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suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1874 Jenseits der Schönheit Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie Bearbeitet von Georg Simmel, Ingo Meyer Originalausgabe 2008. Taschenbuch. 437 S. Paperback ISBN 978 3 518 29474 1 Format (B x L): 10,8 x 17,7 cm Gewicht: 266 g Weitere Fachgebiete > Kunst, Architektur, Design > Kunstwissenschaft Allgemein > Kunsttheorie, Kunstphilosophie schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1874

Jenseits der Schönheit

Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie

Bearbeitet vonGeorg Simmel, Ingo Meyer

Originalausgabe 2008. Taschenbuch. 437 S. PaperbackISBN 978 3 518 29474 1

Format (B x L): 10,8 x 17,7 cmGewicht: 266 g

Weitere Fachgebiete > Kunst, Architektur, Design > Kunstwissenschaft Allgemein >Kunsttheorie, Kunstphilosophie

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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Leseprobe

Simmel, Georg

Jenseits der Schönheit

Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ingo Meyer

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1874

978-3-518-29474-1

Suhrkamp Verlag

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suhrkamp taschenbuchwissenschaft 1874

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Georg Simmel hat sich zeit seines Lebens mit Fragen der Kunst und der �s-thetik auseinandergesetzt. Das dokumentieren die hier versammelten Texte,die zugleich die theoretische Einheit der weitgestreuten Arbeiten Simmelszu diesen Fragen sichtbar werden lassen. Simmels Interesse – so zeigt sich –richtet sich einerseits auf die �sthetische Dimension von sozialen Interaktio-nen und Gebrauchsgegenst�nden, andererseits auf konkrete Artefakte undklassische �sthetische Positionen. Dar�ber hinaus geben ausgew�hlte K�nst-lerportr�ts und Briefe Kernpassagen der Lebensphilosophie wieder, die ver-deutlichen, wie dem sp�ten Simmel das �sthetische zur Realisation des »indi-viduellen Gesetzes« ger�t, es nunmehr als existentielle Lebensform begriffenwird.Das Nachwort von Ingo Meyer ordnet Simmels �sthetik zwischen klas-

sisch-idealistischen, nietzscheanischen und modernen Positionen zum »Nicht-mehr-Schçnen« ein.

Georg Simmel wurde 1858 in Berlin geboren. Er starb 1918 in Straßburg. DieGeorg Simmel-Gesamtausgabe (GSG) erscheint im Suhrkamp Verlag.

Ingo Meyer ist seit 2004 Mitglied der Bielefelder Simmel-Arbeitsgruppe undarbeitet seit 2005 in der Redaktion der Simmel Studies.

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Georg SimmelJenseits der Schçnheit

Schriften zur �sthetik und Kunstphilosophie

Ausgew�hlt und mit einem Nachwortvon Ingo Meyer

Suhrkamp

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet �ber

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1874Erste Auflage 2008

� Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,

des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyUmschlag nach Entw�rfen vonWilly Fleckhaus und Rolf Staudt

ISBN 978-3-518-29474-1

1 2 3 4 5 6 – 13 12 11 10 09 08

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Inhalt

I. �sthetik der Lebenswelt

Ueber Kunstausstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Exkurs �ber den Schmuck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17Venedig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24Florenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29Die Ruine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34Philosophie der Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42Exkurs �ber die Soziologie der Sinne . . . . . . . . . . . . . . . 53Die �sthetische Bedeutung des Gesichts . . . . . . . . . . . . . 72Die Mode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78[�ber die Tango-Manie in Berlin, Januar 1914] . . . . . . . . . 107Georg Simmel an Paul Ernst [Brief vom 14. M�rz 1908]. . . . 108Zur Philosophie des Schauspielers . . . . . . . . . . . . . . . . 111

II. Kritik, Programmatik, Einzelinterpretation:Auf dem Weg zur Werk- und Wirkungs�sthetik

[Kunstproduktion und -rezeption als Negationder Arbeitsteilung, Auszug aus Philosophie des Geldes] . . . . 139

Soziologische Aesthetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141L’art pour l’art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157Kant und die moderne Aesthetik . . . . . . . . . . . . . . . . . 163Schopenhauers Aesthetik und die moderne Kunstauffassung . 179Zwischenerçrterung: Was sehen wir am Kunstwerk? . . . . . . 198Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung . . . . . 208Rodin (mit einer Vorbemerkung �ber Meunier) . . . . . . . . . 221Das Christentum und die Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . 237Die �sthetische Quantit�t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248�ber die dritte Dimension in der Kunst . . . . . . . . . . . . . 258Die Lebensvergangenheit im Bilde [und] Die Darstellungder Bewegtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

�ber die Karikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275[Definition des Expressionismus und Futurismus,Auszug aus Der Krieg und die geistigen Entscheidungen] . . 282

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Vom Realismus in der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284Zum Problem des Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 295Herbst am Rhein [Gedicht vom 23. 1. 1897] . . . . . . . . . . 321Nur eine Br�cke [Gedicht vom 13. 3. 1901] . . . . . . . . . . . 324Georg Simmel an Paul Ernst [Brief vom 14. 1. 1910] . . . . . . 325[Aphorismen, Ausz�ge aus Postume Verçffentlichungen] . . . . 327Jenseits der Schçnheit [10. 4. 1897] . . . . . . . . . . . . . . . . 329

III. Lebensphilosophie – Artistik als Realisierungdes individuellen Gesetzes

[Tragçdie als �sthetische Setzung, Auszug aus Lebens-anschauung] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Vom Tode in der Kunst. Nach einem Vortrag . . . . . . . . . . 336Gesetzm�ßigkeit im Kunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345Michelangelo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356Einheit der Weltelemente [Auszug aus Goethe] . . . . . . . . . 379Entwicklung [Auszug aus Goethe] . . . . . . . . . . . . . . . . 389

IV. Anhang

»Jenseits der Schçnheit«. Simmels �sthetik – origin�rerEklektizismus? Nachwort von Ingo Meyer . . . . . . . . . . 399

Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

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I. �sthetik der Lebenswelt

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Ueber Kunstausstellungen[1890]

Die große Menge, die im allgemeinen von ihrem Optimismus lebt,hat auch ihren eigenen Pessimismus. Es ist zwar alles gut und schçn,was da ist, allein es ist doch schlecht und nichtig gegen das, was war.Der Pessimismus �ber die Gegenwart, der sich f�r den freiern Geistin den Optimismus �ber die Zukunft umsetzt, wird f�r sie ein Op-timismus �ber die Vergangenheit, und die Sage vom Paradies, derTraum des goldenen Zeitalters, der Glaube an die gute alte Zeit sindnichts anderes als rosige Beleuchtungen eines Vergangenen, die vonden Schatten der Gegenwart ausgespart sind, eine unbewußte Ver-urtheilung der unbefriedigenden Gegenwart. Als der Großvater dieGroßmutter nahm, da war die Welt nicht nur im ganzen besser, son-dern sie war vor allem moralischer, und die Klage �ber die sittlicheVerderbniß der Zeit ist wol beinahe so alt wie die Sitte und die Zeitselbst. Diese Verherrlichung des Vergangenen, die die grçßere Massevon dem Ideale der Sittlichkeit borgt, verengt sich in feinern Kreisenh�ufig zu einer �sthetischen Verherrlichung des Vergangenen. Nichtnur besser, sondern vor allem schçner scheint die Welt der Griechen,der Landsknechte, der Alongeper�cken zu sein, und bez�glich derVerdichtung des Schçnen im Kunstwerke kann man bei jeder Gele-genheit die Klage hçren, daß die Kunst heruntergekommen sei. Daßjedenfalls der Charakter moderner Kunst anders geworden ist, daßwir noch unsicher sein m�ssen, ob innerhalb dieses Charakters sichdie gleiche Hçhe des Kunstwerks erreichen l�ßt, das steht fest. Undnach einer Seite hin sind die Kunstausstellungen Verkçrperung undSinnbild dieser Wandlung.Wenn man klagt, daß der modernen Welt �berhaupt jene scharf

ausgepr�gten Persçnlichkeiten fehlen, die auf sich selbst gestellt, auseigenster Kraft heraus die Welt zu bewegen w�ßten, und wenn mandem gegen�ber gesagt hat, in der modernen Welt geschehe das Gro-ße durch die Massen und nicht durch den Einzelnen, die Zusam-menwirkung der Vielen sei an die Stelle der allein wirkenden indi-viduellen That getreten, so kçnnte man angesichts einer modernenKunstausstellung ein Abbild dieses Verh�ltnisses zu erblicken glau-ben. Jene allumfassende Kraft, jene F�higkeit, auf jedem Gebiete

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k�nstlerischen Schaffens die Einzelpersçnlichkeit zur Geltung zu brin-gen, wie wir sie bei den Meistern der Renaissance erblicken, ist vorder Arbeitstheilung auch der k�nstlerischen Th�tigkeit untergegan-gen, und die Gesammtheit des k�nstlerischen Sichauslebens bietetsich nicht mehr beim Anblick einer Einzelpersçnlichkeit, sondernim Zusammenfassen mannichfaltigster k�nstlerischer Leistungen. Esscheint, als ob jene Kr�fte des k�nstlerischen Kçnnens sich auf eineF�lle verschiedener Einzelpersonen vertheilt haben, wie ein leuchten-der Weltkçrper zersprengt und in eine Anzahl irrender Sternkçrper-chen aufgelçst wird. Kein einzelnes Kunstwerk l�ßt sich angeben,das etwa die Summe des vorhandenen Kçnnens, den Hçhepunktaller bisher erreichten Entwickelung so darstellte, wie die SixtinischeMadonna oder die Mediceergr�ber es thaten; darum bedarf es desZusammenf�hrens des Verschiedenartigen, des Zusammenkommensaller mçglichen Meister, um die Kunst der Gegenwart kennen zulernen. So einseitig hat der moderne Trieb nach Specialisirung auchdie k�nstlerische Th�tigkeit gestaltet, daß es zur Ausgleichung des-sen des gleichzeitigen Betrachtens eben alles jenes Entgegengesetztenbedarf. Wer weiß, ob es uns nicht unertr�glich w�re, auch auf einenbessern Meister der Gegenwart allein oder fast allein angewiesen zusein, wie wir wol mit Michel Angelo abschließen kçnnten; wer weiß,ob es nicht der eigenste Charakter des modernen Kunstempfindensist, daß wir neben jeder schçpferischen Persçnlichkeit so viele andereerblicken, die deren Einseitigkeit je eine andere entgegensetzen, so-daß erst im Zusammenschlusse des Mannichfaltigen die eigentlicheund bezeichnende Empfindung f�r die Kunst unserer Zeit zu Standekommt.

Die Kunstausstellung ist die nothwendige Erg�nzung und Folgedes modernen Specialistenthums in der Kunst.

Die Einseitigkeit des modernen Menschen, insoweit er schafft,wird erg�nzt durch seine Vielseitigkeit, insofern er empf�ngt. Je klei-ner das Gebiet ist, auf dem sich der Einzelne th�tig bewegt, je engerdie Grenzen, in denen tags�ber sein Denken und Wollen einge-spannt ist, desto lebhafter wird das Bed�rfniß, nun in den Stundender Erholung und des aufnehmenden Interesses sich in der grçßtenF�lle verschiedenartiger Gedanken und Empfindungen zu ergehen,wie unth�tige Muskeln ihre widerwillig zur�ckgedr�ngte Kraft gernin gesteigerter Bewegung entladen. Gerade in der Beengung seinesStudirzimmers ist Faust die Sehnsucht entstanden, den ganzen Reich-

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thum der Gegens�tze in der Welt von einem ihrer Enden bis zumandern zu durchmessen; gerade das Specialistenthum unserer Zeiterzeugt das Hasten von einem Eindrucke zum andern, die Ungedulddes Genießens, das problematische Trachten, in mçglichst kurzerZeit eine mçglichst große Summe von Erregungen, Interessen, Ge-n�ssen zusammenzupressen. Die Buntheit des großst�dtischen Lebensauf der Straße wie in den Salons ist von dieser durchgehenden Stre-bung sowol Ursache wie Folge, und die Kunstausstellungen fassensie f�r ein engeres Gebiet symbolisch zusammen. Da h�ngt das in-haltlich Auseinanderstrebende nachbarlich auf engstem Raume zu-sammen, da kann der aufregungsbed�rftige Geist sich die wohl-thuende Bewegung machen, im Zeitraume von Minuten die Weltder k�nstlerischen Vorw�rfe von einem Pole zum andern zu durch-wandern und sich zwischen den entferntesten Punkten mçglicherEmpfindung auszudehnen. Die grçßte Kraft des heutigen K�nstler-thums ist in einem kleinsten Punkte gesammelt und entfaltet im Be-schauer nun in gleicher Verdichtung die ganze F�lle der Gef�hle, diedie Kunst �berhaupt in ihm zu erwecken vermag. Wie die dargestell-ten Gegenst�nde selbst das Entgegengesetzteste uns r�umlich nahebringen, so entgegengesetzt sind die Beurtheilungen, die, an sie sichkn�pfend, Billigung und Misbilligung, bewunderndes Staunen undver�chtlichen Spott, Gleichg�ltigkeit und Ergriffenheit in rascherFolge in dem Geiste des Besuchers wechseln lassen, und so auch vondieser Seite die Bedingungen des modernen Genusses erf�llen, imkleinsten Umfange von Zeit und Raum das Mannichfaltigste durch-empfinden zu lassen.

Man kçnnte sagen, daß die sachliche und ruhige Beurtheilungder Kunstwerke hierdurch gewinnen m�ßte; je mehr Verschieden-artiges angeschaut wird, desto freier steht der Geist dem Einzelnengegen�ber, desto weniger gelingt es der Einseitigkeit, ihn in ihre Bah-nen zu ziehen und ihn kritiklos zu machen. Wir alle haben kein rech-tes Urtheil mehr �ber dasjenige, was in immer gleicher Art unser Be-wußtsein erf�llt und neben dem es nichts anderes gibt, woran manes messen, seinen Werth oder Unwerth feststellen kçnnte. Die Viel-seitigkeit des Anschauens, die die �bereilte Billigung oder Misbilli-gung des einen leicht durch den Blick auf zehnerlei anderes ausglei-chen lehrt, erhebt uns zu einer wenn auch k�hlen, so doch klarenHçhe, zu der Ruhe in der Beurtheilung des Einzelnen, die da fehlenmuß, wo ein einzelner Eindruck uns ganz hinnimmt, ohne daß Nach-

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bareindr�cke ihn beeinflussen und richtig stellen kçnnen. Und nichtnur die Vorz�ge des einen Bildes sind es, gegen die die M�ngel desandern sich abheben; in der Kunst wie im Leben muß vielmehr h�u-fig ein Fehler erst an irgendeinem Punkte �berm�ßig stark in dieErscheinung treten, damit man sich seiner an einem andern Punktebewußt werde. Allein der Verlust bei diesem Gewinne d�rfte bei wei-tem �berwiegen; denn aus jenem Verhalten quellen zwei der grçß-ten Uebel des modernen Kunstempfindens: die Blasirtheit und dieOberfl�chlichkeit. Es ist leicht, ruhig und k�hl den Dingen gegen-�berzustehen, wenn das Gehirn so abgestumpft ist, daß es �berhauptkeiner W�rme und keiner Begeisterung mehr zug�nglich ist; es istleicht, sich vor Uebersch�tzung zu bewahren, wenn man �berhauptnichts mehr sch�tzt; es ist leicht, das Schlechte zu kritisiren, wennman auch dem Guten nur noch kritisch gegen�berzustehen weiß.Eben diese Blasirtheit ist wieder Ursache wie Folge jenes Bed�rfensnach mannichfaltigsten und entgegengesetztesten Eindr�cken; dennwie die Erf�llung dieses Verlangens den Geist abstumpft, so d�rstetder abgestumpfte nach immer gewaltigern, weiter schwingenden Er-regungen. Ein wunderlicher Gegensatz im Geistesleben thut sich hierhervor. Immer feiner und nervçser wird die Empf�nglichkeit des mo-dernen Menschen, immer zarter sein Empfinden, sodaß er statt kr�f-tiger Farben und ihrer Gegens�tze nur noch blasse, halb verwelkteTinten vertragen mag, daß die Lebhaftigkeit der Farbe ihn verletzt,wie moderne Aeltern nicht mehr den gesunden L�rm ihrer Kinderertragen kçnnen. Immer spitzer gipfeln sich die Schattirungen derGef�hle und ihres Ausdrucks auf, sodaß sie nur noch auf der Nadel-spitze zu schwanken scheinen, immer leichter verletzt uns das leise-ste Herausfallen aus dem Stile, die geringste Taktlosigkeit, immersch�rfer lernen wir unterscheiden, was unge�btere Augen und roth-b�ckigere Empfindungsweisen noch als einheitlich und zusammen-passend ansahen. Und nun im Gegensatze dazu gerade das Bed�rf-niß der grçßten Aufregungen, die Unzufriedenheit mit den kleinenAnregungen und Freuden des Tages, das Ungen�gen an der Idylle,das schließlich bewirkt, daß uns die Natur nur noch an der Nordseeund in den hçchsten Hçhen der Alpen zu befriedigen vermag. Raffi-nement ist stets in demselben Maße das Zeichen von Vergrçberungwie von Verfeinerung des Empfindens, und die Strebungen des mo-dernen Menschen gehen in gleicher Weise darauf, das Feine, Be-sondere, Zartsinnige seiner Empfindungen noch immer mehr zu ver-

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feinern und abzuschleifen, wie sie darauf gehen, den Umfang seinesEmpfindungsgebiets zu vergrçßern, und wie er schließlich das Ge-waltigste und Ersch�tterndste braucht, um �berhaupt noch bewegtzu werden; so f�hrt auch im Kçrperlichen die Ueberreizung der Ner-ven einerseits zur Hyper�sthesie, der krankhaft gesteigerten Einwir-kung jedes Eindrucks, andererseits zur An�sthesie, der ebenso krank-haft herabgeminderten Empf�nglichkeit.

Der noch n�here Erfolg aber dieses Nebeneinanderstehens man-nichfaltigster Kunstwerke ist dieser. Unsere Seele ist doch keine Schie-fertafel, von der man das soeben darauf Geschriebene vçllig auslç-schen kann, daß es, ohne Spuren zu hinterlassen, einem vçllig NeuenPlatz mache. Wo nur irgendeine Spur von Vertiefung und Beeindruk-kung einem Kunstwerke gegen�ber stattgefunden hat, da muß siedoch lange genug nachklingen, um den n�chsten Eindruck kein ganzfreies Feld finden zu lassen, da muß wenigstens im Unbewußtennoch hinreichend viel von dem Alten �brig sein, daß das Neue nichtso viel von der Seele f�r sich gewinnen kann, wie es vielleicht bean-spruchen darf; da wird vor allem eine Mischung der Eindr�cke un-vermeidlich eintreten, die der grçßte Feind des tiefern Verst�ndnissesjedes Einzelnen ist. Schon die blos r�umliche Gedr�ngtheit der Bil-der wirkt nach dieser Richtung; kein Gem�lde, das nicht viele Qua-dratmeter groß ist, f�llt unsern Gesichtskreis selbst bei unbeweg-tem Blicke, und kein Bewußtsein kann sich so ausschließlich aufeinen Theil des Gesichtsfeldes richten, daß nicht die Nachbarbilderwenigstens ein Theilchen Bewußtsein gewçnnen und so den Ein-druck des gerade betrachteten durchkreuzten und herabminderten.Und von diesem Durcheinander, dieser stçrenden Gleichzeitigkeitabgesehen – wie viele Bilder mag man wol auch hintereinander mitfrischer Empf�nglichkeit sehen kçnnen? Die Ansichten mçgen aus-einandergehen, der eine mag behaupten ein halbes Dutzend, der an-dere ein oder ein paar Dutzend; aber niemand wird behaupten wol-len, daß nicht schon von dem zehnten Theile einer durchwandertenKunstausstellung die Seele so voll ist, daß die Ueberladung durch die�brigen neun Zehntel ihr nothwendig ein geistiges Misbehagen be-reiten m�ßte, wenn unser geistiger Magen nicht so trefflich angepaßtw�re, daß er diese �brigen neun Zehntel eben �berhaupt nicht auf-nimmt, sondern sie sozusagen an seiner Oberfl�che hingleiten l�ßt,ohne sie einzusaugen. Auch vonMuseen freilich ist dieser Uebelstandunabtrennbar. Aber diese haben wenigstens den Vortheil, daß, wenn

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man nicht zu denjenigen Kunstkennern gehçrt, die durch Rom nurin der Nacht gekommen sind, man behaglicher und çfter dieselbenWerke sieht, sodaß, was einmal nur die Oberfl�che der Seele gestreifthat, ein anderes mal ihre tiefern Schichten ber�hren wird. Geradedie Dauer der Kunstwerke in den Museen gibt dem betrachtendenGeiste eine gewisse Ruhe gegen�ber dem fl�chtigen Charakter derKunstausstellung, deren unruhiges Achtwochenleben, nach dem ihreBestandtheile in alle Winde verstreut werden, dem Beschauer selbstseine Unstetheit und Erregtheit mittheilt.Was aber dem Versuche entgegenzustehen scheint, daß man den

psychologischen Reiz der modernen Kunstausstellung auf die Anre-gung und Aufregung zur�ckf�hre, die das unmittelbare Nebeneinan-derbetrachten des Entgegengesetztesten auf den gegensatzbed�rfti-gen modernen Geist aus�bt – was diesem scheinbar entgegensteht,ist die oft hervorgehobene Armuth der malerischen Motive. Sie vorallem ist der Grundstoff jenes Pessimismus, der auch in der Kunstnur von verlorenen Paradiesen zu sprechen weiß. Mit Recht, inso-fern man damit den Mangel derjenigen k�nstlerischen Bildnerkraftmeint, die eine Idee in ein sichtbares Gewand zu kleiden weiß, des-sen sinnliche Schçnheit sich dem Reize des Gedankens verh�llendund enth�llend anschmiegt, oder die einem Geschehen jenen dra-matischen Augenblick abgewinnt, in dem eine Vielheit handelnderPersonen sich f�r das Auge zu schçner Einheit zusammenf�gt.Dem Reichthume und der Beweglichkeit der k�nstlerischen Phan-tasie, die sie auf solche Aufgaben lenken, mag man in der heutigenKunst verh�ltnißm�ßig seltener begegnen. Auch in der mittelm�ßig-sten Kunstausstellung findet man noch immer ein paar gute Land-schaften und ein paar leidliche Portr�ts, aber sehr oft selbst in bessernAusstellungen kein einziges componirtes Bild von einiger Erheblich-keit. Das Genrebild, das vom Humor des dargestellten Ereignissesoder seiner engen Ber�hrung mit dem Lebens- und Interessenkreisedes Beschauers seinen Reiz borgt, ist zwar nicht selten, aber geradein ihm zeigt sich die auffallendste Armuth an Motiven, ein uner-m�dliches Versuchen, den tausendmal dargestellten Vorg�ngen undPersonen ein letztes bischen Originalit�t abzulisten. Großen Aufga-ben gegen�ber ist diese immer erneute Abspiegelung nicht stçrend,wie die Griechen es ertrugen, immer dieselben Vorg�nge ihrer Sagevon ihren Trauerspieldichtern behandelt zu sehen. Die Madonnamit dem Kinde, das J�ngste Gericht, eine Vereinigung von Heili-

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gen, deren jeder einen l�ngst bekannten, aber bedeutsamen Charak-ter tr�gt, die Scenen aus dem Leben Jesu – dies sind so tiefe und um-fassende Vorw�rfe, so wenig durch eine einzelne Darstellung ganzzu lçsen, daß sie ungez�hlte Ausgestaltungen tragen kçnnen; weilihnen �berhaupt kein sinnliches Bild vçllig entspricht, weil ihr Ge-dankengehalt �ber jedes einzelne hin�berw�chst, darum kann keinsmit ihnen fertig werden, und jedes �berliefert dem n�chsten die Auf-gabe so unerschçpft, wie es selbst sie vorgefunden hatte. Je n�herliegend diese aber ist, je weniger ihre Darstellung �ber sich selbst hin-ausw�chst, desto weniger kann man die h�ufige Wiederholung ertra-gen. Einen ernsten Gedanken mag man hundertfach wiederholen,ein Witz darf nur einmal gemacht werden. So verlangt das Genrebildseinem Wesen nach eine gewisse Originalit�t, und die h�ufige Wie-derholung seines Inhalts wirkt peinlich und �rmlich.

So sehr man also in Bezug auf eigentliche Erfindung von der mo-dernen Kunstausstellung den Eindruck der Armuth und sozusageneiner bunten Eintçnigkeit haben mag, so fehlt es dennoch, von an-derer Seite gesehen, nicht an einer anregenden Mannichfaltigkeitund entschiedenen Entgegengesetztheit. Der Einzelne mag nicht ori-ginell sein, mag sich in einem Bezirk von Inhalten und Formen hal-ten, den man schon kennt; allein die moderne Kunst verf�gt �bereinen solchen Reichthum von Vorbildern, eine solche F�lle verschie-denartiger Stile, daß dennoch der Eindruck des lebendigsten Wech-sels erzeugt wird. Und hier wird eine Beziehung der Kunst zum çf-fentlichen Geiste sichtbar, die ich oben andeutete und die hier ihreTiefe nach einer andern Richtung hin zeigt. An die Stelle der gro-ßen Individualit�ten, sagt man, trete mehr und mehr die Wirksam-keit der Masse; die Aufgaben der modernen Cultur seien wenigerdurch die Kraft der Einzelpersçnlichkeit als durch das Zusammenar-beiten der Vielen zu lçsen, und es seien vielmehr Gesammtleistungenals originelle Leistungen der Einzelnen, die �berall dem Schaffen un-serer Zeit den Charakter verleihen. Die Originalit�t ist von dem Ein-zelnen an die Gruppe �bergegangen, der er angehçrt und von der erdie Art seines Wirkens zu Lehn tr�gt. Vielleicht gilt dies auch f�r dieKunst. Wenn der Einzelne an und f�r sich auch arm an Erfindung ist,im Zusammenhange mit Vorstrebenden und Mitstrebenden stellt erdoch eine eigenartige, von andern Stilen sich unterscheidende Emp-findungs- und Darstellungsart dar. Was er dazu beitr�gt, daß ein be-stimmter k�nstlerischer Charakterzug und solche Anschauungsart

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sich bilde, wird sich vielfach nicht feststellen lassen, und wie �berall,wo der Einzelne einer Gruppe angehçrt, l�ßt sich das Maß dessen,was er empf�ngt, nicht scharf gegen das, was er gibt, abgrenzen. Undso ist es mçglich, daß der Mangel an individueller, rein auf sich selbstgestellter Kraft doch dem Reichthume mannichfaltigster Stile, ver-schiedenartigster Problemstellungen nicht widerspricht. Und diesesVerh�ltniß des Einzelnen zumGanzen einzusehen, hilft uns vor allemdie moderne Kunstausstellung. Sie lehrt uns, wie die oft beklagteArmuth, die Geringf�gigkeit an Erfindung, der Mangel an scharf aus-gepr�gten Individualit�ten sich doch mit Mannichfaltigkeit des Ge-sammtbildes vertr�gt, indem an die Stelle der persçnlichen Origina-lit�t die F�lle der Strebungen, Ideenkreise und Ausdrucksweisen tritt,die von ganzen Gruppen getragen und dem Einzelnen �berliefertwerden.

So gehçrt die Kunstausstellung zu denjenigen Einrichtungen undVorg�ngen, die vielleicht an sich unerfreulich und wenig nutzbrin-gend, die aber als Merkzeichen des modernen Geistes nicht mehrentbehrlich sind. Sie sind nicht sowol die Ursache der Oberfl�ch-lichkeit und Blasirtheit des Kunsturtheils, wie man sie angeschuldigthat, als vielmehr die Folge von gewissen Zust�nden des çffentlichenGeistes, die man beklagen mag, die aber doch so tiefe Zusammen-h�nge haben, daß man sie nicht herauslçsen kçnnte, ohne den ganzenTon des modernen Empfindungslebens zu �ndern. An wenig andernErscheinungen, die wie die Kunstausstellung doch etwas seitw�rtsh�ngende Fr�chte unserer Cultur sind, dr�ngen sich so viele Charak-terz�ge dieser zusammen: die Specialisirung der Leistungen, das Zu-sammendr�ngen der mannichfaltigsten Kr�fte auf engstem Raume,die fliegende Hast und aufregende Jagd der Eindr�cke; der Mangelan scharfkantigen Persçnlichkeiten, aber daf�r ein großer Reichthuman Bestrebungen, Aufgaben, Stilgattungen, die von ganzen Gruppengetragen werden – all diese Z�ge, die die moderne Kunstausstellunguns zeigt, rein als solche und ohne daß man noch irgend auf ihren In-halt eintr�te, bilden einMiniaturbild unserer Geistesstrçmungen, daseben durch diesen großen Zusammenhang sich f�r den Tieferblik-kenden dem Lobe und Tadel entzieht, die sich an seine vereinzelteBetrachtung kn�pfen mçgen. Denn sie gehçrt zu den Symbolenunserer Uebergangszeit, von der erst die Zukunft entscheiden kann,ob all die unruhige, ungewisse, erregende D�mmerung, in der wirleben, die D�mmerung des Tages oder die der Nacht ist.

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Exkurs �ber den Schmuck

In dem Wunsche des Menschen, seiner Umgebung zu gefallen, ver-schlingen sich die Gegentendenzen, in deren Wechselspiel sich �ber-haupt das Verh�ltnis zwischen den Individuen vollzieht: eine G�te istdarin, ein Wunsch, dem Andern eine Freude zu sein; aber auch derandere: daß diese Freude und »Gef�lligkeit« als Anerkennung undSch�tzung auf uns zur�ckstrçme, unsrer Persçnlichkeit als ein Wertzugerechnet werde. Und so weit steigert sich dies Bed�rfnis, daß esjener ersten Selbstlosigkeit des Gefallen-Wollens ganz widerspricht:durch eben dieses Gefallen will man sich vor andern auszeichnen,will der Gegenstand einer Aufmerksamkeit sein, die Andern nichtzuteil wird – bis zum Beneidetwerden hin. Hier wird das Gefallenzum Mittel des Willens zur Macht; es zeigt sich dabei an manchenSeelen der wunderliche Widerspruch, daß sie diejenigen Menschen,�ber die sie sich mit ihrem Sein und Tun erheben, doch gerade nçtighaben, um auf deren Bewußtsein, ihnen untergeordnet zu sein, ihrSelbstgef�hl aufzubauen.

Eigent�mliche Gestaltungen dieser Motive, die �ußerlichkeit unddie Innerlichkeit ihrer Formen ineinander webend, tragen den Sinndes Schmuckes. Denn dieser Sinn ist, die Persçnlichkeit hervorzu-heben, sie als eine irgendwie ausgezeichnete zu betonen, aber nichtdurch eine unmittelbare Macht�ußerung, durch etwas, was den An-dern von außen her zwingt, sondern nur durch das Gefallen, das inihm erregt wird und darum doch irgend ein Element von Freiwil-ligkeit enth�lt. Man schm�ckt sich f�r sich und kann das nur, in-dem man sich f�r Andre schm�ckt. Es ist eine der merkw�rdigstensoziologischen Kombinationen, daß ein Tun, das ausschließlich derPointierung und Bedeutungssteigerung seines Tr�gers dient, dochausschließlich durch die Augenweide, die er Andern bietet, aus-schließlich als eine Art Dankbarkeit dieser Andern sein Ziel erreicht.Denn auch der Neid auf den Schmuck bedeutet nur den Wunsch desNeidischen, die gleiche Anerkennung und Bewunderung f�r sich zugewinnen, und sein Neid beweist gerade, wie sehr diese Werte f�r ihnan den Schmuck gebunden sind. Der Schmuck ist das schlechthinEgoistische, insofern er seinen Tr�ger heraushebt, sein Selbstgef�hlauf Kosten Andrer tr�gt und mehrt (denn der gleiche Schmuck Allerw�rde den Einzelnen nicht mehr schm�cken); und zugleich das Al-

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truistische, da seine Erfreulichkeit eben diesen Andern gilt – w�h-rend der Besitzer selbst sie nur im Augenblicke des Sich-Spiegelns ge-nießen kann – und erst mit dem Reflex dieses Gebens dem Schmuckseinen Wert gewinnt. Wie allenthalben in der �sthetischen Gestal-tung die Lebensrichtungen, die die Wirklichkeit fremd neben ein-ander, oder feindlich gegen einander stellt, sich als innig verwandteenth�llen – so zeigt in den soziologischen Wechselwirkungen, die-sem Kampfplatz des F�rsichseins und des F�randreseins der Men-schen, das �sthetische Gebilde des Schmuckes einen Punkt an, andem diese beiden Gegenrichtungen wechselseitig als Zweck und Mit-tel auf einander angewiesen sind.

Der Schmuck steigert oder erweitert den Eindruck der Persçnlich-keit, indem er gleichsam als eine Ausstrahlung ihrer wirkt. Darumsind die gl�nzenden Metalle und die edeln Steine von jeher seineSubstanz gewesen, sind im engeren Sinne »Schmuck«, als die Klei-dung und die Haartracht, die doch auch »schm�cken«. Man kannvon einer Radioaktivit�t des Menschen sprechen, um jeden liegtgleichsam eine grçßere oder kleinere Sph�re von ihm ausstrahlenderBedeutung, in die jeder andre, der mit ihm zu tun hat, eintaucht –eine Sph�re, zu der kçrperliche und seelische Elemente sich unent-wirrbar vermischen: die sinnlich merkbaren Einfl�sse, die von einemMenschen auf seine Umgebung ausgehen, sind in irgend einer Weisedie Tr�ger einer geistigen Fulguration; und sie wirken als die Sym-bole einer solchen auch da, wo sie tats�chlich nur �ußerlich sind,wo keinerlei Suggestionskraft oder Bedeutung der Persçnlichkeitdurch sie hindurchstrçmt. Die Strahlen des Schmuckes, die sinnlicheAufmerksamkeit, die er erregt, schaffen der Persçnlichkeit eine sol-che Erweiterung oder auch ein Intensiverwerden ihrer Sph�re, sieist sozusagen mehr, wenn sie geschm�ckt ist. Indem der Schmuck zu-gleich ein irgendwie erheblicher Wertgegenstand zu sein pflegt, ister so eine Synthese des Habens und des Seins von Subjekten, mitihm wird der bloße Besitz zu einer sinnlichen und nachdr�cklichenF�hlbarkeit des Menschen selbst. Mit der gewçhnlichen Kleidungist dies nicht der Fall, weil sie weder nach der Seite des Habens nochdes Seins hin als individuelle Besonderung ins Bewußtsein tritt; erstdie geschm�ckte Kleidung und zuhçchst die Pretiosen, die derenWertund Ausstrahlungsbedeutung wie in einem kleinsten Punkte sam-meln, lassen das Haben der Persçnlichkeit zu einer sichtbaren Quali-t�t ihres Seins werden. Und alles dies nicht, trotzdem der Schmuck

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etwas »�berfl�ssiges« ist, sondern gerade weil er es ist. Das unmit-telbar Notwendige ist dem Menschen enger verbunden, es umgibtsein Sein mit einer schmaleren Peripherie. Das �berfl�ssige »fließt�ber«, d.h. es fließt weiter von seinem Ausgangspunkte fort; und in-dem es nun dennoch an diesem festgehalten wird, legt es um denBezirk der bloßen Notdurft noch einen umfassenderen, der prinzi-piell grenzenlos ist. Das �berfl�ssige hat, seinem Begriffe nach, keinMaß in sich, mit dem Grade der �berfl�ssigkeit dessen, was unserHaben uns angliedert, steigt die Freiheit und F�rstlichkeit unsresSeins, weil keine gegebene Struktur, wie sie das Notwendige als sol-ches designiert, ihm irgend ein begrenzendes Gesetz auferlegt.

Diese Akzentuierung der Persçnlichkeit aber verwirklicht sich gra-de vermittels eines Zuges von Unpersçnlichkeit. Alles, was den Men-schen �berhaupt »schm�ckt«, ordnet sich in eine Skala, je nach derEnge, mit der es der physischen Persçnlichkeit verbunden ist. Derunbedingt enge Schmuck ist f�r die Naturvçlker typisch: die T�to-wierung. Das entgegengesetzte Extrem ist der Metall- und Stein-schmuck, der absolut unindividuell ist und den jeder anlegen kann.Zwischen beiden steht die Kleidung – immerhin nicht so unver-tauschbar und personal wie die T�towierung, aber auch nicht un-individuell und trennbar wie jener eigentliche »Schmuck«. Aber ge-rade in dessen Unpersçnlichkeit liegt seine Eleganz. Daß dieses festin sich Geschlossene, durchaus auf keine Individualit�t Hinwei-sende, hart Unmodifizierbare des Steins und des Metalls nun den-noch gezwungen wird, der Persçnlichkeit zu dienen – gerade diesist der feinste Reiz des Schmuckes. Das eigentlich Elegante vermei-det die Zuspitzung auf die besondere Individualit�t, es legt immereine Sph�re von Allgemeinem, Stilisiertem, sozusagen Abstraktemum den Menschen – was selbstverst�ndlich nicht die Raffinementsverhindert, mit der dies Allgemeine der Persçnlichkeit verbundenwird. Daß neue Kleider besonders elegant wirken, liegt daran, daßsie noch »steifer« sind, d.h. sich noch nicht allen Modifikationendes individuellen Kçrpers so unbedingt anschmiegen, wie l�ngereZeit getragene, die schon von den besonderen Bewegungen des Tr�-gers gezogen und geknifft sind und damit dessen Sonderart voll-kommener verraten. Diese »Neuheit«, diese Unmodifiziertheit nachder Individualit�t ist dem Metallschmuck im hçchsten Maße eigen:er ist immer neu, er steht in k�hler Unber�hrtheit �ber der Singula-rit�t und �ber dem Schicksale seines Tr�gers, was von der Kleidung

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keineswegs gilt. Ein lange getragenes Kleidungsst�ck ist wie mit demKçrper verwachsen, es hat eine Intimit�t, die demWesen der Eleganzdurchaus widerstreitet. Denn die Eleganz ist etwas f�r die »Andern«,ist ein sozialer Begriff, der seinen Wert aus dem allgemeinen An-erkanntsein zieht.

Soll der Schmuck so das Individuum durch ein �berindividuel-les erweitern, das zu Allen hinstrebt und von Allen aufgenommenund gesch�tzt wird, so muß er, jenseits seiner bloßen Materialwir-kung, Stil haben. Stil ist immer ein Allgemeines, das die Inhalte despersçnlichen Lebens und Schaffens in eine mit Vielen geteilte undf�r Viele zug�ngige Form bringt. An dem eigentlichen Kunstwerkinteressiert uns sein Stil um so weniger, je grçßer die personale Ein-zigkeit und das subjektive Leben ist, das sich in ihm ausdr�ckt; dennmit diesem appelliert es auch an den Persçnlichkeitspunkt im Be-schauer, er ist sozusagen mit dem Kunstwerk auf der Welt allein.F�r Alles dagegen, was wir Kunstgewerbe nennen, was sich wegenseines Gebrauchszweckes an eine Vielheit vonMenschen wendet, for-dern wir eine generellere, typischere Gestaltung, in ihm soll sichnicht nur eine auf ihre Einzigkeit gestellte Seele, sondern eine breite,historische oder gesellschaftliche Gesinnung und Stimmung ausspre-chen, die seine Einordnung in die Lebenssysteme sehr vieler Ein-zelner ermçglicht. Es ist der allergrçßte Irrtum, zu meinen, daß derSchmuck ein individuelles Kunstwerk sein m�sse, da er doch immerein Individuum schm�cken solle. Ganz im Gegenteil: weil er demIndividuum dienen soll, darf er nicht selbst individuellen Wesenssein, so wenig wie das Mçbel, auf dem wir sitzen, oder das Eßger�t,mit dem wir hantieren, individuelle Kunstwerke sein d�rfen. Allesdies vielmehr, was den weiteren Lebenskreis um den Menschen her-um besetzt, – im Gegensatz zum Kunstwerk, das �berhaupt nichtin ein andres Leben einbezogen, sondern eine selbstgen�gsame Weltist – muß wie in immer sich verbreiternden, konzentrischen Sph�rendas Individuum umgeben, zu diesem hinf�hrend oder von ihm aus-gehend. Dieses Auflçsen der individuellen Zuspitzung, diese Verall-gemeinerung jenseits des persçnlichen Einzigseins, die nun aberdoch als Basis oder als Strahlungskreis das Individuelle tr�gt oderes wie in einen breit hinfließenden Strom aufnimmt – das ist das We-sen der Stilisierung; aus dem Instinkt daf�r ist der Schmuck stetsin verh�ltnism�ßig strenger Stilart gebildet worden.

Jenseits der formalen Stilisierung des Schmuckes ist das materielle

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