1.645 in DM/EW

[Quellenangaben und Vergleich siehe Klappentext]

191

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DIE STADT DESSAU

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Dessau ist eines der drei Oberzentren des Landes Sachsen-Anhalt und Sitz eines Re­

gierungsprasidiums. Die Stadt wurde 1213 erstmals urkundlich erwahnt und hat sich in der

Auenlandschaft siidlich von Elbe und Mulde als Verwaltungssitz, Industriestadt und Schau­

platz bedeutsamer Reformen entwickelt Ais nOrt der Aufklarung" wurde Dessau durch das

Reformwerk des Fiirsten Franz von Anhalt-Dessau gepragt das sich mit dem als Dessau­

Worlitzer Gartenreich bekannten Siedlungs- und Landschaftsraum bis heute wiederfindet

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich an den Bahnlinien Produktionsstand­

orte fOr verschiedene Industriebranchen. Insbesondere die 1892 eroffnete Firma von Hugo

Junkers und die Griindung von Gas- und Eisenbahnwaggonbau-Unternehmen begriindeten

die Struktur des bedeutendsten Industriestandortes in Mitteldeutschland. Mit dem Ausbau des

Junkers-Flugzeug- und Motorenwerkes zu einem staatlichen Riistungsuntemehmen Mitte der

dreiBiger Jahre und der Entwicklung von zahlreichen Betrieben, die das Profil der Bauindu­

strie und den Maschinen- bzw. Anlagenbau der DDR seit den 50er Jahren bestimmten, er­

langte Dessaus Industrieproduktion in zwei politischen Diktaturen nationale Bedeutung.

Ende 1925 siedelte das Bauhaus nach Dessau iiber und nahm in dem weltbekannten

Gebaude von Walter Gropius seinen Sitz. Der kulturpolitische Bruch nach 1933 manifestier­

te sich in der nGauhauptstadf Dessau in Form eines iiberdimensionalen Theaterbaus als Teil

einer weitgehend Papier gebliebenen Stadtumbaukonzeption. Ein Bombenangriff zerstorte

1945 fast die gesamte Innenstadt Nach dem Ende des II. Weltkrieges gehOrte Dessau des­

halb zu den "Aufbaustadten" der friihen DDR und erlebte bis Mitte der 60er Jahre einen mehr­

fachen Wandel stadtebaulicher Leitbilder, der sich im heutigen Stadtzentrum beinahe in Form

eines "Museums" ablesen laBt In der DDR verlor die Stadt als Kreisstadt ihre Bedeutung als

iibergeordneter Verwaltungssitz und fand diese erst nach der Landerbildung 1990 wieder.

1m Industriezeitalter entwickelte sich die Stadt in Form eines Siedlungsbandes mit einer

engen Verzahnung von Gewerbe- und Wohnflachen entlang der Bahn hauptsachlich in

Nord-Siid-Richtung sowie, angrenzend an die Junkerswerke, auf im Westen der Stadt ver­

fOgbaren Flachen. Die Entwicklung des Industriestandortes, die Konzentration industriali­

sierter Bauunternehmen in der Stadt und eine Erneuerungspolitik auf der Basis von Alt­

bauabrissen sowie der Ausweisung extensiver Wohngebiete fiihrten nach 1945 zu einer

iiberdurchschnittlichen Entwicklung der Wohnungsbestande. Diese laBt sich in mehreren

GroBsiedlungen, aber auch in der Innenstadt und den griinderzeitlichen Stadterweite­

rungsgebieten nachvollziehen. Dessau verzeichnete zu DDR-Zeiten Bevolkerungszuwachs

und wurde 1972 GroBstadt

Der Verschleil3grad weiter Teile der erheblich umweltbelastenden Industrieanlagen, der

Wegfall vor allem osteuropaischer Markte und die Privatisierungsstrategie der Treuhand­

anstalt fOhrten in Dessau seit 1990 zu einem Zusammenbruch zahlreicher Produktions­

statten. Dieser DeindustrialisierungsprozeB ging mit einem drastischen Bevolkerungs-

194 DIE STADT DESSAU

Page 198: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

verlust einher, der trotz gezielter Eingemeindungspolitik zum Verlust des GroBstadtranges

fUhrte. Mittlerweile finden sich in Dessau im produzierenden Gewerbe bis aufwenige Aus­

nahmen nur noch Betriebe mit weniger als 300 Beschaftigten.

Die Stadtentwicklungspolitik in Dessau setzt gegenwartig auf die wachsende Bedeu­

tung der Stadt als Behordenstandort und Verwaltungssitz im Landes- und BundesmaBstab

sowie eine wirtschaftliche Entwicklung mit Orientierung auf produzierendes Gewerbe unter

Nutzung verbliebener Standorte, ausgedehnter Industriebrachen und groBer Konversions­

flachen ehemaliger Militareinrichtungen. Von der Ausstrahlung bekannter Institutionen und

Tourismusziele, wie dem Bauhaus oder der Dessau-Worlitzer Parklandschaft, erhofft man

sich entsprechende Effekte im Dienstleistungssektor.

In Dessau hatte das fortschrittsglaubige, an Industrialisierung und Urbanisierung

gebundene Projekt der Moderne einen geistigen Mittelpunkt und erfuhr eine Verraumlichung,

die in ihren stadtebaulichen Dimensionen und regionalen Strukturen bis heute nachvollzieh­

bar ist Das geht seit den 80er Jahren mit einer tiefen wirtschaftlichen Strukturkrise einher und

ist von erheblichen sozialen Foigen begleitet Vor diesem Hintergrund und in Analogie zu hi­

storischen Ansatzen wird in Dessau erneut uber ein Reformprojekt diskutiert, das sich an den

realen wirtschaftlichen und raumlichen Verhaltnissen orientiert und nur noch punktuell um­

gesetzt und vermittelt werden kann. Mit der Installierung einer Korrespondenzregion zur EX­

PO 2000 in Hannover, die im Stadtedreieck Dessau - Wittenberg - Bitterfeld angesiedelt sein

soli, wird ein solches Reformprojekt als regionales Strukturprogramm aufgegriffen. Seine Nach­

haltigkeit auf die Stadtentwicklung von Dessau muB sich dabei noch erweisen.

Flache in qkm 147,94

Einwohner 1986 103.538 1988 103.867 1989 101.262 1990 96.754 1993 93.789 1994 92.262 1995 90.945

Sozialversicherungs· 1990 55.363 pflichtig Beschaftigte 1995 36.809

Betriebe im ver- 1991 51 arbeitenden Gewerbe 1994 60

Beschaftte im ver- 1991 18.913 arbeiten en Gewerbe 1994 7.343

Arbeitslosenquote Ende 1991 8,1 in % Ende 1995 18,5

Mille 1996 20,3

Verschuldung der Stadt Stand 1994 1.407 in DM/EW

[Quellenangaben und Vergleich siehe Klappentextl

195

Page 199: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

Goberndorf

196

Schondorf Woldstadt

Weimar

A4

Page 200: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

DIE STADT WEIMAR

197

Page 201: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

Weimar gehOrt als Mittelzentrum mit oberzentralen Funktionen zur thOringischen Stadte­

kette und Wirtschaftsachse Eisenach - Erfurt - Jena. Die fOr 1999 als .Kulturstadt Europa" er­

korene, international bekannte Stadt blidd zur Jahrtausendwende auf eine 1l00-jahrige Stadt­

geschichte zurOck und wird dann den 250. Geburtstag von Johann Wolfgang Goethe begehen.

Die vergleichsweise kleine Stadt auf der Westseite des landschaftlich reizvollen IImtales ist vor

allem in ihrem Kern und in ihrem Umland mit kulturhistorischen Adressen mehrerer Jahrhun­

derte Obersat die sich bis heute als AnknOpfungspunkte fOr die Stadtentwicklung erweisen.

Der mittelalterliche Stadtkern erinnert mit Kirchen und erhaltenen BOrgerhausern an

die Wirkung von KOnstlern der Reformationszeit und nachfolgender Jahrzehnte wie Lucas

Cranach oder Johann Sebastian Bach. Weimars Bedeutung als Verwaltungsstadt und Schau­

platz des .Klassischen Zeitalters" bezieht sich auf die Traditionen einer herzoglichen Resi­

denz und schlieBlich auf die erste Verfassung in einem deutschen FOrstentum, dessen gei­

stiges und politisches Klima von Goethe, Schiller, Herder, Wieland und zur Jahrhundertwende

von Nietzsche und van de Velde gepragt wurde. Letzerer entwickelte aus der als .Weimarer

Malerschuleu bekannten GroBherzoglichen Kunstschule eine moderne Kunstgewerbeschu­

Ie, die nach dem I. Weltkrieg unter Leitung von Gropius als Staatliches Bauhaus neu eroff­

net wurde. Diese Bildungsstatte begrOndete eine kOnstlerische und technische Hoch­

schultradition bis zur heutigen Bauhaus-Universitat

Nach der Verabschiedung der Verfassung fOr die 1919 in Deutschland gebildete Repu­

blik im Weimarer Nationaltheater wurde Weimar im Jahre 1920 Landeshauptstadt von

ThOringen und in der Zeit des Nationalsozialismus schlieBlich Gauhauptstadt Bis heute ist

das Gebaudeensemble des sogenannten Gauforum weitgehend erhalten. 1937 wurde auf

dem nordlich der Stadt gelegenen Ettersberg das KZ Buchenwald eingerichtet das mehrere

widersprOchliche Kapitel deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert bezeugt

Nach dem II. Weltkrieg verlor Weimar seinen Status als Landeshauptstadt und behielt

mit seinen Museen und Hoch- bzw. Fachschulen die Rolle einer Kultur- und Bildungsstadt

1m Industriezeitalter erlebte die Stadt Weimar eine moderate Entwicklung. Urn

einen mittelalterlichen Stadtkern mit dem SchloB- und Parkbezirk entwickelten sich ein vor­

nehmeres Westviertel als Wohnort fOr Beamte und ein proletarisches Bahnhofs- und Indu­

strieviertel beiderseits der im Norden der Stadt gelegenen Bahnlinie, aufgelockerte Sied­

lungen der 20er Jahre und drei GroBsiedlungen der DDR-Epoche.

Seit der politischen Wende 1989/90 ist auch in Weimar ein erheblicher Bevolkerungs­

verlust zu verzeichnen. Die wenigen groBeren Industrieansiedlungen wurden eliminiert auf

den freigewordenen Standorten erfolgte eine Ansiedlung differenzierter Gewerbebetriebe.

Die historische Stadtstruktur wird von einer wachsenden Verkehrslawine heimgesucht Der

anhaltenden Bedeutung von Weimar als Touristenziel standen bereits zu DDR-Zeiten ein

zunehmender Verfall der Altstadt und historischer Statten sowie eklatante Fehlbedarfe einer

198 DIE STADT WEIMAR

Page 202: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

zugehOrigen Infrastruktur entgegen. Deshalb muB ein immenser Erneuerungsbedarf in

einer vergleichsweise kleinen Stadt in einem armen Bundesland realisiert werden.

In den 90er Jahren setzt man in Weimar auf die zentrale Lage mit Autobahn- und 1(­

AnschluB, die Bedeutung als Kultur-, Bildungs- und Touristenstadt und auf die Integration

in den mittelthiiringischen Wirtschaftsraum. Dem Projekt "Kulturstadt Europa 1999" ordnen

sich eine Vielzahl baulicher und kultureller Aktivitaten unter, die mit betrachtlichen Ko­

stenbelastungen des kommunalen Haushaltes fUr Instandsetzungen, Restaurierungen und

eine angemessene Verwaltung einhergehen. Die historische Altstadt wird als gef6rdertes Mo­

dellprojekt zur Stadtsanierung mit einem hohen denkmalpflegerischen Anspruch erneuert

Da die Kernstadt vorwiegend als Arbeitsort entwickelt wird, findet eine Abwanderung

der Wohnbevolkerung in die Orte des Umlandes statt Dem wurde mit einer Ausdehnung

des Stadtgebietes durch Eingemeindungen und den Ausweis neuer Siedlungsgebiete auf

stadtischem Territorium begegnet Insbesondere die gewerbliche Entwicklung des groBflachi­

gen Einzelhandels hat die westliche, siidliche und ostliche Peripherie der Stadt besetzt so

daB an den "Stadteingangen" neue stadtgestalterische Tatsachen mit zum Teil erheblichen

Dimensionen geschaffen wurden.

Insgesamt konnte Weimar nach der Wende an seine historischen Bedeutungen an­

kniipfen und verzeichnet wieder wachsende Besucherzahlen seiner Kulturstatten und Kunst­

ereignisse sowie steigende Studentenzahlen. Besondere Brisanz erhalt die Entwicklung

durch die enorm belasteten offentlichen Haushalte, so daB sich die Nachhaltigkeit von Kul­

tur und Tertiarisierung als wirtschaftliche Basis der Stadt erst noch erweisen muB.

Flache in qkm 84,27

Einwohner 1986 63.910 1988 63.412 1989 61.583 1990 60.326 1993 58.807

(mit Eingem.) 1994 62.233 1995 62.265

Sozialversicherungs· 1990 37.183 pRichtig Beschaftigte 1995 29.936

Betriebe im ver- 1991 22 arbeitenden Gewerbe 1994 25

Beschaftte im ver- 1991 6.865 arbeiten en Gewerbe 1994 2.550

Arbeitslosenquote Ende 1991 9,8 in % Ende 1995 13,1

Mille 1996 k.A.

Verschuldung der Stadt Stand 1994 1.965 in DM/EW

[Quellenangaben und Vergleich siehe Klappentext]

199

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WEIMAR. Untergraben. 1996

200

Page 204: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

ANHANG

Kurzbiographien der Autoren

Werkubersicht des Fotografen Jurgen Hohmuth

201

Page 205: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

KURZBIOGRAPHIEN

202 ANHANG

DIETMAR EBERT geb. 1953. Von 1971 bis 1975 Studium der Kulturtheorie, Asthetik und germanisti­

schen Literaturwissenschaft an der Leipziger Universitat Von 1975 bis 1989 Lehr- und

Forschungstatigkeit an der Friedrich-Schiller-Universitat lena, 1986 bis 1989 Mitar­

be it an der soziologischen Untersuchung .Kulturelle BedOrfnisse und Interessen der

lenaer Stadtbevolkerung". 1985 Dissertation A: .stadtische Kultur - Wege ihrer Erfor­

schung", 1990 Dissertation B: "Stadtische Kultur - Ergebnisse ihrer Erforschung".

1989/1990 Stadtrat fijr Kultur in lena. 1991 bis 1992 Mitarbeit im KuKuK e.V. (Verein

fijr Kunst, Kultur und Kommunikation). Ziel des Vereins war es, ein kulturell-kommu­

nikatives Zentrum in lenas Innenstadt zu etablieren, dieses Projekt ist gescheitert Seit

1993 Aufbau eines Archivs erzahlter Geschichte im KuKuK e.v.: Sammlung von Le­

benserinnerungen mit den Schwerpunkten Industriekultur und Reformpactagogik. Pu­

blikationen zu Stadtkultur und Ergebnissen der Untersuchung .. Kulturelle BedOrfnis­

se und Interessen der lenaer Stadtbevolkerung"; Arbeiten zu Biographie und Werk

Walter Benjamins; Analysen zu Peter Weiss' .. Asthetik des Widerstands". In jOngsten

Publikationen wurden die Theorie des kollektiven Gedachtnisses und gesammelte Le­

benserinnerungen vorgestellt 1990 Herausgeber des Bandes .. Lebensbilder aus lena"

(mit Fotografien von Wrgen Hohmuth).

JURGEN HOHMUTH geb.1960 in Berlin. Lehre und Tatigkeit als Forstarbeiter, seit 1981 freiberufliche Tatig­

keit als Fotograf, von 1986 bis 1991 Fotografiestudium an der Hochschule fijr Grafik

und Buchkunst bei Arno Fischer, 1993 GrOndung von ZeitOrt Bilddokumentationen

(mit Peter Oehlmann und Peter Thieme). Arbeiten vor allem Ober Korpertheater, Stadt­

leben, Architektur, Alltag irn Faschismus.

RAINER MACKEN SEN geb.1927 in Greifswald. Studium von 1948 bis 1954 in Gottingen und Tubingen: Deut­

sche und englische Literaturwissenschaft, Philosophie, evangelische Theologie; dort

1955 Promotion zum Dr.phil.. Von 1955 bis 1967 an der Sozialforschungsstelle an der

Universitat MOnster in Dortmund: Assistent, Referent, Abteilungsleiter, Vorstandsmit­

glied. Habilitation fijr Soziologie und Bevolkerungslehre an der Rechts- und Staats­

wissenschaftlichen Fakultat der Universitat Munster. Ab 1968 ordentlicher Professor

an derTechnischen Universitat Berlin, Direktor der Institute fijr Soziologie und fijr Stadt­

und Regionalplanung. 1992 emeritiert Forschung und Veroffentlichungen vorwiegend

zu Stadtsoziologie, Bevolkerungswissenschaft, Stadt- und Regionalplanung, Mobilitat

und Verstadterung. Zuletzt u.a.: Urban Decentralization Processes in Western Europe.

In: A.A. Summers, P.c. Cheshire, L Senn (ed.): Urban Change in the United States and

Western Europe - Comparative Analysis and Policy. Washington/D.C: Urban Institute

Page 206: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

Press 1993; Bevolkerungsdynamik und Stadtentwicklung in okologischer Perspektive.

In: H. Sukoppl R Wittig (Hrsg.): Stadtokologie. Stuttgart, Jena & New York: Gustav Fi­

scher 1993; Urbanization under Federalist and Centralist Government - The Case of

two German States 1980-1988. In: Acta Demographica 1993. Heidelberg: Physika

1994; Mobilitiit und Kommunikation in den Agglomerationen von heute und morgen.

Hrsg.: Forschungsverbund Lebensraum Stadt, mit D. Sauberzweig u.v.a., Berlin: Ernst

& Sohn 1994, 6 Bande; Die deutschen Agglomerationen 1980-2010 - Regionale Ent­

wicklungen und Verflechtungen aus der Sicht der Bevolkerungsentwicklung. In: Ver­

band Deutscher Stadtestatistiker: Jahresbericht 1995; Interdependenzen zwischen ju­

ristischen und naturwissenschaftlichen Aspekten eines Regelwerkes zum Schutze des

Bodens. In: W. BOckmann, (Hrsg.): Symposium Bodenschutz. Berlin: FAGUS 1995;

Mehrheit Alter - Minderheit Jugend: KOnftige Generationenkonftikte. In: Sozialer Fort­

schritt 45 (1996) 3

IRIS REUTHER Dr.-Ing. (Architektin), geb.1959 in MOhlhausen. Von 1979 bis 1984 Architekturstudium

an der Hochschule fOr Architektur und Bauwesen Weimar, 1984 bis 1987 Aspirantur

in der Abteilung Theorie und Geschichte am Fachbereich Architektur der HAB Wei­

mar, von 1987 bis 1990 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut fOr Stadtebau und

Architektur der Bauakademie. Promotion 1989 mit dem Thema "Geschichte des Miets­

hauses als typische Wohnform der Arbeiter in der GroBstadt zwischen 1870 und den

frOhen 1920er Jahren. 1990/91 Mitarbeit an Stadterneuerungsprojekten im Auftrag

der Stadt Leipzig, seit 1991 freie Architektin fOr Stadtplanung, 1993 GrOndung des

BOros fOr urbane Projekte (mit Marta Doehler), 1995/96 Lehrauftrag zur Stadtebau­

geschichte an der Gesamthochschule/Universitat Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Stadt­

entwicklungplanung, Sanierungsplanung, Stadterneuerung, stadtebauliche EntwOrfe,

Studien zur Stadtebauentwicklung und Wohnungsbaugeschichte, Medienprojekte.

Veroffentlichungen u.a. in Arch+; Jahrbuch Stadtemeuerung; Leonardo; DISP; Schrif­

tenreihe der Stadt Magdeburg zur Siedlungsgeschichte.

ALFRED SCHWANDT Dr.lng., Dip\. phil., 1932 in Berlin geboren. 1954 bis 1955 Architektur-Student in Wei­

mar, 1955 bis 1961 Philosophie-Studium in Berlin mit der Spezialisierung Architek­

tur-Asthetik. Ab 1961 Mitarbeiter des Instituts fOr Theorie und Geschichte der Bau­

kunst, spater des Instituts fOr Stadtebau an der Deutschen Bauakademie. Dort von

1969 bis 1979 Leiter der Themengruppe Stadtebausoziologie. In dieser Zeit entstan­

den u.a.: "Beitrag zur Entwicklung des Wohnverhaltens und des Verhaltnisses zur Um­

welt" (lO-Stadte-Untersuchung, Ormig); "stadtebausoziologische Probleme" (Schrif­

tenreihe der Bauforschung, Heft 53); "Neubauwohngebiete irn Urteil der Bewohner"

(Ormig). 1979 infolge politi scher Differenzen Aufgabe des Forschungsgebietes und

Aufnahme der Tatigkeit alJllnstitut fOr Kulturbauten Berlin. Dort von 1981 bis 1990

Chefredakteur der Zeitschrift "Kulturbauten", zuletzt .Kulturbauten und Denkmale".

Kurzbiographien 203

Page 207: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

204 ANHANG

Seit 1991 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bundesforschungsanstalt fUr Lan­

deskunde und Raumordnung Bad Godesberg, AuBenstelle Berlin. Themengebiete:

.Entwicklung der Wohnbedingungen und der Wohnungsversorgung im Anglei­

chungsprozeB nach 1990· und .Dauerhafte Wohnungsversorgung Obdachloser"

WENDELIN STRUBELT Dr.rer.pol., MA, geboren 1943. Von 1964 bis 1966 Studium derTheologie, politischen

Wissenschaft, Geschichte und Germanistik in Er1angen-Niirnberg und Tiibingen, 1966-

1967 Studium der Soziologie und Philosophie an der University of Colorado, Boulder,

Fortsetzung des Studiums von 1967 bis 1969 in Konstanz. 1969 AbschluB mit dem

Magister Artium. Von 1970 bis 1972 wissenschaftlicher Angestellter am Fachbereich

Politische Wissenschaft der Universitat Konstanz, von 1973 bis 1976 Hochschulleh­

rer an der Universitat Bremen. Promotion zum Dr.rer.pol. 1976, ab 1977 Assistenz­

professor im Studiengang Sozialwissenschaft der Universitat Bremen, ab 1979 Pro­

fessor, seit 1981 Direktor und Professor der Bundesforschungsanstalt fUr Landeskunde

und Raumordnung in Bonn-Bad Godesberg. Arbeitsschwerpunkte: Stadt- und Regio­

nalsoziologie. Schriftleiter der Zeitschriften .Informationen zur Raumentwicklung· und

nRaumforschung und Raumordnung". Vertiffentlichungen: Der GroBflughafen Miin­

chen, Politische Verwaltung im Spannungsfeld lokaler und internationaler Verflech­

tung (1979); Soziale Probleme in ausgewahlten Neubaugebieten verschiedener Stad­

te der Bundesrepublik Deutschland (Mitautor, 1982); Determinants of urban deve­

lopment (Mitherausgeber, 1987); Territorial Base of Social Structures (Mitherausgeber,

1989); Modernisierung der Demokratie - Internationale Ansatze (Mitherausgeber,

1992); Agglomerationsraume in Deutschland - Leitung eines Arbeitskreises der ARL

und Herausgabe der Dokumentation dieses Arbeitskreises (Hannover, 1996).

CHRISTINE WEISKE Prof. Dr. phil. habil., geb. 1950 in Apolda. Studium der Philosophie und Soziologie an

der Martin-Luther-Universitat Halle, wissenschaftliche Assistentin an der Hochschule

fUr Architektur und Bauwesen Weimar und an der Universitat Dortmund, Professorin

an der Technischen Universitat Chemnitz, Philosophische Fakultat Ausgewahlte Ver­

tiffentlichungen: Europaische Provinz Weimar, Deutung und Selbstdeutung (mit Uta

Schafer). In: Die alte Stadt 18 (1991) 3; Die langen Zeiten und die kurzen Momente -

Dimensionen der sozialen Zeit und des sozialen Raums in der Stadtentwicklung Er­

furts. In: H. HauBermannl R. Neef (Hrsg.): Stadtentwicklung in Ostdeutschland. Opla­

den: Westdeutscher Verlag 1996; Die Erlebniswelt als Stadt Uber reale und digitale

Stadte (mit Ute Hoffmann). In: WWVV unter http://duplox.wz-berlin.de/docs/stadthtml

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WERKOBERSICHT DES FOTOGRAFEN JORGEN HOHMUTH

AUSSTILLUNGEN (AUSWAHL): 1981

1986

1989

1990

1990/1991

1991

1991

1992

BERLINER STADTLANDSCHAFTEN. Kreiskulturhaus Berlin-Treptow

FUNDPLAUE. mit den Trivialarchaologen Rene Benjowski und

Rene Zechmeister. Galerie GrOnstrasse. Berlin-Kopenick

BILDER EINER DEUTSCH EN WELT. Fundbilder aus dem Dritten Reich.

Kreiskulturhaus Berlin-Treptow

BILDER EINER DEUTSCHEN WELT. im Rahmen des Festivals

,,I' autre Allemagne hors les murs". Parc de la Villette. Paris

LEBENSBILDER AUS JENA TUbingen. Erlangen. Ulm. Jena

INDUSTRIELLES GARTEN REICH. Bauhaus Dessau

BROT UNO KOHLE. Museum der Stadt Borna

AUCUN POISSON NE RfT DE SOUVENIRS. Korpertheater. Plastik und

Fotografie. mit dem Theater ESCALE. Parochialkirche. Berlin

1993 STANDORTE. Berliner Olympiatraume. mit Peter Oehlmann und Peter Thieme.

studio bildende kunst - baumschulenweg. Berlin

1993 ZU HAUSE IN HALLE-NEUSTADT. Kino Kosmos. Halle mit Projektges. am Bauhaus Dessau

1993 Projektforderung der Stiftung Kulturfonds

1994 DIE DRITrE MiTrE. Das Zentrum Berlins vor dem Umbau zur

1994

1994

1994

1995

1995

seit 1994

City der neuen Hauptstadt mit Peter Oehlmann und Peter Thieme.

Kulturpodium Berlin-Lichtenberg

ZWISCHEN MfTTE UNO PANKOW. Fotos aus dem Prenzlauer Berg.

mit Peter Oehlmann und Peter Thieme. Bayrische Vereinsbank. Prenzlauer Berg

NAHTSTELLEN zwischen Ost- und Westberlin. mit Peter Oehlmann

und Peter Thieme. Fotohaus Wiesenhavern. Berlin. Kurflirstendarnrn

HAUPfSTADlWECHSEL mit Peter Oehlmann und Peter Thieme.

Architektenkammer Berlin

BERLIN AUF OEM WEG ZUR HAUPfSTADT DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND.

mit Peter Oehlmann und Peter Thieme. Bundesministerium fur WirtschaftiBerlin

ENDSTATION ZENTRALVIEHHOF. Ausstellung des Prenzlauer-Berg-Museums. Berlin

verschiedene TON-BILD-SCHAU-PROJEKTE

VeriiffenUichungen in: LEBENSBILDER AUS JENA Universitatsverlag. Jena. 1990

BERLIN; 13. AUGUST 1990. Verlag Constructiv Berlin. 1990

DIE STADT ALS GABENTISCH. Hrsg.: Hans G. Helms.

Reclam-Verlag. Leipzig 1992

ZU HAUSE IN HALLE-NEUSTADT. Halie/Dessau. 1993

CLAUDE VASCONI. Editions du Regard. Paris. 1995

LE THEATRE DE RUE. Edition Plume Paris. 1995

SEHTEST. Hrsg. Longest F. Stein. Berlin. 1996

KurzbiographienlWerkObersicht 205

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Einwohner [1)

Sozialversicherungs-

pAichtig Beschoftigte [2)

Betriebe im ver-

arbeitenden Gewerbe [3]

Beschiiftigte im ver-

arbeitenden Gewerbe [3]

Arbeitslosenquote in% [4)

Verschuldung der

Stadt in DM/EW [5]

QueUen:

1986 1988 1989 1990 1993 1994 1995

1990 1995

1991 1994

1991 1994

Ende 1991 Ende 1995 Mille 1996

Stand 1994

JENA

107.612 108.010 105.825 102.518 100.093 102.204 99.945

62.000 46.181

16 31

23.211 7.798

7,4 13,2 15,0

1.645

DESSAU WEIMAR

103.538 63.910 103.867 63.412 101.262 61.583 96.754 60.326 93.789 58.807 92.262 62.233 (mit Eingem.)

90.945 62.265

55.363 37.183 36.809 29.936

51 22 60 25

18.913 6.865 7.343 2.550

8,1 9,8 18,5 13,1 20,3 k.A

1.407 1.965

[1) Statistische JahrbOcher der DDR (1987 - 1990); Statistische Jahrbocher ThOringen (1991, 1995, 1996); Stadt Dessau: Neue Zielstellungen zur Stadtentwicklung, Hrsg. vom Stadtplanungsamt Dessau, Marz 1995; Angaben der Komrnunen

[2) Statistisches Jahrbuch ThOringen (1991, 1996); Dessau in Zahlen 1996, Hrsg. von der Stadt Dessau, Referat bffentlichkeitsarbeit

[3) ThOringer Landesarnt liir Statistik: Statistischer Bericht: Bergbau und verarbeitendes Gewerbe in ThOringen. Januar 1995 - April 1996 nach Kreisen; Statistisches Johrbuch Sachsen-Anhalt (1992, 1995)

[4) Statistisches Jahrbuch Sachsen-Anhalt 1992; Statistisches Jahrbuch Thuringen 1991; Landesarbeitsamt Sachsen­Anhalt/ThOringen: Ergebnisse liir kreisfreie StOdte und Landkreise - Arbeitslose und Arbeitslosenquote. Berichtsmonat Dezember 1995 (Statistisches Sanderheft); Statistisches Informationsblatt der Stadt Dessau, Juli 1996; Jenaer Statistik, Quartalsbericht 1/96, Hrsg. von der Statistikstelle beirn Einwohnerrneldearnt

[5) Dessau in Zahlen 1996, Hrsg. von der Stadt Dessau, Referat bffen~ichkeitsarbeit; Statistisches Jahrbuch 1994, Stadt Weimar

Page 211: Jena. Dessau. Weimar: St¤dtebilder der Transformation. 1988–1990. 1995–1996

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