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Wohnen/ Mischgebiet (Bestand/Planung)
Gewerbe-/Industriegebiet (Bestand/Planung)
• Schwerpunkt Handel
JENA • DESSAU • WEIMAR
KSPW: Transformationsprozesse
Schriftenreihe der Kommision
fUr die Erforschung des sozialen und politischen
Wandels in den neuen Bundeslandern e.v. KSPW
Herausgegeben vom Vorstand der KSPW:
Hans Bertram, Hildegard Maria Nickel,
Oskar Niedermayer, Gisela Trommsdorff
BAND 29
JENA . DESSAU . WEIMAR
STADTEBILDER DER TRANSFORMATION
1988 - 1990 . 1995 - 1996
Herausgegeben von Wendelin Strubelt
Fotografien von JGrgen Hohmuth
mit Texten von JGrgen Hohmuth,
Dietmar Ebert, Iris Reuther,
Christine Weiske, Alfred Schwandt
und Rainer Mackensen
Leske + Budrich, Opladen 1997
© by Leske + Budrich, Opladen
1. Auflage 1997
Aile Rechte vorbehalten. Jede Art der Vervielfiiltigung,
auch auszugsweise, nUT nach vorheriger
Genehmigung durch den Verlag.
Korrektorat: Uta Schafer, Berlin
Gestaltung: Sibyll Wah rig, Berlin
Gesamtherstellung: Presse-Druck, Augsburg
ISBN 978-3-322-95799-3 ISBN 978-3-322-95798-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95798-6
EDITORIAL 6
VORWORT 8
BILDER UND IHRE HINTERGRONDE 13 Ein Gesprach zwischen Jlirgen Hohmuth (Fotograf)
und Wendelin Strubelt (Sozialwissenschaftler)
DIE INNENSTADTE. Fotografien 37 Jlirgen Hohmuth
FREMD SEHEN IN DER EIGENEN STADT 59 Dietmar Ebert
BILDER VOM TRANSIT 73 Ober den Zustand ostdeutscher Stadte
Iris Reuther
DIE ALTBAUGEBIETE. Fotografien 89 Jiirgen Hohmuth
BILDNIS HANNAH ARENDT VOR DER SILHOUETTE 111 EINES NEUBAUGEBIETES
Christine Weiske
DIE NEUBAUGEBIETE. Fotografien 133 Jiirgen Hohmuth
WOHNZUFRIEDENHEIT VERSUS ALLTAGSERFAHRUNG 157 Wie Umfrageergebnisse in der DDR nicht verwertet werden durften
Alfred Schwandt
STADTE VERANDERN IHR ALLTAGSGESICHT 167 Soziologische Gedanken zu Bildern der Transformation
Rainer Mackensen
DIE STADTRANDER. Fotografien 179 Jlirgen Hohmuth
DIE STADT lENA 189
DIE STADT DESSAU 193
DIE STADT WEIMAR 197
AN HANG 201 Kurzbiographien
Werkiibersicht des Fotografen Jiirgen Hohmuth
INHALT
EDITORIAL
Der vorliegende Band prasentiert die Ergebnisse eines Fotoprojekts aus der zweiten For
schungs- und Forderphase der Kommission fUr die Erforschung des sozialen und politischen
Wandels in den neuen Bundeslandern e. V. (KSPW).
Die KSPW', Ende 1991 auf Anregung des Wissenschaftsrates gegrOndet und aus Zuwen
dungen des Bundesministeriums fUr Bildung, Wissenschaft. Forschung und Technologie
(BMBF) sowie des Bundesministerium fUr Arbeit und Sozialordnung (BMA) finanziert. hat
es sich zur Aufgabe gemacht
den sozialen und politischen Wandel in den neuen Bundeslandern zu erforschen bzw.
seine Erforschung zu fordern,
damit auch die empirischen und theoretischen Grundlagen fUr politische Handlungs
empfehlungen zu verbessern sowie
angesichts des Umbruchs der Sozialwissenschaften in den neuen Bundeslandern das
sozialwissenschaftliche Wissenschaftler/innen-Potential und den Nachwuchs dort
zu unterstOtzen.
In einer ersten Forschungs- und Forderphase (1992) wurden 176 sogenannte "Kurzstudien"
vergeben (Antrags-Eingange: rund 1.700), von denen rund 150 Forschungsberichte als
Graue Reihe (alte Folge) der KSPW' veroffentlicht wurden. Die Kurzstudien sollten sozial
wissenschaftliche Analysen anregen, das im Umbruch befindliche sozialwissenschaftliche
Potential in Ostdeutschland unterstOtzen sowie empirische Daten der ostdeutschen Sozial
wissenschaft sichern helfen. Ausgewahlte Forschungsergebnisse der ersten Phase wurden
zudem in den Banden 9-29 der Reihe "KSPW': Transformationsprozesse" im Verlag Leske +
Budrich vom Vorstand der KSPW' herausgegeben.
In der zweiten Forschungs- und Forderphase (1993-1994) forderte die KSPW' vor allem 60
groBere Projekte zum ostdeutschen TransformationprozeB (Antrags-Eingange: rund 250), wo
von ausgewahlte in den Banden 9-29 der Reihe "KSPW': Transformationsprozesse" ver
offentlicht wurden.
Die dritte Forschungs- und Forderphase macht - Ober die Arbeit von 6 Berichtsgruppen -
die sozialwissenschaftliche Berichterstattung Ober den TransformationsprozeB zur zentra
len Aufgabe der Kommissionstatigkeit Neben der laufenden Berichterstattung in Publika
tionen, Konferenzen und Beratungen wurden die Ergebnisse der gesamten Forschungsan
strengungen zu thematischen Berichten zusammengefaBt deren Konzepte 1993 entwickelt
wurde, deren Realisation ab Mitte 1994 begonnen hat und die in 6 "Berichten zum sozia
len und politischen Wandel in Ostdeutschland" mit dazugehorigen 28 Banden mit "Beitra
gen zu den Berichten" Ende 1996 publiziert werden.
Der vorliegende Band der Reihe "KSPW': Transformationsprozesse" ordnet sich in die ein-
6 HANS BERTRAM
gangs genannten Ziele der Kommission ein: Zum einen finden interessierte Leser aus der
Wissenschaft. der politischen Administration sowie aus der sozialen und politischen Praxis
Materialien, Analysen und anwendungsbezogene Konzeptionen, die fur die tagliche Aus
einandersetzung mit dem und im TransformationsprozeB genutzt werden konnen; zum an
deren gibt er Sozialwissenschaftler/innen Gelegenheit die Ergebnisse ihrer Forschung hier
zu prasentieren.
Halle, im Juni 1996
Hans Bertram
Vorsitzender des Vorstandes
Kommission fur die Erforschung des sozialen und politischen Wandels
in den neuen Bundeslandern e. V.
Editorial 7
VORWORT
Dieses Buch ist ein Experiment Es entwickelte sich aus der Arbeit der Berichtsgruppe
"Die lokale und regionale Dimension des sozialen und politischen Wandels in den neuen
Bundeslandem" der Kommission fUr die Erforschung des sozialen und politischen Wandels
in den neuen Bundeslandern e.v. (KSPW). Die Arbeit dieser Berichtsgruppe ist in einem Teil
band des Gesamtberichtes der KSPW zusammengefal3t (Wendelin Strubelt u.a.: Stadte und
Regionen. Raumliche Foigen des Transformationsprozesses. Opladen: Leske + Budrich 1996).
Bei der Konzeption dieses Berichtes wurde von mir die Idee entwickelt die lokale und
regionale Dimension der Transformationsprozesse nicht durch sozialwissenschaftliche Ana
Iysen allein zu erfassen, sondern neben den damit verbundenen Tabellen, Diagrammen und
Karten auch Fotos als Analyseinstrument zu nutzen - nicht nur als illustratives Element son
dern in der Art einer eigenen Expertise, die mit entsprechenden Vorgaben von einem er
fahrenen Fotografen durchgefiihrt werden so lite. Denn die Wahrnehmung oder die Wahr
nehmbarkeit des Wandels einer Gesellschaft ist in hohem Mal3e immer auch das Resultat
von Bildern, von der Moglichkeit bildhafte Eindriicke zu gewinnen, die durch ihre Kompri
mierung und Zuspitzung Hintergriinde, nicht nur augenscheinliche Vordergriinde, vermit
teln. Das kann numerisch quantitativ oder verbal qualitativ nur selten ahnlich eindriicklich
erreicht werden. Dem kommt eine Tendenz in der Gegenwart entgegen, die versucht Kon
zepte und Vorstellungen nicht nur verbal, sondern zumindest parallel. wenn nicht gar do
minant visuell darzustellen. Das viel berufene und zitierte Bild der "bliihenden Landschaf
ten" Iud geradezu ein, illustriert visuell belegt oder in Frage gestellt zu werden. Dies wird
sich fortsetzen.
Es stellte sich deshalb die Frage, ob auf die Nutzung der bildlichen Komprimierung von
komplexen Zusammenhangen im Sinne einer griffigen Reduzierung von Komplexitat iiber
haupt verzichtet werden konnte, wenn sich die Berichterstattung der KSPW auch einer brei
teren Offentlichkeit mit ihren Ergebnissen stellen will. Die wissenschaftliche Nutzung 501-
cher Materialien, ihr gezielter, aber auch professioneller Einsatz, nicht das zufallige Foto
grafieren von reisenden Wissenschaftlern ist insgesamt eine Liicke im Bereich der
sozialwissenschaftlichen Forschung, auch wenn in jiingster Zeit verstarktVersuche gemacht
werden, hier durch eine Verbindung von sozialwissenschaftlicher Analyse und Fotografie ei
ne Briicke zu schlagen. Wenn dieses gelingt kann in dieser Form, in dieser Nutzung, dem
systematisch-visuell Erkennbaren und Erfal3baren nicht mehr nur der Charakter eines er
ganzenden illustrativen Elementes zugesprochen werden, so wichtig dies auch sein mag,
sondern es wiirde dariiber hinaus einen eigenen analytischen Stellenwert gewinnen.
Foigende Forderungen wurden deshalb mit dieser Expertise verbunden:
Die optische Verdeutlichung von Veranderungsprozessen der letzten Jahre in aus-
8 WENDELIN STRUBELT
gewahlten sozial-raumlichen Einheiten,
die Gegenliberstellung von Raumen mit einer hohen Entwicklungsdynamik auf
der einen Seite und Raumen mit einer geringen Entwicklungsdynamik auf der an
deren Seite,
das Aufspliren von Entwicklungspunkten mit Signalwirkung bzw. Symbolcharakter,
die Verdeutlichung der Transformation raumlicher Orientierungssysteme und des
Nutzungswandels von Raumen,
eine vertiefende Analyse komplexer Phanomene in ihrer visuellen Inzidenz.
Es war ein gllicklicher Zufall, daB schon vor der deutschen Wiedervereinigung im Rahmen
des sogenannten Kommunalen Praktikums an der Hochschule rur Architektur und Bauwe
sen Weimar, das unter Leitung von Fred Staufenbiel regelmaBig mit Studenten des Stadte
baus und der Gebietsplanung durchgeruhrt wurde, eine Verbindung von soziologischer und
stadtebaulicher Analyse mit professioneller fotografischer Dokumentation angestrebt wur
de. In den Jahren 1988, 1989 und 1990 war Wrgen Hohmuth eingeladen worden, die Un
tersuchungsergebnisse zu iIIustrieren, zu bebildern, aber auch analytisch zu begleiten. Da
mit lagen rur die Stadte Jena, Dessau und Weimar bereits fotografische Produkte vor. Diese
Bilder aus der Zeit vor und wahrend der Wende stellten ein Material dar, das nach jetzt runf
Jahren mit Bildern aus dieser Zeit, mit annahernd gleichen Standorten oder mit ahnlichen
Perspektiven erneut aufgenommen und verglichen werden konnte.
1995 und teilweise auch noch 1996 machte sich Wrgen Hohmuth auf, diese erste Wel
le der fotografischen Erhebung durch eine zweite zu erganzen. Aus diesen Bildern, die dann
von ihm selbst rur diese Expertise zusammengestellt wurden, sind ausgewahlte Fotos in die
sen Band aufgenommen worden. Die Auswahl dieser Fotos geschah von ihm und einer be
gleitenden Gruppe von Sozialwissenschaftlern, die sich rur dieses Experiment zur Ver
rugung stellten.
In der Spannung zwischen unserem analytischen Ansatz, der nicht nur illustrativ sein
sollte, und dem fotografischen Material, das von Wrgen Hohmuth vorgelegt wurde, hat sich
dann die Idee entwickelt, diese Fotos mit entsprechenden Lokalisierungen und zeitlichen
Eingrenzungen rur sich selbst sprechen zu lassen in vier verschiedenen ortlichen Konkre
tisierungen: Innenstadte, Altbaugebiete, Neubaugebiete und die Rander der Stadte. Diese
Bildblocke werden begleitet durch Texte, die nicht versuchen, diese Bilder noch einmal re
petierend aufzunehmen, sondern eher versuchen, den Eindruck des Visuellen und seine
Moglichkeit rur die Analyse von Transformationsprozessen zu reslimieren. So entstanden
die Texte, die in diesen Band aufgenommen wurden und die neben den Bildern gelesen wer
den konnen, so wie auch die Bilder neben der Lektlire der Texte ihren eigenstandigen Cha
rakter bewahren. 1m Hinblick auf das Entstehen dieses Bandes und der Einordnung solcher
Bilder in die Entwicklung der frliheren DDR und der jetzigen runf neuen Lander haben
Vorwort 9
JOrgen Hohmuth und ich ein Gesprikh gefuhrt, das wir in verschiedenen Wellen kompiliert
und redigiert haben und das jetzt zwar als ein Original, aber doch auch als ein analytisch
Korrigiertes in diesem Band dokumentiert ist Es ist so, wie Ansel Adams es gesagt hat im
Hinblick auf die Entstehung von Fotografien: "Der Vorgang ist erschreckend kompliziert in
seinen chemischen und physikalischen Aspekten, doch das Wunder Bild ist und bleibt ein
Triumph der schopferischen Phantasie und das Geheimnisvollste dabei ist das Zu
sammenwirken von Maschine, Geist und Gefuhl..: (Das Wunder Bild. In: SOddeutsche
Zeitung vom 25.04.1996).
Entstanden ist jetzt ein Band, der nicht fur sich in Anspruch nehmen kann und will, ein
abgeschlossenes Werk darzustellen. Es ist wie gesagt ein Anfang, ein Versuch, es ist ein
work in progress, bei dem aus unterschiedlicher Sicht Sozialwissenschaftler einerseits und
der Fotograf andererseits mitgewirkt haben. Es ware zu wOnschen, daB diese Fotos und die
Texte einen kleinen Beitrag dazu leisten konnen, daB wir die Vorgange, die in der frOheren
DDR sich derzeit vollziehen, besser verstehen und Ober den ersten visuellen Eindruck hin
aus, auch einen Einstieg suchen das Verstehen zu finden. In einem anderen Zusammen
hang ist gesagt worden: "Die politische Stabilitat in der SBZlDDR war in nicht zu unter
schatzender Weise davon abhangig, daB eine optimistische Grundstimmung erzeugt wur
de. Die Reportagefotografie, das offentliche Bild Oberhaupt galt dafur als StOtzkorsett"
(Stefan Raum: Reportagefotografie in der DDR zwischen Alltag und Politik. In: Das deutsche
Auge. 33 Fotografen und ihre Reportagen, 33 Blicke auf unser Jahrhundert MOnchen: Schir
mer/Mosel 1996, S. 48) Die hier prasentierten Fotos entstammen einer Generation von Fo
tografen, die schon damals in der DDR "mehr wollten als Geld verdienen und schweigen".
Insofern stehen diese Bilder in einer Tradition der Dokumentation raumlicher Tatbestande,
die jetzt im Vergleich zwischen 1989/90 und 1995/96 erkennen lassen, daB Wandel bereits
stattgefunden hat daB dieser Wandel aber in vielen Bereichen noch in vollem Gange ist
Viele Bilder erschlieBen sich nur durch naheres Hinsehen in ihrer zeitlichen Einordnung.
Dies dokumentiert, daB der gewollte Effekt des Vorher/Nachher nicht eingetreten ist son
dern die Bilder zeigen, daB wir uns noch mitten in einem Wandel befinden, der noch nicht
abgeschlossen ist, dessen gegenwartiger Stand hiermit jedoch dokumentiert wird. Ich wOn
sche mir, daB dieser Versuch einer Kooperation und eines Dialoges zwischen Sozialwis
senschaftlern, die sich mit raumlichen Prozessen befassen und Fotografen, der zum Beispiel
in Frankreich eine lange Tradition hat, auch in Deutschland intensiver genutzt wird und daB
dieses Buch einen AnstoB dazu geben moge.
Ich mochte mich bedanken fur die UnterstOtzung, die innerhalb der KSPW fur dieses
Projekt aufgebracht wurde.lch mochte mich bedanken bei dem Fotografen, den Autoren und
bei allen, die an diesem Fotoband mitgewirkt haben. Fabrice Devillers hat durch seine Arbeit
im Fotolabor zur Qualitat der Bilder beigetragen; von Mitarbeitern des Buros fOr Urbane
10 WENDELIN STRUBELT
Projekte Leipzig wurden wesentliche Zuarbeiten fOr die Stadteportrats bereitgestellt; Ros
marie Sobania und Gabriele Bockhecker haben mit viel Ausdauer daran mitgearbeitet, den
Tonbandmitschnitl des Werkstatlgespraches in einen konsistenten Text zu OberfOhren. Ich
mochte mich insbesondere auch fOr die Geduld des Verlegers, Edmund Budrich, bei der Kon
zipierung dieses Bandes bedanken. Uta Schafer hat sehr wesentlich bei der redaktionellen
Oberarbeitung von Konzeption, Bildern und Texten mitgewirkt DafOr gilt ihr unser aller Dank.
FOr mich war dieses Experiment ein sehr fruchtbares, es ware ohne die vielen Diskus
sionen, die ich mit Toni Sachs Pfeiffer Ober den Einsatz von Fotografie bei der Analyse von
raumlichen Prozessen gefOhrt habe, nicht moglich gewesen.
Bonn, November 1996
Wendelin Strubelt
Vorwort 11
Zum atbeifen bin ic. g~ '1Enug, einrr~ Jndlf:BRD I kQn~,::¥!t ~UffsTim/l)t we rd r J. So welter leDc:n - nein
.6L.... ___ "",,""""-- JENA. Marktplatz. 1988
12
BILDER UND IHRE HINTERGRUNDE
Ein Gesprach zwischen JOrgen Hohmuth (Fotograt)
und Wendelin Strubelt (Sozialwissenschaftler)
13
STRUBELT: Herr Hohmuth, die Fotografie in der fri.iheren DDR war - wenn man es so im
Ri.ickblick sieht - keine sehr realistische - allenfalls eine "sozialistisch realistische" und sehr
progandistisch orientierte. Man sah entweder Hauser und Gebaude oder man sah gli.ickli
che, strahlende Menschen, aber man sah im Prinzip nie das wirkliche Leben. Ich erinnere
mich z.B. an den 1969 erschienenen Band i.iber Halle-Neustadt ..stadte machen Leute".
HOHMUTH: Das ist eine verwegene Behauptung. Es gab das ganze weite Spektrum der Fo
tografie bis hin zur Fotomontage, und es gab eine groBe Szene von Autoren-Fotografen, die
nach dem wirklichen Leben mit ihren Fotografien gesucht haben. Diese traf man weniger
bei den groBen Zeitungen an, obwohl es sie auch dort gab. Sie haben mit einer Doppel
strategie gelebt Neben ihrem Auftrag haben sie die eigenen Bilder gesucht Ab Mitte der
70er Jahre haben kommunale Galerien die traditionelle Funktion von Magazinen i.iber
nom men, indem sie gute Foto-Reportagen, die das "wirkliche Leben" gezeigt haben, aus
stelite n. Das fand eine unerwartete Resonanz.
ST.: Diese Foto-Reportagen und ihre Resonanz waren aber nur in der DDR bekannt Dies ist
nicht nach auBen gedrungen.
H.: Wenig. Unter Insidern war das auch im Ausland bekannt Aber die meisten dieser Fo
tografen wollten auch in der DDR weiter arbeiten, ihnen war das Wirken im Land wichtig.
Die Frage hieB: "Hier oder in der groBen weiten Welt?" Diese Behauptung ist vielleicht ein
Teil der Erklarung, weshalb sie hiergeblieben sind.
ST.: Es war ja auch nicht so ganz einfach, rauszukommen!
H.: Richtig. Andererseits war es i.iber den Ki.instlerverband zum Teil moglich. Ausstellungen
wurden privat organisiert und dann offiziell i.iber den Ki.instlerverband genehmigt Diese Aus
stellungen hatten keine groBe Offentlichkeit Die Ki.instler waren sehr vorsichtig, bei den
groBen Magazinen im Westen zu veroffentlichen. Weil eben wirklich die Frage war, was
konnte dann hier passieren? Mir seiber ging es so, mit dem Foto des Ausreisedemonstran
ten auf dem Jenaer Marktplatz hatte ich 1988 viel Geld verdienen konnen (siehe Seite 12).
Ich habe es einfach unterlassen, das Bild im Westen anzubieten. Mir war die ganze Ge
schichte, die hier lief, zu wichtig.
ST.: Aber Sie sind - wenn man es auf die ganze Geschichte der DDR bezieht - immer noch
ein junger Mann. Sie decken nicht die ganze Zeit der DDR-Fotografiegeschichte ab, sondern
in etwa die letzten 15 Jahre. Davor gab es - auch mit progandistisch genutzten Werken wie
dem 1966 erschienenen Fotoband "Wir in Berlin", urn ein Beispiel zu nennen - Produkte,
die zum Teil noch zurOckgriffen auf die Arbeiterfotografie und auf die qualitativ hoch ste
hende Dokumentarfotografie, wie sie z.B. in der Berliner IIlustrierten gemacht wurden, was
durch Emigranten starken EinfluB gehabt hat gerade auf die groBen Zeitschriften in den
Vereinigten Staaten, insbesondere auf Life. Nicht zu vergessen die groBe Tradition der
nachrevolutionaren, sowjetischen Fotografen vor ihrer stalinistischen Achtung. Diese Tradi-
14 WENDELIN STRUBELT UND JURGEN HOHMUTH
tionen sind irgendwann abgebrochen. Es dominierte dann eine - ich sag's mal - staatser
haltende oder eine staatskonservierende Fotografie in der Nachfolge sowjetischer Beispie
Ie, das waren die von mir - eingangs berufenen - glOcklichen Menschen: die glOcklich Win
kenden oder die groBen Aileen, also Architekturprachtfotografie zur Dokumentation eines
politischen Erfolgs. Diese Bildbande dokumentierten eine stadtebauliche Entwicklung wie
Halle-Neustadt etwa oder die "groBartige Entwicklung" der Hauptstadt Berlin. Wenn ich mir
diese anschaue, habe ich immer das Gefuhl, ich habe eine WerbebroschOre vor mir.
H.: Die groBe Tradition deutscher Fotografie hat im Krieg einen RiB bekommen. Viele Fo
tografen sind emigriert, erst nach Paris, dann nach Amerika und dort mit ihren Arbeiten
berOhmt geworden.ln der DDR gab es dann Versuche eines Neuanfangs, z.B. angeregt durch
die "Family of Man", diese groBen Ausstellung, die in den 50er Jahren durch die Welt 109
und die ein Teil der in der DDR lebenden Fotografen durch die offene Grenze noch sehen
konnte. Da gibt es z.B. Evelyn Richter und Arno Fischer. ..
ST.: Aus der DDR?
H.: Aus der DDR. Ich gebe da jetzt Informationen aus dritter Hand weiter: Damals gab es
eine ganz klare Front zwischen den "Hofberichterstattern", welche fur die offizielle DDR ge
arbeitet haben, und den Autorenfotografen, die auch deswegen zum Teil keine Auftrage hat
ten, weil klar war, sie fotografieren anders. Sie sind im Eigenauftrag durch die Stadt gelau
fen und haben nicht in Cottbus, Kuba oder Afrika die Revolution fotografiert Sie haben ih
re Bilder gesucht
ST.: Wo sind die Bilder jetzt?
H.: Die kann man sich ansehen. Sie werden jetzt in New York und sonstwo ausgestellt Eve
lyn Richter hat im letzten Jahr den Preis der Deutschen Gesellschaft fur Fotografie bekom
men - nicht fur ihr Leben in der DDR, sondern fur ihre Fotografie.
ST.: 1st dies eine Fortsetzung der Dokumentarfotografie, die aus der alten deutschen Rich
tung kommt und wie sie sich auch in Amerika unabhangig von der deutschen Tradition ent
wickelt hat? Dabei gab es eine frOhe BerOhrung zwischen Fotografie und Sozialwissenschaft.
So ist es interessant daB Lewis Hine, der engagierte Sozialfotografie gemacht hat ur
sprOnglich Soziologe war und dann zu einem Fotoreporter wurde, der im Auftrag von inter
nationalen Organisationen vor Ort das soziale Elend fotografierte. Fotografen dieser Rich
tung wollten mit ihren Bildern mehr machen als nur dokumentieren, sie wollten aufrOtteln.
H.: Das Problem in der DDR war, daB es kaum Medien gab, die so etwas veroffentlicht ha
ben. Und da haben sich dann Mitte der 70er Jahre die Galerien engagiert Es gab mehrere
Fotografen, die durch wichtige Ausstellungen in der DDR relativ bekannt waren. 1m Dunst
kreis dieser Galerien und des KOnstierverbandes, wo es eine Arbeitsgruppe Fotografie gab,
entwickelte sich eine rege und sehr differenzierte Szene. Relativ junge Leute, die zum Bei
spiel durch Arno Fischer ermutigt wurden, ihre eigene Bildsprache zu suchen. Fur sie war
Bilder und ihre Hintergriinde 15
er ein wichtiger Bezugspunkt Fur mich war seine Professur der Grund, an der Hochschule
fiir Graphik und Buchkunst in leipzig zu studieren. In den 80er Jahren war es dann schon
relativ einfach, mit interessanten Arbeiten eine Ausstellung zu realisieren.
ST.: Gibt es denn davon jetzt Bildbande? Kann man darauf zuruckgreifen? 1st es
moglich, die Sozialgeschichte der DDR, ruckwarts orientiert an hand der Bilder, die offiziell
nicht gezeigt wurden, auszugraben oder vielleicht sogar mit den offiziellen Bildern
zu konfrontieren?
H.: Bildbande gibt es nicht viele. Die Fotografien gibt es. Sie liegen bei den Fotografen.
Wenige in Sammlungen.
ST.: Aber es gibt sie nicht fiir einen leicht zuganglichen dokumentarischen Zugriff? Und die
Geschichte der DDR-Wirklichkeit im Spiegel dieser Bilder liegt noch nicht vor?
H.: Es stellt sich die Frage, wen interessiert denn das heute, wer macht diese Arbeit?
ST.: Das ist durchaus ein Problem.
H.: Sie erleben das doch bei jedem Verlag. Welchen Verlag konnte das interessieren? Fur
wen scheint das ein Geschaft zu sein? Wer wurde diese Bucher kaufen?
ST.: Gut die Verlage sind die eine Seite, aber es gibt ja zum Beispiel das Haus der Deut
schen Geschichte und viele andere Museen, die historisches Bildmaterial aufbewahren und
auch mit Ausstellungen fordern.
H.: Ja, aber da gibt es doch wieder das Problem der Grenzuberschreitung. Das Museum fiir
Deutsche Geschichte kauft historisch wertvolle Bilder exemplarisch auf. Es gibt Sammlun
gen, die kaufen Kunstfotografie auf.lch kenne niemanden, der sozialhistorisch wichtige gute
Fotografie sam melt so daB es fiir die Fotografen der Muhe wert ware, sich hinzustellen und
das alles - mit dem heutigen Blick - zu bearbeiten. Es gibt sicher noch Bildmappen aus der
damaligen Zeit die man seiber zu Hause hat oder die in Sammlungen liegen, aber das Gros
des Materials ist noch nicht aufgearbeitet
ST.: Da gibt es also eine richtige lucke? Die Geschichte der inneren Bildwirklichkeit ist al
so noch zu schreiben?
H.: Sehe ich so. Ein absolut spannendes Feld - zumal im Vergleich mit der offiziellen Fo
tografie und ihren Prachtbildbanden.
ST.: Nun haben wir hier mit dem vorliegenden Band keinen Prachtbildband und auch kei
ne Sozialfotografie, sondern wir haben den Versuch, den Wandel oder den Umbruch, den
Abbruch oder den Neuanfang zu dokumentieren. Anhand eher zufallig ausgewahlter Stad
te: Dessau, Jena und Weimar. Wo wurden Sie denn heute, wenn Sie gewissermaBen von
auBen Ihre Bilder, die hier abgedruckt sind, betrachten, diese einordnen? Welcher Tradition
wurden Sie sie zuordnen?
H.: Das ist schwierig. Es ist Sozialreportage oder Sozialjournalismus, Stadtbildfotografie -
in diesem Spektrum, sehr grenzubergreifend. Grenzuberschreitung ist das, was mich ei-
16 WENDELIN STRUBELT UND JORGEN HOHMUTH
gentlich interessiert Deshalb habe ich oft Probleme, irgendwo eingeordnet zu werden. Aile
Dinge, die klar sortiert sind, interessieren mich nicht so sehr, mich interessieren die Bruche,
die Kanten. Und da bin ich naturlich oft unsicher, weil ich weif3 es ja seiber noch nicht so
genau. Das ist es, was mich als Mensch interessiert und auch als Fotograf.
Sie sprachen einmal von der .Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen"? Wie war das?
ST.: Den Tatbestand der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" hat Pinder, ein Kunsthisto
riker, als Beg riff gepragt Er wandte sich gegen das Schuldenken, das viele Kunsthistoriker
haben, das deren Rezeption im allgemeinen pragt, wonach es eine klare zeitliche Trennung
der Stile gebe. Also es gibt erst Romanik und dann gibt es Gotik usw. Das gebe es seiner
Meinung nach in aller Regel nicht, sondern es existiert in der jeweiligen Gegenwart vieles
gleichzeitig nebeneinander oder zumindest uberlappend, obwohl es aus unterschiedlichen
Zeitstufen stammt Karl Mannheim hat dieses begriffliche Konstrukt in die Soziologie uber
nom men, als Obernahme dieses kunsthistorischen Begriffs in die Sozialforschung, bei der
Erforschung der Lage von Generationen - ihren Oberlappungen. Auch er sagte, es gebe
stets ein Nebeneinander ganz unterschiedlicher Lebens- und Zeitstufen, die nebeneinander
leben, die an sich aus ganz anderen Stufen stammen, aber zur gleichen Zeit leben und wir
ken. Sie stammen aus ganz anderen Hintergrunden, aus ganz anderen historischen Stufen,
aber sie existieren nebeneinander.
H.: Kommunizieren auch miteinander?!
ST.: Kommunizieren auch miteinander, werden auch wahrgenommen, aber leben naturlich
getrennt Das ist vielleicht auch das, was Ulrich Beck veranlaBt hat, seinen Fotoband her
auszubringen: .Eigenes Leben. Ausftuge in die unbekannte Gesellschaft. in der wir leben"
mit Fotos von Timm Rautert fuBend auf einer Ausstellung. Da gibt es diesen schonen Satz:
.Soweit das eigene Leben sich gerade dem Zugriff des verallgemeinernden Denkens und
Forschens entzieht, wird notwendig, was in diesem Band versucht wird, Wissenschaft und
Kunst, Philosophie und Fotografie, biographische Rekonstruktion und soziologische Analy
se zu verbinden mit dem Ziel, aus allen Himmelsrichtungen Licht auf die Ratsel des eige
nen Lebens zu werfen." Bei uns kommt natOrlich das Problem hinzu, daB diese Ratsel des
Lebens, die er da sieht, zum Teil durch Evidenzen der Geschichte beiseite geruckt werden.
H.: Bei ihm?
ST.: Bei uns. Bei ihm sind es die Lebensumstande. Er hat sich die unterschiedlichen Le
bensumstande von Menschen in Westdeutschland angesehen, wahrend wir hier mit einem
wirklichen Bruch umzugehen haben. Manchmal verdrangt die Augenscheinlichkeit dieses
Bruchs die Ziele des individuellen Lebens. Obwohl es da ist und das finde ich an ihren Fo
tografien so gut, weil sie das trotzdem durchscheinen lassen: Dieses Bild der drei Grazien
etwa (siehe Titelfoto). Ich weif3 nicht, ob Ihnen das so einleuchtet
H.: Ich finde das schon spannend, wenn Sie als Sozialwissenschaftler mit diesen Fotos um-
Bilder und ihre Hintergriinde 17
gehen. Ich sehe ein Bild und knipse! Ohne die sozialen Zusammenhange in dem Moment
zu sortieren, fUr mich ist es mehr ein Reagieren. Wie bei den Ladenfassaden zum Beispiel.
Ich hatte eine alte Aufnahme, die 1988 aufgenommen wurde und eigentlich schon 20 Jah
re iiberholt war. Oas hat mich damals fasziniert und als es dann zu diesem Projekt kam,
kam mir sofort in den Sinn, heute wieder eine typische Ladenfassade zu fotografieren. Oas
ist ein Zeitdokument Oa ist klar, was meine Intention ist Bei dem Bild mit dem Trabant und
dem Carl-Zeiss-Werk im Hintergrund (siehe Seite 182), da kann ich einfach nur sagen, es
war Intuition.
ST.: Es ist ein Zeitdokument und kein Geheimnis im Sinne einer verborgenen Botschaft Es
zeigt ein Nebeneinander von GroBindustrie als Arbeitsplatz und privatem Riickzug. Oas
kommt zum Ausdruck, aber nicht subtil, auch sind Nutzungsspuren nicht so prasent wie in
dem Bild von dem Spiel platz, besser dem Nichtspielplatz. Oas zeigt mehr Nutzungsspuren.
Oas andere zeigt fast schon eine historische Konstellation.
H.: Das ist ein schOnes Wort
ST.: Vielleicht, aber ich will auf Ihre Frage hinaus, warum interessiert sich ein Sozialwis
senschaftler fUr Fotos. Oas hat natiirlich viele Oimensionen. Oabei klammere ich jetzt mal
die eigene Erfahrung aus, warum man mit Fotos umgeht und warum man Fotos interessant
findet Wichtig ist, daB Sozialwissenschaft urspriinglich - und gerade bei der Stadtsoziolo
gie hat man das nachgewiesen - auch eine Art von Journalismus war. Es wird etwas re
cherchiert, man will Hintergriinde recherchieren, will eine Feldstudie machen. Oas kann al
les sehr stark quantitativ mit Umfragen oder den sogenannten objektiven Daten der amtli
chen Statistik gemacht werden, das ist die eine Richtung. Oie andere Richtung mochte
wissen, wie das wirkliche Leben ist und versucht, z.B. durch qualitative Methoden, etwa mit
umfassenden Tiefeninterviews, in die soziale Realitat einzudringen. Oas Problem dabei ist
immer, es gibt unheimliche Berge von Daten, aber keiner macht sie so richtig systematisch
klein. Es gibt Oatenberge und die bleiben da, manche kratzen tief, aber verlieren sozusa
gen den Bezug zu einer Ordnung oder andere haben die Ordnung, aber verlieren den Be
zug zur Realitat Und da sind Fotos dann immer eine Art Halt Andererseits weiB man im
mer nicht, was bei Fotos manipuliert ist - man erkennt nur schwer das Manipulative an Fo
tos, obwohl man weiB, daB viele beriihmte Fotos gestellt sind.
H.: Oft Ich werde das auch immer gefragt Und bei manchen Fotos, z.B. diesem Ausblick
auf den Neubau, wo Vater und Sohn auf dem Balkon stehen, fragen mich manche, ob ich
die Klammer da hingehangt habe, sie passe so schon ins Bild (siehe Seite 146).
ST.: Es ist komponiert und gibt die "Realitat" gleichwohl so schon wieder, wenn auch inszeniert
H.: Wenn auf meinen Fotos ein inszeniertes Element ist, dann sieht man es an der Art, wie
die Leute mich anschauen. Aber das ist der einzige Eingriff, jedenfalls bei diesen Fotos, um
die es hier geht Und da passieren in dem Moment Veranderungen der Situation. Die Pas-
18 WENDELIN STRUBELT UND JURGEN HOHMLJTH
santen merken, sie werden fotografiert Das sieht man dann auf dem Foto und damit finde
ich es wieder ehrlich.
ST.: Ja, es gibt doch auch Fotos, wo Leute sich, ich denke an einen Band Paare aus den
70er Jahren, wo die Leute sich einfach so hinstellen sollten, wie sie selbst wollten.
H.: Da gibt es aus Ost-Berlin die Fotos von Christian Borchert oder die Portrats von Helga
Paris aus Halle.
ST.: Ich meine die "Menschenbilder" von Beate und Heinz Rose aus dem Jahre 1972 - wo
die Leute sich so hinstellen durften, wie sie wollten und sie wurden so abgelichtet An den
unterschiedlichen Korperhaltungen, deren Sprache diese Menschen mitteilen, sieht man
auch ihre historische Lage oder ihre Lebenslage.
Mir ist noch etwas anderes eingefallen. Ich war vor kurzem in Prag und fuhr mit einem
Taxi zum Flughafen. Da fcihrt man durch Neubaugebiete und es gibt Riesen-Rasenflachen.
Da wurde gemaht mit so kleinen Traktoren. Offensichtlich machten die Gartner eine Pause
und mit einmal standen vier solcher Minitraktoren mit der Schnauze nach vorne und die
darauf sitzenden Gartner unterhielten sich. Das war ein Bild. Ich habe mir gedacht dieses
Bild, das muBte man haben, aber ich fuhr vorbei und behielt es im Gedachtnis. Aber es war
von mir natorlich auch manipulativ, weil ich das so gesehen habe. Mir fiel dieses Merk
wurdige auf, wei! Leute auf etwas sa Ben, was gar nicht furs Unterhalten gedacht war.
H.: Es gibt diesen Ausspruch, der Leonardo da Vinci zugeschrieben wird - sinngemaB:
Jeder Maler malt eigentlich doch nur sich selbst Bei Fotografen ist das, denke ich, genau
so. Jeder fotografiert das, was er sieht Es gibt ganz unterschiedliche Beweggrunde zu foto
grafieren. Bei mir ist es so, daB ich total neugierig und offen fur die Welt bin und das
ist glaube ich, die Qualitat dieser Fotos, natorlich aber auch ihr Handicap. Ich versuche
nichts reinzubauen, sondern ich mochte immer moglichst den Raum, die Atmosphare
spuren, die mir entgegenkommt Ich nehme mich zuruck. Das ist eine wichtige Vorausset
zung fur diese Fotos.
ST.: Sie sagten mir, daB Sie schon mit 20 oder 21 Jahren angefangen haben, professionell
zu fotografieren. Es muB Grunde geben, warum Sie gerade das gemacht haben. Was war
der Aufhanger?
H.: Es gab keinen besonderen AniaB dafOr. Ich habe damals mit 14 Jahren Jugendweihe
gehabt und mir vom Geschenkgeld eine Praktika gekauft. Dann gab es eine Arbeitsge
meinschaft in der Schule, wo ich bald der Matador war. Ich lernte einen Journalisten ken
nen, der viel fotografierte. Dessen Umtriebigkeit Offenheit und Ehrlichkeit faszinierten mich.
Heute weiB ich, daB er fOr die Stasi gearbeitet hat
Ich stand dann vor der Berufsentscheidung, in der 9,/10. Klasse und hatte keine Lust
auf das Abitur. Aile waren sauer, mein Lehrer, meine Eltern. Ich stand vor der Entscheidung,
was ich werden sollte und habe mir uberlegt ganz simpel, wenn ich Fotograf werde, muB
Bilder und ihre Hintergriinde 19
ich immer in der Dunkelkammer, oder einem Studio herumstehen. Es war mir wichtig, mog
lichst viel mit Wald und freier Landschaft zu tun zu haben und unterwegs zu sein. Ich ha
be mir uberlegt wenn du Forstarbeiter lernst kannst du ja dabei immer fotografieren.
ST.: Aber Sie haben nicht angefangen mit einer Fotografie des Forstarbeiters oder der foto
grafischen Geschichte des Forstarbeiters.
H.: Nein, aber ich habe bei der Arbeit damals fotografiert
ST.: Und was?
H.: Die Leute bei der Arbeit
ST.: Die Leute beim Arbeiten?
H.: Die Leute bei der Arbeit Also nicht..
ST.: Also nicht den schonen Wald, den Sonnenuntergang?
H.: Weniger, fand ich zwar auch toll und hab das auch gemacht Romantik hat mich aber
nicht so interessiert
ST.: Aber das ist das, was die meisten Leute mach en - Fotografien der Sonnenuntergange,
oder sie fotografieren die Blumen.
H.: Ich habe auch Landschaft damals fotografiert aber mehr die Bruche. Das hat mich
interessiert, nicht die Harmonie zwischen Mensch und Natur, sondern die Kanten
und Obergange.
ST.: Gab es denn da irgendwelche Vorbilder, die Sie beeinfluBten oder irgendwelche Bucher?
H.: Mein Vater hat fotografiert hatte eine (ontax-Spiegelreflex, Lehrbucher und Zubehor.
Das konnte ich alles benutzen und er hat eine gebrauchte Dunkelkammerausrustung be
sorgt Dann war immer das Bad im Haus meiner Eltern nicht zu benutzen, weil ich in der
Dunkelkammer saB.
ST.: Aber Ihr Vater hat sie auch benutzt?
H.: Ja, aber nicht mit der gleichen Intention, sondern um die Urlaubsbilder selbst
zu entwickeln.
ST.: Waren die Bilder Ihres Vater eingerahmt an der Wand oder waren sie nur im Fotoal
bum?
H.: Mehr im Fotoalbum. Das hatte gehobenen Familienfotografie-Anspruch. Ich habe nach
etwas anderem gesucht Dann habe ich mir in der Bibliothek alles durchgelesen, was uber
Fotografie, VergroBern usw. zu bekommen war.
ST.: Also eher Interesse an der technischen Seite?
H.: Nee, das habe ich durchgeackert Ich empfand es als notig, um das Ganze zu beg rei
fen, um bessere Bilder machen zu konnen.
ST.: Sie haben dann schon mehr gemacht? Sie haben sich mit dem theoretischen und dem
technischen Hintergrund des Fotografierens beschaftigt aber nicht mit irgendeiner einerTra
dition des Fotografierens, also Sozialfotografie oder asthetischer Fotografie oder irgend so
20 WENOELIN STRUBELT UNO JURGEN HOHMUTH
etwas. Sondern Sie sind sozusagen uber das Fotografieren - Vorbild Vater - dann zu eige
ner Neugier gekommen.
H.: Genau. Und dann habe ich mir Bildbande besorgt das meiste aus der Bibliothek. Die
Bucher waren zwar nicht immer gut gedruckt aber es gab einige Klassiker der Fotografie,
die man sich anschauen konnte und das hat mich schon gepragt Die Mischung aus guter
Fotografie, die den Moment einfangt und gleichzeitig zeigt wie die Leute leben, hat mich
fasziniert Ich kann mich an Bilder in einer Ausgabe der DDR-Zeitschrift .Fotografie· erin
nern, von einem Amerikaner (Milton Rogowin), einem Optiker, der in seiner Nachbarschaft
die Leute portratiert hat Das hatte eine Kraft - die Abgebildeten haben mit viel Selbstver
trauen in die Kamera geschaut Das ist etwas, woran ich mich heute erinnere. Paul Strand
habe ich gesehen - "Das Land der Graser", das "New Yorkn-Buch mit Fotos von Karol Kal
lay. Das hat mich beeindruckt
ST.: Es interessierte Sie also immer sehr stark das Dokumentarische, Authentische und nicht
das Gestylte, das Gestellte.
H.: Ja, genau. Es gibt Kollegen, die denken sich in ihrer Phantasie etwas aus, und dann su
chen sie solange in der Wirklichkeit bis sie das Bild finden. Oder sie bauen in ihrem Stu
dio diese Fotos auf. Das ist nie meine Sache gewesen. Ich bin viel zu neugierig, wie das Le
ben drauBen ist Ich finde das aufregend, was ich entdecke und welche Leute ich kennen
Ierne. Aber auch Theaterfotografie interessiert mich, die Atmosphare bei guten Proben hat
etwas von konzentriertem Leben. Und diese Mehrdeutigkeit der Bilder!
ST.: Der Fotograf als professioneller Neugieriger?
H.: Ja. Aber das hat auch seine Grenzen, wenn man dann tausende Fotos hat und merkt
das interessiert auBer mir niemanden. Dann denkt man schon mal, ich hor auf damit es
macht alles keinen SpaB mehr und es will ja doch keiner sehen. Die Einsamkeit des Foto
grafen in der Dunkelkammer. Das Unspektakulare ist weit weg von dem heute ublichen.
ST.: Wie meinen Sie: 1st weit davon weg?
H.: Das ist einfach, die suchen das Spektakel - die aufklaffenden, blutenden Leichen mog
lichst noch beim SchuB.
ST.: Also diese Fotos des Jahres.
H.: Ja genau. Selbst jemand, der heute fur seine Sozialfotos sehr beruhmt ist Sebastian
Salgado, hat so angefangen. Das erste beruhmte und gut bezahlte Foto seiner Laufbahn war
das Attentat auf Reagan. Er war dabei, weil er ihn ein paar Tage begleiten sollte und mit
diesem Foto hat er sich den finanziellen Ruckhalt verschaffl:, urn frei arbeiten zu konnen. Er
hat dadurch Moglichkeiten, die man normalerweise nicht in diesem Job hat Er kann sieben
Jahre lang ein Projekt betreiben, das sind dann ungefcihr genau soviel Fotos wie fur unser
Projekt oder vielleicht ein paar Fotos mehr und auch sicher in anderer Qualitat ich will mich
nicht vergleichen. Andere wurden in so einer Zeit sicher auch nur Schrott produzieren.
Bilder und ihre Hintergriinde 21
ST.: Es geht ja nicht ums vergleichen, es geht um Intentionen und um Ihre Absicht Und es
geht natorlich auch darum, daB man damit schon irgendeine Aussage weitergibt Foto
grafen konnen u.u. unter Insidern einen guten Namen haben, aber sie verdienen damit
gar nichts.
H.: Das ist die Differenz zwischen Intention und Markt
ST.: ... aber selten eine gute Kombination. Wie ist das, ich habe keinen so groBen Oberblick
Ober aile Fotos, aber wenn ich Zeitungen oder Rezensionen lese, dann bekommen doch im
mer wieder die etwas stilleren und reflexiven Fotobande an sich eine gute Presse. Nehmen
Sie z.B. den Band von Marcellmsand "Paul und Clemence". Aber sie haben keine groBe Re
sonanz, oder?
H.: Der Markt hierfOr wird enger, wie die Verleger sagen. Es gibt immer weniger Zeitungen
und Zeitschrifien, die so etwas bringen und immer mehr Fotografen, die so etwas machen
mochten. Es gibt ein paar Kollegen, die sind sehr streng zu sich, fahren Taxi oder fotogra
fieren Bettwasche, was fur sie die gleiche Qualitat hat aur3er daB man mit Bettwasche fo
tografieren ein bir3chen schneller das notwendige Geld verdienen kann, um eigene Projek
te zu betreiben. Zu DDR-Zeiten haben wir das nicht so hart erlebt weil wir viel weniger Geld
brauchten. Die Jena-Bilder in diesem Band konnte ich machen, nachdem der eigentliche
Auftrag abgewickelt war. An dem BOchlein, das damals entstanden ist C,Lebensbilder aus
Jena"), habe ich im Prinzip ein Jahr lang gearbeitet mit Unterbrechungen. Das ist fur mich
heute, weil ich unter ganz anderen Zwangen stehe, viel schwieriger.
ST.: Ich mochte Ihnen jetzt zu einem anderen Bereich der Fotografie eine Frage stellen. Sie
arbeiten haufig mit offentlichen Aufiraggebern, also mit Kommunen oder mit halbstaatli
chen Organisationen, die etwas dokumentiert haben wollen, sie wollen keine Interpretation.
Interpretationen geben Sie aber mit jedem Bild gleichwohl.
H.: Das ist eine ganz spannende Frage, es gibt eine nonverbale Sprache, eine Bildsprache,
die noch vie I zu wenig untersucht ist Die Frage ist fur mich, ob man Oberhaupt erklaren
kann, was an Assoziationen und Zusammenhangen sich aufbaut, wenn wir ein Bild sehen.
ST.: Oder an BOndelung - an mental vorgenommener BOndelung.
H.: Wenn man nur ein Stock Hauserwand fotografiert sind da bautechnische Details dar
auf, sowie architektonische Details. Da sind Nutzungsspuren von Menschen drauf und
gleichzeitig ist es so, daB jedes dieser Teile gleichzeitig noch als Symbol gewertet werden
kann. Und das alles Oberlagert sich in unserem Kopf.
ST.: Ich meine, wenn ich ein bestimmtes Bild im Kopf habe - ich habe das ja an anderer
Stelle schon gesagt - dann bleibt es bei mir auch haften. Es ist ein bestimmter Bildeindruck
- auch etwas Statisches, etwas Geronnenes - und dabei sind naWrlich auch Interpretatio
nen. Das sind Konstellationen, die man selbst hat Die Frage ist wenn ein Fotograf ein be
stimmtes Sujet hat, es mit der Kamera ausschneidet und hinterher beim VergroBern es viel-
22 WENDELIN STRUBELT UNO JURGEN HOHMUTH
leicht noch wieder anders zuschneidet dann werden damit natiirlich Markierungen gesetzt
und Beschrankungen in der Aufnahme. Das ist vielleicht das, was ich jetzt mal das foto
grafische Auge nennen wiirde, das dann bei anderen iiber irgendwelche geheimen Geset
ze des Bildes dazu fUhren kann, daB man das Gleiche wahrnimmt Anders als vielleicht
in der Literatur, denn da ist es heute geltende Meinung: Die Literatur ist Literatur, sie ist of
fen und jeder nimmt sie fUr sich selbst auf. Die Rezeptionsasthetik will deshalb das Kunst
werk nicht nur an sich betrachten, sondern auch in seiner Wirkung. Fotografie kann viel
leicht pragender wirken und deswegen haben auch die politisch Machtigen sich ihrer im
mer sehr angenommen, wie auch der Arch itektu r. Und hier haben wir nun beides - Fotografie
und Architektur.
H.: Das Verbliiffende ist ja wirklich, daB es einige wichtige Fotografen gibt welche in ihrer
Zeit als pure Abbilder, nicht einmal als Dokumentaristen, sondern nur als Handlanger fUr
Maler oder als Skizzenhersteller verstanden wurden. Atget der in Paris eigentlich nur Vor
lagen fUr Maler geliefert hat Zille, der wirklich geniale Fotografien gemacht hat hat das fUr
sich selbst als pures Skizzeneinsammeln, als Hilfsmitlel verstanden. Da gibt es noch mehr,
die in ihrer Zeit sich als Presse-Fotografen verstanden haben, wie etwa Weegee oder der fo
tografierende Sozialwissenschaftler Lewis Hine. Sie werden heute hoch gehandelt auf dem
Kunstmarkt Das ist ein verriickter UmwertungsprozeB, der da stattfand. Es zeigt meiner Mei
nung nach, daB dieses Verhaltnis von Kunst Dokumentation und Journalismus immer
mehrschichtig interpretierbar ist Fotografie ist gleichzeitig subjektiv und objektiv. Sie ist ob
jektiv ein Ausschnitl aus der Wirklichkeit aber dieser Ausschnitl ist subjektiv gesucht und
wird immer subjektiv interpretiert Selbst wenn ich ein Dokumentarfotograf bin und alles
ganz "gerade" und "realistisch" darstelle, ob ich die Kamera drei Zentimeter nach links oder
nach rechts riicke, ist schon meine Entscheidung. Es gibt sogar MeBbilder aus dem letzten
Jahrhundert die als Norm der ingenieurtechnischen Genauigkeit gelten und dennoch eine
eigenstandige Asthetik besitzen. Es vermischen sich da ganz verschiedene Dinge in der Fo
tografie, das Technische und das Dokumentarische mit dem sehr Sinnlichen. Das ist fUr mich
etwas sehr Aufregendes.
ST.: Wenn Sie sagen, daB auch MeBbilder eine sehr klare Linie haben in der Asthetik, dann
ist das natiirlich das, was in der Moderne postuliert wurde, die Form leitet sich aus der Funk
tion ab und es sollte nicht einfach eine Form iiber eine Funktion iibergestiilpt werden. Es
gibt verschiedene Moglichkeiten in der Kunst zwei wesentliche Richtungen. Die eine, die
sich sozusagen auf das Wesentliche und auf genaue Proportionen konzentriert wahrend
die andere den OberfluB, das Verspielte, das Manieristische bevorzugt - also derWiderspruch
zwischen klassischer Reduktion und manieristischem OberfluB. Bei der Fotografie, die eher
dem Dokumentarischen zugeordnet ist ist dies jetzt schwieriger geworden, zumal wenn
Farben eine Rolle spielen. AuBerdem gibt es moderne Formen der Bildverarbeitung, wo je-
Bilder und ihre Hintergrlinde 23
der jetzt an seinem PC im Prinzip mit allen Formen oder Grundformen von Bildern etwas
Neues schaffen kann. So hat man jetzt ein neues Medium um frei zu schaffen, aber man
verliert naturlich das dokumentarische Element und die neu erstellte Botschaft wird unter
Umstanden noch "propagandistischer" als das strikte "reine" Fotografieren und Abbilden von
dem, was ist, obwohl manchmal die Wirklichkeit schon als Propaganda schreit
H.: Ich verfolge die Prozesse in der Bilddigitalisierung mit groBer Spannung. Aber ich den
ke, daB gerade im Zuge der absoluten Inflationierung der beliebigen Bildwelten das doku
mentarische Foto, das als "subjektives Dokumenf gewollt ist, sehr an Wert gewinnt Es ent
steht eine neue Form von BewuBtsein fur das Original.
ST.: Fur das Authentische?
H.: Ja. Wenn ich mir anschaue, womit in diesen digitalen Zeitschriftenwelten geworben wird ...
ST.: .. .sie sehen es ja an jeder Wand als Reklame ...
H.: Ich bin nicht dagegen, die Bilder digital abzuspeichern und schneller verwertbar zu ma
chen, und denke, wir als Fotografen haben da immer noch eine wichtige Funktion, das macht
uns nicht brotlos. Wir liefern das Rohmaterial - wenn wir das wollen.
Diese unbearbeiteten Fotos haben eine eigene Kraft. Es ist nicht alles perfekt bei den
Fotos, die in diesem Band sind, sondern sie sind wie das Leben: manchmal sehr durchein
ander; sie versuchen ein biBchen zu sortieren, die Atmosphare einzufangen.
ST.: In einem anderen Zusammenhang, in dem Fotoband von Jindrich Streit, stand, daB sei
ne Bilder - die Bilder stammen aus dem Dorfleben mit dem TIlel "Das Dorf ist eine globale
Welt" - gerade Soziologen begeistern, weil sie u.U. durch diese Bildwelt etwas sehr viel kon
zentrierter ausgedruckt bekommen, als sie selbst durch Tabellen, durch Monographien oder
auch Fallstudien darstellen konnen. Und es wird weiter darauf hingewiesen, es sei gerade
das Interessante, daB obwohl solche Botschaften in den Bildern seien, es immer noch et
was anderes gebe, es sei das Betorende. Sind Bilder betorend? Wollen Sie betoren?
H.: Will ich betoren? Schwierige Frage. Aber vielleicht schon. Ja, betoren nicht in dem Sin
ne von Eitelkeit, also durch meine Originalitat, sondern ich mochte gerne betoren durch das,
was ich gesehen habe, und andere aufmerksam machen. Oft betort mich das Leben.
ST.: Was andere nicht gesehen haben, das wollen Sie aufzeigen?
H.: Ja, und wenn das passiert, kriegt man hin und wieder eine ROckmeldung. Das ist mir
so passiert in Borna, einer kleinen Stadt sudlich von Leipzig, als ich Dias zeigte. Es ging um
Stadtsanierung in einer BOrgerversammlung und die Stadtplanerinnen erzahlten dazu - da
nach kam ein alterer Herr zu mir und fragte mich, wie lange ich denn im Ort gewesen wa
re, denn ich hatte Dinge entdeckt, die er Zeit seines Lebens dort noch nicht gesehen habe.
Das ist dann etwas ganz Tolles, wenn mir das passiert
ST.: Das ist also sozusagen die persuasive Dimension, also Oberzeugungsarbeit, aber im
Sinne eines demokratischen Elements, wie Sie sagen. Sie wollen mit diesem Bild schon uber-
24 WENDELIN STRUBELT UND JURGEN HOHMUTH
zeugen, etwas erreichen, eine Oberzeugung erreichen, aber auch Augen offnen?
H.: Nein, anders. Ich will mein eigenes Bild der Welt so wie ich die Welt sehe, gerne wei
tergeben und wenn andere das erkennen und annehmen konnen ...
ST.: ... oder auch anders sehen ...
H.: ... und etwas Neues entdecken konnen, dann ist das ein gutes Gefiihl.
ST.: Und diese Form von Bildern oder von Freiheit des Sehens, die gab es vorher in der DDR
nicht auBer in den Zirkeln, die Sie benannt haben?
H.: Ja, es gab sicher ein Defizit Vielleicht ist auch deswegen bei den Leuten aus der DDR
so eine bestimmte Sensibilisierung dafiir da. Ein Freund und Kollege von mir (Klaus Ihlau:
"Kirschpfliicken in Weissack") ist mit Ton-Dia-Shows durch Jugendclubs, Kulturhauser und
Altenheime gezogen und hat tiber das Verschwinden eines Dorfes durch den Braunkohle
tagebau berichtet Er hat wunderbar poetisch dariiber erzahlt - einfach tiber diesen Wech
sel, den Heimatverlust die Trauer. Das wurde offiziell nie veroffentlicht aber er hat damit
sicher einige tausend Leute erreicht
ST.: Also ein weiteres Beispiel dafiir, daB die Geschichte der inneren Bildwirklichkeit der
DDR noch zu schreiben und auch aufzunehmen ist?
H.: Ja genau. Unabhangig von Kunstanspriichen, sondern durchaus unter diesem vermi
schenden Aspekt: Journalismus, Sozialfotografie und Kunst Wobei ich mit Kunst immer vor
sichtig bin, weil das sehr leicht mit Asthetizismus verwechselt wird.
ST.: Also eher mit I'art pour I'art wenn auch ein gewisser SchuB Asthetizismus immer ganz
gut ist denn dann stimmen namlich die Proportion en.
H.: Gut Aber ich will es nicht an der Kunst festmachen, sondern mehr an den Inhalten.
Und an einfach qualitativ hochwertiger Fotografie.
ST.: 1st denn die offizielle Fotografie, die es in der DDR gab, eher eine orthodoxe Interpre
tation von Prinzipien der Asthetik, wenn man zuriickgreift auf die Arbeiterfotografie oder
auf Heartfield? Kann sie so gesehen werden?
H.: Nein. Heartfield hatja eine ganz andere Dimension gehabt Er hat das Widerspriichliche
in Fotos mit seinen Collagen weit iibertroffen. Sehr bewuBt Die Arbeiterfotografie schon eher.
ST.: Ja aber die Anfiinge in der DDR, von 1945 bis 1949, Anfang der 50er Jahre, da gab es
ja immer noch Riickgriffe, sogar mehr als in der Bundesrepublik, auf diese kiinstlerischen
Produktionen der mit der Arbeiterklasse sympathisierenden Ktinstler, es war ja nicht die Ar
beiterklasse selbst
H.: Es war vielschichtig, auch in der kleinen DDR, aber das, was in den groBen Wochen
zeitschriften passierte, war der Versuch, handwerklich gute Reportagen, guten Journalismus
zu machen. Dahinter standen natiirlich bestimmte Inhalte, die einfach vorgegeben waren.
Das ist meiner Meinung nach heute in den groBen Magazinen nicht viel anders.
ST.: Sie meinen jetzt in den groBen Publikumszeitschriften?
Bilder und ihre Hintergriinde 25
H.: Ja.
ST.: Da macht Burda die eine Richtung mit der Bunten und Bertelsmann macht mit dem
Stern eine andere und der Focus und Spiegel geben je nachdem wieder andere Botschaften.
H.: Wenn die Kollegen losgeschickt werden, eine bestimmte Reportage zu machen, dann
miissen sie im Kopf haben, fi.ir welche Zeitung sie unterwegs sind, urn gedruckt zu werden.
ST.: Also sie miissen die Botschaft der Zeitung und die Orientierung der Zeitschrifi, die sie
dann auch fotografisch umsetzen sollen, kennen.
H.: In der Regel ist auch der Gestus der Fotos letztlich durch den Inhalt des Artikels vor
gegeben, d.h. meistens illustrieren die Fotos einen bestimmten Inhalt und der ist von vorn
herein klar.
ST.: Wo gibt es denn das andere? Wo gibt es denn, daB die Fotos fi.ir sich sprechen und fi.ir
sich eine Botschaft formulieren nach dem Motto: "Beniitze Fotos als Waffe" von John Heart
field, wo gibt's das? Sei es nun als Hammer oder als Florett?
H.: Der klassische Fotojournalismus ist tot glaube ich. Man wird mir jetzt sicher diese Be
hauptung widerlegen konnen mit einzelnen Reportagen. Die Magazine, die Wochenend
magazine der groBen Zeitungen, der FAZ, der Siiddeutschen und der Zeit die praktizieren
das noch vereinzelt Aus der Schweiz, z. B. die Zeitschrift "du", und den Vereinigten Staaten
kenne ich auch Beispiele. Aber ich halte das fi.ir Ausnahmen. Ich will aber auch nicht ver
schweigen, daB es sehr junge, moderne Zeitschriften gibt wie .Max", die eine ganz andere
neue Art von Fotografie fordern und betreiben, spannend und interessant Dort entstehen
in der Symbiose von Fotografie und Graphik am Computer neue Bildsprachen. Ich lese sie
nicht weil ich den Redaktionsteil und die Werbung schwer auseinanderhalten kann. Sieht
aber gut aus.
ST.: Wie ist es mit einer Zeitschrift wie GEO, die eine deutsche Variante der National Geo
graphic ist?
H.: Mit GEO habe ich meine eigenen Erfahrungen gemacht Da darf die soziale Kompo
nente oder die Harte einer Naturzerstorung ein bestimmtes AusmaB in einem Heft nicht
iiberschreiten. Es wird streng selektiert
ST.: Solange es iiberhaupt vorkommt kann man ja auch zufrieden sein.
H.: Ich will das nicht verurteilen. Ich sehe nur die Welt ein bir3chen anders.
ST.: Aber es ist doch ein ganz merkwurdiges Phanomen, daB in den Medien, die die Foto
grafie einsetzen, das aufklarerische Element der Fotografie immer mehr zuruckgedrangt wird,
weniger vorkommt und weniger goutiert wird. Demgegenuber interessieren sich jetzt So
zialwissenschaftler dafur, was die Fotografie an Erfahrungen bringen oder an Kondensie
rungen der sozialen Wirklichkeit leisten kann, die die Soziologie oder Sozialwissenschaft
nur sehr umstandlich, nur sehr schwer - und vor allem nicht fUr die Aligemeinheit gleich
einsichtig und gleich verstandlich - ausdrucken kann.
26 WENDELIN STRUBELT UND JURGEN HOHMUTH
H.: Da gibt es vielleicht zwei GrOnde. Was es der Sozialwissenschaft bringen kann, kon
nen Sie besser erklaren. Es ist eigentlich ahnlich wie in der DDR, diese Art Fotografie fehlt
in den Zeitschriften. Um es Oberspitzt zu sagen, die Wirklichkeit suchende, unvoreinge
nommene Fotografie ist ein Mangel. Und ich weiB, daB Architekten und Stadtplaner z.T. sehr
bewuBt mit Fotografien umgehen und wenn es jetzt bei den Sozialwissenschaftlern auch
eine neue Aufmerksamkeit dafOr gibt hat das vielleicht den Grund, daB diese Fotos in den
Medien fehlen. GEO verfolgt eigentlich ein ganz klassisches Prinzip. Es wird erzahlt wie
schon bunt und exotisch die Welt ist Der Unterschied zu frOher ist daB wir heute Ober die
sen Schritt hinaus gehen konnten. Es gibt viele Menschen, die diese Orte schon gesehen
haben und sie nehmen dann immer noch mit einer gewissen Freude zur Kenntnis, daB die
Welt bunt und exotisch ist Gleichzeitig wissen aber aile, es geht dort auch anders ZU; nicht
nur bunt sondern oft ziemlich hart Selbst die groBen Stern-Reportagen zeigen die Welt als
Holle oder Paradies. FOr mich liegt die Wirklichkeit dazwischen. Sie ist eine sehr aufregen
de Mischung daraus. Das ist ein selbstlaufender Kreislaufzwischen Leserumfragen fOrWer
bekunden, und dem, was die Journalisten fOr interessant halten. Der Konkurrenzkampfzwi
schen den Journalisten ist ein weiteres sehr wichtiges Element Die Zeitschriften pragen be
stimmte Seh- und Lesegewohnheiten. Deshalb bin ich verblOfft, wie oft ich bei meiner
"Meckerei" Ober die Medien Zustimmung bekomme. Andererseits haben die wenigen gut
gemachten Zeitschriften groBe Absatzprobleme.
ST.: Aber allenthalben, gerade auch bei den politisch "Machtigen" wird die Macht des Bil
des, des wie auch immer authentischen Bildes, als sehr hoch eingeschatzt 1m Hinblick auf
Foto und Film ist im WOstenkrieg gegen den lrak gesagt worden, daB er fOr die Offentlich
keit gemacht und absolut gesteuert worden ist Man hat im Unterschied zum Vietnam-Krieg,
wo man den Reportern freie Bahn gelassen hat und im Prinzip sich damit selbst bildlich
gesprochen, ins Bein geschossen hat hier klar die Bilder gesteuert Also die Macht der Bil
der wird akzeptiert und genutzt
H.: Es wird ja auch behauptet daB der Vietnam-Krieg anders verlaufen ware, wenn keine
Journalisten, besonders Foto-Journalisten, dabei gewesen waren. Beim Golf-Krieg haben die
Amerikaner daraus gelernt Das unterstreicht die These, im Kopf laufen Prozesse ab, non
verbal: Wir reagieren auf Bilder und wir wissen nur nicht genau wie! Das ist ja auch der
Grund, weshalb die Werbung uns weniger mit SprOchen, sondern mit Bildern Oberhauft
und weshalb so viel Geld in die Bildverarbeitung flieBt also in das Manipulieren der Bilder.
Das unterstreicht den Wert des Dokumentarischen, wenn versucht wird, das Dokumentari
sche aufzubrechen und zu negieren. Es wird ja auch regelmaBig wieder behauptet die Foto
grafie sei tot
ST.: Oder ein abgelutschtes Medium.
H.: Genau, aber ich glaube, daB stehende, wirklich ganz bewuBt stehende Bilder, also nicht
Bilder und ihre Hintergrunde 27
die laufenden, eine eigene Kraft haben und wenn wir uns den geschnittenen Video-Clip an
schauen, dann sind das oft einzelne Bilder, die sich tief in unser BewuBtsein einpragen.
ST.: Ich habe den Eindruck, daB aile mit den Bildern manipulieren. Es manipulieren nicht
nur die Regierungsverantwortlichen oder die an bestimmte Interessen Gebundenen, wie z.B.
der militarische Zensor damals im Golf-Krieg, sondern es manipuliert ja ahnlich z.B. auch
Alexander Kluge, indem er vor kurzem Bilder von Tschernobyl, Ober die Wirkung von Tscher
nobyl. veroffentlicht hat unter Nutzung von Fotografien eines Russens, die dieser fOr ganz
andere Zwecke und mit ganz anderen zeitlichen Dimensionen gemacht hat Er hat sich sehr
beklagt daB Kluge, ohne ihn zu fragen, diese Fotos manipuliert hat urn auf die Gefahren
der Atomkraft hinzuweisen, was durch diese Bilder real nicht abgedeckt wurde.
H.: Eines passiert kaum mit Bildern: Ein wertfreier Umgang, einfach schauen, was ist denn
wirklich da passiert Das hat viel mit Gewohnheiten zu tun. Wir sind es nicht gewohnt Bil
der zu sehen, ohne daB uns eine Meinung manipuliert werden 5011. Andererseits fOhren Bil
der ein Eigenleben, wenn der Fotograf sie herausgegeben hat ist keine Kontrolle da, was
denkt der Betrachter sich, was fOhlt er?
ST.: Aber die Bilderdarstellungen auf den Kirchenfenstern, gemalten Kirchenfenstern der
Gotik, waren ja auch Manipulation und sie hatten enorme Wirkung. Oder - um eine per
sonliche Erfahrung zu nehmen - die Bilder, die ich in KinderbOchern gesehen habe oder in
BOchern, die ganz bestimmte historische Dimensionen darstellen wollten, Szenen aus der
deutschen Geschichte ( .. Deutsche Kulturbilder", 1934), das waren auch alles schon mani
pulierte Bilder. Wirklichkeit ist das nie gewesen.
H.: Ich glaube, daB es ganz schwer fcillt mit ,,wirklichkeit" umzugehen.
ST.: Vielleicht wollen wir das gar nicht
H.: Ja, das konnte gut sein. Ich stelle immer wieder fest es gibt Fotografen mit erstaunli
chen Bildern, die sind weitgehend unbekannt Ich glaube, es hat damit zu tun, daB es nicht
Mode ist und in kein Schema paBt Niemand kann es benutzen fOr einen bestimmten Zweck,
um zu sagen, seht her, so und so ist es und wir mOssen da und da gegen sein oder da und
da fOr. Solange sich Bilder nicht so benutzen lassen, ist ihre Verwendung ganz schwer. Und
das, was ich mit meinen Stadtfotos mache, ist auch eine LOcke. Also daB ich Nutzer gefun
den habe, Stadtplaner und Sozialwissenschaftler, die mit Hilfe der Bilder genauer schauen
konnen, und diese sinnliche und differenzierte Sichtweise mit den Bildern weitergeben kon
nen. Die Arbeit mit Iris Reuther und Marta Doehler, Stadtplanerinnen aus Leipzig, war in den
letzten Jahren sehr wichtig fOr mich.
ST.: Aber was ist dann letztendlich eine individuelle Wirkung? Wenn man selbst fotogra
fiert z.B., also dann geht es mir so: Ich sehe eine Stadt ich sehe Stadtentwicklung und ich
sehe, wie sich Hauser wandeln, ich sehe, wie die Nutzung, die Raumnutzung sich wandelt
und ich weiB, ich kann das zwar auch fotografieren mit meiner kleinen Klickklack, aber ich
28 WENDELIN STRUBELT UND JURGEN HOHMUTH
kriege das nicht so gut hin. Ich brauche sozusagen ein professionelles Auge, weil ich selbst
nicht in der Professionalitat des Fotografierens trainiert bin. Ich bin trainiert, vielleicht zum
Verfassen eines Fragebogens und zum Auswerten eines Fragebogens, was Sie vielleicht nicht
so gut konnen, aber ich bin eben darauf angewiesen, daB jemand dieses auch in dem Sin
ne "kongenial" fUr mich versucht mit dem Medium Fotografie. Ich glaube, das ist die
Beruhrung, die wir haben zwischen den Sozialwissenschaftlern und den Fotografen, wobei
es andererseits so ist daB in der Hervorhebung bestimmter Sujets, sei es architektonischer
oder sozialer Ereignisse, natUrlich auch der Fotograf dem Sozialwissenschaftler sozusagen
Blickrichtungen weisen kann, die er selbst nicht hat Ganz abgesehen davon, daB er sie vie 1-
leicht gar nicht sieht Es gibt ja das schone Wort von dem Volkskundler oder Sozialanthro
pologen, der in einem Dorf wohnt und eine Dorfstudie macht mit teilnehmender Beobach
tung, indem er sich auf seinen Balkon setzt und teilnahmslos beobachtet
Die Sensibilitat fUrs Soziale ist auch nicht bei allen Sozialwissenschaftlern gegeben,
sondern es ist ein Berufwie jeder andere, den man mit Routine machen kann, urn sich selbst
beruhmt zu machen oder man macht es, urn ein bestimmtes Thema zu featuren und macht
das sein Leben lang, bleibt unbekannt unter Umstanden oder bleibt eine Randfigur, wah rend
andere auf dem Strom sehr elegant surfen und dadurch auch ihren Erfolg haben. Sozial
wissenschaft ist also nicht per se eine engagierte Wissenschaft. Genauso wie Fotografie nicht
per se eine engagierte Kunst ist
Haben wir nun mit diesen Bildern den Umbruch erfaBt wenn Sie das jetzt so ruck
blickend sehen vor Ihrem eigenen Hintergrund an Erfahrung? Sie haben ja den Um
bruch selbst radikaler erlebt als wir es erlebt haben, wei! wir ja nur einen Teil der Ent
wicklung der fruheren DDR beobachtet haben. Gut wir sind gereist kennen die DDR
zum Tei! auch noch aus fruherer Kenntnis. Viele haben auch fruher im Osten gelebt
die jetzt im Westen Ie ben und insofern gibt es ein allgemeines Image, das viele Leute
aus Westdeutschland gegenuber der Entwicklung in Ostdeutschland haben. Meinen Sie,
daB wir mit Ihren Bildern sozusagen das erfaBt haben, was Ihr Auge authentisch er
fassen konnte?
H.: Ja, das ist die Frage, was kann mein Auge authentisch erfassen - und dann ist im ent
scheidenden Moment der Film zu Ende. Also ich bin seiber befangen und vielleicht war es
ganz gut daB ich in den Jahren dazwischen fUr dieses Buchprojekt nicht fotografiert habe.
1988 bis Mitte 1990 sind die Fotos des ersten Teils entstanden, der zweite Teil 1995 und
1996. In der Zwischenzeit sind bei mir privat und beruflich aile moglichen Veranderungen
passiert mit groBen Verunsicherungen und Umbruchen. Da ist es schwierig, das immer um
zusetzen und ich kenne auch nicht viele Ost-Kollegen, die das gut geschafft haben. Ulrich
Wust hat zwei eindrucksvolle Arbeiten in Galerien gezeigt Er hat in schlichtem Stilleben
eindrucksvoll Geschichte erzahlt
Bilder und ihre Hintergriinde 29
Mit meinen zwei Kollegen von "leitOrt Bilddokumentation" versuche ich, den Umbau
von Berlins Mitte in sachlichen GroBformatbildern festzuhalten. Das sind solche Versuche.
ST.: Haben es denn westliche Kollegen gezeigt - Ihrer Meinung nach?
H.: Also es feillt mir auf Anhieb niemand ein. Ich habe eine Serie gesehen von zwei Foto
grafen, die haben Leute im Harz fotografiert in dieser Wendezeit sie irgendwohin gestellt
und das war wirklich gut Wie alles Gute war das sehr schlicht
ST.: Es gibt einige Fotobande inzwischen Ober den Wandel. aber interessanter Weise hab
ich von unserem Verleger, Herrn Budrich, gehOrt daB diese Bande, die eher authentisch sind,
wie Blei in den Buchladen, insbesondere in der frOheren DDR. liegen. Wahrend die "scho
nen" Fotobande, etwa Vorpommern in Bild und "Ton" oder das schone Rostock, die histo
risch und schon bunt und mit untergehender Sonne arbeiten, vor blauem Himmel und blau
em Meer, und alles ausklammern, was unliebsam ist also streng genommen manipulative
Fotografie sind, gut verkauft werden. Sowohl bei den Einwohnern, den .. eingeborenen" Be
troffenen, wie auch den touristischen Besuchern.
H.: Das wOrde natorlich nicht nur die Frage nach sich ziehen, ob die Leute belogen wer
den wollen, sondern ob vielleicht unser Bild von der Welt nicht stimmt?
ST.: Richtig.
H.: Vielleicht haben wir ein sehr problembezogenes Bild von der Welt Ich glaube das aber
nicht Mich wOrde sehr interessieren, ein Buch Ober eine Stadt zu machen, wo ich beides
zeigen kann und womit die Bewohner sich identifizieren konnen und sagen: Ja, das ist
meine Stadt und sich trauen wOrden, es dem Onkel in Amerika zu schicken. Die Mischung
ist interessant
ST.: Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, haben wir denn nun, Sie insbesondere
mit Ihren Bildern, den Wandel der Stadte getroffen?
H.: Ich wOrde mich freuen, wenn in den Fotos der Wandel der Atmosphare spOrbar
wird. Das ist fOr mich das einpragsamste, nachdem ich die Stadte wieder aufgesucht habe
Ober die Jahre. Es weht ein anderer Geist jetzt in diesen Stadten. Das ist fOr mich deutlich
zu spOren.
ST.: Was heiBt anderer Geist? 1st es, daB andere Autos fahren und Werbetafeln hangen und
viele Baustellen vorhanden sind und natOrlich auch die Leute anders angezogen sind in
zwischen - ist es das? Was ist das?
H.: Ich kann es nur mit anderer Atmosphare beschreiben. Es sind andere Gerausche, an
dere Musik, andere GerOche, andere Bewegungsmuster. Es ist die Summe dessen, was wir
mit unseren Sinnesorganen wahrnehmen. Die grobe Stadtstruktur ist geblieben. Und auf
den Bildern sieht man, daB es verblOffend wenig neue Hauser gibt Und daB auch noch gar
nicht so viele neu angestrichen sind. Aber man nimmt es an. Das hat mich seiber verblOfft
auf den Fotos, man nimmt es seiber anders wahr. Ich meine, wir spOren das Neue, es drangt
30 WENDELIN STRUBELT UND jURGEN HOHMUTH
sich in den Mittelpunkt Und das ist es" was ich verbal schwer beschreiben kann. Abgese
hen davon bin ich kein so guter Redner, deshalb fotografiere ich.
ST.: Nun ist das Wahrnehmen insgesamt immer sehr stark davon abhangig, was man selbst
fur eine Fragestellung hat Aile Antworten, aile Interpretationen hangen von der Fragestel
lung abo Und die ist nie wertfrei, sondern hangt immer davon ab, wie gefragt wird und wie
man dann die Beantwortung interpretiert Das Wissenschaftliche oder das Objektive liegt
eben darin, daB man moglichst das, was man selbst als Fragestellung und Fragerichtung
hat auch offen legt damit jeder, der will, das nachvollziehen kann. So kann iiberpriift wer
den, ob das die richtige Fragestellung ist ob man sie hatte anders stellen miissen. So ist die
"Botschafi", die man als Ergebnis der Analyse hat eben nicht nur manipulativ, sondern sie
bietet die Moglichkeit das nachzuvollziehen oder zu widerlegen. Und insofern, glaube ich,
sollte man moglichstviele Fotografien machen, aus ganz unterschiedlichen Richtungen und
mit unterschiedlichen Sichtweisen, weil man dann vielleicht wenn man verschiedene Quel
len hat auch fur sich jeweils die Freiheit hat Urteile neu und eigenstandig zu fallen. Ich
meine, im Prinzip sollte es nicht nur Fotos geben von den Professionellen, sondern es 5011-
ten z.B. die Kinder fotografieren und es sollten aile fotografieren, denn das sind alles ei
genstandige soziale Wahrnehmungen.
H.: Jetzt haben wir doch fast ein schOnes SchluBwort Dann miiBte es ganz viele Sozial
wissenschaftler geben, die sich damit befassen, es gibt schon so viele Fotografien. Und
Fotoamateure fotografieren meist Sonnenuntergange, lachende Kinder, exotische Lander
und Familienfeiern. Such en Sie nach Alltag, finden Sie wenig. Es ist spannend, Kinder mit
einer Kamera durch die Gegend zu schicken: "Nehmt ganz bewuBt eure Umgebung auf!"
Es gibt Projekte in Entwicklungslandern, interessante Projekte, bei denen selbstgemachte
Fotowandzeitungen die Schriftzeitung ersetzen. Jeder kann die Inhalte "Iesen".
ST.: Enorme Mengen an Material. Das ist eine Art offener Dialog, der gefiihrt wird. Ich mei
ne, ich kenne das aus friiheren Zusammenhangen, als die Soziologen mit den Architekten
zusammenarbeiteten, weil die Architekten der Meinung waren, es geniige nicht wenn ich
mir etwas vo rste lie, sondern ich muB auch wissen, was die Leute brauchen. Und dazu
brauchten sie die Soziologen, urn ihnen zu sagen, was die soziale Wirklichkeit sei. Der Punkt
war, als zu diesem Zeitpunkt die Soziologen herausgefordert waren, da haben sie sich natiir
lich auch interessiert was Architektur oder Stadtplanung ist und haben dann gesagt aha,
das konnte man so oder so machen. Das Resultat war leider, daB aus dieser Diskussion kein
Dialog geworden ist sondern die Soziologen sind zu Amateurarchitekten geworden und die
Architekten sind zu Amateursoziologen geworden. Es hat keine richtige Kommunikation ge
geben. Das ist finde ich, auch im Hinblick auf die Fotografie so wichtig. Ich glaube, wenn
ein Sozialwissenschaftler meint er wiirde mit Fotografie die Realitat besser erfassen als mit
Fragebogen oder mit einem offenen Interview, er einer Illusion unterliegt Er muB genau wis-
Bilder und ihre Hintergrunde 31
sen, was sind die Fragestellungen, was ist sozusagen die beste Methode fOr die und die Fra
gestellung. Und daruber gibt es insgesamt, glaube ich, noch viel zu wenig Erkenntnisse und
viel zu wenig dialogisches Verhalten.
H.: Ja, Dialog auch mit Fotos, ware eine neue Qualitat, weil ich erlebe, daB ganz unter
schiedliche Sprachen existieren. Also Soziologen haben eine eigene, Stadtplaner haben ei
ne eigene, Politiker haben eine eigene, und Arbeitslose haben eine eigene Sprache und ai
le reden ganz oft aneinander vorbei. Mit Bildern passiert das viel weniger, entweder ist der
Gegenstand klar abgebildet oder er ist unscharf.
ST.: Das Problem ist, daB die unterschiedlichen Ebenen der Wahrnehmung relativ wenig
miteinander kommunizieren, sondern sie werden nur miteinander kommuniziert uber einen
Mittler und das ist heutzutage in aller Regel der Journalist
H.: Und der ist wiederum an einer moglichst starken Auflage oder Einschaltquote interes
siert bzw. wird daran interessiert, sonst kriegt er keinen Auftrag mehr.
ST.: Er ist an der Aufmerksamkeit interessiert. ..
H.: Das klingt netter.
ST.: Und das ist das groBe Problem, glaube ich, daB dieser authentische Umgang oder Dia
log fehlt Wir sind vermittelt uber Medien unterschiedlichster Art, und wir reden aile uber
Mittler, aber wir reden nicht miteinander.
H.: Aber dieser ProzeB, uber den wir reden, dieser Dialog, der ware wirklich anstrengend.
ST.: Der ist anstrengend. Aber es muB auch kompakte Informationen geben. Der Punkt ist,
daB diese kompakten Informationen in aller Regel schon tendenzios sind. Das Nuchterne,
was dem Einzelnen abverlangt, daB er sich daruber seine eigene Meinung bildet, das ist
zeitraubend und arbeitsintensiv.
H.: Es wird ein neues Buch, was wir hier gerade im Gesprach produzieren.
ST.: Hoffentlich nicht, aber ich meine, wir nahern uns der Kernfrage, was kann man mit Bil
dern in einem gesellschaftlichen Kontext machen, der enorm besetzt ist von lauter ready
made Interpretation. Und der davon gepragt ist, urn noch einen Neogermanismus zu be
nutzen, von fast food in jeder Hinsicht Wohingegen das Nachdenkliche, das Interpretative
an sich nicht das Gefragte ist Vielleicht ist der Anspruch zu hoch, aber die vielen Anspruche
verhalten sich oft ebenso manipulativ. Deswegen hat mich auch das Beispiel von Kluge so
erschreckt, daB solche Leute, die fOr sich in Anspruch nehmen, eher das autk.larerische Ele
ment vertreten, daB die genauso agieren. Man man daraus einen sozialkritischen, auch ei
nen gesellschaftlich resignativen SchluB ziehen! Aber man sollte dies nicht tun, sondern
zum SchluB kommen: Seiber machen, seiber tun, sich nicht beirren lassen, immer offen sein.
H.: Ja und in kleinen, uberschaubaren Einheiten agieren. Also nicht versuchen, die groBen
Magazine zu verandern, sondern diesen ProzeB des Dialoges, den wir beschrieben haben,
in Wohngebieten zu fOhren oder bei Stadtteilplanungen, bei Rahmenplanungen, immer da,
32 WENDELIN STRUBELT UND JORGEN HOHMUTH
wo es die Leute seiber betriffi, um ihnen eine Chance zu geben, einzugreifen, und dies nicht
nur verbal. Da gibt es sofort die BerufsbOrger, die 20 in jeder Gegend, wenn es Oberhaupt
so viele sind, die zu jeder Versammlung kommen und natOrlich ganz eigene spezielle In
teressen haben, wah rend dessen etwa die weiteren 8.000, die da noch wohnen, die kom
men eben nicht Und mit denen nicht nur verbal zu kommunizieren, viele von denen wol
len auch gar nicht reden, sondern zu versuchen, andere Kommunikationswege zu finden
- das ist notwendig. Das konnten zum Beispiel Bilder sein. Die Kraft, die Bilder haben, ein
fach mehr anzuerkennen und damit zu arbeiten. Und wir tun das ja eigentlich auch.
ST.: Ja, aber wir packen es natorlich auch jetzt auf einer etwas hOheren, losgelosten Ebene
an, eben nicht in der Nachbarschaft, sondern wir haben den Versuch an drei Stadten ge
wagt, weil wir den Vorlauf aus der Hochschule in Weimar hatten. Vielleicht haben sich an
dere an der Kunsthochschule in Berlin-WeiBensee auch mit solchen Sachen beschaftigt
Vielleicht gibt es auch ein Parallelbuch, wir wissen es nicht Es ware schon, wenn es das ge
ben wOrde. Wir haben aus einem gegebenen Ansatz versucht, etwas Systematisches zu ma
chen. Herausgekommen ist ein fotografischer Essay, der zwar aile typischen Stadtraume um
faBt und Ober eine nicht unwesentliche Zeit hinweg beobachtet, aber es ist nur stockweise
ein analytischer Ansatz. Es ist und bleibt ein Zugriff, der dem Betrachter und dem Leser viele
Spielraume fOr eigene Interpretationen offen laBt Und das ist gut so. Es ist ein Versuch, dem
weitere folgen sollten, um diese wichtige Phase der deutschen Entwicklung angemessen zu
dokumentieren und darzustellen. Gefordert sind moglichst viele Blickwinkel. um die Kom
plexitat des Ganzen so zu erfassen, daB sie auch anderen nachvollziehbar wird.
Bilder und ihre HintergrGnde 33
UTERATtJR
Atget Eugene: Das neue lahrhundert MOnchen: Prestel 1985
Beck, Ulrich/ Vossenkuhl. Wilhelm/ Ziegler, Ulf E.: Eigenes Leben. AustlOge in die un
bekannte Gesellschaft in der wir leben. Mit Fotos von l1mm Rautert MOnchen:
Beck 1995
Borchert Christian: Berliner. Menschen in Berlin DDR. Mit einem Vorwort von Richard
Pietrass. Berlin (West): ex pose 1986
Braunig, Werner u.a.: Stadte machen Leute. StreifzOge durch eine neue Stadt Halle:
Mitleldeutscher Verlag 1969
Chargesheimer: Unter Krahnenbaumen. Bilder aus einer StraBe. Mit einem Vorwort
von Heinrich Boll. Koln: Greven 1958
Chorweiler Stadtleilzeitung Aufzug (Hrsg.): Chorweiler Ansichten. Min: Emons 1993
Deutsche Kulturbilder. Deutsches Leben in 5 lahrhunderten. 1400 - 1900. Altona
Bahrenfeld: Cigaretlen Bilderdienst 1934
Ebert Dietmar (Hrsg.): Lebensbilder aus lena. Versuche einer Dokumentation. Mit
Fotografien von lOrgen Hohmuth. lena: Universitatsverlag 1990
Hacker, Dieter/ Seltzer, Andreas (Hrsg.): Volksfoto. Zeitung fOr Fotografie. Nr. 1-6.
Reprint Frankfurt: Zweitausendeins 1981
Hohmuth, lOrgen/ Hagenau, Carsten: Zu Hause in Halle Neustadt Dessau: Projekt
gesellschaft mbH am Bauhaus Dessau 0.1. (1993)
Holub, Miroslav: New York Die explodierende Metropole. Mit Fotografien von Karol
Kallay. Berlin: Verlag Volk und Welt 1967
Ihlau, Klaus: "KirschptlOcken in Weissack". Ton-Dia-Show. 0.1.(1985)
Imsand, Marcel: Paul und Clemence. Mit einer Einleitung von Bertil Galland. WLirz
burg: Stortz Verlag
Kaplan, Daile: Lewis Hine in Europe. The lost Photo Graphs. New York: Abbeville
Press 1988
A rest de MAGNUM. 1945 - 1990. Quarante - cinq ans de Reportage derriere Ie
Rideau de Fer. Arthaud 1991
Paris, Helga/ Bartsch, Wilhelm: Diva in Grau. Hauser und Gesichter in Halle. Halle/
Leipzig: Mitleldeutscher Verlag 1991
Prehm, Eugen/ Rehboldt Edelgard: Wir in Berlin. Berlin: Verlag der Nation 0.1. (1966)
Ranke, Winfried: Heinrich Zille. Photographien Berlin 1890-1910. MOnchen: Schirmer/
Mosel 1979
Rose, Beate/ Rose, Heinz: Paare. Menschenbilder aus der Bundesrepublik Deutsch
land zu Beginn siebziger lahre. Ebenhauser: Langewiesche-Brandt 1972
Steinorth, Karl (Hrsg.): Lewis Hine. Die Kamera als Zeuge. Fotografien 1905 - 1937.
Kilchberg/ZOrich: EDITION STEMMLE 1996
Strand, Paul/ Davidson, Basil: Das Land der Graser. Die Ausseren Hebriden. Dresden:
Verlag der Kunst 1962
34 WENDELIN STRUBELT UND JURGEN HOHMUTH
Streit Jindrich: Vesnice je svet Das Dorf ist eine globale Welt Prag: Arcadia 1993
Weltausstellung der Fotografie. Katalog. Hamburg: Nannen Verlag oj. (1965)
Wiist Ulrich: AbschluBball. Mit einem VOIWOrt von Enno Kaufmann. Katalog. Berlin: Neue Gesellschaft Bildende Kunst 1993
Zille, Heinrich: Berlin urn die Jahrhundertwende. Miinchen: Schirmer/Mosel 1993
Bilder und ihre Hintergriinde 35
JENA. Eichplatz. 1995
36
DIE INNENSTADTE Fotografien
JOrgen Hohmuth
37
JENA. Blick auf den "Uni·Turm". 1995
38
JENA. Blick zum Zeiss-Hauptwerk vom Holzmarkl 1995
39
lENA. Ernst-Thalmann-Ring. 1988
40
JENA. Uibdergraben. 1995
41
JENA. Marktplatz. 1995
42
lENA. Marktplatz. 1988
43
WEIMAR. HerderpJatz. 1995
44
DESSAU. Zentraler Platz. 1995
45
WEIMAR. Eeke GeleitstraflelWielandstrafle. 1995
46
WEIMAR. Rathenauplatz. 1995
47
lENA. Zwatzengasse. 1988
48
DESSAU. Kava lie rstra l3e. 1995
49
DESSAU. lohannisstraBe. 1995
50
WEIMAR. Rittergasse. 1995
51
JENA. Neugasse. 1988
52
WEIMAR. Marktplatz. 1995
53
JENA. Oberlauengass~ 1995
54
WEIMAR. KaufstraBe. 1995
55
JENA. Eichplatz. 1995
56
JENA. Platz der Kosmonauten. 1988
57
JENA. Platz der Kosmona uten. 1988
58
FREMD SEHEN IN DER EIGENEN STADT
Dietmar Ebert
59
REs gingen immer Leute durch die Innenstadt; und es war nie hastig, aber die In
nenstadt lebte einfach", erinnert sich Bernhard Wachter, emeritierter Professor fur Kunst
geschichte an der Friedrich-Schiller-Universitat Jena. Weiter erzahlt er Ober das alte Jena
vor dessen Zerstorung im Marz 1945: "Wenn man in Jena in die Stadt wollte, das bedeu
tete: Innenstadt Das Au Ben, das waren entweder zweckgebundene Viertel. wie das SOd
viertel, wo die Leute von Schott und Zeiss wohnten, oder die Zeiss-Siedlung und im West
viertel die Akademiker. Aber die Funktion der Kommunikation hatte ganz ausschlieBlich
das Herz der Stadt das Stadtinnere" (Wachter 1996: 2).
Eben dort westlich des Marktplatzes, befindet sich seit 1972 ein freier Platz, auf dem
sich das Universitatshochhaus erhebt In den siebziger Jahren hieB er Zentraler Platz. Hier
berichteten Waleri Bykowski und Siegmund Jahn Ober ihren Flug ins Weltall. Wahrend ih
res Fluges hatten sie die im VEB Carl Zeiss Jena entwickelte Multispektralkamera an Bord.
Mit deren Hilfe waren vom Weltraum aus Aufnahmen der Erde mit groBer Genauigkeit
moglich. Seit dieser Zeit hieB der Zentrale Platz "Platz der Kosmonauten".
Dieser Platz war durch seine riesigen Dimensionen fur Kampfgruppenaufmarsche und
GroBkundgebungen wie geschaffen. Zugleich war er von oben einsehbar. Von der Terrasse
uber der Thomas-Mann-Buchhandlung ist alles, was sich auf dem Platz bewegt genau zu
verfolgen. Zugleich konnte die Terrasse als Tribune genutzt werden. Aber nicht immer liefen
GroBkundgebungen nach dem von Partei- und Staatsorganen erdachten Szenario abo Bei
einer verordneten Friedensdemonstration gegen den NachrustungsdoppelbeschluB der
NATO im Jahre 1983 sollte auf genehmigten Transparenten und Spruchbandern gegen die
Stationierung von Raketen in Westeuropa protestiertwerden. Spontan traten wahrend dieser
Demonstration Mitglieder der Unabhangigen Jenaer Friedensgemeinschaft mit eigenen Mei
nungen und Transparenten auf. Mutig verteidigten sie ihren Standpunkt und wandten sich
gegen die Aufstellung von Raketen in Ost und West So tragt der Platz auch die Spuren ihres
Mutes, selbst wenn viele von ihnen das Land verlassen muBten. Junge Leute, die das Land
verlassen wollten, fanden sich im Juni und Juli 1983 samstags 9.00 Uhr auf dem Zentralen
Platz zusammen. "Der uberwiegende Teil tragt weiBe Hemden oder T-Shirts, einige mit dem
Aufdruck 'JA' (Jenaer Ausreise oder Ja zu Westen). Man halt sich an den Handen, ein Kreis
entsteht der WeiBe Kreis'." (Schmidt 1996: 13) Das Ziel der Teilnehmer des "WeiHe Kreis"
bestand darin, nicht tatenlos zu warten, bis einer Ausreise in die BRD zugestimmt wurde,
sondern selbst aktiv zu werden, urn so rasch wie moglich die DDR verlassen zu konnen.
"Sicher ist daB via WeiBe Kreis' zirka 70 Einzelpersonen, Paare und Familien, teils nach kur
zer Wartezeit in den Westen ubersiedelten." (Schmidt 1996: 15) Diese Beispiele mogen ver
deutlichen, daB der Zentrale Platz, konzipiert fOr verordnete Demonstrationen, bei denen die
Massen jubelnd der Politik der SED zustimmen sollten, auch die Spuren des Widerstands
Andersdenkender und -handelnder gegen eine erstarrte Ordnung tragt
60 DIETMAR EBERT
An den meisten Tagen des Jahres war jedoch der Platz vollig leer. Ein toter Ort mitten
in der Stadt an dem nichts passierte. So hat ihn Jiirgen Hohmuth 1988 fotografiert Drei
Passanten iiberqueren den Platz und verlieren sich in der Leere.
Ein Jahr spater zeigt dieser Platz ein vollig anderes Bild. SelbstbewuBt und engagiert
ist er von der Jenaer Bevolkerung in Besitz genom men worden. Die jungen demokratischen
Bewegungen artikulierten sich offentlich. Der Biirgerwille verschaffte sich nachhaltig GehOr.
Und es waren nicht nur die aktuellen Gebrechen eines zerfallenden Gemeinwesens, die da
bei zur Sprache kamen. Erneut erwachte die Emporung iiber die 1969 erfolgte Sprengung
eines groBeren Areals des historischen Stadtzentrums, dem Biirger- und Geschaftshauser
in der LeutrastraBe und an der Siidseite der JohannisstraBe sowie der historische Eichplatz
zum Opfer fielen.
So wie in Leipzig die Universitatskirche gesprengt ein Teil des kulturellen Gedachtnis
ses der Stadt ausgeloscht wurde, urn Raum zu schaffen fUr ein Universitatshochhaus, das
ein aufgeschlagenes Buch symbolisieren so lite, so wurde in Jena ein Stuck intakte Stadt
struktur zerstort damit ein urspriinglich fUr den VEB Carl Zeiss Jena erbautes Forschungs
hochhaus sich emporstrecken und aile anderen Gebaude der Stadt iiberragen konnte. Nach
seiner Fertigstellung wurde der Bau der Friedrich-Schiller-Universitat iibergeben, obwohl die
Innenraume denkbar ungeeignet sind, urn Arbeitsplatze fUr Wissenschaftler oder Instituts
bibliotheken zu beherbergen.
So ist das Jenaer Universitatshochhaus neben dem Berliner Fernsehturm und dem Hoch
haus der Leipziger Universitat eines der wenigen realisierten Gebaude, die auf markante
Weise die Theorie der Architektur als GroBplastik und Bildzeichen reprasentieren (vgl. Topf
stedt 1988: 66t). Die Konzeption der Bildzeichen-Architektur wurde vor allem von Hermann
Henselmann verfochten. In der zweiten Halfte der sechziger Jahre sollten fUr die jeweiligen
Stadte typische Symbole in monumentale Architektur umgesetzt werden. Der Irrglaube, sich
auf der Seite des historischen Fortschritls zu befinden, verband sich mit der wahnwitzigen Vor
stellung, die westlichen Lander in wenigen Jahren aufwissenschaftlich-technischem und wirt
schaftlichem Niveau iiberholt zu haben. Dieser Fortschritlsglaube sollte in der Stadtgestaltung
sichtbar werden. Den meisten ostdeutschen Stadten ist dieses Schicksal erspart geblieben.
Jena hat in Gestalt des Universitatshochhauses sein Bildzeichen erhalten. Es symboli
siert ein Fernrohr und dominiert durch seine Hohe. Vor allem nimmt es dem Turm der Stadt
kirche St Michael seine bestimmende Gestalt die er zuvor im Ensemble der Jenaer Altstadt
inne hatte. Ais Bildzeichen sollte es die Symbiose von wissenschaftlichem und technischem
Fortschritt architektonisch verkorpern. Es sollte ausdriicken: Nichts ist dem Menschen un
moglich. Der Griff nach den Sternen steht unmittelbar bevor.
Da die Umsetzung der Bildzeichen-Architektur in den Stadtzentren erfolgte, geschah
das auf gewaltsame Weise. Urn .Baufreiheit" zu schaffen, muBten historisch wertvolle Ge-
Fremd sehen in der eigenen Stadt 61
lENA. Platz der Kosmonauten. 1988
62
baude gesprengt werden. Das neu zu Schaffende wurde als das Bessere apostrophiert Das
ging mit der Nichtachtung historischer Gebaudesubstanz einher.
In Jena waren bereits viele historische Gebaude dem Bombenangriff 1945 zum Opfer
gefallen. Teile des Marktes, WeigelstraBe, Rathausgasse, LobderstraBe und (ollegiengasse
sowie Teile der Leutra- und JohannisstraBe wurden zerstort Erhalten geblieben waren groBe
Teile der Johannis- und LeutrastraBe sowie der historische Eichplatz. Leutra- und Johannis
straBe waren GeschaftsstraBen, die von Westen her zum Markt fiihrten und voller Leben
waren. Der Eichplatz hatte seinen Namen nach einer machtigen Eiche, die neben dem 1883
von Adolf Donndorf geschaffenem Burschenschaftsdenkmal stand. Beide dominierten den
Eichplatz. Die Eiche muBte dem Bau des Universitatshochhauses weich en, das Burschen
schaftsdenkmal befindet sich heute - eher unauffallig - vor der Nordseite des Univer
sitatshauptgebaudes. Mit der Sprengung der Burger- und Geschaftshauser in der Leutra
straBe und an der Sudseite der JohannisstraBe sowie der Zerstorung des Eichplatzes wur
den nicht nur wertvolle Gebaude vernichtet, es wurde auch die Struktur der StraBen und
Platze, auf denen sich die Menschen in der Innenstadt bewegten, radikal verandert Und
es entstand der groBe Platz vor dem Universitatshochhaus, der meistens leer war, eine
Wunde im Herzen der Stadt
Die gewaltsame Umgestaltung der Jenaer Innenstadt ist von der Generation, die die
Stadt vor dem 2. Weltkrieg und der nachfolgenden Generation, die ihre Stadt mit den Nar
ben der Bombenschaden, aber noch dem Rest der Altstadt kannte, schmerzhaft wahrge
nom men worden. Darin zeigt sich die enge Beziehung, die zwischen Stadtgestalt und den
in der Stadt lebenden Menschen besteht
"Wenn zwischen den Hausern, den StraBen und den Gruppen ihrer Bewohner nur ei
ne rein zufallige Beziehung von kurzer Dauer bestande, konnten die Menschen ihre Hau
ser, ihre StraBenviertel. ihre Stadt zerstoren und auf demselben Grund eine andere Stadt
nach einem andersartigen Plan wieder aufbauen; aber wenn die Steine sich auch verset
zen lassen, so kann man doch nicht ebenso leicht die Beziehungen verandern, die zwischen
den Steinen und den Menschen entstanden sind. Wenn eine menschliche Gruppe lange an
einem ihren Gewohnheiten angepaBten Ort lebt, richten sich nicht nur ihre Bewegungen,
sondern richtet sich auch ihr Denken nach der Foige der materiellen Bilder, die ihr die
auBeren Gegenstande darbieten. Man lasse nun diese Hauser, diese StraBen, diese Durch
gange verschwinden oder teilweise verschwinden oder modifiziere ihre Anlage, ihre Form,
ihr Aussehen oder die Lage, die sie zueinander haben. Die Steine und Materialien werden
einem keinen Widerstand entgegensetzen. Die Gruppen aber werden Widerstand leisten,
und in ihnen wird man sich am Widerstand wenn nicht der Steine, so zumindest ihrer fruhe
ren Anordnung stoBen. Zweifellos ist diese fruhere Anordnung das Werk einer Gruppe ge
wesen. Was eine Gruppe gemacht hat, kann eine andere zerstoren. Aber die Absicht der
Fremd sehen in der eigenen Stadt 63
Menschen von damals hat in einer materiellen Anordnung, d.h. in einer Sache Gestalt an
genom men; und die Macht der lokalen Tradition entstammt dieser Sache, deren Bild sie
war." (Halbwachs 1985: 1331) Da viele Jenenser der alteren Generation das Stadtzentrum
vor dem 2. Weltkrieg und die Reste des alten Jena vor der Sprengung der historischen Ge
baude 1969 als inneres Bild in sich tragen, haben sie zu diesem Bild ein ungebrochenes
Verhaltnis: Ein gebrochenes Verhaltnis besteht jedoch vielfach zu dem, was sie als auBere
Realitat wahrnehmen.
Diese Kraft der inneren Bilder, die Macht der lokalen Tradition, von der Maurice Halb
wachs spricht mag eine Erklarung sein, warum inmitten der Demonstranten, der Transpa
rente und Sprechchore im Herbst 1989 plotzlich der Eichplatz wieder auftauchte. Der Platz,
der 1969 keinen Widerstand leisten konnte, war zwanzig Jahre spater plotzlich im Wider
stand der Gruppen lebendig und gegenwartig. Foigerichtig wurde im luge der Umbenen
nungen der StraBen und Platze der Platz der Kosmonauten in Eichplatz umbenannt Die Je
nenser hatten nun einen Eichplatz, aber ihren Eichplatz hatten sie nicht wieder.
Seit Beginn der neunziger Jahre ist dieser Platz nun an Markttagen belebt An unifor
men Marktstanden bieten mobile Handler Billigprodukte an, man kann gleichsam "ambu
lante GeschaftsstraBen" sehen, die tags daraufwiederverschwunden sind. Dann ist der Platz
so leer, wie auf JOrgen Hohmuths Fotografie aus dem Jahre 1988. Die Markthandler wei
chen nur, wenn Altstadtfeste angesagt sind, und Riesenrad, Geisterbahn und Karussells den
Platz beherrschen. Dann wirkt die Brunnenplastik am FuBe des Universitatshochhauses noch
verlorener als sonst Dabei war sie lange leit der einzig belebte Ort auf dem riesigen Platz.
1m Sommer wurde er von jung und alt genutzt Kleine Kinder planschten darin herum, Stu
denten saBen am Brunnenrand, ein Buch in der Hand, die FOBe im Wasser, und alte Leute
suchten in der Nahe des Brunnens KOhlung.
Mittlerweile ist die Anlage, die den Brunnen mit Wasser versorgte, defekt Urn das Geld
fOr die Reparatur der Brunnenanlage zu sparen, wurde auf Grund einer Festlegung der Stadt
verwaltung das einstige Becken mit Erde aufgefOlit und rings urn die Plastik mit Blumen
bepflanzt Die Brunnenplastik, die eine OrchideenblOte symbolisiert erschien, solange sie
sich aus dem Wasser erhob, einladend und lebendig. Jetzt da sie von StiefmOtterchen oder
Geranien umgeben ist die lebendigen Blumen die stilisierte Metallblote doppeln, wirkt sie
erstarrt Mit dem Wasser ist das Anziehende und Lebendige der Brunnenplastik ver
schwunden. Es sieht zwar "ordentlich" aus, aber kein Mensch bleibt mehr stehen, denn der
Brunnen wurde begraben.
Auch die Marktstande sind seit Sommer 1996 vom Platz verschwunden. 1m luge der
beginnenden Bebauung in der LobderstraBe sind sie in die JohannisstraBe abgewandert
Der riesige Platz dient nun als Parkplatz.
64 DIETMAR EBERT
Wenn bisher das fehlende Zentrum und damit die Ausbildung eines urbanen Milieus,
das der Tradition Jenas entsprieht, konstatiert wurde, so stellt sich die Frage, wie das unver
wechselbare Kulturklima in Jena vor dem 2. Weltkrieg zu beschreiben ist GewiB kann man
ein wenig von dem, wie das Leben im alten Jena funktioniert hat, auf historischen Fotogra
fien erkennen, aber vieles, was den Alltag bestimmte und wie man die Stadt als sozio-kul
turellen Raum genutzt und empfunden hat, laBt sich nur noch aus Lebenserinnerungen re
konstruieren. Was war das Besondere, vielleicht sogar Geheimnisvolle, das die alten StraBen
und Gassen ausstrahlten? Ober die westlieh des Marktplatzes gelegene Rathausgasse, de
ren nordlicher Fluchtpunkt der Turm der Stadtkirche St Michael war, erzahlt Bernhard Wach
ter: "Die Rathausgasse hat mich als Knabe sehr fasziniert, schon wegen der Geruche. Ais
ich einmal im Orient war, dachte ich: Rathausgasse Jena. Da mischten sich die Dufte von
Textilien, von frischem Leder, das noch nicht ausgelUftet war, von Bonbons, SuBigkeiten und
von Gewurzen, es war ein seltsames Durcheinander und vie I Luft war ja in dieser engen
Gasse auch nicht drin. Aber obwohl sie doch so eng war, war eigentlich immer Betrieb da
drin, es waren uberall kleine Geschaftchen" (Wachter 1996: 1).
Das waren Erinnerungen an die Rathausgasse, die beim Bombenangriffvollstandig zer
stort wurde. Verlief die Rathausgasse parallel zum Marktplatz in Nord-Sud-Riehtung, so bil
deten Johannis- und LeutrastraBe von Westen her den Zugang zum Marktplatz.
"Die Leutra- und die JohannisstraBe, die waren das Herz des lebenden Verkehrs. Auf
dem Marktplatz kam man zum Stehen, aber dort war er lebend, allerdings nicht hastig ...
Auf der JohannisstraBe, und ieh kenn das ja nun als Pennaler, dort war der Bummel. Man
ging vom Johannistor zum Stadtkirchenturm und dann andersrum wieder rauf, auf der ei
nen Seite die Gymnasiasten, Oberrealschuler nicht so viele, Gymnasiasten eigentlich aile,
auf der anderen Seite die Lyzeumsmadchen, man guckte mal rOber, da wurde man rot, oder
ein Madchen wurde rot, aber man drehte sieh auch rum, tat aber so, als ob man's nicht ta
te. Das hatle seinen Reiz, vor allem in der Tanzstundenzeit Das war ein regelrechter Ritus,
und das gab der JohannisstraBe noch eine besondere Bedeutung .. " Die JohannisstraBe hat
te lauter Geschafte, die waren frequentiert In der JohannisstraBe gab es von Backwaren bis
zur Brille alles zu kaufen, und es gab dort das Cafe Wienke, das nahezu provinzgroBstad
tisches Flair verbreitete, weil da zwei oder drei mOde Streichinstrumentenspieler und ein
nicht mehr sehr frischer Klavierspieler waren, die machten mitunter ganz zarte und zag
hafte Musik, wobei Tango das Dollste und Modernste uberhaupt war. '" Ja, das war die Jo
hannisstraBe, wahrend die LeutrastraBe genauso wie die JohannisstraBe stark frequentiert
war. Dort gab es noch mehr Geschafte, und da gab es die Lederhandlung Rieken, es gab
Uhren und sonstwas, und es gab am Ende, nach dem Markt zu, rechterhand, das Cafe Ger
mer, das beruhmteste in Jena, mit dem beruhmtesten Eis, wo man wenigstens einmal im
Jahr festlich Eis gegessen haben muBte .. ,. Aber selbst nach dem Kriege war noch einiges
Fremd sehen in der eigenen Stadt 65
an Leben vorhanden in Leutra- und JohannisstraBe, denn sie sind zum erheblichen Teil ja
stehen geblieben" (Wachter 1996: It).
GewiB wird das alte Jena, wie es in den Erinnerungen von Bernhard Wachter lebendig
wird, nicht wieder entstehen, werden die zerstorten historischen Gebaude nicht mehr auf
gebaut werden konnen. Entscheidend ist jedoch, daB in der Innenstadt eine intakte Struk
tur der StraBen, Gassen und Platze mit Geschaften, Cafes und Gaststatten vorhanden war,
die Innenstadt immer belebt war.
Wenn von einer Revitalisierung der Innenstadt gesprochen wird, so kann das Ziel nur
die Wiedergewinnung der Stadtmitte sein. Es muB eine Bebauung des zentralen Platzes er
folgen, und es mOssen in der Stadtmitte kleine Geschafte aller Branchen, Gaststatten, Cafes,
Wohnungen sowie Statten der Kultur und Kommunikation entstehen. Es ist erforderlich, die
innerstadtischen Wegestrukturen so zu gestalten, daB die frOheren StraBen ihre Funktionen
fOr die innerstadtischen FuBgangerstrome wiedererlangen. Das ist die Voraussetzung, urn
ein pulsierendes, aber nicht hektisches Leben in der Innenstadt zu ermoglichen. Ein solcher
Rhythmus wird der Gradmesser sein, der anzeigt, ob es gelingt, die Innenstadt wieder mit
Leben zu erfOlien.
1st die Wiedergewinnung der Stadtmitte moglich, wenn das Universitatshochhaus er
halten wird? Kann die alte Struktur der StraBen, Gassen und Platze wiederhergestellt wer
den und kann sich ein der Innenstadt entsprechender Rhythmus herausbilden, wenn die
Funktion des Hochhauses als stadtbildpragende Dominante bestehen bleibt?
Die Frage, ob das Universitatshochhaus abgerissen oder saniert werden soli, beschaftigt zur
Zeit den Jenaer Stadtrat wie die Stadtbewohner.
Bis 1997 werden aile Institute der Friedrich-Schiller-Universitat das Hochhaus verlas
sen haben, weil die Arbeitsbedingungen fOr Wissenschaftler und Studenten ungeeignet wa
ren und die Unterhaltungskosten des Hochhauses das Budget der Universitat belasten.
In diesem Kontext veranstaltete die Lokalredaktion der ThOringischen Landeszeitung
im Mai 1996 eine Leserumfrage, ob der .Uni-Turm" abgerissen oder saniert werden soli und
welche Nutzung im Faile einer Sanierung fOr sinnvoll erachtet wird. Ober 500 Leserbriefe
erreichten die Redaktion, wobei sich eine knappe Mehrheit fOr die Sanierung des Hoch
hauses ausgesprochen hat Vor allem die jOngere Generation, ob in Jena geboren oder zu
gezogen, mochte den Turm erhalten wissen. Aber auch Menschen, die den AbriB der histo
rischen Gebaude schmerzlich erlebt haben, sind heute der Meinung, daB sie sich an das
Universitatshochhaus gewohnt haben. Die Gewohnung an eine solche stadtbildpragende
Dominante ist ein deutliches Symptom jener "taktilen Rezeption", d.h. der beilaufigen und
zerstreuten Wahrnehmung stadtischer Raume, von der Walter Benjamin gesprochen hat (vgl.
Benjamin 1991: 504). FOr die jOngere Generation, die Jena nur so kennt, wie es sich heute
darbietet, wOrde ein AbriB des Universitatshochhauses ahnlich schmerzhaft sein wie der
66 DIETMAR EBERT
JENA. Eichplatz. 1995
67
AbriB der historischen Gebaude 1969 es fUr die altere Generation war. Auch wenn taglich
ein verschandeltes Stadtbild wahrgenommen wird, so richtet sich doch, um mit Maurice Halb
wachs zu sprechen, das Denken nach der Abfolge der Bilder, die die Generation aufge
nom men hat die mit dem Universitatshochhaus groB geworden ist Fur sie ist es ein Wahr
zeichen der Stadt oder zumindest ein Stuck Architektur, das man nicht als storend empfin
del, weil es zum alltaglichen Erscheinungsbild gehort Phantasiereich sind die Vorschlage fUr
die Nutzung des sanierten lurmes. Sie reichen von Oko-Bank, Heliodrom, Patentamt und Disko
thek bis zum "technischen Rathaus", das aile Amter der Kemverwaltung beherbergen 5011.
Fur die BefUrworter des Abrisses ist das Universitatshochhaus ein Storfaktor im Stadt
bild. Die historischen Gebaude um den lenaer Marktplatz und in der 10hannisstraBe sind
in Hohe und Proportion in den die Stadt umgebenden Landschaftsraum hineingebaut wor
den. Blickt man von der Nordseite des Marktes auf die gegenuberliegende Hauserzeile, so
sieht man uber den Dachem die Berghange um lena. Stadt- und natiirliche Landschaft ste
hen in einer ausgewogenen Proportion zueinander. 1m Gegensatz dazu wurde das Univer
sitatshochhaus nicht in den Landschaftsraum hineingebaut, sondern dagegen gesetzt Mit
der Errichtung des Hochhauses ging nicht nur die Stadtmitte verloren, es wurde auch die
durch lahrhunderte gewachsene Proportion von Stadt und Landschaft zerstort
Ein leil derer, die fur den AbriB des Universitatshochhauses votieren, erhebt die gewiB
nicht realisierbare Forderung nach Rekonstruktion der alten Gebaudesubstanz, ein anderer
leil besteht auf einer Bebauung der Innenstadt, die dem historischen StadtgrundriB Rech
nung tragt
Ob der AbriB oder die Sanierung des Hochhauses erfolgen wird, werden letztlich die
Kosten entscheiden, die sie verursachen. In einem bisher vorliegenden Gutachten, von der
Jenoptik-Bau GmbH in Auftrag gegeben, wurden die Kosten, fUr die Sanierung des Hoch
hauses mit Stadtverwaltung, Multiplexkino, Einzelhandel, Buros und Wohnungen errechnet
und einem Konzept gegenubergestellt, das im Faile des Abbruchs des lurmes eine ahnli
che Bebauung, allerdings ohne "technisches Rathaus" vorsieht In diesem Gutachten wird
eingeschatzt, daB der AbriB des Hochhauses und die Neubebauung des Areals entschieden
kostengunstiger sei als dessen Sanierung und Betreibung. Das Land lhuringen wird als Be
sitzer des Hochhauses weitere Gutachten einholen und nach einem Investor suchen, der
die kostengunstigere Variante umsetzen wird. Das schlieBt eine europaweite Ausschreibung
des Universitatshochhauses ein, um doch noch einen Investor zu finden. Ob es eine Mog
lichkeit geben wird, das Hochhaus zu sanieren und so preisgunstig zu vermieten, daB die
Stadtverwaltung an diesem Ort konzentriert werden kann, ist derzeit vollig offen. Sollte ei
ne solche Variante uberhaupt moglich sein, so werden die Stadtrate zu entscheiden haben,
ob die stadtische Kernverwaltung in das Hochhaus einziehen 5011.
68 DIETMAR EBERT
Die Entscheidung, ob das Universitatshochhaus abgerissen oder saniert werden soli, ist
jedoch nicht allein eine Rechenaufgabe, sondern das brisanteste Problem der Stadtent
wicklung und -gestaltung, das es in Jena zu IBsen gilt Gleichviel wie die Entscheidung fal
len wird, was in Jenas Mitte erhalten werden oder entstehen soli, sie wird die Funktions
fahigkeit und das Bild der Stadt bis weit ins nachste Jahrhundert bestimmen.
So vernOnftig die Nutzung des Hochhauses als technisches Rathaus auch sein mag,
seine Kombination mit Handelseinrichtungen, Kino und Wohnungen wOrde, wie immer das
architektonisch gelost wOrde, die stadtbildpragende Dominanz des Universitatshochhauses
eindeutig verstarken. Damit ware die Wiedergewinnung der Stadtmitte unmoglich.
Aus diesem Grunde votiere ich fOr den AbriB des .Uni-Turmes", weil damit das .ZurOck
bauen" einer Innenstadt mit begrenzter Flache auf das ihr adaquate MaB moglich wOrde.
Wenn nach knapp 30 Jahren das Jenaer Universitatshochhaus abgetragen wOrde, so ware
das ein Signal der Abkehr vom Bildzeichen, das es verkorpert Der AbriB ware ein notwen
diger Eingriff in den stadtischen Organismus, urn das gesamte Areal westlich des Marktes
entsprechend des historischen Stadtgrundrisses, einschlieBlich der Struktur des Eichplatzes,
als Ganzes gestalten zu konnen.
Insofern ware der AbriB des Universitatshochhauses nicht zu vergleichen mit der
Sprengung der historischen Gebaude in Leutra- und JohannisstraBe, die die Aura vergan
gener Jahrhunderte ausstrahlten. Das war ein Eingriff in das steingewordene kulturelle
Gedachtnis Jenas.
Sollte es zu einer Neubebauung des gesamten Platzes, einschlieBlich der Flache, auf
der das Universitatshochhaus steht kommen, so wird ganz sicher ein stadtebaulicher
Wettbewerb ausgeschrieben werden. Dabei konnte eine Jenaer Tradition, die den Bau stadt
bildpragender Gebaude wesentlich bestimmt hat aufgegriffen werden. Ais Theodor Fischer
zu Beginn unseres Jahrhunderts das Universitatshauptgebaude erbaute, hat er mehrfach
das architektonische Ensemble, in dem die Universitat ihren Ursprung hatte, das Collegium
Jenense, einschlieBlich der Collegienkirche, bewuBt zitiert Auch kOnftig konnten im Zen
trum Jenas an neu entstehenden Gebauden Spuren der Vergangenheit sichtbar gemacht
werden, indem bewuBt historische Bauten zitiert werden. Werden beim Entwerfen moder
ner Gebaude Elemente zerstorter oder erhaltener Hauser bewuBt zitiert so konnen urbane
Raume entstehen, die fernab historisierenden Bauens oder postmoderner Spielerei und Be
liebigkeit in Spuren die VergangenheitJenas lebendig werden lassen und zugleich ein Stadt
bild mitpragen, das die Identitat des Ortes verstarkt
Die Wiedergewinnung der Mitte in Jenas Innenstadt ist auch deshalb erforderlich, weil
sich rings urn die Innenstadt ein erweitertes Stadtzentrum herauszubilden beginnt Es ist
absehbar, daB in den nachsten zehn Jahren ein Ring urn die Innenstadt entstehen wird, in
Fremd sehen in der eigenen Stadt 69
JENA. Eichplatz. 1996
70
dem sich Verkaufseinrichtungen, offentliche Gebaude, Kultur- und wissenschaftliche Ein
richtungen befinden werden.
Das bisher markanteste Beispiel ist die im Fruhjahr 1996 eroffnete "Goethe-Galerie".
Sie umfaBt das Areal des fruheren Zeiss-Hauptwerkes. Unter Einbeziehung der denkmal
geschutzten Industriebauten entstand ein modernes innerstadtisches Quartier, das Ein
kaufspassagen, ein Hotel und Teile der Friedrich-Schiller-Universitat sowie der Fachhoch
schule Jena beherbergt GewiB ist es bedauernswert, daB an diesem Ort keine hochwerti
gen optischen Produkte mehr hergestellt werden. Schaut man sich jedoch diesen modernen
innerstadtischen Einkaufs- und Dienstleistungskomplex naher an, so ist es derzeit der ein
zige Ort in Jena, an dem urbanes Leben funktioniert Zugleich werden Passanten- und Kau
ferstrome aus dem Innenstadtbereich in die Goethe-Galerie gelenkt was den Einzelhand
lern, die bereits gegen die Konkurrenz der Einkaufszentren an den Stadtrandern zu kamp
fen haben, zusatzliche Schwierigkeiten bereitet
Sollte es nicht gelingen, die Jenaer Innenstadt schnell zu revitalisieren, so werden
sich fragmentarisch urbane Zellen rings um das Zentrum bilden. Eben darum ist es not
wendig, ein schlUssiges architektonisches Konzept fur die Bebauung des Stadtzentrums
westlich des Marktes zu entwickeln.
Aus meiner Sicht ist fur die Herausbildung eines funktionierenden Stadtorganismus eine
Innenstadtbebauung ohne Universitatshochhaus, die Wiederbelebung der alten Struktur der
StraBen, Platze und Gassen, der funktionierende Obergang von Innenstadt und erweitertem
Stadtzentrum und das Sichtbarwerden von Spuren der Vergangenheit im neuen Stadtzen
trum wunschenswert Das birgt die reale Chance eines urbanen Kulturklimas und eines pul
sierenden Lebensrhythmus' in Jena.
lllERATUR Benjamin, Walter 1991: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier
barkeit (Dritte Fassung). In: Gesammelte Schriften (Sigle: GS), Band 1.2. Frankfurt a.
Main: Suhrkamp
Halbwachs, Maurice 1985: Das kollektive Gedachtnis. Frankfurt a. Main: Fischer
Schmidt, Elker 1996: Die unertragliche Last der StaatsbOrgerschaft (Jenas WeiBer Kreis,
ein herzerfrischendes Uberlisten des Staatsapparates). In: Gerbergasse 18, Forum fur
Geschichte und Kultur (Hrsg.: Geschichtswerkstatt lena e.v. in Zusammenarbeit mit
dem Landesbeauftragten ThOringen fur die Stasi-Unterlagen) 1 (1996) 2
ThOringische Landeszeitung (Lokalseiten lena) yom 9., 15., 23. und 30. Mai 1996
Topfstedt, Thomas 1988: Stadtebau in der DDR 1955 - 1971. Leipzig: Seemann
Fremd sehen in der eigenen Stadt 71
JENA. Eichplatz. 1995
72
BILDER VOM TRANSIT Uber den Zustand ostdeutscher Stiidte
Iris Reuther
73
ANNAHERUNG
Ein Bild von Hirgen Hohmuth, das er 1988 in der Charlotte-Schlippen-Stral3e in Jena
aufgenommen hat, zeigt den hinteren leil eines seltsam geformten Fahrzeuges, das offen
bar durch den Umbau eines Kleintransporters der Marke .Robur" zustandekam. Jemand hat
te die seitlichen Fenster zugeschwemt und damit dem Gefcihrt einen beinahe hilflosen Aus
druck verliehen. Das Auto ist halb auf dem Biirgersteig einer schmalen griinderzeitlichen
Stral3e abgestellt Auf seiner Oberflache und der dahinterliegenden Hauswand ist der Son
nenschatten von Fenstern der anderen Stral3enseite zu sehen. Es ist wochenendstill hier.
Das kann natiirlich an den zahlreichen nicht mehr bewohnten Gebauden liegen. 1m rech
ten Haus hinter dem Auto sind im Erdgeschol3 die Fensterladen geschlossen und im ersten
Stock fehlen Gardinen. Aul3erdem deutet der zusammengewehte Stral3enunrat vieler Mo
nate dicht neben der Eingangstiir auf fehlende Mieter oder Hauseigentiimer. Die Sockel
mauer des Hauses zeigt die Spuren aufsteigender Feuchtigkeit und erinnert an die Atmo
sphare der Hausflure. 1m Friihjahr, wenn es das erste Mal warm wird, ist es dort unge
wohnlich kiihl und im Herbst riecht man die Blatter und heruntergefallenes Obst aus den
riickwartigen Hofen. So war es in solchen Stral3en und Gegenden scheinbar schon immer
und dal3 es so bleiben wiirde, schien unertraglich, aber beinahe unausweichlich.
Am meisten riihrt mich auf dem Bild noch immer jenes handgeschriebene weil3e Wort
auf der Fahrerseite des Autos. Dort steht in etwa einem dreiviertel Meter hohen Buchstaben
der Name: ROSA. Was fur ein zartliches Wort fur ein solches Ungetiim an Fahrzeug. Grol3-
buchstaben und Schriftart gleichen Losungen aufTransparenten oder Wandzeitungen. Das
Auto konnte ein zugeschwemter Polizeitransporter sein. So gehort fur mich jener Vorname,
der eine Farbe und eine Blume assoziiert, zu Rosa Luxemburg. Ihre Worte von der Freiheit,
die auch immer die Freiheit der Andersdenkenden meint, setzten im Januar 1988 auf einer
Berliner Demonstration ein Zeichen. Jene, die das Zitat verwendet hatten, waren festge
nom men und in den Westen abgeschoben worden. Nun gentigte ein kleines Wort mit vier
Buchstaben fur eine Botschaft iiber diesen ungeheuerlichen Vorgang. Gewi13 wohnte ihr Au
tor in einem der unsanierten alten Hauser mit den grol3en Wohnungen ohne lelefon. Wie
viel Mut und Ohnmacht steckt in einem solchen Ansinnen, die Nachricht auf einem Auto
zu transportieren, weil es keine Kopierer fur ihre Verbreitung gibt und die Zeitungen darii
ber nicht berichtenen.
So konnte man die Zeichen der Zeit im offentlichen Raum der Stadt kurz vor der "Wen
de" lesen. Sie deuteten auf Ve rfa II und Ignoranz, zeugten aber ebenso von informeller Kraft
und Sehnsucht Gerade diese alten Stral3en des industriellen Zeitalters erinnerten an die
Wurzeln der eigenen Situation und verwiesen auf einen unhaltbaren Zustand der Gesell
schaft, die tiber ihre Verhaltnisse lebte und keine Kraft mehr hatte, ihren angeeigneten Be-
74 IRIS REUTHER
JENA. SchlippenstraBe. 1988
75
DESSAU. 1995
76
sitz zu erhalten, geschweige denn zu erneuern. DaB es auch nicht im Vermogen jener stand,
die 1988 oder 1989 Schilder malten, steht auf diesem Bild bereits geschrieben. Aber das
wird erst jetzt lesbar. Der fotografisch festgehaltene Augenblick in einem Bildarchiv erweist
sich als RohstofffUr den ersten archaologischen Blick auf einen authentischen Schauplatz
des Umbruchs in den Stadten der ehemaligenDDRunddesheutigenOstdeutschlands.Er
vollzog sich zwischen den spaten achtziger lahren und den mittleren neunziger lahren wie
ein zu schnell ablaufender Film, in dem die Beteiligten die Schauspieler und Zuschauer zu
gleich waren.
Wahrend das Bild aus lena noch den alten Zustand wiedergibt, zeigt ein 1995 im Des
sauer Stadtzentrum entstandenes Foto schon das Neue und anders Gewordene. Wieder er
regt ein Vorname meine Aufmerksamkeit: NICKI. Er assoziiert in seiner amerikanisierenden
Androgynitat ein Come back der siebziger Jahre und steht gleich dreimal auf einer halb
metergroBen Ankundigungstafel fUr eine Veranstaltung, die am 7. Oktober stattflnden 5011.
Das uber einen Kopierer hergestellte Pia kat ist etwas fluchtig auf eine Hartfaserpappe ge
heftet worden, die in knapper Augenhohe mittels einer Schnur am Masten einer StraBen
leuchte befestigt wurde. An dieser Stelle tragt der Beton die Spuren vorangegangener Nach
richten oder Werbungen. Ansonsten scheint sich an diesem Ort wenig verandert zu haben.
Das Gebaude auf der gegenuberliegenden StraBenseite wurde offenbar noch nicht saniert
Es ist ein fUnfgeschossiger Block aus den sechziger Jahren mit einer gleichformigen Rei
hung dreigeteilter Fenster. An dieser Kreuzung zweier BundestraBen mitten im Zentrum der
GroBstadt Dessau wohnen direkt uber einem Geschaft noch immer ganz normale Leute, wie
an den verschiedenen Wohnzimmergardinen und den Kuchenfenstern uber dem Gebau
deeingang zu erkennen ist Die in groBen Lettern auf einzelnen quadratischen Medaillons
angekundigte "Buchhandlung am Museum" nimmt einen erheblichen leil des langge
streckten Eckgebaudes ein. Diese Hauszeile an einer Magistrale fUlite offen bar eine im Krieg
entstandene groBe Lucke in der historischen Altstadt, wie sie in Fragmenten um die Ecke
noch zu erkennen ist Weder ein Bodenpreis, noch die Vorgabe einer Bauflucht haben die
Dimensionierung und Positionierung der Bebauung an der sogenannten Museumskreuzung
von Dessau beeinfluBt Mitte der sechziger Jahre sollte eine neue Stadtstruktur mit Woh
nungen und einer angemessenen Versorgung fUr die Werktatigen entstehen. Deshalb
wurde eine fUr marktwirtschaftliche Verhaltnisse riesige Buchhandlung direkt am Museum
in einer simplen Wohnzeile eingerichtet Die unbeholfene Proportion der Fenster, die har
ten Kontraste der Farbgebung und die verwitterte Oberflache der Betonfassade bringen die
Macht des Banalen jener landesweit verbreiteten Bauart zum Ausdruck. Darin liegt ein Stuck
gebauter Programmatik des sozialistischen Stadtebaus, wie er sich aus einem ideologischen
Prinzip, einer starren Bauweise und einem Blick nach Westen ergab, wo gerade eine
Bilder vom Transit 77
Stadtentwicklungsphase nach dem Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt zu
Ende ging.
Noch immer teilen sich an dieser Kreuzung Autos, Radfahrer und Passanten den
StraBenraum. Bei genauerem Hinsehen ist zu erkennen, daB der StraBenbelag, die Pflaste
rung, aber auch die Ampelanlage und die Haltestellenuberdachung vor nicht allzulanger
Zeit erneuert wurden. Allerdings haben parkende Autos oder anfahrende Lieferfahrzeuge
die kleinformatigen Betonplatten bereits wieder zerbrochen.
Wer aber ist Nicki? Und warum fallt mir das Datum auf dem Pia kat sofort ins Auge?
Doch weder der Name, noch die abgebildete Person losen irgendein weitergehendes Inter
esse aus. Ich kann nicht gemeint sein, weil ich in Dessau nicht in ein Pop-Konzert oder ei
ne Disco gehen werde. Und auch das Grundungsdatum der ehemaligen DDR deutet nach
einer blitzartigen Vergewisserung auf keinen besonderen Tag mehr. So war der genaue Blick
nicht notwendig. Aber einfach wegsehen geht auch nicht Dieses Pia kat kann mir schon an
der ubernachsten StraBenleuchte wiederbegegnen, genau wie die H&M-Werbung in allen
Stadten zugleich in den Schaukasten der Haltestellen auftaucht oder die "Momente mit Wer
nesgruner Bier" fUr ein bis zwei Wochen die mannshohen Werbeflachen vor Einfriedungs
mauern oder freistehenden Giebeln fUlien.
Bemerkenswert an Nicki ist nur, daB sie erst auf dem Situationsbild eines Fotografen
zu entdecken ist Das Pia kat wurde nicht in der Perspektive der Passanten an der Kreu
zung plaziert, sondern in der Blickrichtung wartender Rechtsabbieger. Der Stadtraum hat
sich mit Botschaften gefUllt, die vor allem aus dem voruberfahrenden Auto wahrnehmbar
sind. Ihre Information en sind auf einzelne Worte, Namen, Buchstabenkombinationen oder
markante Schriftzuge reduziert, so daB sie den schnellen Blick einfangen konnen. Befe
stigungshohe und Grof3e von Bildausschnitten oder Schriften werden mit dem Abstand zur
StraBe und der Fahrerperspektive abgestimmt So kann es Fuf3gangern passieren, daB sie
auf den Burgersteigen mit uberdimensionierten Korperteilen Blickkontakt aufnehmen mus
sen oder Schriften uber ihren Kopfen gar nicht vollstandig - wenn uberhaupt - wahrneh
men konnen.
Die Ausmaf3e des Strukturwandels werden als Information im befahrbaren offent
lichen Raum ablesbar. Je aufWendiger und wichtiger die Aufmachung, umso teurer das
Angebot; je kleiner und seltener die Schilder, umso weniger ist zu erwarten oder
zu verkaufen. Wahrend man in den landlichen Regionen, ausgedehnten Wohnsiedlungen
oder aufgelassenen Industriearealen die Gebaude und Freiraume wahrnimmt, so liest
man sich an den Ausfallstraf3en der Stadte durch eine beschriftete Oberflache, die Ge
baude und Bauwerke verdeckt oder einhullt Vor allem an Kreuzungen, Kurven und Ein
mundungen ist noch etwas zu lesen. An den Autobahnen oder BundesstraBen fallen nur
einpragsame Zeichen fUr einen Moment ins Auge. 1st der Firmenname unbekannt, so deu-
78 IRIS REUTHER
tet in jedem Fall die signifikante Form des Gebaudes oder die Ansammlung mit anderen
Marken auf das Angebot hin.
Fotografische Abbilder eines solchen Zustandes von Stadtraumen sind analog zu den
dort benutzten Zeichen und Formen vieldeutiger geworden. Die Dokumentation von Ein
zelheiten lauft Gefahr, Belanglosigkeiten oder Beliebigkeit wiederzugeben. Eine Wahrneh
mung und Deutung der Bilder von Nicki oder Momenten mit Wernesgriiner erfordert sehr
genaues Hinsehen. In den aberwitzigen, historisch iiberformten Stadtraumen ist die Chro
nologie mehrfacher Wandlungen festgehalten, die sich mindestens auf die Zeitraume vor
1945, vor 1989 und die partielle Dynamik der 90er Jahre beziehen.
EINE REISE IN DIE ZEIT
Wie eine genaue Betrachtung zeigt. kann die zeitliche Bindung zwischen noch und
schon iiber Fotos als Momentaufnahme der Realitat hergestellt und sichtbar gemacht wer
den. Die Abbildungen aktivieren das Gedachtnis und verkniipfen sie mit Erinnerungen. Da
mit werden Stadtraume, Gebaude und vergangene Zustande von Oberflachen und Details
vor dem totalen Verschwinden gerettet (vgl. Ullmann 1993). In ihrer Immaterialitat als Bild
geben sie Gelegenheit zum Abschied und vergewissern dennoch einen stattgefundenen ge
schichtlichen Ablauf und eine spezielle Geographie der Erfahrung in den abgebildeten Stadten.
Die alteren Bilder aus den achtziger Jahren verdeutlichen die Krisenhaftigkeit der Si
tuation in den Stadten der DDR. Sie berichten von einem iiberstrapazierten Prinzip des for
distischen Zeitalters, das soziale Unterschiede zu verwischen suchte und dabei nur ver
starkte, und das die Unfcihigkeit zur Selbstreftexion leugnete. Der Nutzer von Stadt war der
normierte Nutzer schlechthin. In den kaum iiber Marktmechanismen organisierten Raumen
hatten sich die iiberholten Standards genauso wie die informellen Bewaltigungsstrategien
der Betroffenen als Ausdruck gesellschaftlicher Agonie eingetragen. Das bezeugt ein Bild
des friiheren Romanjuk-Platzes in Dessau, wo sich auf einer Flache zwischen zwei Wohn
scheiben aus den sechziger Jahren direkt neben dem Rathaus iiber mehrere Jahrzehnte ein
leerer Raum erhalten hatte, den sich anliegende Autobesitzer, Passanten iiber Trampel
pfade und Besucher eines winzigen Wochenmarktes mit ein paar Buden teilten, aber kaum
zur Halfte ausfiillten. Die Bilder aus den neunziger Jahren geben einen wieder angeeigne
ten, in Ansatzen segregierten und iiber Zeichen codierten offentlichen Stadtraum wieder,
der den Nutzer als unbekannten Konsumenten definiert Deregulierung hat die Bedeutun
gen und Nutzungsintensitaten der Stadtraume polarisiert und in Strange oder Punkte ein
geteilt. die von unsichtbaren Netzen und Raumen iiberlagert oder sogar durchkreuzt wer
den. Die Trampelpfade im Dessauer Stadtzentrum sind Ladenzonen eines Rathauscenter ge
wichen. Den gesamten Platz fiillen mehrere Etagen vermietbarer Gewerbe- und Biiroftachen.
Bilder vom Transit 79
Da, wo es fruher leer war, ist der Stadtraum jetzt gefiillt Und da, wo sich fruher Leute drang
ten, wie es am heruntergetretenen Pflaster eines ehemaligen Fabrikeinganges noch zu ah
nen ist, wurde das Tor zugemauert Hinter den Mauern der ausgedehnten Industrieareale
ist es jetzt leer.
Obertlachlich betrachtet, ist mit einem Blick zuruck der Stillstand einer Art Beschleuni
gung gewichen. Aber, es ist nicht alles anders geworden und betrifft immer nur Teile der
Stadt, die einer ganz bestimmten Lebenssituation entsprechen. Der Mythos von Verande
rung pragt die Wahrnehmung eines am ersten Arbeitsmarkt beschaftigten, motorisierten,
kinderlosen Erwachsenen. Seine Stadt hattatsachlich ein neues Gesicht, andere Obertlachen,
schnellere Wege, inflationare Informationen und globalere Einflusse. Fur diesen Teil der Be
wohner ostdeutscher Stadte hat sich der Strukturwandel baulich manifestierf, seine Ein
drucke und Erfahrungen erreichen Kapazitatsgrenzen. Aus seinem Bildgedachtnis repro
duziert sich ein verbreitetes Urteil uber die Transformation, das mit den Attributen einer stra
paziosen Dynamik von Tempo bis Wahnsinn verse hen werden kann. Aber auf den Bildern
von 1995 sind seine Vertreter kaum zu entdecken. Sie sind mit der Kamera eines zu FuB
gehenden Fotografen im offentlichen Stadtraum kaum zu finden, weil sie sich in ihren pri
vaten Mobilen bewegen oder in von Barrieren abgegrenzten Raumen aufhalten. In den ko
stenfreien Landschaften der Stadt auf den Burgersteigen, an den Haltestellen, in den Grun
anlagen und auf den Vorplatzen von GroBmarkten bewegen sich haufiger die anderen, die
Alten, die Kinder, die Autolosen, die Unbeschaftigten. In ihrer Umgebung zeigen sich viel
weniger Spuren der Erneuerung, deutlichere Zeichen unterschiedlicher Standards oder fast
unveranderte Situationen.
SCHAUPL.ATZE DER TRANSFORMATION
In den traditionellen Stadtzentren und Konzentrationspunkten des offentlichen Lebens
haben sich Marktmechanismen, kulturelle Bruche und ein Instandsetzungsstau in das
Stadtbild eingetragen. Eine Auswahl offentlicher Gebaude ist uber eine politisch optionier
te Steuerung in einen verbesserten Zustand versetzt worden. Aufverfugbaren Brachflachen,
in geeigneten Gebauden und an Schnittstellen erwarteter Kundenstrtime haben Handels
und Dienstleistungsunternehmen und vor allem Banken und Geldinstitute ihren natur
gemaBen Platz eingenommen. Insgesamt haben ein uberhitzter Bodenmarkt und ein spe
kulatives Bauverhalten die Innenstadte verandert Neue oder auch nur erneuerte Gebaude
sind in ihren vermietbaren Nutzflachen sichtlich oder sogar maBstabverandernd vergroBert
worden. Hinter mehreren Altstadtfassaden verbergen sich haufig durchgehende GeschoB
flachen und die ausgebauten Dacher lassen die Hauser nicht groBer, sondern eher zu eng
fUr ihre volumintisen Inhalte erscheinen. Die Grundstucksausnutzung zielt wieder in die Tiefe
80 IRIS REUTHER
und kaum eine groBere Stadt hat inzwischen nicht eine Passage oder ein blockweites Cen
ter, fur das Bezeichnungen wie "BOropraxenu oder "Wohnanteilu eingefuhrt wurden.
Die Konkurrenz der Innenstadte mit den schneller verfiigbaren und kostengOnstigeren
Einzelhandelstlikhen auf neu erschlossenem Gelande hat sich in beinahe allen groBeren
ostdeutschen Stadten an der Peripherie verraumlicht Die Stadte erweisen sich als zu klein,
ihre historischen Strukturen als zu teuer fur die nachzuholende Modernisierung. An den
Stadtrandern oder auf groBen zusammenhangenden Bautlachen hat sich eine neue Ge
baudegeneration angesiedelt deren Raume zu HOlien vertlacht sind, die als geschlossene
farbige Obertlache Trager medialer Botschaften werden. Diese eher autistischen Gebilde las
sen sich aufwenige typologische Elemente reduzieren und variieren das Thema einer Kiste
mit zentralem oder Ober Eck plaziertem zeichenhaften Eingangsportal, das in der Regel den
vorgelagerten Parkplatz Oberragen muB. Die eingeschossigen Bauwerke geben einen ge
nau dimensionierten Bruttorauminhalt wieder, der unter Optimierung von Tragkonstruktio
nen und GebaudehOllen inzwischen fast dem MaB der verfiigbaren Nutztlache gleichkommt
Sollte ein Hochregallager seine Kapazitatsgrenzen erreichen, so kann auf der dafur vorge
sehenen Seite in wenigen Tagen ein weiteres Feld angefugt werden und die HOlle ent
sprechend vergroBert werden. Eine effektivere Form der Gebaudeherstellung ist kaum
noch denkbar.
Diese Gehause sind Ereignisarchitektur. Die Geste der Offnung - das ist ein Glasportal -
verbindet sich mit der Szenerie der Eroffnung. Beides wird in der Werbung benutzt Das Bild
des Eingangsportales erscheint als gedruckte Vignette und die Eroffnung findet in Verkaufs
aktionen ihre Fortsetzung. Erschreckend ist der rasche moralische und physische VerschleiB
dieser Architektur, der mit der Neueroffnung eines Konkurrenten beginnt und an den bald
schon ramponierten Blechverkleidungen oder der rasch verblassenden Farbe der Au Ben
wande ablesbar wird. Diese .. neuen Mitten" der Stadte haben Zentralitaten und Bedeutun
gen der Stadte verandert Sie sind in den Schwerpunkt individueller und z.T. auch offentli
cher Verkehrswege gerOckt und haben Raum-Wege-Zeiten ganzer Regionen verandert Sie
sind Objekte neuer Stadterfahrung und Aufenthaltsorte einer transformierten Stadtbevolke
rung. Hier finden Familienleben, Gruppenaktionen und Kontaktaufnahme statt Selbst auBer
halb der Geschafiszeiten halten sich hier zahlreiche Passanten auf, Jugendliche nutzen die
befestigten Flachen und in den Fastfood-Restaurants werden Kindergeburtstage gefeiert
Diesen neuen Konzentrationspunkten des offentlichen Lebens der Stadte steht ein
wachsendes MaB brachliegender Flachen und leerstehender Raume gegenOber, wie es
durch den Wegfall von Produktionen, alte und neue Leerstande von innerstadtischen Ge
werbebauten und erfolgte Abrisse von Fabrikanlagen im Vorgriff auf erwartete Investitionen
entstanden ist FOr die ehemaligen, nur noch teilgenutzten oder vielfach aufgelassenen In-
Bilder vom Transit 81
dustriegelande und ihre Gebaude oder Anlagen gilt in besonderem MaBe die Archivierung
der Erinnerung. Sie umschreiben am deutlichsten die Indikatoren fOr soziale Transformati
on, ihre Leere findet in den aktuellen Sozialstatistiken Ausdruck. Viele Klinkergebaude der
Jahrhundertwende, Stahlbetonkonstruktionen der Zwischenkriegszeit und Fertigteilbauten
der DDR-Epoche haben insbesondere die mitteldeutsche Landschaft wie kein zweites Merk
mal gepragt Sie sind schon lange nicht mehr .schOn all" oder sind es nie gewesen. Die we
nigsten von ihnen erlangen industriearchaologische oder gar denkmalpflegerische Auf
merksamkeit verweisen aber im Vergleich zu den neuen Gewerbebauten auf ein erheblich
hOheres MaB an Raumqualitat und ursprunglichen baulichen Aufwand. Ihre Anwesenheit
im Stadt- und Landschaftsraum bezeugt Nutzungszeit und Bedeutungsverlust stadtischer
Adressen, so daB sie im Verbund mit der Besiedelung durch Natur eine morbide Identitat
annehmen. Eine solche kann sich als nachhaltig erweisen, weil nicht aile Flachen bald oder
uberhaupt wieder in den Betracht von Nutzung fOr Arbeitsplatze kommen werden. So ist auf
den ausgedehnten Industriebrachen nicht nur ein vergangenes Zeitalter zu betrachten, son
dern auch ein Zukunftsversagen aktueller wirtschaftlicher Strategien zu konstatieren.
Die alteren Wohngebiete der Stadte, ehemalige Dorfkerne, kaiserzeitliche Erweiterun
gen und Siedlungen der Zwischenkriegszeit erleben auf Grund der wiederbelebten Parzel
Ie als stadtebauliches Regulativ eine differenzierte Erneuerung, die sich grundstucksscharf
im Stadtraum abzeichnet und als Nachbarschaft zwischen sanierten und weiter alternden
Gebauden, zwischen gepflasterten Parkplatzen und leerbleibenden Brachflachen erlebt
wird. Von erhOhten Standpunkten ist das AusmaB der Sanierung am Verbreitungsgrad neu
er roter Dacher ablesbar.ln gewisserWeise sind diese Bau- und Raumstrukturen in ihre Ent
stehungsverhaltnisse zuruckgesunken und ihre Gebaude erleben genau wie ihre Nutzer und
Mieter eine Polarisierung uber die zu zahlenden Preise. So definieren sich noch einmal die
alten Demarkationslinien der Stadt
Bleiben die Neubaugebiete - alias GroBsiedlungen - der DDR-Epoche, die einer Un
terscheidung hinsichtlich ihrer Entstehungszeit bedurfen. Wahrend die stadtebaulich de
terminierten Baustrukturen der spaten fOnfziger und der sechziger Jahre mit einer uber
schaubaren Zahl von Blockbauten in integrierten stadtischen Lagen und einem simplen,
aber bereits herangewachsenem Abstandsgrun ihrem Siedlungscharakter treu bleiben kon
nen, so sind die komplex geplanten, in den siebziger und achtziger Jahren an den Stadt
randern oder auf abgebrochenen Stadtquartieren errichteten Gebiete tatsachlich ein eigen
standiges Kapitel extensiver Stadterweiterung des 20. Jahrhunderts. Die alteren und kleine
ren Siedlungen werden bereits saniert was an den tieferen Fensterlaibungen, den glatteren
und farbigeren Oberflachen, den inzwischen eingesetzten neuen Plastikfenstern und Haus-
82 IRIS REUTHER
eingangstOren mit Oberdachungsvarianten und an den umgestalteten Balkonverkleidun
gen der Wohnblocks nachvollziehbar ist Unter den "neuen Kleidern" ist das gleichgeblie
bene Grundmuster der Gebaude wiederzuerkennen. Mindestens fOr die mittlere und altere,
hier lebende Generation bleibt diese Wohnform ein nachgefragtes Segment am Woh
nungsmarkt das fOr vergleichbare soziale Situationen einen adaquaten raumlichen Aus
druck behalt Waren die Wohnungen zur Entstehungszeit fOr die betroffenen Familien zu
klein, so sind sie jetzt gerade klein genug; war die Ausstattung mit Versorgungs- und Be
treuungseinrichtungen frOher Teil eines wirtschaftspolitischen Programms, so sind sie in
zwischen ein verfOgbares Raumpotential. das neuesten Wohnsiedlungen oft noch fehlt
Die groBeren Wohngebiete auf den sogenannten Komplexstandorten des Wohnungs
baus in Plattenbauweise gehoren inzwischen zu den Problemzonen der Stadte. Hier tariert
sich das MaB der sozialen Transformation in ostdeutschen StMten aus. Auf Grund hoherer
Dichten und einer Reduzierung samtlicher AusfOhrungsstandards dieser Wohngebiete von
der Versorgung mit Infrastruktur bis zur Gebaudegestalt und Wohnungsausstattung erle
ben die Bewohner eine Abwertung ihrer Wohnumwelt in der gesellschaftlichen Offentlich
keit und individuellen Erfahrung gleichermaBen. Sanierungskonzepte der zustandigen Ei
gentOmer und Nachverdichtungen durch Einzelhandelsangebote greifen nur punktuell und
werden im Gesamtbild der groBen Wohngebiete bisher kaum nachhaltig wirksam. Mit dem
noch vor wenigen Jahren vergleichsweise hohen Wohnungsstandard konkurrieren inzwi
schen innerstadtische und regionale Angebote fOr die Besserverdienenden.
ART UND MASS DER STADT 1M FOTOGRAFISCHEN BILO
Eine Bildreise in die Zeit des Wandels ostdeutscher Stadte bezeugt daB aile Stadtrau
me in einem bestimmten MaBe Schauplatze derTransformation sind. Ein Foto aus den acht
ziger Jahren kann kein Foto aus den neunziger Jahren sein. Irgendein Detail. eine noch al
ter gewordene Oberflache oder ein bildlich herstellbarer Bezug - oder besser: Vergleich -
dokumentiert einen abgelaufenen Zeitraum und eine eingetretene Veranderung. Am Ende
des industriellen Zeitalters Oberlagern sich in den Stadtstrukturen und Stadtbildern minde
stens drei Landschaften oder Zeitebenen, die bei genauerem Hinsehen auf allen Fotos sicht
bar werden und als Information abgelegt sind.
Von der ersten Landschaft der naturraumlichen Gegebenheiten und einer ur
sprOnglichen Besiedelung oder Nutzung als unterster Schicht sind nur Fragmente und Ober
formte Spuren geblieben. Das meint Zasuren eines Wegenetzes, besondere Adressen
oder Gebaudestellungen, die auf frOhere Landeigner deuten, verbliebene Landschafts
elemente oder die wieder freigelegten Erdschichten auf beraumten Flachen und in offe
nen Baugruben.
Bilder vom Transit 83
Die zweite Landschaft, die als flachenhafte Ausdehnung der Stadt nach all ihren Er
weiterungsphasen und als gebaute Struktur die tragende Schicht ausmacht reprasentiert
die Aufteilung und Aneignung des Bodens oder des bereits Gebauten, die Intensitaten ver
gangener und gegenwartiger Nutzungen und die Festpunkte moglicher raumlicher Veran
derungen. Dabei sind verschiedene Wachstumsphasen der Stadte bis zum ersten Weltkrieg,
in der Zwischenkriegszeit und in der DDR-Epoche unterscheidbar.
Die dritte Landschaft ist als die gegenwMig zu beobachtende, punktuelle, nicht immer
lokalisierbare , aber zugleich auch erosionsartige Veranderung die in Bewegung geratene
Schicht der Stadt Sie ist immateriell und virtuell, aber auch als signifikante Botschaft im
Stadtraum erkennbar. Hier erreicht die Darstellbarkeit durch traditionelle Bildproduktion ih
re Grenzen, weil diese fur die Dokumentation der zweiten Landschaft erfunden wurde. Die
weiterentwickelten Formen der Bilderzeugung und Bildinformation sind an der Existenz ei
ner dritten Landschaft der Stadt beteiligt
Neben den Raumen und Oberflachen ist ein weiteres Phanomen fur die transitorischen
Lebenswelten in den ostdeutschen Stadten aufschluBreich: die Zeit Das meint die Ge
schwindigkeit der Bewegungen und Nutzungen, der Informationen und Lebensprozesse. Da
bei liegen Rasanz und beinaher Stillstand ganz dicht beieinander. Erstere entzieht sich den
traditionellen Formen bildlicher Wahrnehmung. Letzterer ist mit bloBem Auge kaum oder
gar nicht zu erfassen und erfordert eine adaquate Methode zur "Entdeckung der Lang
samkeit" sozialer und okologischer Prozesse. Nimmt man aile drei Aspekte - Raum, Ober
flache und Zeit - zusammen, dann ist eine bildliche Auseinandersetzung mit dem Zustand
des Stadtischen angemessen nur moglich, wenn qualitative Methoden von Serien und Ver
gleichen akzeptiert und subjektive rsp. heuristische SchlOsse im Bezug auf eine Bildaus
wahl zulassig werden. Insofern kann sich das fotografische Abbild zur Beurteilung von Art
und MaB der Stadt in einem TransformationsprozeB legitimieren.
Sie wurden Vorbilder, die Bilder der FSA-Fotografen (Farm Security Administration), die
in den 30er Jahren als Dokumente in den traditionellen Industriegebieten der Vereinigten
Staaten von Amerika entstanden. In einem Umbruch sollten Bilder im amerikanischen Kon
greB berichten, wie es in den von der Depression betroffenen Gegenden aussah. Die Bilder
der MAGNUM-Fotografen waren als schwarz-weiHe Berichte aus einer fremden Wirklichkeit
und verschlossenen Welt auf eigentOmliche Weise vertraut Ihre Entstehung war nachvoll
ziehbar und mit der Sehweise hiesiger dokumentarischer Stadtfotografie vergleichbar. Je
mand hatte sich in bekannter Art mit einer Kamera und vielleicht sogar mit einem Stativ
auf beschwerliche oder sogar gefcihrliche Wege begeben, urn Bilder einzufangen, die den
Moment auf das MaB der Ewigkeit ausdehnen konnen. Denn die Fotografie selbst hat kei
ne Zeit ihr gehort der Augenblick der Aufnahme. Das Produkt dieses technischen Doku-
84 IRIS REUTHER
mentationsvorgangs ist eine authentische Aufzeichnung des Abgebildeten, solange wir mit
Negativen und Papierabzugen oder Dias umgehen und unser Urteil daran bilden. DaB Fern
sehen schneller, digitale Aufzeichnungen manipulierbarer und Computer flexibler sind,
steht auBer Zweifel. Aber noch sind Bilder verfiigbar, fur die sich der Fotograf nachweislich
Zeit nahm, um tatsachlich dahin zu gelangen, wo die Stadt ihre Art findet der Ort seine Be
stimmung, das Detail sein MaB und die Person ihren Platz.
Je nach Abstand, Objektivwahl und NegativgroBe gibt es die Moglichkeit den Stadt
raum zu dokumentieren, die Horizontlinie von der einen bis zur anderen Ecke des Blick
winkels abzutasten, um dabei Abstande, Grenzlinien und Distanzen zu erleben. Auf diese
Weise vermittelt sich dem Betrachter der Ort der Standort in seinem Kontext den wir Stadt
struktur, Stadtlandschaft Bebauung oder Freiraum nennen. Hier werden die MaBe des Of
fentlichen, die Sichtbarkeit die Hor- und Rufweite und die Moglichkeit zur Ansammlung von
Menschen, Autos, temporaren oder festen Baulichkeiten deutlich. Ein Stuck naher heran tre
ten die Gebaude, die StraBenbreiten, die Zasuren zwischen dem Allgemeinen und Privaten,
dem Offentlichen und dem Zuordenbaren aus dem Bild hervor. Die Grenzlinien der Stadt
erscheinen als Fall roh re, Mauern, Zaune, Tore oder wechselnde Oberflachen. Das MaB an
Verganglichkeit an Erneuerung oder an Aufwand tritt in das Blickfeld der Wahrnehmung
und wird vermittelbar. In dieser Entfernung wird der menschliche MaBstab sichtbar oder die
Intensitat von Nutzung, aber auch der Bezug zu bereits vergangener Nutzungszeit SchlieB
lich hat der Fotograf die Moglickeit Details in die Mitte des Bildes zu holen. Der Stadtraum
erscheint nur noch als angeschnittene Horizontlinie oder tritt vollends in den Hintergrund,
den man bei genauerem Hinsehen auch im eigenen Rucken spuren kann. Bilder aus die
ser person lichen oder gar inti men Distanz sind oft viel eindringlicher wirksam und allge
meiner in ihrer Aussage, als sich zunachst vermuten laBt 1m Detail liegt der ganze Kosmos
eines Ortes, seine Bestimmung, sein Alter, die Sorgfalt seiner Behandlung, die Spuren sei
nes Gebrauchs. Oberdeutlich tritt der .standard" hervor. Das ist so, als wenn man jeman
dem nahe genug gekommen ist um die Marke seines Schreibgerates zu erfahren, die Qua
litat seiner Kleidung zu prufen oder die Ausstrahlung seiner Personlichkeit zu spuren.
Wenn in dieser allmahlichen Annaherung an das Bild der Stadt sogar die Gesichter ihrer
Bewohner hervortreten, dann verwandeln sich die Erklarungsmuster und definierbaren
Aspekte fur das Stadtische in einem unerwarteten MaBe. Wir sind bei jener Distanz an
gekommen, die den eigenen Bezug herausfordert Mit welcher Behutsamkeit und Verant
wortung mussen Bilder entstehen oder ausgewahlt werden, die solche Blicke ertraglich ma
chen und fur die Offentlichkeit ermoglichen. In einer allmahlichen raumlichen Annaher
ung, wie sie mit den immer scharfer werdenden Einstellungen eine Kamera moglich ist
findet die Stadt ihre lesbaren Abbilder. Es sind die Kategorien, in denen ein Planer denkt
und arbeitet
Bilder vom Transit 85
Wahrscheinlich sind noch nie so viele Bilder von den ostdeutschen Stadten gemacht
wahrgenommen und wieder vergessen worden, wie in den vergangenenen funf Jahren. Da
angesichts medialer Verarbeitung und Verbreitung von Bildern die Authentizitat der Foto
grafie auf den Moment der Aufnahme reduziert ist muB ihr doch in einem transitorischen
Zustand der Gesellschaft ein aufklarendes Potential zugestanden werden. Gemeint ist die
dokumentarische Fotografie fur ein "Archiv der Wirklichkeif und die Herstellung von Bild
nissen, die in einer Zeit des Abschieds und des Verschwindens ein wesentliches Potential
fur Erinnerungen sein konnen. Es ist das stehende Bild einer nach dem Moment der Auf
nahme bereits vergangenen Situation, das Medium der Geschichte wird (vgl. Sachsse 1994).
Daruber hinaus kann dokumentarische Fotografie als "Zeichen der Zeit" Prozesse sichtbar
machen, indem sie Gegenwart beinahe surreal zeigt und damit Postionsbestimmungen pro
voziert und Kommunikation ermoglicht
RESUMEE
Die Profession der Fotografen mag von einer Erschutlerung betroffen sein. Dennoch hat
sich dokumentarische Fotografie im Gebrauch erneut legitimiert Der Blick in Archive, die
gemeinsame Suche nach Aufnahmeorten, die durch Fotografie erweiterte Analysemethode
stadtplanerischerTatigkeit und die Benutzung von Bildern in Planungsprozessen haben das
Verstandnis von Stadt und ihrer Planung verandert Das meint eine wachsende Skepsis ge
genuber einer verbrauchenden Architekturproduktion und Planbarkeit raumlicher Prozesse
im Sinne generalisierender Steuerung. Der klassische Stadtebau und insbesondere seine
letzten Kapitel im TransformationsprozeB ostdeutscher Stadte haben das althergebrachte ur
banistische Prinzip verbraucht Es ist arm ohne soziale Phantasie und das Bildgedachtnis
einer existierenden Stadt Angesichts von Entscheidungsnotstanden, EinfluBohnmachten
und Selbstuberschatzungen ist eine Besinnung der urbanistischen Profession auf tatsach
lich gebrauchte, nicht immer zu materialisierende Akzente einer Entwicklung, auf die stra
tegische Ebene und auf punktuelle Eingriffe notwendig.
Ein Bekenntnis zur Erneuerung vorhandener Stadtraume erfordert bildliche Darstel
lungsformen nahe am Realen.lnsofern ist das fotografische Dokument ein Medium fur qua
litative Betrachtungen und die Moglichkeit. minimalistische Veranderungen, vielleicht sogar
das Verschwinden, vorzuschlagen, nachzuweisen und in den Resultaten zu prufen.
Planung erzeugt Verunsicherung. Ihre Natur ist die Dungung von Arealen mit Moglichkei
ten, die nicht nur auf feste Strukturen mit definierten Grenzen, sondern auf komplexe Fra
gestellungen oder bewegliche Untergrunde Bezug nimmt Insofern reicht erst eine Bildrei
he fur den Uberblick oder eine fotografische Annaherung in verschiedenen MaBstaben bzw.
eine Bildsequenz zur Auslotung der Tiefe oder Unscharfe einer Situation.
86 IRIS REUTHER
Punktuelle Eingriffe beziehen sich nicht auf das Neue, wohl aber auf das Modifizierte
einer raumlichen Gegebenheit , die zunachst vermitlelt und verstanden werden muB. Zu
gleich brauchen beteiligte Akteure einen gemeinsamen Informationsstand, der sich als Bild
vorrat zur Beurteilung eignet und angesichts komplexer Themen, weitraumiger Betrach
tungsgebiete und rascher Veranderungen keine gemeinsame Begehung mehr sein kann.
Insofern kann ein dokumentarisch verantwortetes Bildangebot diesen Vorgang ablosen.
Hierfiir eignen sich Reportagen, wie sie mit den Bildern vom Transit ostdeutscher Stadte ver
sucht wurden.
LIlERAlUR
Sachsse, Rolf 1994: Stillstand im Wandel. In: VorOrt-Eine Sammlung topografischer
Fotografien Ostdeutschlandands. Hrsg. von Verbundnetz Gas AG. Leipzig
Ullmann, Gerhard 1993: Feste Raume, fliichtende Bilder.ln: Deutsche Bauzeitung 127
(6/93)
Bilder vom Transit 87
JENA. Magnus-Poser-Stral3e. 1995
88
DIE ALTBAUGEBIETE Fotografien
JOrgen Hohmuth
89
DESSAU. KarlstraBe. 1989
90
DESSAU. GoethestraBe. 1995
91
DESSAU. Karlstral3e. 1989
92
WEIMAR. Untergraben. 1995
93
DESSAU. MarienstraBe. 1995
94
DESSAU. Ziebigker StraBe. 1995
95
WEIMAR. Cranachstrafle. 1990
96
DESSAU. Fischereiweg. 1989
97
JENA. MagdeJstieg. 1988
98
DESSAU. Dessau·Nord. 1989
99
JENA. Karl-Liebknecht-Strafle. 1995
100
WEIMAR. Cranachstral3e. 1990
101
DESSAU. Triftweg. 1989
102
JENA. Tatzendprommenade. 1988
103
DESSAU. Heinrich-Heine-StraBe. 1989
104
WEIMAR. Karl-Borchert-StraBe. 1990
105
DESSAU. Kiefernweg. 1995
106
WEIMAR. 1990
107
JENA.1988
108
lENA. HornstraBe. 1988
109
DESSAU. 1995
110
BILDNIS HANNAH ARENDT VOR DER SILHOUETTE EINES NEUBAUGEBIETES
Christine Weiske
111
Wenn es eine gebrauchliche Methode der Renaissance-Portratkunstwar, eine reale Per
son vor einer idealischen Landschaft anzuordnen, kehre ich dieses Verfahren um und stel
le eine idealische Person - Hannah Arendt - vor eine reale Landschaft, genauer eine Stadt
landschaft, vor die Silhouette eines Neubaugebietes. Jeweils werden verschiedene Objekte
und MaBstabe, die vorlaufig nichts miteinander zu tun haben bzw. hatten, in einem Rah
men zusammengefUhrt und aufeinander bezogen. Darauf kam es mir an. Die Reibung und
die Spannung, die zwischen dem Verschiedenen entstehen kann, sollte umgemlinzt werden
in eine analytische Kraft, die zur Erhellung des Untersuchungsgegenstandes fUhren kann.
ANORDNUNG EINER TRIADE: ALLTAG - POLITIK - SELBSTDEUTUNG
EINSCHLlE6L1CH DEREN BELIEBIGER UMKEHR
Der Untersuchungsgegenstand sind die Neubaugebiete der DDR. Kein ganz bestimm
tes, in der Verallgemeinerung kann man sicher liber aile reden. Das sind die Orte, an denen
sich die politischen und sozialen Absichten des untergegangenen Staates am deutlichsten
manifestieren. Sie sind einerseits in Beton gesetztes Credo eines politischen Systems, an
dererseits sind sie Hlille und Verlaufsform fUr den ganz alltaglichen Lebensvollzug sehr vie
ler Menschen im Osten geworden. Es sind rund 20 % der ehemaligen DDR-Bevolkerung. In
Jena zum Beispiel lebt mehr als ein Drittel der Stadtbevolkerung in Neu-Lobeda.
In diesen Neubaugebieten verschrankten sich Systemwelt und Lebenswelt miteinander.
Die Differenz dazwischen schmolz, wie ja Entdifferenzierung einer von mehreren Hinwei
sen auftotalitare Zustande ist Mit dem Untergang der alten Systemwelt, mit ihrer Diskredi
tierung und Selbstdiskreditierung, wirken die Verschrankungen jedoch weiter. Die Diskredi
tierung greift auf die Lebenswelten und damit auf die Identitat der Neubaugebiets-Bewoh
nerinnen und Bewohner liber. Imageverluste und Abwanderungen gehen nunmehr Hand
in Hand.
Ich will dieses Phanomen der Neubaugebiete hier nicht als wohnungspolitisches Pro
blem, sondern als ein Medium behandeln, in dem das Zusammenspiel von Ligaturen und
Optionen, der Bindungen und Entbindungen, der Wahlmoglichkeiten und der Wahlakte zu
beobachten ist - als einen Vorgang der Transformation.
Aus den Befunden, die die DDR-Stadtsoziologie seit den 70er Jahren gesammelt hat,
laf3t sich die Innenperspektive dieser Neubaugebiete rekonstruieren. Sowohl die Perspekti
ve der Neubaugebietsbewohner auf ihre eigene Lebenssituation als auch die Perspektive
der Stadtplaner und -planerinnen auf ihre professionellen Produkte. Was bislang feh!t, ist
die Auf3enperspektive. Der andere MaBstab, der fremde Blick, der den V-Effekt bringt, wie
Brecht das in seiner Dramaturgie genannt hat
112 CHRISTINE WEISKE
Die Brechung der Perspektive des "reinen Alltags" 5011 Hannah Arendt bewirken. In "Vi
ta activa oder Yom tatigem Leben" wahlt sie ein Instrumentarium zur Analyse, das im Riick
griff auf Aristoteles und die stilisierte .$elbstdeutung der Griechen", wie Jiirgen Habermas
das in seinem .$trukturwandel der Offentlichkeir (1961: 16) konstatiert, seine "eigentiim
Iich normative Kraft - bis in unsere TageU bewahrt hat Diese eigentiimlich normative Kraft
gebraucht Hannah Arendt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Marxismus, genauer mit
der Geschichtsphilosophie des Marxismus. Und diese Auseinandersetzung fuhrt sie nicht
als fanatische Antikommunistin, sondern mit dem analytischen Abstand einer prinzipiellen
Demokratin. Wenn sie die totalitaren Elemente im Marxismus seziert, dann zur theoretischen
Fundierung demokratischer Verfassungen und zur praktischen Eroffnung der lugange zum
Handeln. Genau das macht sie geeignet, Theoretikerin eines Transformationsprozesses -
eines Wandels zu sein.
In ihrem Verstandnis ist das "Handeln ... die Fahigkeit, etwas Neues zu beginnen"
(Young-Bruehl 1991: 444). Der analytische Blick auf aile erreichbaren der moglichen Welten
bringt sie zu dem Ergebnis, daB die Fahigkeiten zum Handeln und damit die Chance, etwas
Neues zu beginnen, ungleich verteilt sind - und zwar per Geburt ungleich verteilt sind. Die
ses Thema ist ihr gelaufig auf der biografischen Ebene - als Jiidin und als Frau. Aber die
Konsequenz daraus ist nicht ein sozusagen ewiges Kastenwesen, sondern ein Streben nach
Emanzipation, das bei Hannah Arendt immer gleichzeitig zwei Dimensionen hat: die politi
sche Dimension, in der sich ein Gemeinwesen konstituiert und die psychische Dimension,
in der die oder der Einzelne seinen Anspruch auf Emanzipation mit Wiirde - und nicht mit
unmenschlichen Verletzungen - aufrecht erhalten und durchsetzen kann. Das MaB dessen,
das sie politisch fur erstrebenswert oder durchsetzungswiirdig im konkreten Kontext befin
del. macht sie fest an der Kraft konkreter Menschen, Neues in ihre Welt zu bringen. Sollte
ich solch eine Haltung bewerten, dann fie len mir Apostrophierungen wie Respekt und lu
neigung fur andere ein.
Nun gehe ich iiber zur Darstellung ihres analytischen Instrumentariums, das sie in "Vi
ta activa" entwickelt hat Ausgangspunkt fur die Marx-Kritik ist der eminent hohe Stellen
wert, den er seiner Theorie der Arbeit einraumt sowohl in seiner Okonomie wie in seiner Ge
schichtstheorie. Unter dem Begriff der Arbeit subsumiert er aile moglichen unterschiedli
chen Tatigkeiten, die eine menschliche Existenz ausmachen. Der Sinn fur diese Entscheidung
Iiegt darin, in einer eschatologischen Geschichtsphilosophie den Antrieb zu finden, der den
historischen ProzeB auf sein lief hintreiben kann. 1m Gegensatz zu theologisch begriinde
ten Eschatologien - also Erlosungstheorien bzw. Erlosungslehren - ist dieser Antrieb dem
Menschen inharent als eine anthropologische Kraft.
Das zweite Motiv fur Marx, der Arbeit diesen schopferischen Rang zu geben, ist die Ver
kniipfung von Arbeit und Effizienz, die es erlaubt, eine Richtung in die Geschichte zu be-
Bildnis Hannah Arendt vor der Silhouette eines Neubaugebietes 113
kommen, die Fortschritt heiBt Sowohl die politischen Institutionen, die Herrschaft ausuben
konnen, als auch das Reich der Freiheit, in dem es MuBe und freie Wahl der Betatigung
gibt, je nach Vorliebe und Begabung, sind die Foige effizienter Arbeit .Das Reich der Frei
heit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und auBere ZweckmaBigkeit
bestimmt ist, aufhort; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphare der ei
gentlichen materiellen Produktion" (Marx 1981: 828).
Diese Idee der historischen Aufeinanderfolge (Diachronie) bringt es erst mit sich, daB
es denkbar wird und legitim erscheint, daB Menschen Opfer bringen, damit andere nach ih
nen das Reich der Freiheit erreichen konnen. Die ,Chaussee der Enthusiasten' fiihrt direkt
zum Karakum-Kanal. auf dessen Grund die Skelette der Enthusiasten neben denen der po
litischen Kritiker der Sowjetmacht und neben denen von Kriminellen liegen. ,Wie der Stahl
gehartet wurde" von Nikolai Ostrowski (1932/34) ist die Geschichte der Industrialisierung
und die Geschichte der Verhartung von Gefiihlen, Hoffnungen und Wunschen.
Hannah Arendt dagegen befindet, daB die Vita activa, die menschliche Lebenskraft, sich
verschiedentlich auBern kann - als Arbeiten, als Herstellen und als Handeln. Ihre Begriff
lichkeit entwickelt sie an der Geschichte der Griechen, wie sie sie von sich selbst ,stilisiert"
haben. Die Faszination, die die antike Hochkultur nicht nur fiir Hannah Arendt hat, scheint
mir in der Reife zu liegen, mit der ihre Verhaltnisse ausgelegt sind. Die Klarheit in den Ver
haltnissen (gegeben in der Literatur als Realitat 2. Ordnung) erlaubt die Klarheit der Be
grifflichkeit Aristoteles ist sicherlich die wichtigste Quelle dieses Denkens.
Alles Arbeiten, das dem Leben dient und Lebensmittel hervorbringt, die aufgegessen
und vernutzt werden, so daB sie bald nicht mehr da sind, gehort zum Haushalt Die Grie
chen trennten ganz eindeutig und scharf den Haushalt (oikos) von der Polis als der Stadt
der Burger. Der Haushalt war allerdings viel umfanglicher als das heute bei einem moder
nen Haushalt der Fall ist Aile Verrichtungen, die mit der Erhaltung des Lebens notwendig
verbunden waren, hatten ihren Ort im Haushalt Und auch das Herstellen, das auf der Erde
eine Welt errichtet, in der Menschen leben konnen, ist im Haushalt verortet Der Haus
halt bezeichnet den Rahmen des "Naturhaften Zusammenlebens, in dessen Mittelpunkt
das Haus und die Familie" (Arendt 1981: 28) stehen. Das Haus ist der Mittelpunkt des
oikos, dazu kommen die Felder, Garten, Werkstatten, die Wege und StraBen, das Bordell, die
Schule. Der Bereich des Wirtschaftens in den Strukturen des Haushalts war gleichbedeu
tend mit dem Privaten.
Dem Haushalt steht der Hausherr vor. Es herrscht das patriarchale Recht, das vom Haus
herren ausgeubt wird, und aile anderen Haushaltsmitglieder in Abhangigkeit vom Haus
herren hierarchisch anordnet: Frauen, Kinder, Sklavinnen und Sklaven, mitunter auch freie
Handwerker, die herstellen. Durch seine Hauswirtschaft, die ihm die Unabhangigkeit von
den Zwangen der Lebensnotwendigkeit verschafft. erlangt der freie Mann die MuBe, in den
114 CHRISTINE WEISKE
Raum der Polis und in ihre Offentlichkeit einzutreten. Die Offentlichkeit der Polis ist in er
ster Linie ein sozialer Raum, der zwischen freien und unabhangigen Menschen - Mannern
im Gesprach entsteht Dieses Gesprach setzt ihr wirkliches Zusammentreffen, die Ver
sammlung, voraus. Agora heiBt sowohl die Versammlung der freien Manner der Polis - das
Ereignis -, als auch der Platz, auf dem diese Versammlung stattfinden kann.
Die Agora ist die Manifestation des politischen Prinzips von Offentlichkeit in der Struk
tur der antiken Stadt Was offentlich verhandelt werden mu/3te, waren die Angelegenheiten,
die aile gemeinsam betrafen. " ... das Handeln und Sprechen vollzieht sich in dem Bezugs
gewebe zwischen den Menschen, das seinerseits aus Gehandeltem und Gesprochenem ent
standen ist, und muB mit ihm in standigem Kontakt bleiben" (Arendt 1981: 180). So ent
steht Geschichte als Raum des Handelns. Handlungen oder auch "groBe Taten" waren ein
zig in der Lage, das Ende einer mensch lichen Existenz zu uberdauern und Spuren zu
hinterlassen, die sich in die Unendlichkeit der Natur eingraben konnen. Die antiken Men
schen verstanden ihre Sterblichkeit als ihre Sonderstellung in der durch Ewigkeit charakte
risierten Natur- und Gotlerwelt Die grof3en Taten waren eine Moglichkeit der Annaherung
an die Vollkommenheit und an die Ewigkeit Die grof3en Taten, die Transzendenz in die
menschliche Existenz bringen konnten, konnte es nur im Raum der Polis und der Offent
lichkeit geben. Der Haushalt diente der Endlichkeit - daher bezogen die freien Griechen ih
re Geringschatzung der Arbeit, die sie als sklavisch a uffaBten.
Oikos und Polis bezeichnen zwei verschiedene Seinsordnungen der anti ken Gesell
schaff, der auch verschiedene Rechtsordnungen folgen. Despotie und Hierarchie auf der ei
nen Seite und Freiheit und Gleichheit auf der anderen Seite.
Handeln und Sprechen, von Hannah Arendt nahezu identisch verstanden, lassen die
sozialen Arrangements zwischen den formal gleichen Mannern durch die Geltung des Ar
guments entstehen. Die hochste Geltung erreicht der Vortreftliche - der der Vollkommenheit
Nachste. Anerkennung durch die anderen ist das Aquivalent, auf das er rechnen kann. 1m
Akt des Zueinandersprechens konnen sich die Sprecher ihres Handelns und Denkens ver
gewissern und sie konnen sich ihrer selbst vergewissern.
Pluralitat als die Tatsache, nicht allein zu existieren, sondern sich selbst finden und er
leben zu konnen im Wortwechsel und im Blickwechsel mit einem anderen, zahlt Hannah
Arendt zu der "human condition", die den litel der amerikanischen Ausgabe ihres Buches
abgibt Sie schildert eindringlich sowohl die politische Bedeutung als auch die psychische
Bedeutung, die in der freien Kommunikation liegen, und die das Gesprach, der Dialog, der
Disput je miteinander verknupfen.
1m Arendt'schen Deutungsmuster von Geschichte - in Kritik zu Marx - bestehen die
Reiche von Notwendigkeit und Freiheit nicht nacheinander, sondern nebeneinander in ei
ner Zeit Wenn auch die Zugangsbedingungen zur zweiten Seinsordnung hoch reglemen-
Bildnis Hannah Arendt vor der Silhouette eines Neubaugebietes 115
tiert waren und den groBten Teil der Gesellschaft ausschlossen - aile Unfreien, aile Frauen,
aile Kinder - aber dieses Nebeneinander der Seinsordnungen bricht die Teleologie und Es
chatologie in der Geschichte, die .geschlossene" Gesellschaften begiinstigen, weil sie Ele
mente des Totalitaren abgeben.
Soviel also zu einigen wichtigen Kategorien politischen Denkens, die Hannah Arendt
in ihrer .Vita Activa" entwickelt Sie sind geeignet, zur Analyse realer Situationen herange
zogen zu werden. Dieses Denken kann tatsachlich .konkret und praktisch werden", eine
Aufgabe, die Hannah Arendt fUr die Philosophie akzeptiert hatte (Young-Bruehl 1991: 306).
DER GROSSE HAUSHALT UNO DER VERLUST VON STADT
Die Bilder von Neubaugebieten, die sich darstellen, wenn man durch diesen Focus
schaut, zeigen Stadtteile, die iiberdimensionale Haushalte sind. Das Wohnungsbaupro
gramm der DDR-Regierung sah in etwa 15 Jahren zwischen 1976 und 1990 den Bau bzw.
die Sanierung von etwa 3 Millionen Wohnungen vor. Ais Wohnungsbauprogramm war es
kein Stadtebauprogramm. Es entstanden Wohnungen, Kaufhallen, Kindergarten, Schulen,
Ambulanzen, StraBenbahnlinien, Gebietsgaststatten, Schwimmhallen, aber es entstanden
keine Stadte.
Der Verlust von Urbanitiit war offensichtlich und er loste auch fachwissenschaftliche
Debatten aus zwischen Architekten, Stadtplanern, Kulturwissenschaftlern, Politikern u.a. Leu
ten. Auch die Soziologen beteiligten sich an dieser Diskussion. Der Befund war: ES FEHLT -
es fehlt beispielsweise an Kinos, an Theatern, an FuBgangerbereichen, an Platzen. Es war
vor allem der Verlust des Politischen, der spiirbar wurde. Es gab aber niemanden, der das
zeitgleich so hatte sagen konnen.
Brigitte Reimann, die Autorin des fUr die DDR wichtigen Romans "Franziska Linkerhand",
war 1960 nach Hoyerswerda gezogen. In einem Artikel fUr die "Lausitzer Rundschau" von
1963 verwendet sie folgende Formulierungen, urn ihr Unwohlsein auszudriicken: Einerseits
mangelt es der Stadt an .Intimitaf' und "Atmosphare", es fehlt ihr der "eigene(n) Duft, ihre
eigene Farbe ... und ein(en) unverwechselbare(n)r Zauber". Die Foigen von Industrialisierung
und Standardisierung hinterlassen in der modernen sozialistischen GroBstadt das GefUhl
von Verwechselbarkeit und Austauschbarkeit: "Wir leben in einer Stadt aus dem Baukasten:
eine schnurgerade Magistrale, schnurgerade NebenstraBen, standardisierte Hauser, stan
dardisierte Lokale (man ist nie ganz sicher, in welchem man denn nun sitzt), ... ein Glas Bier
in einem Lokal. das nach Eile und Igelit aussieht... Eine Stadt der Typenbauten kann zum
Problem werden ..... Andererseits fehlt es den Neubaugebieten genauso an wirklich stadti
schen Lebensaufkrungen. Brigitte Reimann beschreibt das folgendermaBen: "Eine Zeitlang
habe ich mich einer iibertriebenen Empfindlichkeit verdachtigt. weil mich die langweiligen
116 CHRISTINE WEISKE
DESSAU.1989
117
Fassaden der Magistrale bedriicken (nein, es macht keinen SpaB, dort entlang zu bummeln,
es gibt nicht einmal Schaufenster zu besehen), und weil ich den Ausblick auf eine Kolon
ne von Miillkiibeln und Leinen voll trocknender Wasche nicht schOn finde, der trotz der
Griinflachen einen Eindruck von kleinstadtischer Enge hervorruft Inzwischen habe ich mich
mit vie len Leuten unterhalten, die ein ahnliches Unbehagen verspiiren ... Es ist ein Irrtum zu
glauben, daB eine Stadt modern wird durch die Freude am Wohnkomfort ... in den Woh
nungen leben Menschen, die mehr brauchen als Bad und Fernheizung." (Reimann 1994:
20t) Die Stadt hat nichts Intimes und auch nichts Otfentliches und Stadtisches - sie hat
sozusagen einen reduzierten Spannungsbogen.
Die .Privatisierung des Politischenu (Wolfgang Engler) ist das eigentliche defizitare Pro
blem. Die kleine, rote DDR mit ihren riesigen Transparenten, den Maidemonstrationen und
Jugend- und Sportfesten, dem taglichen ND und der Aktuellen Kamera war so unpolitisch
wie nur moglich.
Der Haushalt mit seinem Niitzlichkeitsdenken war iiberall hingeschwappt Am ehesten
kollidierten die Kiinstler und Wissenschaftler mit ihren kontemplativen und auf Reflexion
ausgehenden Anspriichen an sich und ihr Publikum, ohne die sie ihren Beruf an den Na
gel hangen konnten, mit der haushaltsfOrmigen Gesellschaft Auf diesem Hintergrund gab
es kaum Verstandnis fOr formale Experimente, fOr I' art pour I'art. fOr philosophische Dispu
te oder auch nur fOr Streitgesprache.
Es ist bezeichnend, daB die Talk-Show nicht in der DDR "erfundenu wurde. Das Genre
mit seinen Spielregeln hat das Arrangement des Politischen in etwa behalten: Leute mit den
gleichen Moglichkeiten, namlich anwesend zu sein und sprechen zu diirfen, tauschen ihre
Gedanken aus. Das Ergebnis ist offen. Es wird von der Geltung der Argumente bestimmt
Und ware Nina Hagen zu DDR-Zeiten je zu einer Gesprachsrunde ins Fernsehen eingela
den worden und hatte sie auch da die Zunge in die Kamera gestreckt wie sie das im ZDF
oder der ARD gemacht hat dann ware zumindest das herausgeschnitten worden, weil"man das nicht macht" und weil es sich ohnehin urn eine Aufzeichnung gehandelt hatte. Wen
wollte sie damit provozieren? Vielleicht bedeutete die Geste auch etwas ganz anderes. Wir
hatten uns niemals Gedanken dariiber machen konnen, denn wir hatten's nicht erlebt
Ahnlich wie das Fernsehprogramm in diesem Sinne privatisiert war, war die Otfent
lichkeit aus dem Stadtraum verdrangt und das Politische fand nicht statt Das mag ver
wundern, wenn man die Begriindung des Landeskonservators zum Denkmalschutz des En
sembles urn den Marx-Kopf im Zentrum von Chemnitz liest Es wird als Hochform der Ma
nifestation der Ideologie des Marxismus-Leninismus definiert. aber es ist darum nicht
gleichzeitig Manifestation von Politik, wenn ich im Begriffsverstandnis von Hannah Arendt
bleibe. Die Formulierung von Thomas Topfstedt iiber die groBen Platze fOr die FlieB- und
Standdemonstrationen ist von den Feuilleton-Schreibern der groBen Zeitungen oft zitiert wor-
118 CHRISTINE WEISKE
den, meist ohne Ouellenangabe. Er schreibt 1988: "Bei der Konzipierung dieser groBraumi
gen Ensembles spielten verkehrsplanerische Oberlegungen zwar eine nicht unwichtige Rol
le, doch lag der entscheidende Antrieb in dem BemOhen, fOr die FlieB- und Standdemon
strationen einen festlichen stadtebaulichen Rahmen zu schaffen. DaB insbesondere die
groBen Platze nur wenige Tage im Jahr fOr Manifestationen, Volksfeste und Aufmarsche
benotigt wurden, aber im unfestlichen stadtischen Alltag auf Grund eines Unterangebotes
an Kommunikationsmoglichkeiten sich nicht bewahrten, wurde als Problem erst spater zur
Kenntnis genommen." (fopfstedt 1988: 48)
Dieses litat wird oft gegen die Architekten und Planer solcher Bauwerke gewendet als
hatten sie lediglich opportunistisch die Dekoration aufgebaut fOr die Machtgeilheit unserer
alten Manner. So einfach ist das nicht Natiirlich ging der Maiumzug am Marx-Kopf vorbei.
Natiirlich fanden dort die Vereidigungen der Soldaten statt und Kranzniederlegungen am
Tag der Republik. Auch der Marx-Engels-Platz in Berlin war der Platz der Demonstrationen,
jedoch niemand fand es skandalos, daB ansonsten auf diesem zentralen Platz, auf dem das
SchloB als Symbol von Macht abgeraumt wurde, urn fOr eine andere Geschichte Platz zu
haben, daB hier Autos abgestellt wurden, das war praktisch und nOtzlich, die Blasphemie
wurde nicht konstatiert Es gab keinen Auftraggeber oder Bauherren, der eine Umgestal
tung des Platzes in Gang gebracht hatte.
FOr Architekten und Planer war es schon ein Problem der Berufsehre, daB ihre Platz
gestaltungen sich nicht bewahrten, wie Topfstedt sagt Db StrauBberger Platz, ob Alexan
derplatz, ob Altstadter Markt in Dresden oderThalmann-Platz in Halle. Die Platze hatten kein
Leben. Der stadtische Alltag hatte lediglich "ein Unterangebot an Kommunikationsmog
lichkeiten". Auch das stimmt in einem gewissen Sinne. Das eigentliche Problem war, daB es
im stadtischen Alltag ein Oberaus geringes Bedarfnis nach offentlicher Kommunikation gab.
Wenn also die Architekten durch ihre Profession sich berufen und beauftragt fOhlten, die
angemessene Gestaltung fOr Kommunikation im Raum der Stadt zu finden, gab es schon
den Stadter und die Stadterin nicht mehr. Es war niemand mehr da, der hatte sprechen wol
len oder konnen.
Bruno Flierl, ein Architektur-Theoretiker in der DDR, der nicht stromlinienfOr
mig angepaBt war in seinem Denken, schreibt noch 1991, daB "kommunikative len
tralitat" eins der wichtigsten konzeptionellen Anliegen fOr die Gestaltung der len
tren der sozialistischen Stadte war (Flierl 1991: 59). Diese Einschatzung trifft er sowohl
aus der Perspektive des Bauherren, aus der Perspektive der Architekten als auch aus der
Perspektive der Architektur-Kritik. Bis zur letzten Minute haben die Expertinnen und Ex
perten gemeint sie mOBten die architektonisch und asthetisch "richtigen" Bedingungen
schaffen, dann wOrden die Stadte urbaner. Dieses Thema der Kommunikation in der
Offentlichkeit der Stadt ist ein treffendes Beispiel fOr die Selbstverkennung, die eine Gesell-
Bildnis Hannah Arendt vor der Silhouette eines Neubaugebietes 119
schaft Ober sich seiber haben kann (und zu der im Obrigen auch ich mit meiner Arbeit
beigetragen habe).
DISTANZ ALS GEWINN UND ALS AUFGABE
In seinem Essay .Die GroBstiidte und das Geistesleben" gibt Georg Simmel ein Psy
chogramm des GroBstadters: er schildert sehr eindrOcklich die Ambivalenz, die in einem Le
ben liegt, das unter vielen anderen und fremden mit einer groBen Distanziertheit eingerichtet
wird, das Entwurzelung aushalten soli, das den Verstand vor das GemOt setzt Er beschreibt
einen Menschen mit modernen Beziehungen unter den Bedingungen von Verstandesherr
schaft und Geldwirtschaft. Diese Menschen waren in der DDR selten .• Die Lebenssphare der
Kleinstadt ist in der Hauptsache in und mit ihr selbst beschlossen. FOr die GroBstadt ist dies
entscheidend, daB ihr Innenleben sich in WelienzOgen Ober einen weiten nationalen oder
internationalen Bezirk erstreckt Weimar ist keine Gegeninstanz, wei! eben diese Bedeutung
seiner an einzelne Personlichkeiten geknOpft war und mit ihnen starb, wahrend die GroB
stadt gerade durch ihre wesentliche Unabhangigkeit selbst von den bedeutendsten Einzel
personlichkeiten charakterisiert wird - das Gegenbild und der Preis der Unabhangigkeit, die
der Einzelne innerhalb ihrer genieBt" (SimmeI1993: 200f)
Die proletarische Revolution richtete sich gegen den Bourgeois als BOrger und mehr
oder weniger auch gegen den Citoyen als BOrger. Die soziale Figur des Stadters und der
Stadterin ist abgewandert aus der alten DDR - durch Weggehen oder Abhauen, durch den
Tod der Alten, und indem sie nicht nachwachsen konnten.
Die Ambivalenz des Lebens in der GroBstadt mit Freiheit und mit Kalte, mit vielen Mog
lichkeiten und mit Anonymitat ist ein Dauerproblem nicht nur auf der Ebene der personli
chen Lebensgestaltung - auch in der politischen Theorie. Moderne Gesellschaften im Wan
del mOssen andauernd das MaB zwischen ligaturen und Optionen ausbalancieren. Die DDR
Gesellschaft allerdings war eine Gesellschaft mit starken ligaturen, mit viel Bindung und
mit wenigen Wahlmoglichkeiten. Sie verstand sich eher als Gemeinschaft denn als Gesell
schaft. Die "Sechzehn Grundsatze des Stadtebaues·, von der Regierung der Deutschen De
mokratischen Republik 1950 beschlossen, formulieren, daB der Wiederaufbau und die Ent
wicklung der Stadte "dem sozialistischen Gemeinschaftsleben" dienen sollen - daher auch
.Gemeinschaftseinrichtungen". Damit bin ich wieder im Neubaugebiet - sozusagen in der
groBen Haushaltung.
1m Neubaugebiet wurde in erster linie geschlafen, die Wasche gewaschen, gekocht,
Hausaufgaben gemacht, auf dem Balkon gesessen und Kaffee getrunken. Es war der Ort
des Haushalts, der Feierabenderholung. Am Wochenende ging's raus in den Garten oder
zum Wandern, Verwandte besuchen oder in die Stadt Der Freiraum diente vor allem haus-
120 CHRISTINE WEISKE
DESSAU. Romanjukpiatz. 1989
121
wirtschaftlichen Verrichtungen, wie Wasche aufhangen, MOil wegbringen, Auto waschen,
Teppich klopfen, FuBwege kehren, Vorgarten pflegen. Die nachbarschaftlichen Beziehungen
waren freundlich, offen. Konflikte selten. Die Leute kannten sich. Meist sind sie gemeinsam
eingezogen und da es wenig Fluktuationen gab in der DDR. wohnen sie oft schon Jahr
zehnte TOr an TOr.
Hauswirtschaft und Gemeinschaft waren die okonomischen und sozialen Strukturen,
die den Rahmen fOr das Leben im Neubaugebiet abgegeben haben. Die hatten auch ihre
asthetische Erscheinungsweise: Manner in Trainingshosen und Hausschlappen montieren
an ihren Autos, Frauen in der KittelschOrze gehen mal eben durchs Treppenhaus. GeblOm
te Tapeten kleben auch im Schulzimmer. Gardinen und geblOmte lischdeckchen sogar in
der Polizeibehorde. Die Asthetik des Wohnzimmers ist Oberall, weil das Private Oberall ist
und das Politische ausgetrieben hat "Privat geht vor Katastrophe" ist ein Spruch aus dem
DDR-Repertoire, der genau das ausdrOckt Der private Bereich war das, was man kannte und
bis zu einem bestimmten Punkt auch handhaben konnte. Er bot auch eine gewisse
Barriere gegenOber den Obergriffen aus der Systemwelt, gegenOber der es sinnvoll war, sich
zu solidarisieren.
So gesehen sind die Neubaugebiete exemplarisch sozialistische Orte. Kann das auch
anders werden? Soli das anders werden? Wer will, daB es anders wird? Haben diese Stadtteile und haben die Leute darinnen eine Chance, den TransformationsprozeB mitzumachen,
und wer sind Oberhaupt diese Leute?
1993 veroffentliche Alfons Silbermann eine Studie unter dem litel: "Das Wohnerlebnis
in Ostdeutschlandu• In seiner, fOr die alte DDR reprasentativen Stich probe markieren sich die
Neubaugebietsbewohner folgendermaBen: Es sind im Sinne eines Prototyps Oberdurch
schnittlich gut ausgebildete Leute, mittleren Alters, die in Familien leben und Ober ein mitt
leres Einkommen verfOgen. Der wichtigste Grund, der zu DDR-Zeiten fOr eine Wohnung im
Neubaugebiet sprach, war der Komfort - und das hieB: Heizung, warm Wasser, Innen-WC
und Balkon. Dieser Komfort war nicht einfach nur eine Angelegenheit von Bequemlichkeit,
von hedonistischen AnsprOchen an ein schones Leben - dieser Komfort hatte nicht nur ei
nen Sinn in Bezug auf die Lebenslauflogik, sondern war auch Ausdruck sozialer Gerech
tigkeit Das sei ohne Zynismus gesagt
In den biographischen Kontexten der politischen Klasse der DDR spielten die proleta
rischen HerkOnfte und Lebensverhaltnisse eine wichtige Rolle. Derlischler, der Dachdecker
- bei Lenin sollte es sogar der Kochin moglich werden, den Staat zu leiten. Die verinner
Iichte Stigmatisierung durch die kleine Herkunft, die Diskriminierung durch die Adresse, die
auf eine Stube-Kammer-KOche-Existenz hinweist, gehOrte zu den Lebenserfahrungen der
StaatsgrOnder und der Aufbaugeneration der DDR. Die neue Stadt, die sozialistische Stadt,
sollte der Gegenentwurfwerden - hell, luftig, hygienisch, praktisch, im GrOnen - das waren
122 CHRISTINE WEISKE
die Pendants zum dunklen Hinterhof, der eng en StraBe, dem Klo auf dem Hof, der Enge,
der Stickigkeit
Die Wohnungsbautltigkeit des Staates war immer auch Sozialpolitik. Ihre Adresse wa
ren die Werktatigen, die Schichtarbeiter, die jungen Familien, die Kinderreichen - daher
kommt es zu solchen Vereinseitigungen und Schichtungen in der Besiedlung der Neubau
gebiete, daB relativ junge Leute gemeinsam eingezogen sind und gemeinsam alter und alt
werden. Der Wohnungsmarkt ist durch die Staatspolitik und Staatswirtschaft ganz bewuBt
auBer Kraft gesetzt worden, damit die Wohnung keine Ware ist Es sollte ein proletarischer
Traum in Erfiillung gehen, daB das Recht auf eine Wohnung jedem zusteht - am ehesten
denen, denen eine besondere Dringlichkeit zugestanden wurde. Die staatlich subventio
nierten Mieten, die weit ab von den Kostenmieten lagen, waren eine Art der Umverteilung
des Bruttosozialproduktes im Sinne einer zweiten LohntOte.ln dem MaBe, in dem das Brutto
sozialprodukt geringer wurde, wurde es zynischerweise eine Umverteilung von Schulden,
die heute bei der Bundesbank zu Buche schlagen.
Der Lebensstandard im Neubaugebiet wurde also allgemein aufgefaBt und verstanden
als der "Normalfall von Leben". Er gab den MaBstab ab fur die Bewertung der Lebenssitua
tion auch in anderen Lebensverhaltnissen - z.B. fur die Ziele und den Umfang der Sanie
rung im Altbau. In diesem Sinne war die Neubauwohnung nicht nur eine Wohnung - sie
war auch so etwas wie eine Bestatigung fur ein Lebenskonzept Eine positive ROckmeldung
fur "richtige" Entscheidungen im Leben.
Unter keinen Umstanden ins Neubaugebiet gezogen sind die, denen das MaB der ,,50-
zialistischen Normalitat" zu eng war als kulturelles Muster oder als Flachennormativ. Die
durchschnittliche Neubauwohnung hatte 58 qm. Die das MaB der Normalitat in der DDR fur
sich ablehnten, wohnten dann eher am Prenzlauer Berg oder in der Dresdner Neustadt ne
ben den en, die nicht in die Vergabemuster der Wohnungsamter paBten - das waren die
Nicht-Arbeiter, die Nicht-jungen-Familien und die Nicht-Familien im Sinne der Kernfamilie
von Mutter-Vater-Kind(ern). In der Statistik zur Sozialstruktur der Stadtteilbevolkerungen war
dieser Sortier- oder Segregations-Effekt nicht ablesbar. Der Anteil von Arbeitern, Intelligenz
lern, Angestellten unterschied sich kaum zwischen einem Alt- und einem Neubaugebiet
wenn man allein die Zahlen anschaut Die Entscheidung, die Neubauwohnung zu tauschen
gegen eine heruntergekommene Altbauwohnung, lag auf einer anderen Ebene der Per
sonlichkeitsstruktur und des Lebensstils.
Sowohl vor der Wende als auch nach der Wende gibt es soziologische Befragungen
zur Wohnungszufriedenheit mit den Neubauwohnungen. Sie bringen jeweils ahnliche Er
gebnisse. Die Wohnungszufriedenheit ist hoch. Es sind weit mehr als die Halfte der Befragten,
die uneingeschrankt zufrieden mit ihrer Wohnung sind und nur ein knappes Viertel und
weniger ist unzufrieden.lch beziehe mich hier aufErhebungen von 1991 am GroBen Dreesch
Bildnis Hannah Arendt vor der Silhouette eines Neubaugebietes 123
in Schwerin (Weiske/Schafer 1993) und von 1993 in Weimar-Nord (Zapfu.a.1995). Die Woh
nungen seiber sind nicht starker unter Kritik geraten als zu DDR-Zeiten auch. Auch die Kri
tikpunkte sind nach wie vor dieselben.
Die Kritik richtet sich auf die Freiraume im Gebiet Gut daB es zu viele Autos und zu
wenige Parkplatze gibt weiB inzwischen jeder. Was aber die Stellplatzdebatte unabhangig
von diesem konkreten Thema zeigt ist die Tatsache, daB die bisherigen Regularien uber le
gitime und nichtlegitime Verhaltensweisen vor der Tur nicht mehr gelten.
Diese Regularien gingen bislang von der Gemeinschaft bzw. von den Gemeinschaften
aus - Nachbarschaften und Hausgemeinschaften. Wichtig in unserem Zusammenhang ist
nicht der Grad der Organisation, sondern das Gefuhl von Zugehorigkeit Der Systembruch
hat dieses Gefuhl der Zugehorigkeit erschUttert weir ohne ein offenes Gesprach nicht zu
klaren war, ob die Gemeinschaft weiter besteht - z.B. nicht mehr als formale Hausgemein
schaft mit HGL (also Hausgemeinschaftsleitung) aber vielleicht als Mieterversammlung oder
als Versammlung der Genossinnen und Genossen, urn die Angelegenheiten mit dem Vor
stand oder der Geschaftsleitung der Genossenschaft zu klaren. Das unsichere Gefuhl, ob je
mand noch dazu gehoren mochte oder nicht resultiert auch aus der Unsicherheit ob aus
der Zugehorigkeit Diskriminierung erwachsen kann oder nicht Wenn z.B. eine Frau mit ih
rer DFD-Gruppe im Advent eine Kaffeerunde organisiert hat bei der Handarbeiten fur den
Solibasar gestrickt oder gehakelt wurden: was ist verwerflich daran? Andererseits war der
DFD (Demokratischer Frauenbund Deutschlands) eine der politisch kontrollierten Massen
organisationen der DDR.
1m Moment zerfallen oder sind schon zerfallen die lokalen Gemeinschafien, von denen
die Regulative fur das angemessene Verhalten urns Haus im Stadtteil ausgingen. Es ent
stehen sowohl Konkurrenzen urn die Raume, die nun "frei" im Sinne von unbestimmt sind,
wie auch Angste und Unsicherheiten daruber, daB man nicht mehr weiB, was nun gilt Die
se Verunsicherung wird durchaus als Enteignung wahrgenommen. "Das ist nun nicht mehr
meins", ist eine Formulierung einer Bewohnerin des Heckert-Gebietes in Chemnitz, die in
zwischen mit ihrer Familie ins Umland gezogen ist Fur sie ist es ein ganz bewuBter Bruch
mit der Stadt die nicht mehr Karl-Marx-Stadt ist MEIN'S meint hier nicht Besitz in einem ju
ristischem Sinne, sondern das Recht aufVerfugung und Nutzung. Das Recht zu gehen und
zu stehen, den FuB hinzusetzen.
Die Angstlichen folgen anscheinend eher derVerunsicherung und ziehen sich aus dem
Freiraum zuruck - je geringer sie ihre Durchsetzungsf<ihigkeit empfinden, desto eher. Von
Frauen ist zu horen, daB sie abends nicht mehr auf die StraBe gehen oder sich von ihren
Mannern bringen und hoi en lassen. Aber auch ein Ehepaar, das fruher in Konzerte und ins
Theater ging, lam das nun sein. Der Mann sagt, er wolle sich nicht abends anpobeln oder
verprugeln lassen.
124 CHRISTINE WEISKE
DESSAU. Lustgarten. 1995
125
Die Kinder und die Jugendlichen gehen anscheinend offensiver mit dem freiwer
denden Raum um. Allerdings verfiigen auch nicht sie iiber den Riickzugsraum der Woh
nung, sondern ihre Eltern. Wenn sie den Reglementierungen dort entgehen wollen, dann
miissen sie raus. Diese raumgreifende Kraft lost bei den Erwachsenen zusatzliche Ver
unsicherung, aber auch Neid aus. Die Jugendlichen, die im Freiraum agieren z.B. als
Scateboardfahrer oder als biertrinkende und rauchende Gruppe wirken ungemein pro
vokativ auf die Alteren, die ihre Angste auf die Jiingeren projizieren. In dem MaBe je
doch, in dem die Jugendlichen sich den freien Raum nehmen und aneignen, wecken sie
bei den Erwachsenen VerlustgefUhle. Das vage Gefiihl der Enteignung laBt sich nun mit
Personen verbinden. Es entsteht Raumkonkurrenz, noch bevor konkrete Nutzungsan
spriiche miteinander konkurrieren konnten, die in einem verniinftigen Planungsverfah
ren gegeneinander abgewogen und harmonisiert werden konnten. Diese Raumkonkur
renz wird eigentlich nicht um Flachen und Nutzungen im Freiraum des Wohngebietes
gefUhrt, sondern um Lebensperspektiven, um Hoffnungen, um ein Bild von Zukunft und
ein LebensgefUhl, das einem die MuBe verschafft, einfach so an der Ecke zu stehen, zu
quatschen und zu rauchen. Was die Jugendlichen in ihrer Gruppe eigentlich so bewe
gen, was sie zusammenhalt, welche Konflikte sie ihrerseits haben, wissen die Erwach
senen kaum.
So geht der Verfall der alten lokalen Gemeinschaften einher mit zunehmenden Kon
flikten, die neue Inhalte und Anlasse haben, und die auch in der Struktur von Generati
onskonflikten ablaufen konnen oder schon ablaufen. Das ist in gewisser Weise auch neu
fiir die alte DDR, die ihre Generationskonflikte unter der Decke gehalten hat Nicht um
sonst gab's bei uns kein '68. Die Vater hatten die Sohne und erst recht die Tochter ganz
gut an der Kandare.
Die Verlustangste, die mit dem Verfall der Gemeinschaften verbunden sind, werden
nicht als solche zur Sprache gebracht Sie finden andere Oberschriften, die als nicht so
beschamend empfunden werden wie Angst Eines dieser Themen heiBt "Ordnung und
Sauberkeit". Dieses Thema muB nicht eigens begriindet werden, es ist sozusagen evident
unter "anstandigen Leuten". Es driickt sowohl die Verunsicherung der Sprecherinnen und
Sprecher aus als auch ihre Wiinsche nach einer allgemeinverbindlichen Norm, von der
Sicherheit ausgehen konnte. Gleichzeitig laBt es zu, die Aggressionen zu adressieren an
die, die die Ordnung storen und die den Dreck verbreiten. Es ist das Prinzip Siindenbock,
das unter dem Thema Ordnung und Sauberkeit abzulaufen scheint
Allerdings gibt es auch Neubaugebiets-Bewohner, fUr die die Distanzierung in den
Nachbarschaftsbeziehungen genau das ist, was sie gut finden. Die soziale Kontrolle
wird schwacher und interpersonelle Anordnungen sind weniger hierarchisch als in
den alten Gemeinschaftsbeziehungen.
126 CHRISTINE WEISKE
SELBSlVERTRAUEN UNO OFFENTLICHKEIT
Ich kann in das Lamento Ober den Verfall alter Gemeinschaften nicht einstimmen. Ich
deute den Verfall der alten lokalen Gemeinschaften als notwendigen Schritt eine Bezie
hungskultur des Politischen zu ermoglichen. Wenn Gemeinschaftsbeziehungen zugewie
sene Beziehungen sind durch Verwandtschaft oder im Faile der Nachbarschaften durch das
Wohnungsamt, kommt es jetzt auf gewahlte Beziehungen an. "Mit WEM will ICH WAS un
ternehmen?" ware die Frage. Die Frage klingt so simpel und wenig theoretisch abgehoben,
aber sie hats in sich.
In Schwerin 1991 fragten wir z.B.: "Wofur interessieren Sie sich in Ihrem Wohngebiet?"
Bei den Antworten rangierte auf dem 1. Rangplatz "lch habe keine Interessen." (86 Nen
nungen); (2.) ..Ich interessiere mich fur Ordnung und Sauberkeit" wurde 48 mal genannt; (3.)
.,Seit der Wende interessiere ich mich fur nichts mehr" wurde 33 mal angefuhrt und (4.) "FOr
das GrOn und die Hausgarten", war eine Antwort, die 21 mal gegeben wurden. Auf dem 5.
Rangplatz folgten "Parkplatze" und .,Sport- und TanzveranstaltungenU mit jeweils 6 Nen
nungen, die weiteren 56 Antworten streuten so breit, daB wir sie nicht mehr Rangplatzen
zuweisen konnten (Weiske/Schafer 1993: 122).
Die sozialen Reservoirs, aus denen sich eine andere Beziehungskultur entwickeln
konnte, waren nach der ErschOtterung der Wende sehr bescheiden. Die Aktivitatspotentia
Ie sind auch heute noch gering. FOr die sozialwissenschaftliche Forschung ergibt sich hier
die Frage, wie diese Potentiale zu unterstutzen und zu erweitern sind, damit die Lethargie
und die Sehnsucht zurOck sich nicht verstarken, sondern damit sich eine Perspektive offnet
fur moglichst viele Leute.
Aber nun zum SchluB will ich auf Hannah Arendt zurOckkommen. Es geht urn
nichts Geringeres als urn die Gewinnung des Politischen und des Offentlichen. Wenn
solche Stadtteile, wie z.B. Jena-Lobeda, ein stadtisches Leben entwickeln konnten, dann mOB
te es eine interne Entwicklung auf der Beziehungsebene und dann eine auBerliche, wahr
nehmbare auf der stadtebaulichen Ebene geben. Ais urbane Stadte werden solche be
zeichnet, die spontan und lebendig sind, die eine offene Atmosphare haben, so daB jeder
am Leben sich beteiligen kann und auch selbst lebendig sein kann: als Zuschauerin
oder ZuhOrerin bei einer StraBenmusik. als Mitspielerin z.B. bei einem Werbequiz, als Kau
ferin in einem Laden, als Kundin in einem Cafe, als Diskutandin in einem Streitgesprach
Ober Gott und die Welt oder die Hundekacke Oberall, als Helferin fur eine Frau mit einer
groBen Tasche.
Die Tage rund urn den verhOllten Reichstag haben genau diese Situation hervorgebracht
Die Gewinnung des Politischen bedeutet ja nicht allein, daB ich an einer Demo gegen die
Abholzung des Regenwaldes oder den OTV-Streik teilnehmen mOBte, obwohl beides in den
Bildnis Hannah Arendt vor der Silhouette eines Neubaugebietes 127
Raum des Politischen gehOrt, sondern daB der freie Raum mit Ereignissen erfiillt werden
kann, die nicht durchreglementiert sind, deren Ausgang offen ist
Bewahrt haben sich dafiir in der mensch lichen Kultur die StraBe und der Platz. Das
sind kulturelle Muster, die lesbar sind, die verstanden werden, die es lohnt zu kultivieren.
Wenn Sie sich zum Beispiel in eine digitale Stadt im Internet einloggen, dann finden Sie
dort StraBen und Platze, auf denen Sie entlanggehen konnen und die Sie durch die Stadt
fiihren. Sie konnen zielgerichtet eine Adresse aufsuchen oder bummeln und einfach mal
gucken, was Sie finden. Also auch da, wo kein Stein auf dem anderen liegt, wird das Mu
ster STADT virtuell wiederholt
1m Neubaugebiet spielen StraBen und Platze fast keine Rolle, weil es sie nahezu nicht
gibt Ais Raumanordnungen gibt es sie nicht, weil mit der Platte schwerlich solche Raume
hergestellt werden konnten. Es entstehen andere Arten von Raumen, die anders genannt
werden mtiBten, "freiflieBende Raume" hat sie z.B. Joachim Bach, einer der Architekten von
Halle-Neustadt, genannt In diesen freiflieBenden Raumen ist es schwieriger zu klaren, was
wo geht und was nicht Sie enthalten zu wenig Strukturen und zu wenig Orientierung - und
verhindern damit eher Aktionen, als daB sie sie ermoglichen. Obwohl es im Neubaugebiet
schwerlich StraBen und Platze gibt, mtissen also Strukturen gefunden werden, die wie
StraBen und Platze funktionieren, damit verhandelt werden kann, was aile gemeinsam be
schaftigt oder angeht Und dennoch wird dort nur etwas passieren, wenn es Leute gibt, die
gemeinsame Angelegenheiten haben.
Eine Stadt entsteht dort, wo Stadterinnen und Stadter eine Stadt bauen und betreiben
- das zeigt das Beispiel der digitalen Stadte gut Jetzt scheinen wir uns im Kreis zu bewe
gen, denn das ist wieder die oft gestellte Frage, ob zuerst die Henne war oder das Ei.
Aber es hilft nichts - es ist tatsachlich ein Zirkel. dessen SchluB immer wieder auf seinen
Anfang verweist
Was als Thema zur Verhandlung ansteht, ist eben der Stadtumbau seiber. Wenn diese
Verhandlung stattfindet, dann ware das ein Schritt, das Offentliche und Politische wieder
herzuholen, und es ware eine mogliche Form der Bewaltigung der psychischen Foigen ei
ner Despotie des Haushalts mit seinen totalitaren Elementen. Wenn es das Offentliche und
den offentlichen Raum klinftig in einem Neubaugebiet gibt, dann muB sich auch das Pri
vate und Intime deutlicher abgrenzen lassen. Diese Grenzlinie zwischen den beiden Seins
ordnungen war im Verstandnis von Hannah Arendt wichtig, weil tiber diese Grenze der Zu
gang oder der AusschluB von Personen zu bzw. aus der politischen Sphare geregelt wurde.
Wenn die DDR als Gesellschaft durch die "Privatisierung des Politischen" zutreffend zu
charakterisieren ist, dann sind auch die Manner nicht in die politische Sphare liberge
wechselt, weil es die nicht gab und der groBe Haushalt hat lediglich zur Domestizierung
selbst des Hausherren und seiner Sohne gefiihrt Und wenn diese Domestizierung die Grund-
128 CHRISTINE WEISKE
lage der Gleichstellung der Sohne und der Tochter war, dann haben zumindest die Tochter
nichts gewonnen dabei, jedoch die Sohne veri oren.
Unter den Bedingungen des groBen Haushalts etwas zu werden, konnte fUr die Frau
en und die Tochter nur heiBen, eine groBe Haushalterin zu werden. Das ist nichts Verwerf
liches. Und die hausfraulichen Fahigkeiten vieler Frauen in der DDR waren bewunde
rungswurdig, sie konnen Marmelade koch en und stricken, nahen und backen, verstehen
etwas vom Garten und von Kinderpftege und -erziehung, manche auch von ihrem Trabi. In
einer Gesellschaft ohne Markt muBte vieles in der Hauswirtschaft seiber hergestellt werden.
Mit derselben hausfraulichen Umsicht sind sie oft an ihren Beruf herangegangen - die Kin
dergartentante ist bis zu ihrem Namen, der aus der verwandtschaftlichen Gemeinschaft ent
nommen wurde, ein guter Beleg dafUr.
Xanthippe war auch eine groBe Haushalterin, ohne ihre umsichtige HaushaltsfUhrung
ware Sokrates wahrscheinlich verhungert und vergammelt Wie man bei Brecht nachlesen
kann, hat sie seine Heldentaten auf dem Schlachtfeld mitgetragen und ihm ein FuBbad her
gerichtet und den Dorn aus seinem FuB gezogen. Dieser Dorn, den er sich eingetreten hat
als er abhauen wollte, hatte ihn so zum Schreien gebracht daB er mit seinem Geschrei die
Feinde verjagt hat Sie war eine fUrsorgliche Frau. Und was ihr den weniger schmeichel
haften Leumund eingebracht hat war der Umstand, daB sie den Sokrates immer wieder an
seine Pflichten als Hausherr erinnert hat ihn zuruckgeholt hat in die Hauswirtschatt, weil
aus ihrer Perspektive das Private wichtiger war als das Politische.
Das Private muB in einen anderen Zusammenhang gestellt werden - in den Zusam
men hang zum Politischen. Denn das sollte uns der Zusammenbruch der DDR gelehrt ha
ben: der Katastrophe entkommt man nicht im Privaten.
Die Verdeutlichung der Grenze zwischen dem Privaten und dem Offentlichen ist
wichtig, weil sich am Obergang uber diese Grenze der Anspruch geltend machen muB,
als freies Mitglied der Polis, des politischen Gemeinwesens, gelten zu wollen. Hannah
Arendt hat niemals den Haushalt als die Sphare des Privaten und Intimen gering geschatzt
oder gar abgewertet Sie hat diese Sphare geschlitzt und nur wenige Freunde einge
lassen. Aber sie gehorte zu den Frauen, die ihren Anspruch aufs Sprechen und Handeln
immer aufrecht erhalten haben. Sozusagen wollte sie Xanthippe und Sokrates in einer
Person sein. Von der privaten in die offentliche Sphare zu gehen, hielt sie fUr ihr Blirger
recht Und das war ihr Beruf als Intellektuelle. Von der offentlichen in die private Sphare
zu gehen, war ihr ein Bedlirfnis, urn Schutz zu haben, sich zu entziehen, sich zu
erholen. Georg Simmel philosophierte in seiner ..soziologie des RaumesU (1903/1992:
229): "Die Grenze ist nicht eine raumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen,
sondern eine soziologische Tatsache, die sich raumlich formf. Wenn also die Grenze zwi
schen Offentlichkeit und Privatheit in den raumlichen Strukturen des Neubaugebietes
Bildnis Hannah Arendt vor der Silhouette eines Neubaugebietes 129
schwer zu finden ist oder nicht zu finden ist dann spiegelt die raumliche Entgrenzung
eine soziale.
Entgrenzte Zustande sind immer strukturschwache Zustande, dicht am Kollaps. Des
halb ist es wichtig, daB die Unbestimmtheit die in solchen schwachdefinierten Zustanden
wie dem Freiraum der Neubaugebiete liegt reduziert wird. Durch Planung zum Beispiel. Und
doch muB es auch immer wieder moglich sein, die Definition zu andern. Durch Gegenpla
nung zum Beispiel.
Dieser Gedanke, daB NICHTS auBerhalb von Strukturen sein kann, daB Nachdenken
und Reflektieren heiBt Strukturen zu setzen, war Hannah Arendt genauso naheliegend, wie
der Gedanke, daB jede Struktur mit politischer Relevanz demokratisch legitimiert werden
muB und somit verhandelbar und anderbar wird. Damit schlagt sie ein Verfahren vor, mit
dem Ligaturen geknupft werden, urn Irritationen und Verunsicherungen abzuwenden, da
mit der Mensch auf der Erde eine Welt haben kann - und gleichzeitig halt sie die Optionen
frei, daB diese Ligaturen wieder entflochten werden konnen. Die lebendige Kommunikation
ist die Institution, die das leisten kann. In ihrer das Gemeinsame stiftenden Funktion ist sie
nicht ersetzbar durch ein technisches Medium.
Die Vita activa haust sozusagen im freien und offenen Gesprach.
LlTERATUR Arendt, Hannah 1981: Vita Activa oder Vom tatigen Leben. MGnchen: Piper
Reimann, Brigitte/Henselmann, Hermann 1994: Briefwechsel. Hrsg. von Ingrid
Kirschey-Feix. Berlin: Verlag Neues Leben
Habermas, JGrgen 1962: Strukturwandel der Offentlichkeit Darmstadt und Neuwied:
Luchterhand
Flierl, Bruno 1991: Stadtgestaltung in der ehemaligenDDRalsStaatspolitik.ln:
Marcuse, Peter/Staufenbiel. Fred (Hrsg.l: Wohnen und Stadpolitik im Umbruch. Berlin:
Akademie Verlag, S. 49-65
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Silbermann, Alphons 1993: Das Wohnerlebnis in Ostdeutschland. Koln: Verlag
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Simmel, Georg 1993: Das Individuum und die Freiheit Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Simmel, Georg 1992: Schriften zur Soziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Topfstedt, Thomas 1988: Stadtebau in der DDR 1955-1971. Leipzig: Seemann
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130 CHRISTINE WEISKE
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Zapf, Katrin/lung, Gerhard/Pfeiffer, Christian/Breuer, Dagmar 1995: Mieterstudie
Weimar-Nord 1994. Stuttgart: IRB Verlag
Bildnis Hannah Arendt vor der Silhouette eines Neubaugebietes 131
JENA.. BinswangerstraBe. 1995
132
DIE NEUBAUGEBIETE Fotografien
JOrgen Hohmuth
133
lENA. Lobeda-West. 1995
134
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JENA. Lobeda-West 1995
135
JENA. Blick zum Heizkraftwerk von Jena-Winzerla. 1995
136
JENA. Fritz·Ritter·StraBe. 1995
137
JENA. Werner-Seelenbinder-Stra13e. 1995
138
WEIMAR. Moskauer StraBe. 1990
139
DESSAU. Pappelgrund. 1989
140
DESSAU. ViethstraBe. 1995
141
JENA. Emil-Wtilk-Stral3e. 1995
142
JENA. Stauffenbergstrai3e. 1995
143
JENA. Lobeda-West. 1995
144
DESSAU. Otto·Langwagen-StraBe. 1989
145
JENA. Lobeda-West. 1988
146
JENA. BinswangerstraBe. 1995
147
JENA. Karl-Marx-Allee. 1988
148
DESSAU. Neuendorfstral3e. 1995
149
DESSAU. Am Lustgarten. 1995
150
JENA. Richard-Sorge-StraBe. 1988
151
JENA. Werner-Seelenbinder·Strafle. 1988
152
lENA. Stadtrodaer-StraBe. 1995
153
DESSAU. 1995
154
DESSAU. Bauhofstral3e. 1995
155
WEIMAR-WEST. 1990
156
WOHNZUFRIEDENHEIT VERSUS ALLTAGSERFAHRUNG
Wie Umfrageergebnisse in der DDR nicht verwertet werden durften
Alfred Schwandt
157
Die Fotos dieses Bandes drucken es aus: Das stadtische Leben im Wendegebiet hat
sich in wenigen Jahren deutlich verandert Selbst in Schwarz-WeiB wird erkennbar, daB die
Stadte anders geworden sind, bunter. Reklametafeln beherrschen das StraBenbild, Markte
gehoren zum Alltag, die Blumen- und Gemuseladen zeigen nie geahnte Farben und
Formen. Ober Jahrzehnte vernachlassigte alte Hauser werden erneuert oder verschwinden,
haBliche Baulucken fUlien sich mit Arch itektu r, die ihre computergezeichnete Herkunft
nicht verleugnet
Die wichtigsten - und wohl auch teuersten - Veranderungen vollziehen sich allerdings
zuerst in Bereichen, die nur als Baustelle erlebbar und solange fUr Passanten eher ein Ar
gernis sind: in und auf der Erde. Denn von dort, von den Versorgungsleitungen und Ver
kehrswegen her, drohte diesen Stadten uber kurz oder lang der endgultige Kollaps. Fur ihre
Erneuerung reichte vor der Wende die Investitionskraft nicht aus, sie wurden nur im Havarie
fall notdurftig geflickt
Kein Zweifel, die Stadte werden schoner, bunter, lebendiger. Aber wie erleben die Be
wohner diesen ProzeB, hat sich denn ihr Urteil uber die Stadt im gleichen MaBe positiv ver
andert? Sicher, nur ein Ignorant konnte gegenuber den sichtbaren Wandlungen in seiner
Stadt gleichgultig bleiben. Man muB die beginnende Verschonerung der Stadte begruBen,
auch wenn nicht alles, was da neu entsteht, gelungen scheint und sich respektvoll zum Vor
handenen fiigt
Doch heiBt dies im UmkehrschluB, daB die Bewohner in Zeiten vor der Wende, als sich
die Bautatigkeit im Umfeld der Stadte konzentrierte und die durchaus gewollte Erneuerung
der Innenstadte den Wettlauf mit der Zeit nicht gewinnen konnte, ihre Stadt ungunstiger
beurteilen muBten als heute, daB sie einfach unzufriedener waren? Die Frage wird nur
schwer und mit zunehmendem Abstand immer schwerer zu beantworten sein, da die fruhe
re Zeit in der Geschichte versinkt und Belege fiir das Urteil der Menschen uber ihre dama
lige Lebensumwelt kaum existieren.
Es ware die Aufgabe der Soziologie gewesen, solche Belege zu sammeln und zu do
kumentieren. Diese aber litt unter einem weitestgehenden Wirklichkeitsverlust und hatte
ihren ureigensten Forschungsauftrag, die kritisch-distanzierte Gesellschaftsanalyse, vollig
preisgegeben. In dieser Hinsicht war die Soziologie in der DDR in einer ahnlichen Situation
wie die Fotografie: soweit sie unter Kontrolle waren, duldete man sie nur in ihrer system
stabilisierenden Funktion. NatGrlich gab es eine gesellschaftskritische Fotografie ebenso wie
eine gesellschaftskritische Soziologie. Beide aber entwickelten sich abseits der Offentlich
keit und blieben standig beargwohnte Privatsache einzelner Akteure.
Gesellschaftskritische Momente findet man mehr oder weniger in allen soziologischen
Untersuchungen der damaligen Zeit, doch sie blieben meist auf das Bekritteln von Belang
losigkeiten beschrankt und fanden selten zur analytisch-kritischen Auseinandersetzung mit
158 ALFRED SCHWANDT
konstitutiven Elementen der Gesellschaft:. So gab es zwar auch Untersuchungen zum Ver
haltnis der Bewohner zu ihrer Wohnumwelt oder Stadt die unter dem Stichwort "Wohnzu
friedenheir Auskunft geben sollten liber das MaB der Identifikation mit den als .soziali
stischU bezeichneten Erscheinungsformen neuer Baukultur. Aber man muB den Ergebnis
sen auch dieser Untersuchungen allesamt miBtrauen, denn sie waren nur oberflachlich auf
das Erfragen von Pauschalurteilen aus und zu wenig analytisch und auf das Hinterfragen
von Verursachungen angelegt
Man hat sich liberhaupt nicht darliber zu wundern, daB diese Untersuchungen durch
weg Mehrheiten fi.ir die Bejahung der Lebens- und Wohnumwelt signalisierten, selbst in tri
sten GroBplatteneinoden, die noch halbfertig und miserabel ausgestattet waren. Diese Be
fragungen brachten die gleiche Erfahrung wie aile ahnlich gearteten soziologischen Unter
suchungen zur Wohnzufriedenheit: Alles in allem und pauschal fallt die Antwort
liberwiegend stets positiv aus. Egal. ob die Menschen in einer neuen oder morbid gewor
denen Wohnumwelt leben, ob ihre Wohnungen zu groB sind oder zu klein, die Hauser grau
oder bunt die Stadte laut und voller Leben oder still und vertraumt sind. In aller Regel wen
den sich Planer enttauscht von solchen Befragungsergebnissen ab, denn ihr so oder so ge
artetes Vorurteil gegenliber bestimmten baulichen Situationen findet keine direkte Bestati
gung in den Einstellungen der Leute. Diese wollen, so ganz im allgemeinen, ihre Lebens
und Wohnumwelt positiv sehen, hier wie liberall.
Die meisten Menschen konnen eben nicht auf Dauer mit einer negativen Grundein
stellung leben. Wie ihre Lebensumstande auch sind, sie verstehen sich darauf einzustellen,
mit ihnen fertig zu werden und, wenn es irgend geht sie zu bejahen. Zuzugeben, daB
man sie ablehnt bedeutet ja auch zuzugeben, daB man sie nicht meistern kann und daB
man irgendwie doch auch ein kleines biBchen seiber Schuld tragt in solche Umstande ge
raten zu sein. Lieber hat man es gerade so gewollt und findet es im groBen Ganzen schon
in Ordnung.
Ober die bloBe Frage nach der Wohnzufriedenheit erfcihrt man also nicht viet sie ist im
gesellschaftsanalytischen Sinne unergiebig. Deshalb durfte sie in der DDR auch gestellt wer
den und konnte den Verantwortungstragern fi.ir die Erscheinungsformen des sozialistischen
Wohnungs- und Stadtebaus stets Genugtuung verschaffen, jedenfalls solange, wie die Ur
teile der Bewohner pauschal blieben und die Abstufungen des Urteils nicht auf ihre Verur
sachung im Konkreten liberprlift wurden.
Durch solche Analyse aber wird die allgemeine Wohnzufriedenheit auf den Prlifstand
gestellt und es kann sich zeigen, daB die pauschale Bejahung der Lebensbedingungen in
der Detaillierung auf konkrete Sachverhalte a,us dem tag lichen Lebensvollzug sich durch
aus ins Negative umformen kann, entgegen oder trotz der Bejahung im allgemeinen. 501-
che Forschung hatte entlarvend sein konnen und das positive Urteil der Bewohner liber ihre
Wohnzufriedenheit versus Alltagserfahrung 159
DESSAU.1989
160
sozialistische Wohn- und Lebensumwelt wieder in Frage stellen konnen. Deshalb waren die
Aufiraggeber fUr soziologische Forschung in der DDR an solchen vertiefenden Analysen nie
rna Is interessiert, deshalb haben sie sie entweder verhindert oder hielten sie geheim.
Ein einziges Mal wurde in der DDR der Versuch unternommen, ein Umfrage
ergebnis zur Erkundung der Wohnzufriedenheit fUr eine solche vertiefende Analyse zu
nutzen. Grundlage dafUr war eine Befragung, die im September/Oktober 1975 vom Institut
fUr Meinungsforschung im Aufirag des ZK der SED in zwolf Neubauwohngebieten durch
gefUhrt worden war. Wie an dieser Stelle ublich, war auch dieses Umfrageergebnis nicht
fUr weiterfiihrende Forschungen bestimmt sondern diente in der Rohform von auf
gelisteten Ja- oder Nein-Anteilen lediglich der direkten Information seiner Aufiraggeber.
Auf die Zusicherung .nur internen Gebrauches· sind diese Listen aber doch an eine
Forschungseinrichtung der Bauakademie gelangt und fanden dort fUr die Er
arbeitung einer soziologischen Analyse Verwendung. Sie wurde im Miirz 1977 fertiggestellt
und unter dem Titel: .Neubauwohngebiete im Urteil der Bewohner" der Abteilung Bauwesen
beim ZK der SED als Beleg ubergeben. Die Arbeit stieB auf Interesse und gelangte 50-
gar bis ins Politburo. Nach einer dort kontrovers gefUhrten Diskussion wurde eine
Weitergabe des Ergebnisses strikt verboten und die Vernichtung aller vorhandenen
Ormig-Exemplare angeordnet Das Forschungsergebnis konnte keine Wirksamkeit entfal
ten, nicht einmal eine fachinterne Diskussion war moglich. Warum diese enorme
Empfindlichkeit und Geheimnistuerei? Die Grunde dafUr liegen auf der Hand; sie wurden
bereits genannt
Fur die Umfrage waren zwolf gerade fertiggestellte oder noch im Bau befindliche Neu
baugebiete in Berlin, Cottbus, Erfurt, Halle-Neustadt Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), Magdeburg,
Potsdam, Rostock und Stadtroda-Hermsdorf ausgewahlt worden. In allen Wohngebieten
wurden jeweils etwa 300 Bewohner befragt Ihnen wurden standardisierte Fragebogen im
Umfang von 26 Fragen zugeschickt die sich mit verschiedenen EinfluBfaktoren auf die
Wohnzufriedenheit beschafiigten sowie mit einigen Wohnwunschen, mit mehreren Sach
fragen zur Wohnsituation und mit der Entwicklung von Gemeinschaftsbeziehungen im
Wohngebiet Der Schwerpunkt der Untersuchung lag in der Ermittlung des AusmaBes der
Zufriedenheit der Bewohner mit ihren Neubaugebieten, sowohl im allgemeinen wie auch
auf einzelne Elemente des Wohnmilieus bezogen.
Auch diese Untersuchung konnte ein uberwiegend positives Gesamturteil uber
die jeweiligen Wohnbedingungen registrieren, trotz aller Unfertigkeit und offenkundigen
Mangel der Gebiete. 86% der Befragten beurteilten ihr Wohngebiet mit gut oder
wenigstens befriedigend, nur der geringe Rest empfand es als unbefriedigend. Ware die Un
tersuchung damals bei dieser Aussage stehengeblieben, dann hatte sie sicherlich
fUr die Propagierung des .sozialistischen Wohngebietes· Verwendung gefunden.
Wohnzufriedenheit versus Alltagserfahrung 161
Sie blieb aber nicht dabei. Denn der Rest des Forschungsberichtes diente dem Nach
weis, daB .das pauschale Kompliment an die Neubauwohngebiete die Befragten nicht dar
an hindert. sich zu vielen funktionellen Einzelheiten auBerst kritisch zu verhalten". Der Ver
such, die in den einzelnen Positionen von Gebiet zu Gebiet unterschiedlichen Befragungs
ergebnisse aus den vor Ort tatsachlich vorgefundenen Bedingungen zu erklaren, fiihrte
zwangslaufig zur kritischen Bewertung der Voraussetzungen fiir das Alltagsleben in den
Neubauwohngebieten. Die kritische Analyse des Alltags aber war den Auftraggebern uner
traglich, andere sollten nicht auf die realen Wirkungen der sozialistischen Wohn- und
Lebensumwelt aufrnerksam gemacht werden.
Eine der wichtigsten Alltagserfahrungen im sozialistischen Wohngebiet war der Ein
kauf, oder, wie es damals hieB, die Versorgung fiir den tag lichen Bedarf. Bei der Gestaltung
der dafiir vorgesehenen Einrichtungen war den Planern vor allem ein Gesichtspunkt von In
teresse: die Zeitokonomie fiir den Einkaufsaufwand der Werktatigen. Dafiir wurde ein Sy
stem ersonnen, das fiir festgelegte Einzugsgebiete jeweils eine nach vorgegebenen Kenn
ziffern bemessene zentrale Kaufhalle mit universalem Warenangebot vorsah. Soweit dieses
System funktionierte, konnte eigentlich jeder Nutzer zufrieden sein - und war es ja auch.
Nur, es funktionierte nicht immer und nicht Oberall, und zwar aufgrund systemimmanenter
Fallstricke. Die soziologische Analyse legte genau diese Fallstricke bloB.
In den meisten Untersuchungsgebieten gab es passable bis vorbildliche Kaufhallen die
ser Art. und die Befragten zeigten sich zufrieden. Zu erklaren war aber, warum in einigen
Gebieten, die nach den gleichen Kennziffern ausgestattet waren wie die anderen, die Leu
te dennoch erhebliche Unzufriedenheit mit den Einkaufsbedingungen bekundeten. Dafiir
konnten durch die Analyse der Befragungsergebnisse mehrere GrOnde gefunden werden.
Die Konkurrenzlosigkeit der einen Kaufhalle innerhalb eines wohlbemessenen Ein
zugsgebietes hatte im Prinzip nicht viel zu bedeuten, denn bei Oberall gleichem Warensor
timent und gleichen Preisen erObrigt sich die Auswahl. Aber die Warendecke war stets zu
dOnn, so daB sie nicht fiir aile reichte und es oft in der einen Kaufhalle gab, was es in der
anderen nicht gab. Die Foigen wurden in der Analyse benannt: "Es ist wie immer in solchen
Fallen: Wenn die Waren nicht zu den BOrgern gelangen, dann folgen die BOrger den Wa
ren, auch wenn sie dafOr zusatzliche Belastungen in Kauf nehmen mOssen". Wenige blie
ben .,ihrer" Kaufhalle treu, die meisten gingen immer dort hin, wo sie mehr vermuten konn
ten. Die so schon errechnete Zeittikonomie war unter solchen Bedingungen natOrlich eine
Farce. Jeder Werktatige, so wurde damals gespottelt wenn er nicht gerade arbeitet befindet
sich bestandig auf Nahrungssuche.
Verstarkt wurde dieser Effekt noch dadurch, daB es eine Hierarchie der Belieferung gab:
Stadtische Einrichtungen wurden besser beliefert als landliche, Schwerpunkthallen reich
haltiger als andere, Bezirksstadte eher als sonstige usw. Wo das bessere Angebot war, sprach
162 ALFRED SCHWANDT
sich schnell herum. Solche Kaufhallen wurden natiirlich starker frequentiert als von den Pla
nern bemessen, andere sehr viel schwacher. All das hatte negative Auswirkungen auf den
Lebensalltag der Menschen und auf ihre Stimmung. All dies hatte man aus den Umfrage
ergebnissen herauslesen konnen.
1m Spiegel der Befragung erwiesen sich auch noch andere Saulen sozialistischer Han
delspolitik als verfehlt So etwa das gleichwertige Monopol der zwei Handelsketten HO und
Konsum. Sie besetzten mit ihren Kaufhallen die Einzugsgebiete abwechselnd: eins du, eins
ich. lu unterscheiden waren sie nur dadurch, daB man beim Konsum Mitglied sein und Ra
battmarken kleben konnte. Damit war immerhin die Weihnachtsgans zu finanzieren, ein
Vorteil, den viele nutzten. Was aber, wenn ihr Konsum erst im nachsten Einzugsgebiet war?
Dann muBten sie eben dorthin pilgern - und hatten zusatzliche Miihen und leitverluste.
Die Planer konnten die Folgen auch dieser Fehlkonstruktion aus den Befragungsergebnis
sen erfahren.
Ein geradezu vernichtendes Urteil sprachen die Bewohner der zwolfin die Untersuchung
einbezogenen Gebiete iiber das vorhandene Angebot an gastronomischen Einrichtungen.
lwei Dritlel der Befragten zeigten sich damit unzufrieden, nur 14 % empfanden sie als gut
Dabei reichten die Unterschiede in den einzelnen Gebieten von 0,0 % bis 52 % fUr "gut"
und 10 % bis 96 % fUr "unbefriedigendu• Gerade diese Unterschiede, die nicht nur aus dem
bloBen Vorhandensein oder dem volligen Fehlen von Gaststatten in den neuen Wohnge
bieten zu erklaren waren, ermoglichten auch hier den Nachweis der eigentlichen Ursachen.
Wie fUr aile "gesellschaftlichen" Einrichtungen gab es auch fUr die Gastronomie vor
gegebene Kennziffern, nach denen die Wohngebiete entsprechend der lahl ihrer Einwohner
mit Gaststattenplatzen auszustatten waren. Auch in diesem Faile galt die Konzentration al
ler moglichen Platze in einer einzigen zentralen Einrichtung als die rationellste Variante.
Die Untersuchung empfahl, das niederschmetternde Befragungsergebnis zum "An laB
einer generellen Uberpriifung der lweckmaBigkeit und der bediirfnisgerechten Orientierung
der angewendeten Gaststattentypenu zu nehmen. Sie kam zu der Feststellung, daB sich die
zentrale GroBgaststatte in Wohnungsnahe nur einer sehr geringen Beliebtheit erfreue, zu
mal dann, wenn sie nur mit "Kantinenmobeln und Plastedeckenu ausgestattet sei. Urn von
den Bewohnern angenommen zu werden, miiBte sie aber mindestens drei Grundbe
dingungen erfiillen, die haufig nicht gegeben seien: sie miiBte eine behagliche Atmospha
re bieten, sie miiBte die Moglichkeit zum kulturvollen GenuB von Speisen und Getranke bie
ten und sie miiBte - den Besucher als willkommenen Gast behandeln. Ach, das Alltags
leben in der DDR!
Die Analyse der auf diese und auf weitere Wohnerganzungsfunktionen in den Neu
baugebieten - z.B. Dienstleistungs- und Gesundheitseinrichtungen - bezogenen Befra
gungsergebnisse miindete in der Erkenntnis, "daB weniger die bauliche und funktionelle
Wohnzufriedenheit versus Alltagserfahrung 163
Qualitat der Einrichtungen fUr ihre Beurteilung ausschlaggebend sind, sondern mehr die
Qualitat ihrer Versorgungsleistungen". FOr die teilweise vernichtenden Urteile der Bewohner
waren also kaum Architekten oderTechnikerverantwortlich zu machen, sondern die Schuld
muBte in den sozialistischen Handels- und Versorgungssystemen selbst gesucht werden.
Dies muBte zu SchluBfolgerungen fUhren, die nicht zugelassen werden durften.
Der besondere Stolz der Erbauer dieser Gebiete galt der den Planungen zugrunde lie
genden Gestaltungsidee. Das kOnstlerische Prinzip, nach dem die Wohnblocke in die land
schaft gestellt und zu "groBzOgigen" stadtebaulichen Raumen formiert wurden, galt als das
eigentlich "sozialistische" an den Neubaugebieten und man hoffie, daB die Bewohner die
se neue Gestaltungsqualitat erleben und bejahen wOrden. In den siebziger Jahren wurde
die bis dahin Obliche "offene" Bebauung (Zeilenstruktur) durch die "geschlossene" Bauweise
(Blockstruktur) ersetzt und gerade die in die Umfrage einbezogenen Gebiete dokumentie
ren diesen Wechsel durch Anwendung beider Baustrukturen in besonderer Weise. Deshalb
wurde die Frage nach der Einschatzung der architektonischen und stadtebaulichen Qua
lita! dieser Gebiete gestellt in der Erwartung, daB die Bewohner den Fortschritl in der Ent
wicklung sozialistischer Gestaltungsprinzipien erkennen und honorieren wOrden.
Das Ergebnis der Befragung muBte auch in dieser Hinsicht ernOchternd wirken. Es zeigten
sich zwar tatsachlich groBe Unterschiede in der Bewertung der einzelnen Gebiete und fast
immer fiel das Urteil eindeutig positiv oder negativ aus. Die Suche nach der Verursachung
dieser Urteile ergab jedoch keinerlei Hinweise darauf. daB sie von der Erlebbarkeit einer so
oder so gearteten Gestaltungsidee beeinfluBt wOrden. Das Gegenteil war der Fall: Die
schlechteste Bewertung fanden gerade jene Gebiete, in denen eine gestalterische leitidee
durchgestanden und vom ersten bis zum letzten Wohnblock und vom ersten bis zum letz
ten stadtebaulichen Raum abzulesen war. Es handelte sich dabei durchweg um Wohnge
biete "auf der grOnen Wiese", deren "sozialistische" Qualitat von den Bewohnern also
offensichtlich nicht honoriert wurde.
Wesentlich besser schnitlen dagegen solche Gebiete ab, bei denen auf vorhandene Be
bauung und stadtebauliche Strukturen ROcksicht genommen werden muBte, die also Ele
mente des Zufalligen und Einmaligen enthielten. Offenbar fiel es deren Bewohnern leich
ter, sich mit dem entstandenen Wohnmilieu zu identifizieren und sich darin heimisch zu
fOhlen, als in der Monotonie der nach einem Gesamtkonzept gestalteten Gebiete.
Aus der Sicht des Bewohners, so wurde argumentierl, scheint es besonders wichtig zu sein,
eine Foige wechselnder Raumerlebnisse zu schaffen, die sowohl Ober die Funktion wie Ober
die Form eine Vielzahl von Kontrasterlebnissen bietet Man sucht im Wohnbereich den Wech
sel von Raumformen, um sich orientieren zu konnen, man benotigt die Intimitat und Ge
schlossenheit des engeren Wohnbereiches ebenso wie das Erlebnis der Weite und Ver
flechtung in ein Obergeordnetes Ganzes. Je weniger das Zuhause aus den Fensterreihen
164 ALFRED SCHWANDT
der doch immer gleichen Fassaden zu erkennen ist urn so mehr muB es an anderen und
mtiglichst einmaligen Merkmalen des auBeren Raumes abzulesen sein.
50lche Gesichtspunkte schienen zum damaligen Zeitpunkt bei der 5uche nach der "neuen
sozialistischen Qualitat" der Wohngebiete vtillig in den Hintergrund geraten zu sein. Ge
staltungsideen wurden auf Bebauungsplanen und Modellen mitgeteilt und erlebbar ge
macht wah rend das reale Leben in den entstehenden 5trukturen kaum noch Beachtung
fand. 50 konnte die Monotonie der graBen Neubaugebiete mit ihren immer gleichen Ge
baudeformen und AuBenraumen entstehen. 50 auch konnten sich maBstablich vtillig Ober
zogene stadtebauliche Raumstrukturen entwickeln, in denen sich die Bewohner nicht mehr
behaglich und behaust fuhlen konnten. Zwischen den Hausern seines Gebietes, so brach
te es einer der Befragten auf den Punkt "habe man immer das Gefuhl. in einem nach allen
5eiten offenen Zimmer zu leben, in dem sich weder Fenster noch TOren schlieBen lassen,
in dem also auch keine Warme entstehen und in dem man nie fur sich sein kann."
5tadtebau, so das ResOmee der Analyse, der nur im Formalen begrOndet ist ist lebensfremd.
Jede gestalterische Absicht muB auf das Leben innerhalb der entstehenden stadtebaulichen
Raume berechnet sein. FOr die Wirksamkeit einer Bebauungsidee kame es nicht darauf an,
daB im Bebauungsplan graphische Effekte erzielt werden oder daB sich Gestaltungsprinzi
pien durch Betrachtung des Modells erschlieBen. Nur wer damit rechnen dart; daB die nach
solchen Prinzipien gestalteten Gebiete auch im tag lichen Gebrauch als wohltuend emp
funden werden, nur dann haben sie wirklich eine Berechtigung.
Die Analyse mOndete in der These, daB ein Wohngebiet das vom Bebauungsplan her kei
ne Konsequenz in der Durchsetzung einer kOnstlerischen Leitidee erkennen laBt dafur aber
echte Lebensraume fur die Bewohner bietet in seiner stadtebaulich-architektonischen Qua
litat hoher einzuschatzen ist als ein Gebiet das zwar einer Leitidee folgt in seiner kOnstle
rischen Wirkung aber abstrakt bleibt weil sie nicht auf das maBstabliche Verhaltnis zu den
Menschen berechnet ist die in der entstehenden Umwelt leben mOssen.
Die Analyse der Umfrage von 1975 wurde 1977 Obergeben. Viele der graBen Neubauge
biete in der DDR sind erst danach entstanden. Vielleicht hatte eine Diskussion solcher Ge
sichtspunkte einiges bewirken konnen. Man hat diese Diskussion nicht gewollt - man
hatte Ober das reale Leben sprechen mOssen.
Wohnzufriedenheit versus AJltagserfahrung 165
DESSAU-NORD.1989
166
STADTE VERANDERN IHR ALLTAGSGESICHT Soziologische Gedanken zu Bildern der Transformation
Rainer Mackensen
167
STADTISCHE TRANSFORMATIONEN
Das Gesicht der Stadte wird standig verandert Bewohner wie Besucher halten sich gem
an das Bekannte; dies aber schwindet dahin. Die .herrschenden Machte" greifen in das Stadt
bild ein, und sie selbst wechseln. Sie nehmen auf die altemde Substanz keine Rucksicht;
das wollen sie auch gar nicht sondem sie wollen .der Stadt" ihren Stempel aufdrucken, den
Stempel der - jeweiligen - Modernitat
Transformation ist Machtwechsel. und so zeigen die Stadte auf dem Hintergrund ihrer
verdrangten Geschichte die leichen der vergangenen wie der neuen Macht Transformation
ist auch Szenenwechsel: Die prominenten Akteure treten ab, andere nehmen ihre Stelle ein.
Transformation ist Rollenwechsel; kaum einer spielt nachher die gleiche Rolle wie zuvor.
Die Menschen bleiben, groBenteils. Einige sind ausgewichen, andere hinzugekommen.
Fur die Neuen ist die Stadt anfangs fremd; sie wird ihnen allenfalls bekannt als ein Gemisch
aus Geschichte und den Merkmalen der vergangenen wie der neuen Macht In dem Gewirr
finden sie die Moglichkeit allein zur Wiederherstellung oder zur Erneuerung, je nach Nei
gung und Interesse. Eine Orientierung an der Kontinuitat der Stadt finden sie nicht
Auch den Gebliebenen rinnt solche Orientierung durch die Finger. Sie halten sich fest
am Gewohnten, am alten wie am uberholten; das Neue ist ihnen noch fremd. Sie erkennen
auch weder ein liel derVeranderungen noch eine Kontinuitat fUr ihre Orientierung. Die Stadt
ist im FluB.
Die vorausgegangenen Stadien sind schon vergessen: Auch diese Stadte der DDR wa
ren zuvor nationalsozialistische, davor burgerliche, weiter zuruck fUrstliche Stadte; die Sta
dien sind zu Episoden geschrumpft, deren leichen - untergemengt in den Substanzen ei
ner langen Geschichte - verschwimmen. Die leichen und mit ihnen die Geschichte war fUr
Jahrzehnte dem Verfall uberlassen. Das sollte auch so sein: Die Geschichte sollte erst 1949
einsetzen, neu begonnen und geschrieben werden. Die Stadte zeugen davon.
Die Umwelten des Alltags hangen nur mit wenigen Faden an den Signaturen der hi
storischen Stadt welche als Symbole fUr die Identitiit der Einheimischen und fUr die Identi
fizierbarkeit durch AuBenstehende gelten. Wah rend diese fUr die Einmaligkeit der Stadt ste
hen, sind die Alltagswelten austauschbar.
Auch in ihnen sind Stadtkern, Wohngebiete und Randzonen unterschieden, und inso
weit gleichen diese sich unter den Stadten doch wieder. Sie gleichen einander auch uber
Episoden, Epochen und Herrschafissysteme hinweg: Untersuchungen in verschiedenen
Stadten sozialistischer Lander (Musil 1960; Szeh~nlyi 1974) haben gezeigt daB die sozialen
Merkmale der Stadtzonen denjenigen in kapitalistischen Landern (Hamm 1977; ders. 1982;
Hamm/Neumann 1996; Friedrichs 1977; ders. 1996) ahneln, obgleich sie doch in diesen ge
rade der Macht der Bodenpreise zugeschrieben wurden, welche in jenen beseitigt waren.
168 RAINER MACKENSEN
Hinter solchen Kraften stehen offenbar noch fundamentalere, namlich solche der gesell
schaftlichen Hierarchien und Statuszuweisungen, welche sich lediglich mit unterschiedlichen
Mechanismen - hier Bodenmarkt, dort Zuteilungen von Nutzungsrechten - durchsetzen.
Die Alltagswelten werden auch die Transformation i.iberstehen, wenngleich bei Aus
tausch der funktionalen Eliten wie ihrer Helfershelfer einerseits, der Randstiindigen ande
rerseits. So i.iberdauert die Stadt doch die sozialen Systeme wie die Machtstrukturen; die
sichtbaren Zeichen andern sich, wie der Alltag, mit ihnen. Sie andern sich nicht plotzlich
und durchgangig; vielmehr fressen sich die neuen allmahlich in den Bestand der Zeichen
aus vorausgegangenen Zeiten hinein.
Wie wird die Stadt schlieBlich aussehen? Wann wird sie ein neues Gesicht ausgebildet
haben, das verstandlicher ist als das zerrissene Bild der Hautungsperiode? Welche Men
schen werden sie schlieBlich beleben?Welche Sozialstrukturen werden kennzeichnend wer
den? Das alles ist noch offen.
Vorerst erscheinen Mischungen, Uberblendungen, Eindringendes charakteristisch fi.ir
die voranschreitende Transformation. Alteres scheint durch und Altes. Das Verfallene verfallt
zusehends vor sich hin, wenn ihm nicht eine neue Fassade alten Stils vorgesetzt wird. Das
Vori.ibergegangene hat Bestand, wird freilich schabiger - oder aufgeputzt Das Alte wird zum
Denkmal - oder iiberfliissig, beseitigt ersetzt
Nicht alles Alte kann zum Denkmal mutieren, neue Fassaden bekommen, aufgeputzt
werden. Selbst dann ware es noch Element der Uberschichtungen, die jede Stadt pragen.
Aber es wird daneben auch Verfall bleiben. In den Sozialstrukturen ist das nicht anders. Vor
erst zeigt es sich in Gesichtern, Kleidungen, Korpersprachen.
Die Stadte Ostdeutschlands haben iiber die "vierzig Jahre" ihr Gesicht behalten; aber
es ist alt geworden. Nur wenige Bauten politisch unverdachtiger Erinnerung wurden zuletzt
doch wiederhergestellt: das niitzte dem internationalen Ansehen und dem Tourismus. Nur
die Bezirkshauptstadte waren als Versorgungsmitlelpunkte anerkannt; sie verloren dennoch
Einwohner an die industriellen Zentren und, insbesondere, an die Hauptstadt Der biirgerli
che Mitlelstand der Stiidte fand keine Unterstiitzung. Er unterliegt auch jetzt den Investo
ren in Versorgungszentren auf der Griinen Wiese und den Ablegern westdeutscher Pro
duktionsunternehmen. Aber: waren die neuen Handelszentren nicht zumindest anfangs not
wendig, um den Versorgungsstand schnell auszugleichen?Wer hatle ein Abwarten zumuten
konnen - und ware das hingenommen worden? Jetzt veroden die Zentren der Stadte zum
dritlen Mal, nach Zerstorungen im Krieg und der Vernachlassigung seither.
Bis sie in den BOer Jahren zu adretlen Mitlelstiidten wurden, brauchten die Stadte West
deutschlands drei Jahrzehnte; bis dahin waren sie vielfach kaum besser dran als ihre Pen
dants in Ostdeutschland. Schneller wird es auch bei diesen nicht gehen konnen, wenn iiber
haupt Und es wird anders gehen.
Stadte verandern ihr Alltagsgesicht 169
Die ostdeutschen Stadte Oberholen die westdeutschen. Die Transformation bleibt nicht
Nachahmung, wenn sie auch so begonnen hal Das Eigenstandige kommt wieder zum Vor
schein, die Epoche DDR inklusive. Das Neue setzt sich schneller durch, rOcksichtsloser, mo
dernistischer. Derart zeitgeistig waren die westdeutschen MittelstMte nie, wie sich die aktuel
len MaBsiabe momentan im Osten geltend machen; aber auch hier wird es nicht so bleiben.
Die langen Wellen haben in Westdeutschland ein SOd-Nord-Gefalle der Stadtentwick
lungen (Friedrichs u.a. 1986) entstehen lassen; doch auch der Schwung der sOd lichen Auf
steigerstadte ist inzwischen erlahml Eine neue lange Welle greift in Sachsen und ThOrin
gen; ihre Stadte konnten die westdeutschen schlieBlich hinter sich lassen. Wird diese Welle
auch die Neuen Stadte der Lausitz erfassen? Wird der Schwung des Aufbruchs das zweite, ma
gerere Jahrfiinft Oberstehen? Werden die zerstorten Industrielandschaften zur Blote kommen?
SOZIALE OBERGANGE
Oberholt werden zunachst die schOchternen Neuanfange des Einzelhandels durch die
Supermarkte, die renovierten StraBen und Platze durch die Parkraumnot die handwerkli
chen Arbeitsstatten durch die Produktionsautomaten, die sich endlich verbreitenden Telefo
ne durch die Handy's, Wird sich die Oberholende Modernisierung auf den Markten bewahren
und erhalten konnen? Und was bleibt dann Obrig? Sicher auch: Verfall, Abfall, Streusand,
Ausgesonderte, Nicht nur in Einzelfallen, sondern selbst quartiers-, stadt- und gebietsweise.
Auch die Epoche der Transformation wird bleibende Zeichen hinterlassen, eine eigene
Schicht innerhalb der Oberschichtungen, baulich wie sozial.
Wird sich der Zusammenhalt wieder herstellen? "Wieder"? War der Zusammenhalt denn
zuvor wirklich vorhanden? Seit der Romerzeit seit den Erben Karls des GroBen, seit dem al
ten und dem neuen Rheinbund, seit den vor allem in SOddeutschland aufgenommenen kon
stitutionellen Impulsen der Franzosischen Revolution und der Europaischen Neuordnung
unter Napoleon gibt es den Unterschied (und die Fremdheit) zwischen West- und Ost
deutschland: Das "Zusammenwachsen" hat nicht nur die vierzig Jahre DDR zu Oberwinden.
Zugleich waren es jene historischen Perioden, in denen die Stadte aus den Rechts- und
Marktprivilegien ihrer FOrsten ihren Wohlstand und ihren Ruf aufbauen konnten; das hat
das Bild der Stadte nachhaltig gepragl Aber die Privilegien sind (schon seit fast zweihun
dert JahrenD dahin und an ihre Stelle sind die Industrie- und spater die Dienstleistungspo
tentiale getreten, welche sich nicht an den ortlichen Bedingungen, sondern an Oberregio
nalen und zuletzt globalen Chancen und Konkurrenzen orientieren muBten und mOssen;
ihr Verhaltnis zur Entwicklung des Wohlstandes, des Renommees und auch der Baugestalt
der Stadte ist distanzierter, vielleicht gar gleichgOltiger als das der aufstrebenden StadtbOr
ger und der wohlhabenden Einwohner vergangener Jahrzehnte.
170 RAINER MACKENSEN
Der erforderliche Sprung ist zu weit; er muB in wenigen Jahren Strukturentwicklungen
von Jahrzehnten iiberwinden und zugleich in eine Neue Zeit hineinfiihren, deren Merkma
Ie noch niemand kennt Aber es blieb keine Zeit fiir einen behutsamen ProzeB. Die .Umer
ziehung" der Jahre nach 1990 in Ostdeutschland hat nicht so iiberzeugend gewirkt wie die
in West- und Ost-Deutschland nach 1945; war sie weniger sorgfciltig vorbereitet und kon
zeptionell sowie strategisch weniger iiberzeugend angelegt?
Auch die Stadte sind in andere Hande geraten; wenn es wenigstens .westdeutsche"
waren! Aber es sind oftmals .juristische Personen", die eine Herausgabe des friiheren Ei
gentums von natiirlichen und hingehOrigen Personen fordern oder Arbeitsstatten und Ver
sorgungseinrichtungen errichten, technische GroBprojekte durchfiihren - ohne ein perso
nelles Verhaltnis zu den Orten, zu den Einwohnern der letzten Jahrzehnte und der Gegen
wart zu den Traditionen und Briichen zu gewinnen: Eine Solidaritat mit Menschen und
Siedlungen konnen sie nicht haben oder entwickeln. Ihnen sind die Umstande gleichgiiltig,
die aus ihrem Kalkiil entstehen, auch die neuen Abhangigkeiten, in welche sie die Menschen
versetzen. Die aber erfahren lediglich, daB sie aus der einen Herrschaft und Verwaltung, in
welcher sie machtlos waren und gehalten wurden, in eine andere versetzt worden sind.
Die umfangreichen Erganzungen des Wohnungspotentials der Stadte in der DDR
wurden, namentlich in den letzten zwei Jahrzehnten, fast ausschlieBlich in Randlagen, als
GroBsiedlungen und in industrieller Bauweise vorgenommen. Ais Schlafstadte trugen
diese Wohngebiete zur Pendelwanderung und Verkehrslast der Stadte bei; das hat sich
schnell vervielfacht Abgesehen von der oft unzureichenden Ausstattung mit Ver
sorgungsleistungen und den bautechnischen Mangeln, welche fiir diese Bauten - trotz
der ihnen eingeplanten Unveranderlichkeit - eine begrenzte Lebensdauer setzen,
veranderte diese Stadterweiterungspolitik die Sozialstruktur der Stadte: die Wohnungen
wurden zumeist jiingeren Familien und besonders verdienten Funktionaren, Ingenieuren
und Technikern oder Kiinstlern oder aber ganzen Werksbelegschaften zugewiesen. Das
hat zur Folge, daB sich in ihnen jetzt eine vergleichsweise qualifizierte und relativ wohl
situierte, aber bald alternde Rentnerbevolkerung konzentriert wahrend in den ver
nachlassigten Altbaubestanden eher die weniger bemittelten Einwohner leben. Diese sind
dazu - im Gegensatz zu jenen - in vielen Fallen den Problemen der Riickiibertragung von
Eigentumsrechten und der Modernisierungskosten, namentlich auch fiir eine (oft iiber
dimensionierte) Versorgungstechnik, ausgesetzt Die BaumaBnahmen, die eigentumsbe
dingten Leerstande und die Kostensteigerungen fiihren zu Verdrangungseffekten. Die
dadurch ausgelosten Unsicherheiten schlagen auch auf die notwendigen wirtschaft
lichen Aktivitaten (und auf die politischen) durch. Die Mobilitat aus den Altbaugebieten in
neue Wohnviertel halt an - und diinnt das soziale Potential der Innenstadte weiter aus
(GeiBler u.a. 1992).
Stadte verandern ihr Alltagsgesicht 171
lENA. 1988
172
Der .kurze Traum immerwahrender Prosperitat" (Lutz) ist in den Stadten Westdeutsch
lands nach drei Wohlstandsjahrzehnten ausgetraumt; in Ostdeutschland dauerte er kaum
zwei Jahre - und ruckte den erwarteten Wohlstand in eine kaum mehr wahrnehmbare Fer
ne. Der kurze Aufschwung wurde zunachst - nicht nur von den Einwohnern dort - als
dauerhafte Entwicklung miBverstanden.
Das Schicksal (West-)Berlins, das aus der groBten deutschen Industrie- und Kulturstadt
zum Ableger westdeutscher Unternehmungen und zum Subventionsempfanger wurde, hat
sich auf ganz Ostdeutschland ausgeweitet Nun mussen Berlin und die Neuen Lander ihre
Chancen gemeinsam neu kalkulieren und wahrnehmen - unter erschwerten Bedingungen.
Galt der Industriebesatz in den letzten Jahrzehnten als Qualifikationsmerkmal der Sied
lungen, so wird der Zusammenbruch gerade der industriellen Beschaftigung nun zur schwe
ren Belastung der Gemeinden. Die kommunale Sozialhilfe, als Notgroschen fUr Einzelfalle
konzipiert, hat sich zum groBten Ausgabenposten der Kommunen entwickelt Schon bei de
nen, die uber 40 Jahre alt sind, versagen zumeist die UmschulungsmaBnahmen; und die
Beschaftigungsgesellschaften und ABM-MaBnahmen machen den Kleinunternehmern, die
ihre Markte nur muhsam aufbauen konnen, zusatzlich Konkurrenz.
Die Organisation der sozialen Versorgung, welche durch die Kombinate und Betriebe
organisiert worden war, muB nun von den Kommunen und den Landern neu aufgebaut
werden. Ihnen fehlen dazu jedoch die Einnahmen aus den Steuern und Abgaben einer
dauerhaft lebensfcihigen, soliden Stadt- und Landeswirtschaft
Wenn sich die Lebensleistung unversehens als entwertet erweist und keine Chancen
zur Wiederherstellung der sozialen Anerkennung sichtbar sind, kann die Stimmung - auch
bei verbesserten Ausstattungs- und Konsummoglichkeiten - nicht gut sein.
Die sozialistische Lebensweise uberlieB allein die Privatsphare der eigenen Disposition
und Initiative. Wohnung und Wochenendgarten wurden zum Fokus der privaten Interessen,
Familien und Nachbarschaft zu den starksten Tragern der sozialen Solidaritat und wech
selseitigen Unterstutzung, ohne welche niemand seine Existenz bewaltigen konnte. Jetzt er
scheint diese Sphare in verklartem Licht zumal sie oftmals das Einzige ist was einem aus
einem doch auch befriedigenden und erfolgreichen Leben ubriggeblieben ist Und selbst
dies ist mit Haus und Grund allzuoft durch die unklaren Rechtsverhaltnisse gefcihrdet die
sich aus dem fruheren staatswirtschaftlichen Verfahren, aus der Erschwerung der privaten
Unterhaltung von Hauseigentum, aus der Verwendung der Hinterlassenschaften der Aus
gewanderten, die sich als Republikfluchtlinge strafbar gemacht hatten, aus der ubersturz
ten Eigentumssicherung der letzten DDR-Regierung und aus der Notwendigkeit einer Neu
regelung ergeben haben.
Erst jetzt erhalten die Menschen die Chance, ihre Verhaltnisse selbst neu zu ordnen;
aber von welchem Niveau der Arbeitsorganisation, der Produktionsbedingungen, der Ab-
Stadte verandern ihr Alltagsgesicht 173
satzchancen, der sozialen Lage aus! Sie mOssen ihre Leistungen gegen etablierte Organi
sationen in Wirtschaft und Gesellschaft geltend machen, die aus der jetzt allgemein gel
tenden Rechtsordnung hervorgegangen und langst in ihr stark geworden sind.
ZUSAMMENFINDEN
Tatsachlich haben sich in der letzten Zeit die Menschen auf beiden Seiten Deutsch
lands darum bemOht die Wirklichkeit der Zuslande wahrend der Zeit der DDR und ihre Fol
gen, die Lasten des Obereilten Beitritts und die Notwendigkeit sowohl der Siebenmeilen
stiefel-Schritte in die Moderne wie der Erfindung ganz anderer Wege in die Zukunft. als sie
aus der westlichen Erfahrung ableitbar sind, ehrlich zu erkennen. Das schlieBt auch die
Selbstkritik an den Entwicklungen und Zustanden in Westdeutschland mit ein. Aber mit ei
ner auch noch so zutreffenden Beschreibung ist es nicht getan.
Ober die Charakterisierung der Wirklichkeit hinaus erscheint als zentrale Substanz des
Getrenntseins und als Determinante auch der Perspektiven der geforderten Einheit gerade
der Sachverhalt daB zwar viel Ober die Unterschiede in Vergangenheit und Gegenwart Ober
die Leistungsbereitschaft und die erbrachten Leistungen (und deren Defizite) auf beiden Sei
ten gesprochen wird, aber kaum miteinander.
Die lange und die jOngere Geschichte und ihre Foigen mOssen aufgearbeitet werden:
sicher auch von Experten, Schriftstellern und Redakteuren, aber noch mehr von den Men
schen auf beiden Seiten - als die Grundlagen ihrer je ganz personlichen Existenz und Pra
gung. Sie begegnen sich, beheimatet in Ost und West auch jetzt noch kaum. Die Ost-West
Wanderer aus wirtschaftlichen und personlichen GrOnden und die West-Ost-Wanderer aus
wirtschaftlichen, Karriere- und idealistischen GrOnden tragen zur Begegnung bei - aber sie
sind viel zu sehr mit der Bewaltigung von alltaglichen Aufgaben (und Konflikten) beschaf
tigt als daB sie sich ausgiebig personlich miteinander befassen wOrden. Und da sind auch
die Scheu voreinander, das BewuBtsein mangelnder Erfahrungen aus der anderen Welt das
BedOrfnis der Rechtfertigung, die Unf<ihigkeit zum Eingestandnis der eigenen Fehler auf
beiden Seiten. Und diese Wanderer zwischen beiden Welten sind viel zu wenige und drin
gen nicht in aile Nischen der regionalen (wie der individuellen) Existenzen vor.
Haben nicht die Westdeutschen zu selbstverstandlich die Realitat der Lebensbedin
gungen im .,real existierenden Sozialismus" insgesamt und zu pauschal verurteilt und wa
ren und sind zu fraglos davon Oberzeugt, daB die eigene Oberzeugung und Lebensart der
jenigen, die sich in der DDR zu entwickeln vermochte, entschieden vorzuziehen sei? Es sind
doch die konstitutionellen und wirtschaftlichen Systeme nicht identisch mit den Personen,
die in ihnen zu leben gezwungen waren. Vor den Beurteilungen ware die schlichte Kennt
nisnahme notwendig. Die Wahl der Rechts-, Verfassungs- und Wirtschaftsordnung ist doch
174 RAINER MACKEN SEN
1991
175
eindeutig ausgefallen; aber vollkommen ist diese wahrhaftig auch nicht Zu vielen fehlt die
Bereitschaft, Ober beide Vergangenheiten offen und fair zu sprechen. Die WOrde der Le
bensleistung aufgrund anderer Bedingungen wird einfach Obersehen. Das macht das drin
gend notwendige Gespr;:ich fast unmoglich; es laBt den Ostdeutschen kaum die Chance,
sich zu erlautern. So gehen beide miteinander so gut wie sprachlos um.
Die Vollzieher der Einheit haben - sie hatten zwar keine andere Wahl, aber sie haben
eben doch faktisch: Institutionen und Betriebe aufgelost Personen aus ihren Funktionen
entfernt, Studienrichtungen ersetzt, Lehrgebiete umdefiniert; und haben an ihre Stelle
- ohne Widerrede zu dulden - die eigenen Institutionen, Personen und Lehrgebaude
gesetzt Was konnte einer dem entgegenhalten? Und: Was hatie er denn sagen sollen?
Selbst die kulturellen, technischen und etwa die sportlichen Leistungen wurden
Obersehen, Oberrollt Erst jetzt wird allmahlich erkennbar, was alles untergepflOgt
worden ist Kann daran noch einmal angeknOpft werden? Die Experten aus DDR-Zeiten
muBten langst in andere Sparten abwandern, um irgendeine soziale Position zu sichern,
wenn auch nicht die frO here wiederherstellen zu konnen. Haben die Deutschen in Ost
wie West nicht den Sturz aus anerkannten Positionen in Armut und soziale Unerheblich
keit schon einmal erlebt als die Vertriebenen im sicheren Land ankamen, und haben sie
denn vergessen, welche Energien bei dem Verlangen freigesetzt wurden, die einstige soziale
Position unter neuen Bedingungen wiederzuerlangen? Damals aber lagen nicht Jahr
zehnte zwischen Verlust und Neubeginn, und die damals neue staatliche wie die wirt
schaftliche Ordnung muBte von allen zugleich und von Vertriebenen und Eingesessenen
gemeinsam wieder aufgebaut werden; der Zwischenraum war, so groB er auch war, doch
wesentlich geringer.
WOrde es gelingen, das Gesprach doch noch in Gang zu setzen, das zur Oberwindung
der - langfristigen und jOngeren - historischen Trennung und als Voraussetzung der "in
neren" Einheit unausweichlich ist: vielleicht wOrde sich daraus ja auch jetzt noch etwas Neu
es ergeben - es konnte ja auch "westliche" Oberzeugungen in Frage stellen. Zumindest
konnten beide dazulernen - Ober Erfahrungen, die sie jeweils nicht selbst durchstehen muB
ten. Sie mOssen doch wohl beide noch lernfahig sein!?
Die Stadte, ihre Erscheinungen und Bilder, konnen auch nicht anders ausfallen als die
Menschen, die sie nutzen und standig umgestalten. Die Transformationen, von denen man
meinte, daB sie in wenigen Jahren Oberstanden sein mOBten, haben gerade erst begonnen:
Der Schock des plotzlichen Systemwechsels mOndet wohl nun allmahlich in eine Periode
der Gestaltung der neuen Lebensbedingungen ein. Diese wird - auch wenn der Bauboom
schon zuende zu gehen scheint - viele Jahre beanspruchen: Es ist nicht die erste Euphorie,
es ist auch nicht der schnelle Konsumrausch, es ist nicht die GrOnderzeit welcher die Stad
te gestalten wird. Sondern es ist der Lebensstil, der sich in einer menschlich, sozial, wirt-
176 RAINER MACKENSEN
schaftlich und baulich nachhaltigen, also dauerhaft tragfcihigen Form erst noch herausbil
den muB, welcher die Stadte kOnftig und langfristig pragen wird.
Ihr endgOltiges Bild ist heute noch nicht zu erkennen. Nur die Schmerzen derTransformation
konnen schon dokumentiert werden.
LITERATUR Friedrichs, JOrgen 1977: Stadtanalyse - Soziale und raumliche Organisation der Ge
sellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag
Friedrichs, JOrgen 1995: Stadtsoziologie. Opladen: Leske + Budrich
Friedrichs, JOrgen/ HauBermann, Hartmut! Siebel, Walter (HrsgJ 1986: SOd-Nord-Ge
falle in der Bundesrepublik? Opladen: Westdeutscher Verlag
GeiBler, Clemens/ Heuwinkel, Dirk! Kujath, Hans-Joachim/ Schubert Herbert! The
bes, Manfred 1992: Zur Entwicklung der Binnenwanderung im geeinten Deutsch
land - Neue Paradigmen. In: Informationen zur Raumentwicklung 9.10/1992. Bonn:
BfLR, s. 709-720
Hamm, Bernd 1977: Die Organisation der stadtischen Umwelt Frauenfeld/Stuttgart:
Huber
Hamm, Bernd 1982: Einfuhrung in die Siedlungssoziologie. MOnchen: Beck
Hamm, Bernd/ Neumann, Ingo 1996: Siedlungs-, Umwelt- und Planungssoziologie.
Opladen: Leske + Budrich
Musil, Jiri 1960: Die Entwicklung der okologischen Struktur Prags. Deutsch in: Her
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S. 133-145
Szelenyi, Ivan 1974: Wohnungssystem und Gesellschaftsstruktur. In: Balla, Balint
(Hrsg): Soziologie und Gesellschaft in Ungarn. Bd. IV: Vom Agrarland zur Industrie
gesellschaft. Stuttgart: Enke, S. 98-109
Stadte verandern ihr Alltagsgesicht 177
JENA. Ruthaer StraBe. 1996
178
DIE STADTRANDER Fotografien
JOrgen Hohmuth
179
JENA. Tatzendpromenade. 1995
180
lENA. Tatzendpromenade. 1988
181
lENA. Blick auf das Zeiss-Werk vom Vogelberg. 1989
182
JENA. Zum Paradies. 1988
183
JENA. Blick von der Lobdeburg auf Lobeda. 1996
184
lENA. Blick auf Lobeda. Gewerbegebiet Ruthaer Stral3e. 1996
185
JENA. Zum Paradies. 1995
186
JENA. Landgraf. 1989
187
87
Jena
A4
188
DIE STADT JENA
189
Jena gehort als Oberzentrum zum Verdichtungsraum derThuringer Stadtekette zwischen
Eisenach und Gera. Die Stadt im mittleren Saaletal hat sich seit den Ursprungen im 9. Jahr
hundert zwischen Kalkhangen und Hochplateaus in einem vielgestaltigen Landschaftsbezug
entwickelt Jena ist bekannt als Wissenschaftsstadt mit einer bereits 1557 gegrundeten Uni
versitat an der u.a. Haeckel und Abbe natur- und technikwissenschaftliche Traditionen be
grundeten, als Industriestadt mit einer weltbekannten feinmechanisch-optischen Produkti
on sowie als Ort mit national bedeutsamen geistig-kulturellen Traditionen, die sich u.a. an das
Wirken von Goethe, Schiller, Fichte und Hegel knupfen. In der Schlacht bei Jena und Auer
bach erlitt PreuBen im Jahre 1806 seine entscheidende Niederlage gegen Napoleon. Die
Stadt ist auBerdem als Ort demokratischer Oppositionsbewegungen bekannt: im Jahre 1818
wurde hier die erste Burschenschaft Deutschlands gegrundet und auch in der DDR galt Je
na in den siebziger und achtziger Jahren als ein Zentrum der oppositionellen Bewegung.
Die Industrialisierung begann in Jena mit der Einrichtung einer ersten mechanischen
Werkstatt durch Carl Zeiss im Jahre 1846 - aus der die Zeiss-Stiftung hervorging - und der 1884
erfolgten Grundung eines glastechnischen Laboratoriums durch Schott - dem spateren Jenaer
Glaswerk. Die Entwicklung der wenigen groBen Industriestandorte zunachst in der Nahe der
Altstadt und nach dem II. Weltkrieg im sud lichen Jena-Goschwitz fUhrten zu einer Nord-Sud
orientierten Urbanisierung des naturraumlich wertvollen, von haufigen Inversionswetterla
gen belasteten Saaletales. Das Zeiss-Kombinat gehorte zu den Schwerpunktstandorten der
DDR-Industrie, so daB Jena insbesondere infolge eines aus den Autarkiebestrebungen der
DDR-Wirtschaft herruhrenden "Mikroelektronikbeschlusses" einen erheblichen Bevolke
rungszuwachs zu verzeichnen hatte.1975 erreichte die Stadt den GroBstadt-Status. Zwischen
1970 und 1988 siedelten sich fast 20.000 Einwohner in Jena an. Deshalb wurden im Suden
der Stadt und in unmittelbarer Nahe zur Autobahn mit Lobeda und Winzerla zwei GroB
siedlungen in Plattenbauweise errichtet in denen heute fast die Halfte aller Einwohner lebt
Bestimmten vor der Wende neben dem Zeiss-Kombinat lediglich zwei GroBbetriebe das
Industrieprofil in Jena, so vollzieht sich seit 1990 ein drastischer Strukturwandel. Das Zeiss
Unternehmen wurde zergliedert und mittels umfangreicher Wirtschaftsforderung im High
Tech-Bereich konnten industrielle Kerne der ehemaligen Produktionen erhalten und auf der
Basis von etwa einem Sechstel der Arbeitsplatze in einer differenzierten Branchenstruktur
stabilisiert werden. Neue Gewerbegebiete wurden durch die Nachnutzung aufgelassener in
nerstadtischer Industrieareale und die Ausweisung neuer Flachen mit Autobahn- bzw. Bun
desstraBenanbindung erschlossen. Eine wichtige Rolle fUr die Stadtentwicklung spielen die
Profilierung der Universitat die auf eine erhebliche VergroBerung der Studentenzahlen setzt
und die Ansiedlung weiterer wissenschaftlicher Institutionen, so daB Jena als eine von drei
Regionen in Deutschland im Rahmen des Programms "Biotechnologie 2000" des Wissen
schaftsministeriums vom Bund gefordert werden soil.
190 DIESTADTJENA
Die AnsprOche eines technologieorientierten Industriestandortes mit zweifellos gOnsti
gen weichen Standortfaktoren konfrontieren Jena mit weitreichenden Entwicklungsfragen
und stadtstrukturellen Veranderungen. Mit der politischen Wende und der Aufltisung der
GroBbetriebe begann ein erheblicher Einwohnerverlust, der den GroBstadt-Status in Frage
stellt und der durch eine 1994 von WidersprOchen begleitete Eingemeindung umliegender
Orte sowie durch eine gezielte Siedlungsflachenpolitik aufgefangen werden soil.
Die Versorgungsdefizite wurden mit einer raumgreifenden Ansiedlung von groBflachi
gem Einzelhandel und Gewerbeflachen im SOden der Stadt abgebaut, die aber zugleich
regelrechte Verwerfungen der kleinteiligen Handels- und Dienstleistungsstruktur in der Alt
stadt verursachten. Diese sollen mit 2 innerstadtischen Sanierungsgebieten, der "Goethe
galerie" auf dem Gelande des ehemaligen Zeiss-Stammsitzes und dem Projekt "Stadtuni
versitat" kompensiert werden.
In den beengten StraBenraumen der Stadt eskalieren die Verhaltnisse im ErschlieBungs
und Durchgangsverkehr; Erweiterungen und Verlagerungen von BundesstraBen- und Auto
bahnkapazitaten kollidieren jedoch mit den Forderungen des Natur- und Landschafts
schutzes in unmittelbarer Stadtnahe.
Insgesamt gehtirt die Stadt Jena zu den Gewinnern des Strukturwandels in Ost
deutschland und zeigt zugleich, mit welchen gravierenden sozialen und stadtraumlichen
Veranderungen dieser ProzeB einhergeht und welche Steuerungsinstrumente, Ftirderkondi
tionen und Mittel erforderlich sind, urn ihn einzuleiten, zu tragen und dauerhaft zu gestalten.
Flache in qkm 114,21
Einwohner 1986 107.612 1988 108.010 1989 105.825 1990 102.518 1993 100.093 1994 102.204 1995 99.945
Sozialversicherungs- 1990 62.000 pflichtig Beschaftigte 1995 46.181
Betriebe im ver- 1991 16 arbeitenden Gewerbe 1994 31
Beschaft~te im ver- 1991 23.211 arbeiten en Gewerbe 1994 7.798
Arbeitslosenquote Ende 1991 7,4 in % Ende 1995 13,2
Mille 1996 15,0
Verschuldung der Stadt Stand 1994 1.645 in DM/EW
[Quellenangaben und Vergleich siehe Klappentext]
191
192
DIE STADT DESSAU
193
Dessau ist eines der drei Oberzentren des Landes Sachsen-Anhalt und Sitz eines Re
gierungsprasidiums. Die Stadt wurde 1213 erstmals urkundlich erwahnt und hat sich in der
Auenlandschaft siidlich von Elbe und Mulde als Verwaltungssitz, Industriestadt und Schau
platz bedeutsamer Reformen entwickelt Ais nOrt der Aufklarung" wurde Dessau durch das
Reformwerk des Fiirsten Franz von Anhalt-Dessau gepragt das sich mit dem als Dessau
Worlitzer Gartenreich bekannten Siedlungs- und Landschaftsraum bis heute wiederfindet
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich an den Bahnlinien Produktionsstand
orte fOr verschiedene Industriebranchen. Insbesondere die 1892 eroffnete Firma von Hugo
Junkers und die Griindung von Gas- und Eisenbahnwaggonbau-Unternehmen begriindeten
die Struktur des bedeutendsten Industriestandortes in Mitteldeutschland. Mit dem Ausbau des
Junkers-Flugzeug- und Motorenwerkes zu einem staatlichen Riistungsuntemehmen Mitte der
dreiBiger Jahre und der Entwicklung von zahlreichen Betrieben, die das Profil der Bauindu
strie und den Maschinen- bzw. Anlagenbau der DDR seit den 50er Jahren bestimmten, er
langte Dessaus Industrieproduktion in zwei politischen Diktaturen nationale Bedeutung.
Ende 1925 siedelte das Bauhaus nach Dessau iiber und nahm in dem weltbekannten
Gebaude von Walter Gropius seinen Sitz. Der kulturpolitische Bruch nach 1933 manifestier
te sich in der nGauhauptstadf Dessau in Form eines iiberdimensionalen Theaterbaus als Teil
einer weitgehend Papier gebliebenen Stadtumbaukonzeption. Ein Bombenangriff zerstorte
1945 fast die gesamte Innenstadt Nach dem Ende des II. Weltkrieges gehOrte Dessau des
halb zu den "Aufbaustadten" der friihen DDR und erlebte bis Mitte der 60er Jahre einen mehr
fachen Wandel stadtebaulicher Leitbilder, der sich im heutigen Stadtzentrum beinahe in Form
eines "Museums" ablesen laBt In der DDR verlor die Stadt als Kreisstadt ihre Bedeutung als
iibergeordneter Verwaltungssitz und fand diese erst nach der Landerbildung 1990 wieder.
1m Industriezeitalter entwickelte sich die Stadt in Form eines Siedlungsbandes mit einer
engen Verzahnung von Gewerbe- und Wohnflachen entlang der Bahn hauptsachlich in
Nord-Siid-Richtung sowie, angrenzend an die Junkerswerke, auf im Westen der Stadt ver
fOgbaren Flachen. Die Entwicklung des Industriestandortes, die Konzentration industriali
sierter Bauunternehmen in der Stadt und eine Erneuerungspolitik auf der Basis von Alt
bauabrissen sowie der Ausweisung extensiver Wohngebiete fiihrten nach 1945 zu einer
iiberdurchschnittlichen Entwicklung der Wohnungsbestande. Diese laBt sich in mehreren
GroBsiedlungen, aber auch in der Innenstadt und den griinderzeitlichen Stadterweite
rungsgebieten nachvollziehen. Dessau verzeichnete zu DDR-Zeiten Bevolkerungszuwachs
und wurde 1972 GroBstadt
Der Verschleil3grad weiter Teile der erheblich umweltbelastenden Industrieanlagen, der
Wegfall vor allem osteuropaischer Markte und die Privatisierungsstrategie der Treuhand
anstalt fOhrten in Dessau seit 1990 zu einem Zusammenbruch zahlreicher Produktions
statten. Dieser DeindustrialisierungsprozeB ging mit einem drastischen Bevolkerungs-
194 DIE STADT DESSAU
verlust einher, der trotz gezielter Eingemeindungspolitik zum Verlust des GroBstadtranges
fUhrte. Mittlerweile finden sich in Dessau im produzierenden Gewerbe bis aufwenige Aus
nahmen nur noch Betriebe mit weniger als 300 Beschaftigten.
Die Stadtentwicklungspolitik in Dessau setzt gegenwartig auf die wachsende Bedeu
tung der Stadt als Behordenstandort und Verwaltungssitz im Landes- und BundesmaBstab
sowie eine wirtschaftliche Entwicklung mit Orientierung auf produzierendes Gewerbe unter
Nutzung verbliebener Standorte, ausgedehnter Industriebrachen und groBer Konversions
flachen ehemaliger Militareinrichtungen. Von der Ausstrahlung bekannter Institutionen und
Tourismusziele, wie dem Bauhaus oder der Dessau-Worlitzer Parklandschaft, erhofft man
sich entsprechende Effekte im Dienstleistungssektor.
In Dessau hatte das fortschrittsglaubige, an Industrialisierung und Urbanisierung
gebundene Projekt der Moderne einen geistigen Mittelpunkt und erfuhr eine Verraumlichung,
die in ihren stadtebaulichen Dimensionen und regionalen Strukturen bis heute nachvollzieh
bar ist Das geht seit den 80er Jahren mit einer tiefen wirtschaftlichen Strukturkrise einher und
ist von erheblichen sozialen Foigen begleitet Vor diesem Hintergrund und in Analogie zu hi
storischen Ansatzen wird in Dessau erneut uber ein Reformprojekt diskutiert, das sich an den
realen wirtschaftlichen und raumlichen Verhaltnissen orientiert und nur noch punktuell um
gesetzt und vermittelt werden kann. Mit der Installierung einer Korrespondenzregion zur EX
PO 2000 in Hannover, die im Stadtedreieck Dessau - Wittenberg - Bitterfeld angesiedelt sein
soli, wird ein solches Reformprojekt als regionales Strukturprogramm aufgegriffen. Seine Nach
haltigkeit auf die Stadtentwicklung von Dessau muB sich dabei noch erweisen.
Flache in qkm 147,94
Einwohner 1986 103.538 1988 103.867 1989 101.262 1990 96.754 1993 93.789 1994 92.262 1995 90.945
Sozialversicherungs· 1990 55.363 pflichtig Beschaftigte 1995 36.809
Betriebe im ver- 1991 51 arbeitenden Gewerbe 1994 60
Beschaftte im ver- 1991 18.913 arbeiten en Gewerbe 1994 7.343
Arbeitslosenquote Ende 1991 8,1 in % Ende 1995 18,5
Mille 1996 20,3
Verschuldung der Stadt Stand 1994 1.407 in DM/EW
[Quellenangaben und Vergleich siehe Klappentextl
195
Goberndorf
196
Schondorf Woldstadt
Weimar
A4
DIE STADT WEIMAR
197
Weimar gehOrt als Mittelzentrum mit oberzentralen Funktionen zur thOringischen Stadte
kette und Wirtschaftsachse Eisenach - Erfurt - Jena. Die fOr 1999 als .Kulturstadt Europa" er
korene, international bekannte Stadt blidd zur Jahrtausendwende auf eine 1l00-jahrige Stadt
geschichte zurOck und wird dann den 250. Geburtstag von Johann Wolfgang Goethe begehen.
Die vergleichsweise kleine Stadt auf der Westseite des landschaftlich reizvollen IImtales ist vor
allem in ihrem Kern und in ihrem Umland mit kulturhistorischen Adressen mehrerer Jahrhun
derte Obersat die sich bis heute als AnknOpfungspunkte fOr die Stadtentwicklung erweisen.
Der mittelalterliche Stadtkern erinnert mit Kirchen und erhaltenen BOrgerhausern an
die Wirkung von KOnstlern der Reformationszeit und nachfolgender Jahrzehnte wie Lucas
Cranach oder Johann Sebastian Bach. Weimars Bedeutung als Verwaltungsstadt und Schau
platz des .Klassischen Zeitalters" bezieht sich auf die Traditionen einer herzoglichen Resi
denz und schlieBlich auf die erste Verfassung in einem deutschen FOrstentum, dessen gei
stiges und politisches Klima von Goethe, Schiller, Herder, Wieland und zur Jahrhundertwende
von Nietzsche und van de Velde gepragt wurde. Letzerer entwickelte aus der als .Weimarer
Malerschuleu bekannten GroBherzoglichen Kunstschule eine moderne Kunstgewerbeschu
Ie, die nach dem I. Weltkrieg unter Leitung von Gropius als Staatliches Bauhaus neu eroff
net wurde. Diese Bildungsstatte begrOndete eine kOnstlerische und technische Hoch
schultradition bis zur heutigen Bauhaus-Universitat
Nach der Verabschiedung der Verfassung fOr die 1919 in Deutschland gebildete Repu
blik im Weimarer Nationaltheater wurde Weimar im Jahre 1920 Landeshauptstadt von
ThOringen und in der Zeit des Nationalsozialismus schlieBlich Gauhauptstadt Bis heute ist
das Gebaudeensemble des sogenannten Gauforum weitgehend erhalten. 1937 wurde auf
dem nordlich der Stadt gelegenen Ettersberg das KZ Buchenwald eingerichtet das mehrere
widersprOchliche Kapitel deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert bezeugt
Nach dem II. Weltkrieg verlor Weimar seinen Status als Landeshauptstadt und behielt
mit seinen Museen und Hoch- bzw. Fachschulen die Rolle einer Kultur- und Bildungsstadt
1m Industriezeitalter erlebte die Stadt Weimar eine moderate Entwicklung. Urn
einen mittelalterlichen Stadtkern mit dem SchloB- und Parkbezirk entwickelten sich ein vor
nehmeres Westviertel als Wohnort fOr Beamte und ein proletarisches Bahnhofs- und Indu
strieviertel beiderseits der im Norden der Stadt gelegenen Bahnlinie, aufgelockerte Sied
lungen der 20er Jahre und drei GroBsiedlungen der DDR-Epoche.
Seit der politischen Wende 1989/90 ist auch in Weimar ein erheblicher Bevolkerungs
verlust zu verzeichnen. Die wenigen groBeren Industrieansiedlungen wurden eliminiert auf
den freigewordenen Standorten erfolgte eine Ansiedlung differenzierter Gewerbebetriebe.
Die historische Stadtstruktur wird von einer wachsenden Verkehrslawine heimgesucht Der
anhaltenden Bedeutung von Weimar als Touristenziel standen bereits zu DDR-Zeiten ein
zunehmender Verfall der Altstadt und historischer Statten sowie eklatante Fehlbedarfe einer
198 DIE STADT WEIMAR
zugehOrigen Infrastruktur entgegen. Deshalb muB ein immenser Erneuerungsbedarf in
einer vergleichsweise kleinen Stadt in einem armen Bundesland realisiert werden.
In den 90er Jahren setzt man in Weimar auf die zentrale Lage mit Autobahn- und 1(
AnschluB, die Bedeutung als Kultur-, Bildungs- und Touristenstadt und auf die Integration
in den mittelthiiringischen Wirtschaftsraum. Dem Projekt "Kulturstadt Europa 1999" ordnen
sich eine Vielzahl baulicher und kultureller Aktivitaten unter, die mit betrachtlichen Ko
stenbelastungen des kommunalen Haushaltes fUr Instandsetzungen, Restaurierungen und
eine angemessene Verwaltung einhergehen. Die historische Altstadt wird als gef6rdertes Mo
dellprojekt zur Stadtsanierung mit einem hohen denkmalpflegerischen Anspruch erneuert
Da die Kernstadt vorwiegend als Arbeitsort entwickelt wird, findet eine Abwanderung
der Wohnbevolkerung in die Orte des Umlandes statt Dem wurde mit einer Ausdehnung
des Stadtgebietes durch Eingemeindungen und den Ausweis neuer Siedlungsgebiete auf
stadtischem Territorium begegnet Insbesondere die gewerbliche Entwicklung des groBflachi
gen Einzelhandels hat die westliche, siidliche und ostliche Peripherie der Stadt besetzt so
daB an den "Stadteingangen" neue stadtgestalterische Tatsachen mit zum Teil erheblichen
Dimensionen geschaffen wurden.
Insgesamt konnte Weimar nach der Wende an seine historischen Bedeutungen an
kniipfen und verzeichnet wieder wachsende Besucherzahlen seiner Kulturstatten und Kunst
ereignisse sowie steigende Studentenzahlen. Besondere Brisanz erhalt die Entwicklung
durch die enorm belasteten offentlichen Haushalte, so daB sich die Nachhaltigkeit von Kul
tur und Tertiarisierung als wirtschaftliche Basis der Stadt erst noch erweisen muB.
Flache in qkm 84,27
Einwohner 1986 63.910 1988 63.412 1989 61.583 1990 60.326 1993 58.807
(mit Eingem.) 1994 62.233 1995 62.265
Sozialversicherungs· 1990 37.183 pRichtig Beschaftigte 1995 29.936
Betriebe im ver- 1991 22 arbeitenden Gewerbe 1994 25
Beschaftte im ver- 1991 6.865 arbeiten en Gewerbe 1994 2.550
Arbeitslosenquote Ende 1991 9,8 in % Ende 1995 13,1
Mille 1996 k.A.
Verschuldung der Stadt Stand 1994 1.965 in DM/EW
[Quellenangaben und Vergleich siehe Klappentext]
199
WEIMAR. Untergraben. 1996
200
ANHANG
Kurzbiographien der Autoren
Werkubersicht des Fotografen Jurgen Hohmuth
201
KURZBIOGRAPHIEN
202 ANHANG
DIETMAR EBERT geb. 1953. Von 1971 bis 1975 Studium der Kulturtheorie, Asthetik und germanisti
schen Literaturwissenschaft an der Leipziger Universitat Von 1975 bis 1989 Lehr- und
Forschungstatigkeit an der Friedrich-Schiller-Universitat lena, 1986 bis 1989 Mitar
be it an der soziologischen Untersuchung .Kulturelle BedOrfnisse und Interessen der
lenaer Stadtbevolkerung". 1985 Dissertation A: .stadtische Kultur - Wege ihrer Erfor
schung", 1990 Dissertation B: "Stadtische Kultur - Ergebnisse ihrer Erforschung".
1989/1990 Stadtrat fijr Kultur in lena. 1991 bis 1992 Mitarbeit im KuKuK e.V. (Verein
fijr Kunst, Kultur und Kommunikation). Ziel des Vereins war es, ein kulturell-kommu
nikatives Zentrum in lenas Innenstadt zu etablieren, dieses Projekt ist gescheitert Seit
1993 Aufbau eines Archivs erzahlter Geschichte im KuKuK e.v.: Sammlung von Le
benserinnerungen mit den Schwerpunkten Industriekultur und Reformpactagogik. Pu
blikationen zu Stadtkultur und Ergebnissen der Untersuchung .. Kulturelle BedOrfnis
se und Interessen der lenaer Stadtbevolkerung"; Arbeiten zu Biographie und Werk
Walter Benjamins; Analysen zu Peter Weiss' .. Asthetik des Widerstands". In jOngsten
Publikationen wurden die Theorie des kollektiven Gedachtnisses und gesammelte Le
benserinnerungen vorgestellt 1990 Herausgeber des Bandes .. Lebensbilder aus lena"
(mit Fotografien von Wrgen Hohmuth).
JURGEN HOHMUTH geb.1960 in Berlin. Lehre und Tatigkeit als Forstarbeiter, seit 1981 freiberufliche Tatig
keit als Fotograf, von 1986 bis 1991 Fotografiestudium an der Hochschule fijr Grafik
und Buchkunst bei Arno Fischer, 1993 GrOndung von ZeitOrt Bilddokumentationen
(mit Peter Oehlmann und Peter Thieme). Arbeiten vor allem Ober Korpertheater, Stadt
leben, Architektur, Alltag irn Faschismus.
RAINER MACKEN SEN geb.1927 in Greifswald. Studium von 1948 bis 1954 in Gottingen und Tubingen: Deut
sche und englische Literaturwissenschaft, Philosophie, evangelische Theologie; dort
1955 Promotion zum Dr.phil.. Von 1955 bis 1967 an der Sozialforschungsstelle an der
Universitat MOnster in Dortmund: Assistent, Referent, Abteilungsleiter, Vorstandsmit
glied. Habilitation fijr Soziologie und Bevolkerungslehre an der Rechts- und Staats
wissenschaftlichen Fakultat der Universitat Munster. Ab 1968 ordentlicher Professor
an derTechnischen Universitat Berlin, Direktor der Institute fijr Soziologie und fijr Stadt
und Regionalplanung. 1992 emeritiert Forschung und Veroffentlichungen vorwiegend
zu Stadtsoziologie, Bevolkerungswissenschaft, Stadt- und Regionalplanung, Mobilitat
und Verstadterung. Zuletzt u.a.: Urban Decentralization Processes in Western Europe.
In: A.A. Summers, P.c. Cheshire, L Senn (ed.): Urban Change in the United States and
Western Europe - Comparative Analysis and Policy. Washington/D.C: Urban Institute
Press 1993; Bevolkerungsdynamik und Stadtentwicklung in okologischer Perspektive.
In: H. Sukoppl R Wittig (Hrsg.): Stadtokologie. Stuttgart, Jena & New York: Gustav Fi
scher 1993; Urbanization under Federalist and Centralist Government - The Case of
two German States 1980-1988. In: Acta Demographica 1993. Heidelberg: Physika
1994; Mobilitiit und Kommunikation in den Agglomerationen von heute und morgen.
Hrsg.: Forschungsverbund Lebensraum Stadt, mit D. Sauberzweig u.v.a., Berlin: Ernst
& Sohn 1994, 6 Bande; Die deutschen Agglomerationen 1980-2010 - Regionale Ent
wicklungen und Verflechtungen aus der Sicht der Bevolkerungsentwicklung. In: Ver
band Deutscher Stadtestatistiker: Jahresbericht 1995; Interdependenzen zwischen ju
ristischen und naturwissenschaftlichen Aspekten eines Regelwerkes zum Schutze des
Bodens. In: W. BOckmann, (Hrsg.): Symposium Bodenschutz. Berlin: FAGUS 1995;
Mehrheit Alter - Minderheit Jugend: KOnftige Generationenkonftikte. In: Sozialer Fort
schritt 45 (1996) 3
IRIS REUTHER Dr.-Ing. (Architektin), geb.1959 in MOhlhausen. Von 1979 bis 1984 Architekturstudium
an der Hochschule fOr Architektur und Bauwesen Weimar, 1984 bis 1987 Aspirantur
in der Abteilung Theorie und Geschichte am Fachbereich Architektur der HAB Wei
mar, von 1987 bis 1990 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut fOr Stadtebau und
Architektur der Bauakademie. Promotion 1989 mit dem Thema "Geschichte des Miets
hauses als typische Wohnform der Arbeiter in der GroBstadt zwischen 1870 und den
frOhen 1920er Jahren. 1990/91 Mitarbeit an Stadterneuerungsprojekten im Auftrag
der Stadt Leipzig, seit 1991 freie Architektin fOr Stadtplanung, 1993 GrOndung des
BOros fOr urbane Projekte (mit Marta Doehler), 1995/96 Lehrauftrag zur Stadtebau
geschichte an der Gesamthochschule/Universitat Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Stadt
entwicklungplanung, Sanierungsplanung, Stadterneuerung, stadtebauliche EntwOrfe,
Studien zur Stadtebauentwicklung und Wohnungsbaugeschichte, Medienprojekte.
Veroffentlichungen u.a. in Arch+; Jahrbuch Stadtemeuerung; Leonardo; DISP; Schrif
tenreihe der Stadt Magdeburg zur Siedlungsgeschichte.
ALFRED SCHWANDT Dr.lng., Dip\. phil., 1932 in Berlin geboren. 1954 bis 1955 Architektur-Student in Wei
mar, 1955 bis 1961 Philosophie-Studium in Berlin mit der Spezialisierung Architek
tur-Asthetik. Ab 1961 Mitarbeiter des Instituts fOr Theorie und Geschichte der Bau
kunst, spater des Instituts fOr Stadtebau an der Deutschen Bauakademie. Dort von
1969 bis 1979 Leiter der Themengruppe Stadtebausoziologie. In dieser Zeit entstan
den u.a.: "Beitrag zur Entwicklung des Wohnverhaltens und des Verhaltnisses zur Um
welt" (lO-Stadte-Untersuchung, Ormig); "stadtebausoziologische Probleme" (Schrif
tenreihe der Bauforschung, Heft 53); "Neubauwohngebiete irn Urteil der Bewohner"
(Ormig). 1979 infolge politi scher Differenzen Aufgabe des Forschungsgebietes und
Aufnahme der Tatigkeit alJllnstitut fOr Kulturbauten Berlin. Dort von 1981 bis 1990
Chefredakteur der Zeitschrift "Kulturbauten", zuletzt .Kulturbauten und Denkmale".
Kurzbiographien 203
204 ANHANG
Seit 1991 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bundesforschungsanstalt fUr Lan
deskunde und Raumordnung Bad Godesberg, AuBenstelle Berlin. Themengebiete:
.Entwicklung der Wohnbedingungen und der Wohnungsversorgung im Anglei
chungsprozeB nach 1990· und .Dauerhafte Wohnungsversorgung Obdachloser"
WENDELIN STRUBELT Dr.rer.pol., MA, geboren 1943. Von 1964 bis 1966 Studium derTheologie, politischen
Wissenschaft, Geschichte und Germanistik in Er1angen-Niirnberg und Tiibingen, 1966-
1967 Studium der Soziologie und Philosophie an der University of Colorado, Boulder,
Fortsetzung des Studiums von 1967 bis 1969 in Konstanz. 1969 AbschluB mit dem
Magister Artium. Von 1970 bis 1972 wissenschaftlicher Angestellter am Fachbereich
Politische Wissenschaft der Universitat Konstanz, von 1973 bis 1976 Hochschulleh
rer an der Universitat Bremen. Promotion zum Dr.rer.pol. 1976, ab 1977 Assistenz
professor im Studiengang Sozialwissenschaft der Universitat Bremen, ab 1979 Pro
fessor, seit 1981 Direktor und Professor der Bundesforschungsanstalt fUr Landeskunde
und Raumordnung in Bonn-Bad Godesberg. Arbeitsschwerpunkte: Stadt- und Regio
nalsoziologie. Schriftleiter der Zeitschriften .Informationen zur Raumentwicklung· und
nRaumforschung und Raumordnung". Vertiffentlichungen: Der GroBflughafen Miin
chen, Politische Verwaltung im Spannungsfeld lokaler und internationaler Verflech
tung (1979); Soziale Probleme in ausgewahlten Neubaugebieten verschiedener Stad
te der Bundesrepublik Deutschland (Mitautor, 1982); Determinants of urban deve
lopment (Mitherausgeber, 1987); Territorial Base of Social Structures (Mitherausgeber,
1989); Modernisierung der Demokratie - Internationale Ansatze (Mitherausgeber,
1992); Agglomerationsraume in Deutschland - Leitung eines Arbeitskreises der ARL
und Herausgabe der Dokumentation dieses Arbeitskreises (Hannover, 1996).
CHRISTINE WEISKE Prof. Dr. phil. habil., geb. 1950 in Apolda. Studium der Philosophie und Soziologie an
der Martin-Luther-Universitat Halle, wissenschaftliche Assistentin an der Hochschule
fUr Architektur und Bauwesen Weimar und an der Universitat Dortmund, Professorin
an der Technischen Universitat Chemnitz, Philosophische Fakultat Ausgewahlte Ver
tiffentlichungen: Europaische Provinz Weimar, Deutung und Selbstdeutung (mit Uta
Schafer). In: Die alte Stadt 18 (1991) 3; Die langen Zeiten und die kurzen Momente -
Dimensionen der sozialen Zeit und des sozialen Raums in der Stadtentwicklung Er
furts. In: H. HauBermannl R. Neef (Hrsg.): Stadtentwicklung in Ostdeutschland. Opla
den: Westdeutscher Verlag 1996; Die Erlebniswelt als Stadt Uber reale und digitale
Stadte (mit Ute Hoffmann). In: WWVV unter http://duplox.wz-berlin.de/docs/stadthtml
WERKOBERSICHT DES FOTOGRAFEN JORGEN HOHMUTH
AUSSTILLUNGEN (AUSWAHL): 1981
1986
1989
1990
1990/1991
1991
1991
1992
BERLINER STADTLANDSCHAFTEN. Kreiskulturhaus Berlin-Treptow
FUNDPLAUE. mit den Trivialarchaologen Rene Benjowski und
Rene Zechmeister. Galerie GrOnstrasse. Berlin-Kopenick
BILDER EINER DEUTSCH EN WELT. Fundbilder aus dem Dritten Reich.
Kreiskulturhaus Berlin-Treptow
BILDER EINER DEUTSCHEN WELT. im Rahmen des Festivals
,,I' autre Allemagne hors les murs". Parc de la Villette. Paris
LEBENSBILDER AUS JENA TUbingen. Erlangen. Ulm. Jena
INDUSTRIELLES GARTEN REICH. Bauhaus Dessau
BROT UNO KOHLE. Museum der Stadt Borna
AUCUN POISSON NE RfT DE SOUVENIRS. Korpertheater. Plastik und
Fotografie. mit dem Theater ESCALE. Parochialkirche. Berlin
1993 STANDORTE. Berliner Olympiatraume. mit Peter Oehlmann und Peter Thieme.
studio bildende kunst - baumschulenweg. Berlin
1993 ZU HAUSE IN HALLE-NEUSTADT. Kino Kosmos. Halle mit Projektges. am Bauhaus Dessau
1993 Projektforderung der Stiftung Kulturfonds
1994 DIE DRITrE MiTrE. Das Zentrum Berlins vor dem Umbau zur
1994
1994
1994
1995
1995
seit 1994
City der neuen Hauptstadt mit Peter Oehlmann und Peter Thieme.
Kulturpodium Berlin-Lichtenberg
ZWISCHEN MfTTE UNO PANKOW. Fotos aus dem Prenzlauer Berg.
mit Peter Oehlmann und Peter Thieme. Bayrische Vereinsbank. Prenzlauer Berg
NAHTSTELLEN zwischen Ost- und Westberlin. mit Peter Oehlmann
und Peter Thieme. Fotohaus Wiesenhavern. Berlin. Kurflirstendarnrn
HAUPfSTADlWECHSEL mit Peter Oehlmann und Peter Thieme.
Architektenkammer Berlin
BERLIN AUF OEM WEG ZUR HAUPfSTADT DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND.
mit Peter Oehlmann und Peter Thieme. Bundesministerium fur WirtschaftiBerlin
ENDSTATION ZENTRALVIEHHOF. Ausstellung des Prenzlauer-Berg-Museums. Berlin
verschiedene TON-BILD-SCHAU-PROJEKTE
VeriiffenUichungen in: LEBENSBILDER AUS JENA Universitatsverlag. Jena. 1990
BERLIN; 13. AUGUST 1990. Verlag Constructiv Berlin. 1990
DIE STADT ALS GABENTISCH. Hrsg.: Hans G. Helms.
Reclam-Verlag. Leipzig 1992
ZU HAUSE IN HALLE-NEUSTADT. Halie/Dessau. 1993
CLAUDE VASCONI. Editions du Regard. Paris. 1995
LE THEATRE DE RUE. Edition Plume Paris. 1995
SEHTEST. Hrsg. Longest F. Stein. Berlin. 1996
KurzbiographienlWerkObersicht 205
Einwohner [1)
Sozialversicherungs-
pAichtig Beschoftigte [2)
Betriebe im ver-
arbeitenden Gewerbe [3]
Beschiiftigte im ver-
arbeitenden Gewerbe [3]
Arbeitslosenquote in% [4)
Verschuldung der
Stadt in DM/EW [5]
QueUen:
1986 1988 1989 1990 1993 1994 1995
1990 1995
1991 1994
1991 1994
Ende 1991 Ende 1995 Mille 1996
Stand 1994
JENA
107.612 108.010 105.825 102.518 100.093 102.204 99.945
62.000 46.181
16 31
23.211 7.798
7,4 13,2 15,0
1.645
DESSAU WEIMAR
103.538 63.910 103.867 63.412 101.262 61.583 96.754 60.326 93.789 58.807 92.262 62.233 (mit Eingem.)
90.945 62.265
55.363 37.183 36.809 29.936
51 22 60 25
18.913 6.865 7.343 2.550
8,1 9,8 18,5 13,1 20,3 k.A
1.407 1.965
[1) Statistische JahrbOcher der DDR (1987 - 1990); Statistische Jahrbocher ThOringen (1991, 1995, 1996); Stadt Dessau: Neue Zielstellungen zur Stadtentwicklung, Hrsg. vom Stadtplanungsamt Dessau, Marz 1995; Angaben der Komrnunen
[2) Statistisches Jahrbuch ThOringen (1991, 1996); Dessau in Zahlen 1996, Hrsg. von der Stadt Dessau, Referat bffentlichkeitsarbeit
[3) ThOringer Landesarnt liir Statistik: Statistischer Bericht: Bergbau und verarbeitendes Gewerbe in ThOringen. Januar 1995 - April 1996 nach Kreisen; Statistisches Johrbuch Sachsen-Anhalt (1992, 1995)
[4) Statistisches Jahrbuch Sachsen-Anhalt 1992; Statistisches Jahrbuch Thuringen 1991; Landesarbeitsamt SachsenAnhalt/ThOringen: Ergebnisse liir kreisfreie StOdte und Landkreise - Arbeitslose und Arbeitslosenquote. Berichtsmonat Dezember 1995 (Statistisches Sanderheft); Statistisches Informationsblatt der Stadt Dessau, Juli 1996; Jenaer Statistik, Quartalsbericht 1/96, Hrsg. von der Statistikstelle beirn Einwohnerrneldearnt
[5) Dessau in Zahlen 1996, Hrsg. von der Stadt Dessau, Referat bffen~ichkeitsarbeit; Statistisches Jahrbuch 1994, Stadt Weimar
JENA • DESSAU • WEIMAR
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