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Jg.15/Nr. Dezember/Januar 2010/2011 Symptomatisches aus Politik, Kultur und Wirtschaft 2/3 Fr. 22.– 15.– Monatsschrift auf der Grundlage der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners Die Geistigkeit der Hochgebirge Wer war Charles Kovacs? Das Labyrinth von Chartres Widersprüche beim frühen und späten Steiner? Freundschaft und Einweihung Templer unter Steiners Schülern Eine Neujahrsbetrachtung In memoriam Dr. Felix Peipers

Jg.15/Nr. Dezember/Januar 2010/2011 2/3 - Perseus · 2015. 10. 28. · Rudolf Steiner sagte von Collins’ Schrift: «Nicht in ganzen Biblio-theken sind Worte von solcher Tiefe zu

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Jg.15/Nr. Dezember/Januar 2010/2011

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Die Geistigkeit der Hochgebirge

Wer war Charles Kovacs?

Das Labyrinth von Chartres

Widersprüche beim frühen und späten Steiner?

Freundschaft und Einweihung

Templer unter Steiners Schülern

Eine Neujahrsbetrachtung

In memoriam Dr. Felix Peipers

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Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

InhaltIm Angesicht des Himalayagebirges 3Thomas Meyer

Akosmismus, Agnostizismus und Atheismus und ihre Überwindung inwahrer Kunst, Wissenschaft und Religion 11Rudolf Steiner (Teil 2, Schluss)

Charles Kovacs (1907–2001) – eine biographische Skizze 13Thomas Meyer

In welche Richtung fährt der Zug?Tolstois Verhältnis zu Sterben, Tod und Reinkarnation 17Claudia Törpel (Teil 2, Schluss)

Anthroposophisches aus Ungarn 21Maria Scherak

Das Labyrinth von Chartres 22Horst Peters

Die Bildsprache des Lebensbaum-motives 29Erich Prochnik

Europäer-Kalender: Dezember 2010 und Januar 2011 Heftmitte

Die «Ware» und ihr (volkswirtschaftlicher) Wert 36Damian Mallepree

Apropos 68:Ohne Islam hätten wir Christen keine Wissenschaft! 38Boris Bernstein

Das Problem des «frühen» und des «späten» Steiners 42Marek B. Majorek

Der Kalender 1912/13 und seine Bedeutung für die Zukunft 46Carsten Tiede

Der Vergessenheit anheimgefallen: Elisabeth Vreede 48Buchbesprechung von Claudia Törpel

Wiederverkörperte Templer unter den Schülern Rudolf Steiners 49Thomas Meyer

Freundschaft als Weg zur Einweihung 52Gerald Brei

Die reine Wahrnehmung oder ein Händedruck… 55Steffen Hartmann

«Ohne ein genügendes Studium derDreigliederung...» 56Buchbesprechung von Franz Jürgen Römmeler

Leserbriefe 58

Impressum 59

Die nächste Nummer erscheint Anfang Februar 2011

Hochgebirge, ein Soratbild und die12 Heiligen Nächte

Auch geographische Räume und geologische Formationen haben ihre eigeneGeistigkeit. Welche geistigen Wesenheiten sind mit Hochgebirgen wie denAlpen oder dem Himalaya verbunden? Weshalb suchte der Graf von St. Ger-main am Ende seines Wirkens in Europa (1790) das Himalayagebiet auf?Steht dies im Zusammenhang mit der 85 Jahre später entstandenen Theoso-phischen Gesellschaft, aus deren Schoß die anthroposophische Bewegunghervorgegangen ist? Worin liegt der mögliche sinnlich-sittliche Wert vonBergbesteigungen? Und weshalb brauchen wir heute «Gebirgsgesinnung»?Hinweise Steiners sowie ein Besuch der Gegend des Himalaya suchen in derNeujahrsbetrachtung auf diese Fragen Antwort zu geben.

In diesem Jahr sind 700 Jahre seit der Verbrennung von 54 Templern vor Paris im Mai 1310 verflossen. Unabhängig von einander sind zwei Publika-tionen erschienen, die sich mit Jacques de Molay befassen, dem letzten Groß-meister des Ordens, der im März 1314 auf der Seine-Insel in Paris verbranntwurde. Diese Publikationen enthalten unvereinbare Angaben über das Wie-dererscheinen Molays innerhalb der Schülerschaft R. Steiners. Es handelt sichum Peter Selgs Monographie über Elisabeth Vreede sowie die Dokumentationüber die vier Mysteriendramen von Wilfried Hammacher. Hier liegt eine wah-re Herausforderung für das bereits im Vorfeld rein geisteswissenschaftlicherForschung benötigte Unterscheidungsvermögen vor!

Hinter dem Impuls der Vernichtung des Templerordens war nach RudolfSteiner (12.9.1924, GA 346) «einer der mächtigsten ahrimanischen Dämo-nen» tätig, der den Namen Sorat trägt und der im geschichtlichen Rhythmusvon 666 Jahren störend in das historische Geschehen eingreift.

Wir befinden uns in der Zeit der dritten soratischen Angriffswelle, die 1998einsetzte – zur Zeit des völkerrechtswidrigen Nato-Krieges gegen Serbien –und wenige Jahre später zu einer Umgestaltung der globalen Verhältnisseführte, in welcher, wie zur Zeit der Templer, unter Folter erpresste Geständ-nisse eine große Rolle spielen.

Der in Edinburgh tätig gewesene Lehrer, Maler und Anthroposoph CharlesKovacs (siehe S. 13ff.) hat ein bedeutendes Bild dieser geistigen Wesenheit ge-malt, welche jeder wache Zeitgenosse als einen sehr bestimmenden Faktorder heutigen Weltlage wird betrachten müssen (siehe S.16). Kovacs hinterließauch Betrachtungen zu Steiners Nürnberger Apokalypsezyklus, die manchenSchlüssel zu diesem wichtigen, aber schwierigen Zyklus Steiners bieten.

Eine Besonderheit in unserem neuen Kalendarium sind die sieben Feste oderFeiern im Dezember, wie sie Mabel Collins in ihrem Büchlein Die Geschichtedes Jahres verzeichnet. Diese Feiern bezeichnen Stufen der inneren Entwick-lung; sie sind geeignet, die Adventszeit in einer noch vertiefteren Weise zudurchleben. Rudolf Steiner sagte von Collins’ Schrift: «Nicht in ganzen Biblio-theken sind Worte von solcher Tiefe zu finden.» Im Anhang dieser Schrift isteine Betrachtung von W.J. Stein über die 12 heiligen Nächte zu finden, die imZeichen der Jungfrau beginnen (siehe dazu R. Steiner am 23.12.1917, GA 180).

Unser Kalendarium wurde außerdem durch einen Artikel von Carsten Thiedebereichert, welcher die Hintergründe von dessen Entstehen beleuchtet.

Angesichts der apokalyptischen Weltlage werden die kommenden zwölfHeiligen Nächte von besonderer Bedeutung sein – als geistige Kraft- undLichtspender, wie sie gerade jetzt in verstärktem Maß benötigt werden.

Mit den allerbesten Weihnachts- und NeujahrswünschenThomas Meyer

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Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Die Geistigkeit von Hochgebirgen

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Im Angesicht des HimalayagebirgesEine Neujahrsbetrachtung

Ein geisteswissenschaftlicher Blick auf die AlpenRudolf Meyer (1896 –1985) hat in seinem längst vergrif-fenen Büchlein Vom Genius der Schweiz1 Gedanken zumGeistcharakter der Alpen niedergelegt, die aus einemgeisteswissenschaftlich vertieften Erleben der Schweizund ihrer Gebirgswelt hervorgegangen sind.

«Was bedeuteten die Hochgebirge den Menschen derVorzeit?» fragt Meyer zu Beginn seiner Alpenbetrach-tungen. «Sie waren das Réduit der Götter. Mit heiligerScheu blickten die Völker zu den Göttersitzen empor.Sie wussten, dort um die Gipfel, die von Menschen-füßen nicht betreten, vom Tageslärm nicht entweihtwerden, kreisen jene Mächte, die das Menschenlebenaus höherer Überschau zu ordnen vermögen, die es be-gnaden und zugleich richten.»2

Inzwischen hat sich der Hochgebirgstourismus dermeisten Gipfel bemächtigt und ist es eine alltägliche Erscheinung geworden, dass sich «Bequemlinge im Ses-sellift hinaufführen lassen». Die Bergeshöhen scheinendamit jenes «heiligen Zaubers entkleidet, der in ihrerUnnahbarkeit lag». Durch geisteswissenschaftliche Ge-sichtspunkte kann aber etwas von dem alten, heiligenZauber, der durch die oberflächliche materialistischeGesinnung mehr verdeckt als zerstört wurde, wiedersichtbar gemacht werden.

Réduit der ErzengelDie ganze Kontinente formenden und umgestaltendenGeister der Form sind auch die Schöpfer des europäischenAlpenmassivs, das für die Entwicklung der abendländi-schen Persönlichkeitskultur so bestimmend geworden ist.

In Bezug auf die in der Schweiz zentrierten Alpen sagtMeyer: «Achten wir darauf, wie durch das Kraftfeld die-ses Gebirgsmassivs im Herzen Europas die Nationenauseinander gehalten worden sind, welche die europä-ische Geistesentwicklung zu tragen hatten. Sie wärensonst formlos ineinander geflossen, hätten sich schwer-

lich als Italien, Frankreich, Deutschland usw. – ein jedesmit eigenem Schicksal und charakteristischem Kultur-auftrag – in sich absondern können. Dadurch konntensich jedoch in diesen Ländern ganz bestimmte Volks-tümer ausbilden.»

Die geistigen Schöpfer von Völkern sind die im Range von Erzengeln stehenden Volksgeister. Diese Geis-ter haben Zeiten der Tätigkeit und solche der «Ruhe», je-denfalls in Bezug auf diese ihre Volks-Tätigkeit. In derTätigkeitsphase bildet sich das Volkstum heraus, in der«Ruhephase» ziehen sie sich von ihrem jeweiligen Volks-tum zurück, «entweder weil das Volkstum ihren Impul-sen allzu starke Widerstände bietet3, oder aber weil es ih-nen gelungen ist, das vorgesetzte Ziel zu erreichen».Wohin ziehen sich diese europäischen Volksgeister in ih-rer «Ruhephase» zurück? Die geisteswissenschaftlicheAntwort lautet: «Für die Genien der europäischen Völ-ker sind nun, im Sinne der Geisteswissenschaft RudolfSteiners gesprochen, die Alpen der heilige Bezirk, in den siesich zurückziehen, über den sie sich gleichsam lagern,wenn sie von ihrer Wirksamkeit ruhen wollen.» DiesesRuhen ist allerdings kein Schlafen, sondern «ein höheresAufwachen im göttlichen Lichte, um sich im Anschauender ewigen Ideen mit neuen Impulsen durchdringen zulassen und sich zu weiteren Aufgaben im Erdendasein zurüsten. Die Alpen sind das Réduit der Erzengel. Hier ist derRuheort jener Volksgeister zu finden, denen die geistige Füh-rung des Abendlandes anvertraut ist.»

Die übernationale Mission der SchweizAus seiner geisteswissenschaftlichen Charakteristik derAlpenwelt leitet Meyer in schöner Weise auch das Cha-rakteristische der übernationalen Mission der Schweizab. «In diesem, an die Alpenwelt sich anschließenden Le-bensbezirk», schreibt er, will «auf besondere Weise einÜbernationales walten, ein Volkselement, das sich –wenn es sich selbst recht versteht – nicht in die nationa-

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len Auseinandersetzungen der umliegenden Völker ver-stricken, aber sich auch nicht im Nationalegoismus gegen sie abschließen sollte. Deshalb sind im Gebiet der Schweiz immer wieder bestimmte menschheitlicheImpulse und Ideen aufgenommen und gehütet worden,wenn sie in den Nachbarländern gefährdet oder sogar ge-ächtet waren. Nicht nur in einem äußerlichen, sondernin einem sehr geistigen Sinne wurde die Schweiz allmäh-lich das Asylland unserer abendländischen Welt.»

Es ist gewiss kein Zufall, dass nach dem Scheitern derBemühungen Steiners, in München ein Zentrum fürGeisteswissenschaft zu errichten, die Schweiz auch zumAsylland der in Deutschland verketzerten und schließ-lich verbotenen anthroposophischen Bewegung wurde.

Meyer schrieb die obigen Zeilen bald nach dem Endedes Zweiten Weltkriegs, den er als Priester der Christen-gemeinschaft im Schweizer Asyl verlebte. Die in ihnencharakterisierte übernationale Mission der Schweiz istseither zugunsten eines flachen «Internationalismus»und einer Anbindung an westliche und römische Inte-ressen, wie sie die gegenwärtige EU beherrschen, in denHintergrund getreten. Umso wichtiger, dass in gegen-wärtiger historischer Stunde wieder an sie erinnert wird.An diese Mission erinnern, heißt zugleich an die großeGestalt von Nikolaus von Flüe erinnern, von dem Stei-ner einmal sagte: «Die Schweiz existiert geistig erst seitder Tat Nikolaus’ von Flües, welche zum so genanntenStanser Verkommnis (1481) geführt hat.»4

Nach Rudolf Steiner besitzt die Schweiz selbst (noch)keinen Volksgeist vom Range eines Erzengels wie die an-deren europäischen Völker. Sie wird von einer «Konföde-ration von Talschaftsgeistern» geführt, die auf der Ange-loistufe stehen.5 Dies begünstigt aber gerade das Ergreifeneiner übernationalen Mission, da solche Geister in weni-ger intensiver Weise auf die Ausbildung eines geschlosse-nen, kompakten Nationalgefühles wirken können als dieihnen überlegenen Erzengel. Die Tatsache, dass es sich an-dererseits um eine Konföderation von Talschaftsgeisternhandelt, findet ihren Ausdruck in der bis heute bestehen-den Struktur des kollegialen Regierungsgremiums in Formeines siebenköpfigen Bundesrates, ohne einen machtbe-fugten Präsidenten oder Kanzler, wie dies bei den andereneuropäischen Völkern der Fall ist.

Nach einer weiteren Äußerung Steiners sei «dieSchweiz in Zukunft das einzige Land, wo man noch freiwürde arbeiten können».6

Schließlich sei noch eine, allerdings indirekte Aussa-ge Steiners angeführt: «Die nicht ‹regierenden› Zeitgeis-ter würden über den Alpen der Schweiz ruhen.»7

Diese Äußerung steht in einem gewissen Widerspruchzu der von Meyer angeführten, bei der es sich um die

nicht ‹regierenden› Volksgeister handelt. Es kann sich beider zuletzt angeführten Angabe um einen Hör- oder Er-innerungsfehler handeln. Dass zunächst jedenfalls dieVolksgeister die über den Alpen ruhenden Wesenheitensind, geht aus Meyers Ausführungen in begründeterWeise hervor. Ob daneben in denselben Alpen tatsäch-lich auch noch die nicht ‹regierenden› Zeitgeister ihre Ruhestätte finden, mag zunächst dahingestellt bleiben.

Von den Schweizer Alpen zum «Matterhorn Nepals»Wenden wir nun den Blick von den Schweizer oder eu-ropäischen Alpen in das Gebiet, wo gewissermaßen ihreallergrößten Geschwister anzutreffen sind: in die Ge-gend des Himalaya.

Das Wort bedeutet «Heimstätte des Schnees» undumschließt die etwa dreitausend Kilometer lange undbis dreihundertfünfzig Kilometer breite Gebirgskettenördlich des indischen Subkontinents und südlich desTibetischen Hochlands, deren Hauptgipfel im heutigenNepal liegen. Ein wichtiger Teil von Nepal wurde für dieübrige Welt erst um die Mitte des letzten Jahrhunderts,erschlossen: Es ist die Gegend um Pochara, das an ei-nem von mehreren nahe gelegenen Seen liegt, etwa200km westlich der Hauptstadt Katmandu. Die ganzeLandschaft erinnert an die des Vierwaldstädtersees, mitdem Unterschied, dass nicht Zwei- oder Dreitausenderden Horizont begrenzen, sondern Sechs- und Siebentau-sender. Einer der Gebirgsriesen namens Machapuchare,auch «Fischschwanz» genannt (6993 m), der zum Anna-purna-Massiv gehört, wird ganz allgemein als «Matter-horn Nepals» bezeichnet.

Auch in dieser Gebirgswelt hat der Hochtourismus be-kanntlich längst Einzug gehalten. Alle Achttausendersind inzwischen bestiegen worden. Der oben erwähnteMachapuchare gilt jedoch bis heute als «heiliger» Bergund blieb bis in die Gegenwart von Besteigungen ver-

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Machapuchare, das «Matterhorn Nepals»

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schont. Diese erstaunliche Tatsache führt uns zur Fragenach der besonderen Geistigkeit des Himalayagebirges.Worin besteht sie und in welchem Verhältnis steht sie zuder eingangs gekennzeichneten Geistigkeit der Europaund besonders die Schweiz durchziehenden Alpenkette?

Bevor wir jedoch den Versuch wagen, diese Fragen in elementarer Form zu beantworten, sei ein Himalaya-Erlebnis eingeschaltet, das der junge Laurence Oliphant(1829 –1888) in seinem einundzwanzigsten Lebensjahrhatte.

Das Himalaya-Erlebnis von Laurence OliphantIm Dezember 1850 legte ein besonderes Schiff am Hafenvon Colombo an: Es trug den nepalesischen Thronfol-ger Jung Bahadur (1816 –1877) an Land, der als ersterfernöstlicher Magnat den Westen besucht hatte. Gleichwie ein nepalesischer Peter der Große hatte Jung Baha-dur mit seinem schmuckprangenden ansehnlichen Ge-folge England seine Aufwartung gemacht und im gan-zen Land großes Aufsehen erregt. Im Geleite JungBahadurs auf der Fahrt nach England befand sich auchder Meister Morya genannte asiatische Okkultist, dersich im August 1851 im Londoner Hyde Park Helena Petrowna Blavatsky, die ihn aus visionären Erlebnissenbereits kannte, physisch zu erkennen gab.

Jung Bahadur wollte sich Englands Gunst gegenüberden Ansprüchen Indiens auf gewisse nepalesische Ge-biete sichern, was ihm gelang. Während des auf derRückfahrt eingelegten Zwischenhalts in Ceylon wurdeLaurence Oliphant, der damals als Sekretär seines Vatersin Colombo weilte, von dem noch jungen Potentatendazu aufgefordert, ihn nach Nepal zu begleiten, wo unter anderem eine besondere Art von Elephantenjagdbetrieben wurde. Eine solche Aufforderung brauchtenicht zweimal ans Ohr des jungen Oliphant zu dringen.

Seine Nepalreise wurde von ihm im Jahr darauf in Jour-ney to Katmandu beschrieben – ein Werk, das ihn überNacht zum bekannten Schriftsteller machte und seineliterarische Karriere einleitete.

Kurz vor der Abreise aus Nepal beschloss Oliphant,nach dem bis dahin nebelverdeckten Himalaya Aus-schau zu halten. Er schreibt:

«Am Tage nach der Truppenrevue war der Himmelwolkenlos; ich beschloss daher, den Shivapuri zu bestei-gen, einen Berg, der sich bis zu 2000 Fuß über das Tal er-hebt und der die prächtigste Aussicht auf die Schneeket-te ([des Himalaya] bieten soll. Der Aufstieg begann fünfMeilen außerhalb der Residenz [in Katmandu] und warsehr mühselig, da es nicht nur keinerlei Wege, sondernauch überaus steile Strecken gab, und außerdem muss-ten wir uns den Weg durch dichten Dschungel bahnen.Für einen Menschen in guter Alpinisten-Kondition be-deutete dies zwei Stunden eines stetigen Anstiegs. Dochkeine Ermüdung scheint zu groß zu sein, wenn sie miteiner guten Aussicht belohnt wird; und dem Bergsteigerwinkt kaum eine anspornendere Hoffnung als die auf ei-nen unbedeckten Himmel, von dem sich der Gipfel, dener besteigt, in klarem Kontrast abhebt.

Schließlich erreichten wir einen Bergvorsprung, vondem aus ich einen Fernblick erhaschte, der mich nachmehr begehren ließ; doch entschlossen, den Endeffektnicht zu verderben, hielt ich mich energisch dicht anmeinen Führer, auf einem fast unwahrnehmbaren Holz-fällerpfad, der durch niedriges Dickicht führte, bis unsunter den Füßen frischer Schnee knirschte, ein Zeichender großen Höhe, die wir erreicht hatten. Wir machteneinen kurzen Halt, und ich genoss es, mir den Mundmit Schnee zu kühlen, ein Luxus, den ich seit Jahrennicht mehr erlebt hatte.

Noch ein paar Schritte, und wir hatten den Gipfel er-reicht. Eine Art Hütte, einstige Wohnstätte eines ver-

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Ein Ausblick durch den Nebel

Blick vom Shivapuri

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schiedenen Heiligen, markierte den höchsten Punkt,6000 Fuß über Meer.

Ein scharfer, frischer Wind strich um die Ruinen,während ich auf eine halb zerfallene Mauer sprang, umüber das niedere Gebüsch zu blicken, das uns umgab.Von dieser Stelle bot sich ein Panoramabild, das in jederBeziehung so großartig wie wundervoll war, denn es er-streckte sich gleichzeitig nach unten wie nach oben. ImNorden, und kaum dreißig Meilen von mir entfernt,reckten die Himalayaberge ihre spitzen Gipfel in die Höhe, Spitze um Spitze, und Klippe um Klippe, so weitdas Auge reichte. Eine schimmernde Kette von Ost nachWest, während hier und dort die leichten Wolken, dieauf ihren Felsen und Abgründen hingen, dünner wur-den, bis sie ganz verschwanden, oder aber dichtere Massen aus einem dunklen Tal aufstiegen und die tieferliegenden Teile der Kette verdunkelten, nur um derenGipfel umsomehr hervortreten und sichtbar werden zulassen – wozu sie allerdings kaum Hilfe brauchten, denndas niederste Niveau der Kette sinkt nie unter 15’000Fuß herab. Es waren jedoch nicht eigentlich die Höheder verschiedenen Gipfel oder die schimmerndenSchneemassen, welche sie bedeckten und die Strahleneiner fast senkrecht stehenden Sonne in den leuch-tendsten Nuancen reflektierten – all dies war nicht derHauptgrund des Staunens und der Bewunderung. Es warder scharfe Kontrast, mit welchem sich die Horizontli-nie vom klaren Himmel abhob und dadurch Abgründeund Felsspalten in unvorstellbarer Großartigkeit sicht-bar machte, wobei der überhängende Gipfel auf Tausen-de von Fuß auf den unteren Teil der Kette blickte. (...)

Der Daulagiri, der höchste Berg der Welt*, bildete mitseinen 28’700 Fuß über Meer eine ebenso würdige Be-grenzung der Kette auf der einen wie sein Rivale, derKinchin Jung, es am anderen Ende tat, während inkaum zehn Meilen Entfernung direkt über mir der dritt-höchste Berg, der Gosainthan, sein Riesenhaupt erhob.

Ich wandte mich von dieser Szene ab und blickte indas Nepaltal hinunter. Seine vier Flüsse sahen wie Sil-berfäden aus, die sich durch reiches Kulturland den Wegbahnten und die Wasser des Vaterflusses Bagmaty zumSchwellen brachten (...) Grünend und in Blüte stehendlag die bevölkerte Ebene mitten unter erhabenen Ber-gen, gleichsam den Sorgen der Welt entzogen. Sie glicheinem Paradies auf Erden, mit einem eigenen Zugangzum Himmel, der über den Gipfel des Gosainthan führt.

Mit Interesse betrachtete ich ein Land, das kein euro-päischer Fuß je betreten hatte (...)

Mein Führer zeigte mir die Straße zur geheimnisvol-len Hauptstadt Lhasa (...), doch wie weit jenseits derGrenze Nepals die Stadt des großen Lama lag, wusste derFührer nicht.

(...) Doch das Nepaltal und die wilden Berge von Ghorka,

die rauschenden Flüsse und felsigen Schluchten – all das versank in Unbedeutendheit, als mein Blick wiederunwiderstehlich zu den Wundern hingezogen wurde,welche die Schneekette in jedem Augenblick neu zu er-schaffen schienen, während Wolken aus den furchterre-genden Abgründen zogen und große Felsklippen bloßlegten. Eine Stunde lang schaute ich auf diese unver-gleichliche Szenerie, eine Szenerie, die einem gewöhn-lich in einem ganzen Leben nicht zuteil wird, denn wie-wohl ich durch ein Erlebnis in den europäischen Alpenvorbereitet war, und obwohl ich meine Phantasie aufdas Äußerste strapazierte, um mir den Anblick derhöchsten Berge der Welt vorzustellen – was ich vomGipfel des Shivapuri aus erblickte, hatte ich mir niemalsvorstellen können, noch bin ich imstande, es wirklichzu beschreiben.»9

Der sinnlich-sittliche Charakter dieses ErlebnissesNicht nur Farben, auch ganze Landschaften können fürdas tiefere Erleben neben dem sinnlich wahrnehmbarenauch noch einen sittlichen Charakter tragen. Mit demWorte sittlich ist hier gemeint, dass das Erlebte etwas of-fenbart, was über alles Sinnliche hinausgeht und waszur tieferen oder höheren Natur des Menschen spricht.Schon die Bergeshöhe kann als Gleichnis dafür erlebtwerden, dass es Größeres, Höheres in der Welt gibt, alses der Mensch auf seiner gegenwärtigen Entwicklungs-stufe ist. Verbindet sich mit der Höhe die Weiße, dannkann sich dieses Erleben zu einem solchen der erhabe-

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* Der höchste Berg ist der 8848 m hohe Mount Everest.

Himalayakette mit Daulagiri

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nen Reinheit steigern. Kommt zum moralischen Ein-druck der Weiße noch der des Immerwährenden, Ewi-gen hinzu – man spricht nicht umsonst von der Regiondes «ewigen Schnees» –, dann kann im Sinnlichen einGleichnis des gegen allen Zerfall gefeiten Geisterlandeserlebt werden. So kann gerade ein Anblick, wie ihn derjunge Oliphant eine Stunde lang auf sich wirken ließ,gleichnishafte Bilder des Erhabenen, Reinen, Ewig-Geis-tigen in der Seele hervorrufen. Ja, es mochte ein solcherAnblick, wenigstens im Halbbewussten, Erinnerungenan den vorgeburtlichen Aufenthalt im höheren Deva-chan in ihm geweckt haben. Hier kommt noch dazu,dass der Betrachter zuerst eine große anstrengende unddurchaus ich-gewollte Aktivität aufzubringen hatte. Au-ßerdem befand er sich im Alter des eigentlichen Ich-Er-wachens. Was kann es Schöneres geben, als in diesemLebensaugenblick Sinn und Gemüt auf so Hohes undErhabenes zu richten, wie es ein solcher Gebirgsanblickveranschaulicht? Im Familienwappen der Oliphantsteht das Motto «Altiora peto» – «Ich strebe nach Höhe-

rem» oder «Ich strebe höheren Dingen zu». Das Leitwortwurde im jungen Oliphant in lebendigster Weise erfülltund der sinnlich-sittliche Eindruck und die Kraft dieserHimalayastunde dürfte ihn, mehr oder weniger verbor-gen, durch sein ganzes Leben begleitet haben.

Wir stehen vor einem paradigmatischen Bergerleb-nis, das auch etwas von den Bedingungen zeigt, die er-füllt sein müssen, wenn nicht nur die sinnliche Seite desErlebten ins Bewusstsein dringen soll. Wer sich mit ei-nem Sessellift oder Hubschrauber an den Ort des Erle-bens führen lässt, dürfte es erheblich schwerer haben,auch zum sittlichen Charakter des Geschauten durchzu-stoßen. Geradezu unmöglich wird dies aber, wenn alsReflexhandlung sofort die Kamera gezückt wird. Ihrtrauen ja nicht wenige Zeitgenossen ein besseres, exak-teres Sehen (und Memorieren) zu als sich selbst, unddeshalb schauen sie kaum mehr mit eigenen Augen hin,noch weniger mit eigenem Gemüt, und schon gar nichteine ganze Stunde lang.

Vom Zukunftträumen in leblosen GesteinsmassenIn Bezug auf ein anthroposophisch vertieftes spirituellesErleben der Gebirgswelt, ja der Gesteinswelt ganz allge-mein, machte Rudolf Steiner einmal in PenmaenmawrAusführungen, die das bereits Gesagte ergänzen. AllesLeblose ist ja, geisteswissenschaftlich betrachtet, ur-sprünglich aus Lebendigem entstanden. In der bis zurErstarrung verdichteten Gesteinswelt harren Elementar-wesen auf die Zeit, in der die Welt des erstarrten Ge-steins wieder aus der Erstarrung befreit und sie selbst da-mit aus ihrer Verbannung erlöst werden und dadurcheine neue Entwicklungsstufe ersteigen können. EineStimmung der Erwartung zieht sich aufgrund des zu-kunftsgerichteten Sehnens dieser Wesen durch die ge-samte Gesteinswelt. «Diese Wesen erwarten nämlich»,so Rudolf Steiner am 24. August 1923, «ihr Aufwachenin Träumen. Alles dasjenige, was uns da als Gebirge an-schaut, das erwartet, dass es später träumen werde, unddass es die Erdenmaterie, die zerpulvert ist zu lebloserMaterie, einstmals wird ergreifen können im träumen-den Bewusstsein, embryonisch keimhaft wird machenkönnen, aus den Felsen, aus den Bergen, die wir sehen,wiederum Pflanzliches wird herauszaubern können.»Dem Aufwachen in Träumen folgt später ein «vollesWachleben» dieser «Naturwesen, die einstmals eben rei-ne Geistwesen sein werden».10

Das weiter oben charakterisierte Ruhen der europäi-schen Volksgeister in den Alpen spielt sich also zugleichauf einem merkwürdig latent-dynamischen Geistesunter-grund ab: dem auf eine allerfernste Zukunft gerichtetenSehnen gewisser Naturgeister nach Entmaterialisierung

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Ansicht des Daulagiri, Farbskizze von Oliphant

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alles Festgewordenen! Dieser Geistesuntergrund der Er-wartung zieht sich durch die gesamte Gesteins- und Ge-birgswelt, ist also auch im Himalayagebirge anzutreffen.

Von der Geistigkeit des HimalayagebirgesWas aber lebt oder «ruht» im Unterschied zu den AlpenEuropas im Himalaya? Die europäischen Volksgeisterwerden es nicht sein. Zunächst wird man naturgemäßan die Volksgeister Asiens denken. Und doch – schonder äußerlich überragende Charakter des Himalayage-birges wird eine solche Antwort als unbefriedigend oderzumindest unvollständig erscheinen lassen. Eine einge-hendere Beschäftigung mit den geisteswissenschaftli-chen Forschungsresultaten zum Wesen des VolksgeistesUrindiens wird uns hier jedoch eine weitere Perspektiveeröffnen können. Rudolf Steiner schildert im OsloerVolksseelenzyklus11, wie der urindische Volksgeist zu-gleich zum Zeitgeist der ganzen, 2160 Jahre dauerndenersten nachatlantischen Kulturepoche wurde. Ja, mehrnoch, dieser Zeitgeist habe seine Aufgabe in einem sohervorragenden Sinne gelöst, dass er außerdem «zumführenden Geist der gesamten Evolution der nachatlanti-schen Menschheit» geworden sei. Diesem Zeitgeist unter-stehen sowohl die Zeitgeister, die eine ganze Kulturepo-che beherrschen wie auch jene sieben Geister, welcheZeitzyklen von ungefähr 350 Jahre zu leiten haben, wiezum Beispiel der jetzige Zeitgeist Michael.

Kann es einen naheliegenderen «Aufenthaltsort» fürdiesen, aus dem urindischen Volksgeist hervorgehen-den leitenden Geist der gesamten sieben nachatlanti-schen Epochen wie auch für die ihm unterstellten ru-henden Zeitgeister geben – als die Himalayagegend?

Sucht man also nach einer alle nachatlantischen Epochenumfassenden Zeitgeistinspiration, so wird die Himalayage-gend eine besonders günstige Anregung dazu bieten kön-nen. Hier können alle Gedanken und Gesinnungen nichtnur auf das räumlich Weite und Hohe, sondern eben auchnatur- und geistgemäß auf einen umfassenden Zeithori-zont gerichtet werden. Ausdiesem Zeithorizont kön-nen die Ziele, nicht nur fürdieses oder jenes Volk,nicht nur für diese oder je-ne historische oder künfti-ge Kulturepoche, sonderndie übergeordneten Zieleder gesamten Mensch-heitsentwicklung für dieganze Zeit zwischen der at-lantischen Katastropheund der am Ende der sieb-

ten Kulturepoche eintretenden Luftkatastrophe abgelesenwerden, welche dann die gesamte nachatlantische Zeit ineine neue, große Epoche hinüberführen wird. In der Spra-che der Apokalypse des Johannes wird diese Katastrophe inder Zeit von Laodizea eintreten. Und die nachfolgendesechste große, aber wiederum in sieben Unterepochen ge-gliederte Erdepoche ist die Zeit der Siegel und ihrer Ent-hüllung. Die Apokalypse ist ein Einweihungsdokument,das sich allerdings nicht nur am Geist der gesamten nach-atlantischen Zeit, sondern an dem der gesamten Erdent-wicklung orientiert. Und dieser letztere Geist ist derChristus, der Regent aller kleineren und größeren Zeit-geister wie auch des führenden Geistes der nachatlanti-schen Zeit, der aus dem urindischen Volks- und Zeitgeisthervorgegangen ist.

Der Graf von St. Germain und die HimalayagegendWer sich nach den Entwicklungszielen für die Gegen-wart und die Zukunft bis zum Ende der nachatlanti-schen Zeit orientieren will, wird sich geistig also zu-nächst an den gekennzeichneten führenden Geist derganzen nachatlantischen Zeit zu wenden haben. Es istin diesem Zusammenhang bemerkenswert, was derApokalyptiker in einer seiner späteren Verkörperungenals Graf von St. Germain bei seinem Abschied von seinenFreunden in Wien im Jahre 1790 vermächtnishaft sag-te. Er machte merkwürdige Voraussagen, zum Beispieldiese: «Die Jahreszeiten werden ausbleiben, zuerst derFrühling, dann der Sommer.»12

Erleben wir nicht bereits zumindest die Anfänge einerderartigen Dekonturierung der Jahreszeiten? Dann sagteer: «Genau nach 85 Jahren werden mich die Menschenwiedererblicken.» Das führt uns in das Jahr 1875, in wel-chem H.P. Blavatsky, Colonel Olcott und William Q. Jud-ge in New York die Theosophische Gesellschaft begrün-deten. Hinter dieser Gründung stand unter anderem derMeister Morya, der 1850 in Begleitung von Jung Baha-dur von Colombo nach England gefahren war und dort

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Graf von St. GermainMahatma Morya Helena Petrowna Blavatsky

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Die Geistigkeit von Hochgebirgen

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Blavatsky aufsuchte. Die Gründung der TG war der zeit-geforderte Versuch, der westlichen Zivilisation, in wel-cher alle alten spirituellen Stützen morsch geworden waren, einen neuen spirituellen Einschlag zu verleihen.Rudolf Steiner betonte aber immer wieder, dass Blavat-skys Werke zunächst auch einen rosenkreuzerischen Ein-schlag gehabt hätten. Stand der Graf von St. Germain,der die Wiederverkörperung von Christian Rosenkreuzist, hinter der Gründung der TG, wie sein prophetischesWort von den 85 Jahren anzudeuten scheint? Es kann in diesem Zusammenhang jedenfalls im besten Sinnenachdenklich stimmen, wenn man den von Franz Gräf-fer überlieferten Äußerungen entnimmt, wohin sich derGraf nach den Vorbereitungen für gewisse Erfindungendes 19. Jahrhunderts und für eine Phase des Ruhensschließlich gewendet hat: «Ich scheide», sagte er. «Mor-gen nachts reise ich. Man bedarf meiner in Konstantino-pel, dann in England, wo ich zwei Erfindungen vorzube-reiten habe. (...) Gegen den Schluss des Jahrhundertsverschwinde ich aus Europa, und begebe mich nach Asien,in die Gegend des Himalaya. Ich will ruhen. Ich muss ru-hen. Genau nach 85 Jahren werden die Menschen michwieder erblicken. Leben Sie wohl. Ich liebe Sie!»

Katmandu heuteWer – gleichgültig, ob geisteswissenschaftlich vorge-stimmt oder auch ganz unvorbereitet – im heutigen Kat-mandu ankommt, erlebt so etwas wie einen heftigen Zivilisationsschock. Etwas von der Luftkatastrophe amEnde der siebten nachatlantischen Kulturepoche scheint,natürlich in ganz primitiver Form, hier schon zu prälu-dieren: Die Industrie- und vor allem die Verkehrsabgaseverbreiten sich in der in einer relativ windgeschütztenTalsenke gelegenen Stadt so intensiv, dass sogar zahlrei-che Einwohner nur mit einem Mund- und Nasenschutzauf die Straße gehen. Die Straßen selbst mit ihren Lö-chern und dem dauernd aufgewirbelten Staub grenzen an den Zustand völliger Unbefahrbarkeit – für westlicheBesucher. Dazu kommt ein ohrenbetäubender Motoren-und Huplärm im chaotischen Verkehrgedränge. Das Er-staunliche dabei ist, dass unter den Verkehrsteilnehmernkaum Äußerungen von Unwillen oder Ärger aufkommen,wie das in einer europäischen Stadt bei auch nur von fer-ne vergleichbaren Verhältnissen die Regel ist.

Cola-Reklameschilder erinnern zusätzlich daran, dassnicht nur westliche Technologie, sondern auch Kon-sumgewohnheiten hier Einzug hielten. Daran ändertauch die Tatsache nichts, dass gelegentlich eine heiligeKuh mitten auf die Straße schreitet oder einfach stehenbleibt, um von den Verkehrsteilnehmern wie eine Inselumschifft zu werden. Die vor allem hinduistischen

Tempel wirken wie Relikte aus vergangener Zeit, undauch das neuntägige wichtigste Jahresfest Dassain imOktober, das unserem Weihnachten entspricht, erwecktmit seinen Millionen von Schlachtopfern – ihre Opfe-rung soll den Sieg des Guten über das Böse repräsentie-ren – nicht den Eindruck eines Volksrituals, das dem inden vergangenen Jahrzehnten erfolgten Zivilisations-einbruch auf die Dauer etwas entgegensetzen könnte.Auch in der Vermischung von nepalesischer Musik mitwestlichen Rockelementen zeigt sich etwas von einerunseligen kulturellen Mésalliance.

Etwas erträglicher werden solche Eindrücke durch dieFarbenpracht der Kleider, vor allem der Frauen, die vonallem Staub und Lärm wie völlig unberührt erscheinen.

Die politische Situation gleicht einem Patt, in demviel Kraft mit Reden und Verhandeln vergeudet wird,aber wenig übrig bleibt zum Lösen der Umwelt- oder sa-nitären Probleme. Die Präsenz eines UN-Hubschrauberskann nur Naivlinge beruhigend stimmen. Wo die UNdie Hand im Spiele hat, sind nicht menschheitliche,sondern angloamerikanische Interessen im Spiel.

Im Stadtteil Bodnath steht die größte Stupa Nepals,um die buddhistische Tempel gelagert sind, die vonzahlreichen Exiltibetern besucht werden. Hier ist etwasvom Ernst des Buddhismus zu spüren, vielleicht der Tra-gekraft des Judentums in der Zeit der babylonischen Ge-

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Bodnath, Katmandu

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fangenschaft vergleichbar. Wenn auch der erst späterhinzugekommene Gebetsmühlencharakter dieser Reli-gion gerade in Bodnath nicht zu übersehen ist.

Doch es gibt auch Lichtblicke: eines der führendenHotels bietet biologisches Essen an und veranstaltetAbende mit unvermischter nepalesischer Musik, unddank der Initiative des Unternehmers Krishna Gurungbefinden sich verschiedene anthroposophisch inspirier-te Initiativen im Aufbau, auf pädagogischem, medizini-schem und landwirtschaftlichem Gebiete. Wir werdenim Februarheft von diesen Initiativen berichten.

Von der notwendigen GebirgsgesinnungHier am Fuße der erhabenen Achttausender auf der ei-nen Seite steht der heutige Besucher auf der anderenSeite wie an einem Weltgestade, an das sämtliche west-lichen Zivilisations- und Kulturprodukte gleichsamschon im zertrümmerten Zustand angeschwemmt wer-den. Man könnte sagen: Vor der großartigen Himalaya-kulisse prallen hier weitgehend dekadent gewordeneöstliche Religions- und Kulturformen mit materialis-tischem westlichem Zivilisationsexport unvermittelt aufeinander. Und die Frage taucht auf: Wo sind diemenschheitlichen Impulse Europas geblieben? IhreNotwendigkeit für eine gedeihliche Fortentwicklung der Gesamtmenschheit wie ihre weitgehende Abwesenheitkann hier zum besonderen Erleben werden.

So wie die aus differenzierten Volkskulturen entstan-dene europäische Kultur infolge der Abweisung des an-throposophischen Impulses in der Öffentlichkeit immermehr in die Gefahr geriet, zu einem platten Kulturbar-barismus hinunter nivelliert zu werden, so droht eineähnliche Gefahr dem asiatischen Osten. Halb bildlich ge-sprochen: während die EU die Alpen mit ihrer völkerdif-ferenzierten Geistigkeit am liebsten einebnen möchte,so will der materialistisch orientierte Angloamerikanis-mus gleichsam das durch ruhende Zeitgeister geprägteHimalayamassiv abtragen. Gebirge sind beiden Mächte-gruppen nur Verkehrs- und Wirtschaftshindernisse, al-lenfalls noch lukrative Tourismusziele.

Wir haben aber gesehen, welche hohe bedeutendeGeistigkeit mit beiden Berggebieten verbunden ist.13 DieLösung des europäischen wie des asiatischen Problems –ein Vakuum an zeitgemäßen Geistimpulsen – liegt in dergeisteswissenschaftlich impulsierten Hinwendung zurhartnäckig geleugneten Geistigkeit der Welt.

Eine solche Hinwendung erfordert das, was RudolfSteiner einmal als «Gebirgsgesinnung» bezeichnet hat,im Unterschied zur «Ebenengesinnung».14

Es ist die Gesinnung, die aus aktiviertem Denkwillenheraus zur Überzeugung führen kann, dass der Mensch

dazu berufen ist, sich aus eigener Kraft geistig in die Hö-he zu bringen, ohne Rückhalt in traditionellen Formenverfallener Geistigkeit, ohne Anstrengung zu scheuen.Diese Gesinnung kann in der ganzen Welt entwickeltwerden. Aus ihr ist Anthroposophie hervorgegangen.

Thomas Meyer

1 Rudolf Meyer, Vom Genius der Schweiz – Ein Büchlein des Dankes,

Arlesheim 1952.

2 A.a.O., S. 13f. Alle weiteren Zitate Meyers stammen aus dem-

selben Büchlein. Hervorhebungen durch TM.

3 Ein solcher Widerstand bot das deutsche Volk seinem wahren

Volksgeist. In der Zeit des Holocaust hatte dieses Volk jegliche

Verbindung mit ihm verloren.

4 Zitiert nach Hans Hasler (Hg.), Rudolf Steiner über die Schweiz,

Dornach 1988, S. 91.

Das unter der Inspiration Flües zustande gekommene Stanser

Verkommnis empfahl Eidgenossen eine Politik der Einigkeit

nach innen und Neutralität nach außen, unter Verzicht auf

eine expansive Eroberungsstrategie.

5 Hasler, op. cit., S. 91.

6 A.a.O., S. 91.

7 A.a. O., S. 91.

8 Nach anderen Quellen soll der 6837 m hohe Ama Dablam

Nepals «Matterhorn» sein.

9 Deutsch von Thomas Meyer.

10 Rudolf Steiner am 24. August 1923, GA 227.

11 GA 121, siebter Vortrag vom 12. Juni 1910.

12 Die folgenden Zitate stammen aus Franz Gräffer, Kleine Wiener

Memoiren, Wien 1845, S. 149.

13 Zu den über den Schweizer Alpen ruhenden Volksgeistern ge-

hört auch der junge deutsche Volksgeist, dem sein Volk seit

dem Beginn des 20. Jahrhunderts, außer in seltenen Ausnah-

men Einzelner, insgesamt nicht auf die geistige Höhe folgen

konnte, auf die er nach und nach gestiegen ist. Es handelt sich

um den freigewordenen Engel Gautama Buddhas (Näheres in

Karl Heyer, Wer ist der deutsche Volksgeist? Basel 1992). Dieser

junge deutsche Volksgeist hat eine Wirkensgeschichte hinter

sich, die ihn auch gegenwärtig noch mit der Geistigkeit der Hi-

malayaregion verbunden halten dürfte. In Bezug auf die heuti-

ge deutsche Nation ist er ein «Volksgeist ohne Volk». Eine Art

Ersatzvolk findet er in allen Menschen (darunter natürlich auch

solche deutscher Zunge und Nation), welche sich, getragen von

der Liebe zur deutschen Sprache, der Geistigkeit der Anthropo-

sophie zuwenden. Seine Wirksamkeit dauert noch über 1000

Jahre (R. Steiner am 17.1.1915, GA 157), ein Zeitraum, in wel-

cher auch die aus dem wahren Deutschtum geborene Anthro-

posophie ihren Durchbruch in der Welt finden sollte. – Zum

besonderen Verhältnis des deutschen Volksgeistes zu seinem

Volk siehe auch den Vortrag vom 16. März 1915, GA 157.

14 Am 4. April 1919, GA 190. – Es gibt auch repräsentative

Schweizer Persönlichkeiten, die es nicht über die «Ebenenge-

sinnung» hinausbringen. So zum Beispiel der Schriftsteller

Adolf Muschg, der kürzlich meinte, die EU sei «etwas für in-

telligente Leute». Das ist nicht die Frage. Die Frage ist, ob sie

auch etwas für Leute ist, die Intelligenz mit zeitgemäßer Spiri-

tualität verbinden wollen.

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Kunst, Wissenschaft, Religion

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Und so werden diejenigen, die zu diesem Kursus erschienen sind, eben nicht in den fertigen Bau ge-

führt, sondern – ich möchte sagen – zunächst hereinge-führt, damit sie vielleicht, wie wir erwarten, zuversicht-lich erwarten, aus dem, was sie hier vernehmen werden,die Überzeugung gewinnen werden: Ja, der Bau mussfertig werden. Und so dürfen wir hoffen, dass von den-jenigen, an denjenigen, bei denen wir vielleicht Ver-ständnis finden, uns Helfer erwachsen in jeder mögli-chen und notwendigen Form zur Vollendung diesesunseres Baues.

Deshalb gedenke ich nicht minder dankbar aus demGeiste unserer Geisteswissenschaft heraus all derjeni-gen, die diesen Bau bis zu seinem heutigen Stadium ge-bracht haben. Aus diesem Danke und aus dieser Befrie-digung heraus wende ich mich zunächst an diejenigen,die als alte oder jüngere Mitglieder der Anthroposophi-schen Gesellschaft hier heute so zahlreich erschienensind, um mit uns zu arbeiten an dem, was aus einemneuen Geiste heraus für den Fortschritt der Menschheitgearbeitet werden soll.

Insbesondere aber wende ich mich an diejenigen Besucher unseres Kurses, die der Studentenschaft derverschiedenen Länder angehören. Ihnen, diesen Stu-denten, möchte ich sagen, dass es mir die tiefste Befrie-digung gewährt, sie geradehier zu sehen, weil ich glau-be, trotzdem es lange her ist,dass ich der Studentenschaftangehört habe, ich michnoch immer in rechtem undbestem Sinne unter ihnenfühlen darf. Denn dasjenige,was so strebt, wie zu strebenhier charakterisiert wordenist, das muss in erster Linieaus jugendlichem Geist undjugendlichem Feuereifer he-raus erstrebt werden. Ver-binden Sie Ihre jugendlicheKraft mit dem Ernste, der indenjenigen sitzt, die hier für

Geisteswissenschaft aus ernster Zeiten Not heraus arbei-ten, und es muss dasjenige gelingen, dessen Gelingendie Not der Zeit so sehr fordert. Seien Sie daher will-kommen!

Es hat sich ja in manchem auch schon praktisch ge-zeigt, wie hineinwirkt in das menschliche Gemüt unse-rer Zeitgenossen das, was hier als ein Geist der Geistes-wissenschaft waltet. Wir haben es oftmals bemerkenmüssen, und in den letzten Tagen ganz besonders wurdees hier bemerkt, wie diejenigen Arbeiter, die schwere Ar-beit entweder unten im Unterkunftshaus zu leisten hat-ten oder auch hier oben im Bau, damit alles so weit her-gestellt werden könne, dass unsere Freunde hier seinund der Kursus beginnen könne, wir haben gesehen, wiediese Arbeiter, die schwer zu arbeiten haben, sich mitdenjenigen, die hier arbeiten, – geistig, aber einträchtigund brüderlich mit ihnen arbeiten wollen, – wirklich inreichlichen Überstunden arbeiteten, damit dasjenige zu-stande kommen könne, was heute hier beginnen soll. Esist besonders in unserer sozial aufgewühlten Zeit mitgroßer Befriedigung zu begrüßen geradezu als eine Zeit-erscheinung, dass solches aus dem Geiste der Arbeit he-raus gerade hier möglich geworden ist.

Und so wird man sehen, dass hier im Grunde ge-nommen aus alledem, was hier aus geistigen Quellen

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Akosmismus, Agnostizismus und Atheismus undihre Überwindung in wahrer Kunst, Wissenschaftund ReligionDie kaum beachtete Ansprache Rudolf Steiners zur Eröffnung des ersten Hochschulkurses,26. September 1920 / Teil 2 (Schluss)*

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Kunst, Wissenschaft, Religion

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geschöpft ist, Friede und Harmonie sprießen werden,wenn man sie nur sprießen lassen wird. Disharmonieund Uneinigkeit können wir ruhig zu stiften anderenüberlassen.

Ein anderes Zeichen der Zeit ist das doch schon, dasszu diesem Hineintragen unseres Geistes in alle einzel-nen Wissenschaften 33 Persönlichkeiten sich zusam-mengefunden haben, die in unserem Kursus von denverschiedensten Gesichtspunkten aus Geisteswissen-schaft treiben werden. 33 Dozenten werden dasjenige,was hier als geistiger Impuls gegeben werden soll – mandarf sagen – in 17 verschiedenen Zweigen des menschli-chen Wissens und Empfindens und Arbeitens hinein-tragen. Wir werden hören vortragen über spezielle Teileder Geisteswissenschaft, wir werden hören vortragenüber Philosophie, Theologie, über Geschichte, überSprachwissenschaft, über Physik und Mathematik, überChemie und Medizin, über Indologie, über Jurisprudenzund Pädagogik. Wir werden hören dasjenige, was künst-lerische Naturen über den geistigen Untergrund und diegeistigen Kräfte ihrer Kunst zu sagen haben. Wir werdenhören, was aus der Dichtung heraus der schöpferischeGeist über seinen Zusammenhang mit dieser unsererGeisteswissenschaft zu sagen hat. Persönlichkeiten derTechnik werden sprechen, und was besonders zu begrü-ßen ist als ein Erfreuliches, es werden Praktiker der Na-tionalökonomie, Praktiker des Geschäftslebens spre-chen. Und es gehört zu den Fortschritten, die wir vorallen Dingen anstreben, dass das Leben als Einheit aufgefasst wird, dass dasjenige, was in philosophischeHöhen hinaufführt, eine Einheit bilde mit dem, was derFabrikdirektor in seiner Fabrikpraxis bis in die Einzel-heiten hinein im praktischen Leben zu verwerten hat;dass Fabrikpraktiker innerhalb unseres Kursus sprechenwerden, wir begrüßen es mit ganz besonderer Freude.Denn nicht diejenige Kulturrichtung ist wirklich geistig,die da sagt, man muss den Geist in Wolkenhöhen fernvon aller Materialität suchen, – diejenige Kulturrich-tung enthält wirklichen Geist, der aus diesem Geiste he-raus die Kraft wird, ihn, diesen Geist, überall in das ma-terielle Leben hineinzutragen: hineinzutragen in dasAlltagsleben, hineinzutragen in die Schwierigkeiten derMaschine, hineinzutragen in die Schwierigkeiten deskaufmännischen Lebens. Das erst ist geistig, was in dieMaterie den Geist hineinzutragen versteht. Deshalbwird hier innerhalb dieses Kursus stehen neben philoso-phischen Vorträgen so etwas wie dasjenige, was mit be-sonderer Freude zu begrüßen ist: «Der Industrielle inVergangenheit und Zukunft vom Gesichtspunkt derGeisteswissenschaft». Es wird hier stehen außerdemdasjenige, was zu sagen haben Praktiker vom kaufmän-

nischen, Praktiker vom nationalökonomischen Stand-punkte. Wenn wir die Liste unserer Vorträge, die Listeunserer Dozenten durchschauen, dann dürfen wirschon sagen: einiges an Früchten hat diese geisteswis-senschaftliche Bestrebung schon gebracht. Sie hatschon zündend gewirkt in einer Anzahl Persönlichkei-ten, die die Kraft in sich fühlen, nun einmal den Ver-such zu wagen, die einzelnen Wissenschaften und auchpraktische Lebenszweige im Lichte dieser Geisteswissen-schaft nicht nur zu zeigen, sondern zu zeigen, wie dasPraktische noch praktischer, das Erkennende nochkraftvoller wird durch den Impuls von Geisteswissen-schaft, der hier gegeben werden soll.

Selbstverständlich, es soll hier – das wäre gegen denGeist der Geisteswissenschaft – nicht unbescheiden ge-dacht werden. Aber ein rechtes Wollen entspringt nuraus einer rechten Überzeugung, aus einer erkennendenÜberzeugung. Deshalb ist es vielleicht nicht Unbeschei-denheit, sondern es ist nur dasjenige, was – ich möchtesagen – mit Selbstverständlichkeit aus den aus Geistes-forschung gewonnenen Kräften fließt, wenn gesagtwird demjenigen gegenüber, was Not der Zeit ist, dem-jenigen gegenüber, was heute schon von erleuchtetenGeistern als notwendige Niedergangsströmungen ge-kennzeichnet wird, was geradezu so gekennzeichnetwird, als ob es mit Notwendigkeit in den Niedergang derganzen abendländischen Zivilisation hineinführte, essoll aus der Kraft eines künstlerischen, eines erkennenden,eines religiös innigen und sozialen Wollens hier etwas ent-gegengestellt werden, was zum Aufstieg, zum Aufbau ei-ner neuen Zivilisation führen kann. Deshalb sei allendenjenigen, die wir heute hier so gerne sehen, die sichmit uns zur Arbeit vereinigen wollen, aus Bescheiden-heit, aber zugleich wohl aus der aus der Geisteswissen-schaft selbst heraus gewonnenen Überzeugung zugeru-fen das Wort, das nur ausdrücken soll, in welchemGeiste, in welchem Sinn wir uns hier zusammenfindenwollen:

Zum Lichte uns zu wendenIn dunkler Zeiten Not,Zum GeistesmorgenrotDie Seelenblicke senden:Menschenwollen sei es hierUnd bleib’ es für und für.

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

* Erstmals erschienen in: Die Kunst der Rezitation und

Deklamation, 1928, herausgegeben von Marie Steiner. Erster Teil

des Vortrags siehe: Jg. 14, Nr. 11 (September 2010).

[Kursivstellen gemäss der genannten Erstausgabe]

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Wer war Charles Kovacs?

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Wir bringen im Folgenden eine biographische Skizze überCharles Kovacs, den Autor des jüngst erschienenen Buches Betrachtungen zur Apokalypse (siehe Inserat auf S. 62). Fer-ner eine kurze Betrachtung zu einem ungewöhnlichen Sorat-Bild, das von Kovacs stammt und das als Titelbild verwendetwurde.

Thomas Meyer

Der Autor dieses Buches dürfte den meisten deutsch-sprachigen Lesern kaum näher bekannt sein. Daher

sei hier eine kurze Lebensskizze von Charles Kovacs an-gefügt. Da die aufeinander folgenden verschiedenen Er-lebnis- und Wirkensepochen von dessen Leben jeweilsmit bestimmten geographischen Schauplätzen verbun-den waren, folgen wir den Lebensspuren dieses bedeu-tenden Menschen, in großen Zügen, von Ort zu Ort.

WienCharles Kovacs wurde am 8. Februar 1907 in Wien alsSohn jüdischer Eltern – und wie der Name zeigt – unga-rischer Abkunft geboren. Seine Kindheit verbrachte erin Nussdorf, in unmittelbarer Nähe zur Donau, auf derSchiffe beladen und entladen wurden. Im gleichenNussdorf befand sich einst die Lieblingswohnung vonBeethoven. Hinter dem Haus gab es Wälder mit Nuss-bäumen, links vom Haus erhob sich der Kahlenberg, aufdem einst der polnische König Jan Sobieski den siegrei-chen Kampf gegen die Türken begonnen hatte, dieWien belagerten. Bis zum zwölften Lebensjahr besuchteCharles Kovacs die Wiener Volksschule.

BadenNach dem frühen Tod des Vaters zogCharles mit Großmutter, Mutterund dem jüngeren Bruder Erwin imJahre 1919 nach Baden bei Wien,am Fuße des Wienerwalds. Hier be-suchte er die Realschule, mit demZiel, später auf die technische Hoch-schule zu gehen.

Im kunstoffenen Baden undWien gab es viele Galerien, die denJungen anzogen. Die darin reprä-sentierten modernen Kunststile in-spirierten ihn zu eigenem maleri-schem Schaffen. Mit etwa zwölfJahren zeigte er seinem verehrten

Kunstlehrer an der Realschule, Professor Friedrich Thet-ter (1877–1955), zum ersten Mal eigene Bilder. Er wurdedaraufhin aufgefordert, regelmäßig seine Bilder mitzu-bringen. Thetters zwei Kinder – Reimar und Trude –wurden seine Schulfreunde. Friedrich Thetter war nichtnur ein bahnbrechender Kunstpädagoge, sondern auchein tätiger Anthroposoph. Er machte Charles und sei-nen Bruder mit den Grundlagen künstlerischen Schaf-fens, mit Goethe und später mit Steiner bekannt. Sowurde Charles Kovacs schon mit zweiundzwanzig Jah-ren Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft.

Wieder WienBereits im Jahre 1926 war Kovacs’ Vater verstorben. Somusste Charles bald nach dem Abitur dem Brotver-dienst nachgehen. Er eignete sich Fähigkeiten in derBuchhaltung und im Maschinenschreiben an und warverschiedentlich als Büroangestellter tätig.

Ab 1928 arbeitete er für seinen Onkel, der als Groß-kaufmann Kolonialwaren importierte, in einem Waren-haus in Wien und verkaufte Kaffee und Tee.

Kovacs ging aber auch im sprühenden geselligen Le-ben Wiens auf. Für seine Freunde spielte er gerne aufdem Klavier die neuesten Schlager, die er abends zuvoram Radio gehört hatte.

Ein Blick auf das untenstehende Porträt kann etwasvom Temperament und von der mondänen Seite diesesMannes, der lebenslang Kettenraucher blieb, erahnenlassen.

Charles Kovacs wurde in den dreißi-ger Jahren auch Mitglied der ErstenKlasse der Freien Hochschule fürGeisteswissenschaft in Dornach. Sobesuchte er die «Klassenstunden»,die von Ludwig Graf Polzer-Hoditzgelesen wurden. Polzer hatte nochzu Rudolf Steiners Lebzeiten undauf dessen ausdrückliche Autorisie-rung hin damit begonnen, in WienKlassenstunden zu lesen, was er biszu seinem Tode im Jahre 1945 fort-setzte. Kovacs hatte zunächst einigepersönliche Vorurteile zu überwin-den. In einem Brief aus dem Jahre1995 an den Eurythmisten und zeit-weiligen Lehrerkollegen Harald-Vik-

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Charles Kovacs (1907–2001) – eine biographischeSkizze

Charles Kovacs in jungen Jahren

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Wer war Charles Kovacs?

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tor Koch schilderte er im Altersrück-blick: «Zuerst hatte ich die gleicheVoreingenommenheit gegen öster-reichische Aristokraten wie gegenhessische Prinzen – aber er [Polzer]machte einen so menschlich bedeu-tenden Eindruck (trotzdem er ei-gentlich mehr hässlich als schönwar), dass alle Klassen- oder Rassen-vorurteile einfach schwanden.» Ei-nen einzigartigen Eindruck empfingKovacs von der Art, wie Polzer dieInhalte des 19-stufigen Meditations-wegs der Michaelschule – wie mandiese Stunden auch nennen könn-te – gelesen hat. Er schreibt: «Dasstärkste Erlebnis war – und ich habees nur bei ihm und bei keinem an-deren Klassenleser erfahren – das unmittelbare Gewahr-werden des eigenen Ätherleibes und durch diesen dieätherische Umgebung.»

Auch nach der Spaltung des Dornacher und WienerVorstandes der Allgemeinen Anthroposophischen Ge-sellschaft im Jahre 1935 und auch nachdem sich Lud-wig Polzer 1936 aus der AAG zurückgezogen hatte, gingKovacs weiterhin zu Polzers Vorträgen und besuchte sei-ne Klassenstunden, «solange er nach Wien kam».

Wie Friedrich Thetter den jungen Kovacs in die Weltdes Kunstschaffens und der Anthroposophie einführte,so führte ihn Ludwig Polzer-Hoditz in die Sphäre medita-tiven Erlebens, das auch den Ätherleib ergreift. Aber auchmit Karl König und Hans Erhard Lauer kam es zu Begeg-nungen und anthroposophischer Zusammenarbeit.

KeniaMit 32 Jahren wurde Charles Kovacs, nach der AnnexionÖsterreichs durch Hitler im März 1938, durch seinenVetter nach Kenia eingeladen, um dort auf einer großenFarm zu arbeiten. Das Anwesen war so groß, dass er einPferd brauchte, um es in nützlicher Frist ganz zu umrei-ten. Eine Weile hatte er die Oberaufsicht über ein Säge-werk, in dem er der einzige Weiße war. Zu dieser Zeit fer-tigte er – auf der Rückseite von Geschäftskarten – eineganze Serie von Pietà-Darstellungen an, eine jede andersals die andere.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs meldete sichCharles Kovacs freiwillig bei der britischen Armee. VollerStolz pflegte er zu sagen, dass er mit der 8. Armee bei ElAlamein gegen das Afrikakorps von Rommel gekämpfthatte. Im offiziellen Kriegsdienst-Entlassungsschreibenheißt es von Kovacs: «Dieser Mann ist vollkommen ver-

trauenswürdig, seine Intelligenz undseine sprachlichen Fähigkeiten sindhervorragend. Er spricht fließendDeutsch und Englisch und verfügtüber gute Französischkenntnisse. Inder Arbeit extrem energisch und un-ermüdlich. Kann organisieren undeinen Mitarbeiterstab führen. Hat al-le Pflichten über das erforderlicheMaß hinaus erfüllt.»Am Kriegsende wurde Kovacs da-mit beauftragt, wohl wegen seinerDeutschkenntnisse, deutsche Kriegs-gefangene zu bewachen und ihrePost zu kontrollieren. Fielen ihm da-bei Hinweise auf die Christenge-meinschaft oder Rudolf Steiner in dieHand, so nutzte er die Gelegenheit,

mit dem Betreffenden über Anthroposophie zu reden. Nach dem Krieg kehrte Kovacs für kurze Zeit nach Ke-

nia zurück, wo er eine anthroposophische Studiengrup-pe gegründet hatte. In Nairobi befreundete er sich mitden Ungarn Eugen Blau und Béla Herskovits, einem Vio-linisten. Durch Kovacs wurde auch Herskovits, in dessenFamilie es Holocaustopfer gegeben hatte, mit Anthropo-sophie bekannt gemacht. In dieser ersten anthroposo-phischen Studiengruppe Kenias, die aus drei Ungarn –Kovacs musste nach Herskovits mindestens ungarn-stämmig sein – bestand, wurde Rudolf Steiners Theoso-phie studiert. Herskovits hatte eine besondere Beziehung zur Gestalt des Moses. Die in dem Buch reproduzierteMoses-Zeichnung wurde ihm von Kovacs Ende der vier-ziger Jahre zu Weihnachten geschenkt.

LondonIm April 1948 ging Kovacs nach London. Ein Verwand-ter, der für den Export von «Made-in-England»-Stoffentätig war, brauchte jemanden, der in seiner Firma amGolden Square, Piccadilly, die Verantwortung übernahm.Kovacs arbeitete acht Jahre lang in dieser Firma. Es wareine gut bezahlte Stelle, die er zugleich als große Bürdeerlebte. Bald nach seiner Übersiedelung nach Londonbesuchte er die anthroposophischen Studienabende, die jeweils am Montag stattfanden. Hier lernte er seinespätere Frau Dora Langleben (geb. 1916, gest. im Okto-ber 2010) kennen, die er nur wenige Monate nach derersten Bekanntschaft heiratete. Bald wurde Kovacs gebe-ten, die Studiengruppe in der Museum Street (in der Nä-he des British Museum) zu übernehmen. Als Teil dieserArbeit übersetzte er Werke von Rudolf Steiner, die nochnicht auf Englisch zugänglich waren. Er wurde Mitglied

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Charles Kovacs mit ca. 30 Jahren

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Wer war Charles Kovacs?

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des Vorstands der englischen Landesgesellschaft der An-throposophischen Gesellschaft und hielt viele Vorträge.Das Heim von Charles und Dora Kovacs wurde, wie vonihm gewünscht, fast jeden Abend von Mitgliedern derStudiengruppe aufgesucht. Und nachdem sie weggegan-gen waren, begann er oft zu malen oder zu zeichnen,was für ihn etwas elementar Notwendiges war.

In der Londoner Zeit verkehrte Kovacs auch mit Wal-ter Johannes Stein, der als Wiener Halbjude schon 1933nach England übersiedelt war und bis zu seinem Tod am7. Juli 1957 in der Themsestadt lebte.

Florenz und wieder London – die Begegnung mit Albert SteffenEine bemerkenswerte, wohl karmisch begründete Episo-de bildet die Begegnung von Charles Kovacs mit AlbertSteffen. Sie fand «zufällig» im Mai 1951 in Florenz statt.Kovacs buchte, entgegen seiner Gewohnheit, für sichund seine ihn begleitende Gattin, ausnahmsweise ein 5-Sterne-Hotel, das Hotel Helvetia-Bristol.

Hier traf er Albert Steffen. Steffen reiste kurz daraufnach London, besuchte mit Charles Kovacs das BritishMuseum und besichtigte Bilder von Kovacs. Über diesenLondoner Besuch von Albert Steffen schrieb Kovacs, dereine Ansprache Steffens vor Mitgliedern übersetzte, ei-nen Bericht, der kurz darauf im Nachrichtenblatt desGoetheanum erschien. Es kam zu vielen «Gedanken-Brie-fen» Kovacs an Steffen und zu einer Anzahl wirklicherBriefe, die getauscht wurden. Steffen war von KovacsBildern so beeindruckt, dass er vorschlug, für ihn eineAusstellung am Goetheanum zu arrangieren. In einemBrief an Harald Koch berichtet der Achtzigjährige, wie erauf diesen Vorschlag Steffens reagierte: Er «sagte ihm,meine Malereien seien nicht gut genug für eine Ausstel-lung. Und als er erwiderte: ‹Sie sind gut genug›, sagte ichihm: ‹Darüber habe ich ein besseres Urteil wie Sie, Herr

Steffen›, [da] fühlte er sich brüskiert und hat mir dieseBemerkung lange nachgetragen. Ich bin auch heute (...)gar nicht so sicher, dass meine Arbeiten nun endlichdoch gut genug wären. Bestenfalls ließe sich sagen, dasseine Menge schwächeres Zeug ausgestellt wird.»

EdinburghDurch ein Mitglied der Londoner Studiengruppe wurdeKovacs aufgefordert, Lehrer zu werden. So übersiedeltedas Ehepaar 1956 nach Edinburgh, wo Charles Kovacsan der Rudolf Steiner Schule zu unterrichten begann. Erfing mit einer vierten Klasse an, mit 35 Kindern. Einerseiner Kollegen war Trevor Ravenscroft, ein Schüler W.J. Steins, der in den siebziger Jahren sein zweifelhaf-tes Buch Der Speer des Schicksals veröffentlichte.

Auf seinen Unterricht bereitete sich Kovacs schrift-lich vor, was die Grundlage zahlreicher späterer di-daktisch-pädagogischer Veröffentlichungen bei FlorisBooks (Edinburgh) bildete.

Hier kamen auch seine malerisch-zeichnerischen Fä-higkeiten, von deren Wert er eine so bescheidene Selbst-einschätzung besaß, zum fruchtbaren Wirken. Für seineFrau, die den Kindergarten der Schule übernahm, malteer einen Schutzengel, der segnend auf die Kinder herun-ter schaute. Er verfasste Gedichte und komponierte Lie-der. Nach und nach wurde Kovacs zum unbestrittenen«Haupt» der Edinburgher Waldorfschule, an der er biszu seiner Pensionierung im Jahre 1975 tätig blieb.

Kovacs beschäftigte sich aktiv mit Astrologie undmachte auf Bitten von Kollegen Horoskope von Schü-lern. Zu den ihn lebenslang begleitenden Themen gehör-te auch das Verhältnis von Deutschtum und Judentum.

Die Wohnung der Kovacs lag mitten auf dem Wegezu zwei Brennpunkten der okkulten Geschichte Schott-lands: der Burg, auf der König Jakob, der Inspirator vonShakespeare, Bacon, Böhme und Jacobus Balde, geborenworden war – und Rosslyn Chapel, dem schon von W.J.Stein charakterisierten templerischen Weiheort in derNähe Edinburghs.

Neben der Unterrichtstätigkeit hielt Kovacs, auchnach seiner Pensionierung, weiterhin Vorträge für einanthroposophisches Publikum, aber auch vor der Öf-fentlichkeit und leitete regelmäßig Arbeitsgruppen. Diestrotz eines Beinleidens, das sich nach der Pensionierungstärker geltend machte und das er sich im Kriege zuge-zogen hatte.

Die in Kovacs Buch erstmals veröffentlichten Kom-mentare zu Rudolf Steiners Nürnberger Apokalypse-Zyklus trug Kovacs 1983/84, also im Alter von 77 Jahren,vor Waldorflehrern und Eurythmisten in Edinburghvor.

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Dora und Charles Kovacs

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Wer war Charles Kovacs?

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Bis zuletzt fandKovacs Zeit zum Malen,doch setzte erniemals eineUnterschrift aufseine Bilder. Charles Kovacsstarb am 9. Oktober 2001in Edinburgh.

Zum Sorat-Bild von Kovacs

Es brauchte einigen Mut, dieses Bild als Titelbild zu wählen. Stellt es doch jene Wesenheit des Bösen dar, welche Rudolf Steiner in den Apokalypsevorträgenvor Priestern als «einen der mächtigsten ahrimanischenDämonen» charakterisierte: Sorat.* Es ist das zweihörni-ge Tier, das einem Lamme gleicht. Steiner zeigte auf,dass diese Wesenheit ihre Angriffe im geschichtlichenRhythmus von 666 Jahren jeweils besonders intensivverstärkt. In der ersten nachchristlichen Sorat-Wellewurde die von blendender Intellektualität getragene,aber in Wirklichkeit geist-verneinende Akademie vonGondhishapur begründet; bei der zweiten ein beispiel-los grausamer Angriff auf den tief esoterisch-christ-lichen Templerorden ausgeübt; die dritte Sorat-Wellebrachte die von Lügen umpanzerte und von skrupel-losester Kaltblütigkeit inszenierte Katastrophe vom 11.September 2001, deren Folgen bis heute weltweit wirk-sam sind. Kurz nach diesen wahrhaft apokalyptischenAnschlägen vollzog sich der Schwellenübertritt vonCharles Kovacs. Wir haben allen Anlass, uns die Eigenart des Sorat-Wir-kens klar vor die Bewusstseinsseele zu stellen. RudolfSteiner hat deshalb das okkulte Zeichen dieses Wesensdargestellt und kommentiert.** Kovacs ergänzte diesdurch eine außerordentliche malerische Leistung.Wer sich in sein Sorat-Bild vertieft, wird etwas von dertäuschend-samtenen Lammnatur erleben können; erwird, wenn er dabei nicht stehen bleibt, nach einer Wei-le aber auch die innere Kälte, ja die radikale Gefühllo-

sigkeit erleben, welche dem zweihörnigen Tier eignet.Dieses Wesen lebt nur in der Vertikalen. Kein Hauch ei-ner Bewegung in den horizontalen Umkreis hinein, inden Umkreis, in dem die Christus-Kräfte zu finden sind.Dem Sonnendämon Sorat fehlt alle Beziehung zu denChristus-Umkreiskräften.Ein innerer Umgang mit einer solchen imaginativ-intui-tiven Darstellung, wie sie uns Charles Kovacs gerade indiesem Bild hinterlassen hat, kann im Zusammenhangmit dem Wirken Sorats sowohl zu dessen vertiefter Er-kenntnis wie auch zum Schutz vor ihm beitragen.Beides ist zu Beginn des dritten Jahrtausends sehr von-nöten. Denn wir leben heute alle noch im zeitlichenUmkreis der dritten Sorat-Welle.

Thomas Meyer

Für die Bereitstellung der entsprechenden biographischen Unter-

lagen danke ich Harald-Viktor Koch aus Kiel.

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Charles Kovacs im Alter

* Rudolf Steiner am 12. September 1924, in GA 346.

** Siehe den Vortrag vom 29. Juni 1908, in GA 104. Sorat, Gemälde von Charles Kovacs

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Tolstoi und die Reinkarnation

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Dieser Artikel schließt an den ersten Teil im Novemberheft an. Im vorliegenden Beitrag steht die Frage im Vordergrund,warum Tolstoi die geisteswissenschaftliche Erkenntnis von Re-inkarnation und Karma nicht aufgegriffen hat. Da sich RudolfSteiner sehr differenziert mit Tolstoi auseinandergesetzt hat,soll im Folgenden auch auf einige seiner unterschiedlichen Äußerungen eingegangen werden. Allein drei Vorträge1, zweiAufsätze2 und einige verstreute Aussagen widmete RudolfSteiner dem russischen Schriftsteller.

Tolstoi über Reinkarnation und KarmaDass Tolstoi die in dem 1904 gehaltenen Vortrag3 ange-deuteten Gedanken über Reinkarnation und Karmanicht hatte verstehen können, empfand Rudolf Steinerals überaus schmerzlich. Obwohl wie gesagt die Wörter«Reinkarnation» oder «Wiederverkörperung» und «Kar-ma» kein einziges Mal darin vorkommen, schien er er-wartet zu haben, dass Tolstoi gleichwohl erfassen wür-de, worum es ging. Wahrscheinlich rechnete er damit,dass Tolstoi längst mit diesem Gedankengut vertraut sei,ja dass er es in sein Leben und Denken voll und ganz in-tegriert hätte. Schließlich ist es ja auch schwer vorstell-bar, dass ein so tiefsinniger Schriftsteller des Ostens, derin seinem Roman Krieg und Frieden nicht müde wird, aufdie Schicksalskräfte hinzudeuten, mit solchen Gedan-ken nicht vertraut sein könnte. Aus den Worten RudolfSteiners lässt sich erahnen, welch enorme Hoffnungener in Tolstoi gesetzt hatte. – Was hätte Tolstoi durch sei-nen Einfluss auf die gebildeten Kreise bewirken können,wenn er sich zu der geisteswissenschaftlichen Erkennt-nis von Reinkarnation und Karma hätte durchringenkönnen!

Wie nahe Tolstoi dieser Erkenntnis gewesen ist, zei-gen mehrere Tagebuchnotizen. «Das hiesige Leben»,philosophiert er zum Beispiel am 26.5.1903, «ist keineIllusion und ist nicht das ganze Leben, sondern es ist eine der Erscheinungsformen, eine der ewigen Erschei-nungsformen des ewigen Lebens.» Und am 5.11.1904kommt er zu folgendem Schluss: «Die Menschen den-ken, sie lebten in ihrem Körper in dieser Welt. Indessensie leben darin nicht, sondern sie gehen durch sie hin-durch. Geistig leben sie außerhalb von Zeit und Raum;das Leben in dieser Welt ist nur die Erfüllung einer ge-wissen Bestimmung.» Worin diese Bestimmung liegt,hat er einige Tage zuvor (am 22.10.1904) formuliert:

«Der Mensch ist berufen, sich selbst zu vervollkomm-nen. ... Darin liegt das Gesetz und das Ziel des Lebens.[...] Das Leben ist das Wachsen der Seele.» Am 18.2.1906geht er sogar direkt von der Realität früherer Inkarna-tionen aus: «Wir erinnern uns deshalb nicht an ein frü-heres Leben, weil die Erinnerung eine Eigenheit nur desjeweiligen Lebens ist.»

Bemerkenswert ist vor allem eine Eintragung, dieschon auf den 13. Februar 1896 datiert ist: «Wie gut wä-re es, wenn man die Erlebnisse eines Menschen schil-dern könnte, der in seinem früheren Leben sich selbstgetötet hat. Er stößt stets auf die selben Anforderungen,die ihm früher entgegenstanden, und so gelangt er zumBewusstsein, er müsse diese Anforderungen erfüllen.Durch die Erfahrung belehrt, wird dieser Mensch ver-nünftiger sein als die andern.» – Jedoch nahm Tolstoi,obwohl er den Selbstmord mehrmals für sich erwogenhatte, den Gedanken der wiederholten Erdenlebennicht ernst genug, um ihn weiter zu verfolgen. Auchscheint er sich vor den konkreten Auswirkungen regel-recht gefürchtet zu haben: «Was für eine Qual wäre es»,so vermerkt er am 6.1.1903, «wenn ich mich in diesemLeben an alles Üble, das Gewissen Quälende erinnernwürde, das ich in einem früheren Leben begangen ha-be.»

Tolstois Ablehnung des übersinnlichen ChristusDass sich Tolstoi im Nachhinein von einigen seiner tie-feren Erkenntnisse, auch denen von Reinkarnation undKarma, wieder distanziert hat, kann man zu Recht alstragisch empfinden. Sogar seine frühen Werke, darun-ter Krieg und Frieden und Anna Karenina, hat er später-hin verworfen. Hier stand sich der Moralist und Pä-dagoge Tolstoi selber im Wege. Dieser musste allesabstreiten, was seiner Auffassung von Sittlichkeit wi-dersprach. So argumentierte Tolstoi einmal gegenüberWladimir Solowjew, man dürfe den Menschen nichtsvom übersinnlichen Christus erzählen, weil sie sonstfür ihr Seelenheil mehr auf die übernatürlichen Chris-tus-Kräfte bauen würden als auf ihr eigenes sittlichesTun. Solowjew versuchte ihm in einem Brief vergeblichzu erklären, dass die wirkliche persönliche Verbindungzu Christus nur eine geistige sein könne und dass diesekeineswegs im Widerspruch zur moralischen Anstren-gung des Menschen stehe, ja im Gegenteil diese gera-

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In welche Richtung fährt der Zug?Tolstois Verhältnis zu Sterben, Tod und ReinkarnationTeil 2 und Schluss

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Tolstoi und die Reinkarnation

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dezu voraussetze.4 Damit ist indirekt auch gesagt, dasses Christus nicht um die Einhaltung irgendwelcher mo-ralischer Prinzipien geht, sondern um den freien Wil-lensimpuls, aus dem der Mensch sich ganz individuellund in jeder Situation neu zu sittlichem Handeln ent-scheidet.

Tolstois Motivation hingegen war eine andere, fürihn durchaus existenzielle. Mit etwa 50 Jahren war ihmaufgegangen, dass er «schlecht gelebt hatte»5. Allein da-rin erblickte er jetzt den Grund für seine Sinnkrise, dieihn beinahe in den Selbstmord getrieben hatte. Er ent-schloss sich daher, sein Leben zu ändern, und zwar inÜbereinstimmung mit dem göttlichen Willen. Hierinliegt nun sein neuer Glaube begründet: «Ich glaube» – sobekundet er in einer öffentlichen Schrift – «an Gott, denich als Geist, als Liebe, als Beginn von allem verstehe.Ich glaube, dass er in mir ist und ich in ihm.» DieserGlaube bezieht den «Christus» aber nur insofern ein, alsdieser einst auf Erden den Willen Gottes verkündet ha-be: «Ich glaube», fährt Tolstoi fort, «dass Gottes Willeseinen klarsten und verständlichsten Ausdruck in derLehre des Menschen Christus gefunden hat, den alsGott aufzufassen und anzubeten ich als größte Gottes-lästerung betrachte.»6

Christus (nicht Jesus!) also ein Mensch, und alles, waser gebracht hat: eine Lehre. Eine Lehre freilich, die nicht

geeignet ist, die Auferstehung Christi zu begreifen,denn diese setzt die geistige Christus-Wesenheit ja vo-raus. Wenn Tolstoi also, wie er selbst bekannte, die Auf-erstehung gar nicht begriff,7 was bewog ihn dann, sei-nen dritten großen Roman von 1899 Auferstehung zunennen? Der Titel ist metaphorisch gemeint: Er stehtfür eine moralische Wiedergeburt. Doch ist die mora-lische Wandlung der Romanhelden, wie immer wiederbemängelt wurde, wenig überzeugend. Der Romanbleibt (trotz der genialen Einfälle, der meisterhaften Per-sonendarstellungen, der exakten Beobachtungen undder brillanten Milieu-Schilderungen) im allgemeinen –auf moralische Gebote bezogenen – Appellcharakter ste-cken.

Hier zeigt sich bis ins künstlerische Werk hinein, wasRudolf Steiner mit Tolstois einseitiger Bezogenheit aufdas Innere des Menschen meinte: Wo die Auferstehungals äußere historische Tatsache nicht verstanden wird,da kann auch keine innere (moralische) «Auferstehung»erfolgen, vor allem keine individuelle moralische Aufer-stehung, wie sie Solowjew in seinem Brief im Sinn hat-te. Wer dagegen eine innere Wiedergeburt erfährt, demerschließt sich zugleich die geistige Realität von Golga-tha als Menschheitsmysterium. Durch diesen Anschlussdes Ichs an das Geistige in der Welt kommt der Menschüber das äußere Moralisieren hinaus.

Tolstois Ideal der SelbstlosigkeitÜber ein äußeres Moralisieren kommt der Mensch auchhinaus, wenn er die geisteswissenschaftliche Erkenntnisvon Reinkarnation und Karma einbezieht, die das un-sterbliche Ich des Menschen zum Ausgangspunkt hat.Doch kannte Tolstoi die Begriffe Reinkarnation und Kar-ma vermutlich nur vom Buddhismus her. Dieser besitztaber gar keine Vorstellung vom unsterblichen Ich, son-dern geht lediglich von einem Schein-Ich aus, welchesmit dem Leib zugrunde geht.8 Was Tolstoi am Buddhis-mus fasziniert zu haben scheint, ist das Ideal der Selbst-losigkeit. Als er einmal ein Märchen mit dem Titel «Karma» übersetzte, hob er in seinem Kommentar denmoralischen Vorbild- und Aufforderungs-Charakter desMärchens hervor, welches dem Leser vor Augen führe,dass der Sinn des Lebens allein im «Verzicht auf das ei-gene Selbst» liege.9

Dieses Ideal der Selbstlosigkeit erwähnt auch RudolfSteiner. In einer «biographischen Skizze» schreibt er,Tolstoi habe sich vom «kraftgewaltigen Erzähler» undAutor von Krieg und Frieden sowie Anna Karenina «zumPropheten einer neuen Religionsform» entwickelt; einerReligionsform, «die ihre Wurzeln in einem etwas ge-waltsam ausgelegten Urchristentum sucht und die völli-

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Tolstoi von Nikolai Gay 1884

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Tolstoi und die Reinkarnation

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ge Selbstlosigkeit zum Lebensideal erhebt. Auch in allerKunst, die nicht auf das menschliche Mitgefühl und dieBesserung des Zusammenlebens abzielt,» sehe Tolstoi«einen überflüssigen Luxus, dem sich ein selbstloserMensch nicht hingibt.»10 In anderen Zusammenhängenwies Rudolf Steiner ebenfalls auf Tolstois Ideal derSelbstlosigkeit hin, beurteilte es jedoch stets kritisch.Zwar sah Steiner in der Selbstlosigkeit ein erstrebens-wertes Ideal, welches für die Ausbildung des Geistselbs-tes unerlässlich ist, allerdings nur auf der Grundlage eines durch Selbst- und Welterkenntnis genügend he-rangereiften Ich-Bewusstseins.

Wenn Tolstoi der «göttlichen» Moral zuliebe denübersinnlichen Christus ausblenden musste, so musste erauch den Freiheitsaspekt von Reinkarnation und Karmazurückweisen, um die moralische Orientierung nicht zu gefährden, die dem kirchlich geprägten Menschendurch seine Gottesfurcht zukommt. Obwohl Tolstoisich von der orthodoxen Kirche losgesagt hatte,11 war ervom Ideal der Selbstlosigkeit des russischen Menschen,der lediglich ein Gefäß für den Willen Gottes zu seinhatte, derart besessen, dass ihm die Idee einer ich-haftenWeiterentwicklung vor dem Hintergrund von Reinkar-nation und Karma eher fern gelegen haben wird.

Tolstoi als MoralpredigerImmer wieder brach in Tolstoi etwas durch, was dieMenschen belehren wollte. Viel Positives hat er mit sei-nen Gewissensappellen bewirkt: So setzte er sich für dieAbschaffung der Todesstrafe ein, sprach sich gegen denKrieg aus, tadelte die Verlogenheit der Kirche, pranger-te die Ausbeutung unzähliger Arbeiter an, kämpfte fürverbesserte Lebensbedingungen der Bauern und vielesmehr. Die «Lust am Lehren» überkam ihn aber zuwei-len auch dann, wenn es um seine private «Lehre desMenschen Christus» ging. Und dann ist es manchmal,als ob ein dogmatischer Priester von ihm Besitz ergrei-fen und ihn zu sprachgewaltigen Predigten oder Streit-schriften verführen würde, zu denen er sich aufgrundeigener Bibelstudien und -übersetzungen ermächtigtfühlte.

Infolge seiner Arbeit an den Evangelien glaubte Tols-toi die Kriterien für das, was «gut» und «schlecht» ist, zukennen. Seinen Sohn Sergej fordert er sogar einmal da-zu auf, nicht den eigenen Verstand und auch nicht dieeigene Erfahrung zu bemühen, sondern sich lieber das-jenige zunutze zu machen, «was schon lange, zweifels-frei und augenfälliger als jedes geometrische Theoremerläutert und bewiesen wurde»: die Kenntnis von dem,«was gut und was schlecht ist und wie man daher lebensoll».12 Strenge moralische Prinzipien, die er aus den

Evangelien ableitete, vertrat er auch im Hinblick auf dieEhe: «... im Vollzug des Sakraments der Ehe an Perso-nen, die sich unzweifelhaft bereits früher vereint haben,sowie in der Erlaubnis von Scheidungen und in derSanktionierung von Ehen zwischen Geschiedenen seheich eine direkte Verletzung der Lehre des Evangeliumssowohl dem Sinn als auch dem Buchstaben nach.»13

Dies schreibt der Autor von Anna Karenina! – Tolstoi, derin jungen Jahren ein äußerst ausschweifendes Leben ge-führt hat, lehnt jetzt allen Luxus ab und predigt sexuel-le Enthaltsamkeit14, ohne sich selbst daran halten zukönnen.

Der Mensch (nicht der Künstler) Tolstoi brauchte an-scheinend seine moralischen Grundsätze als eine ArtGerüst, an dem er sich festhalten konnte, um überhauptam Leben zu bleiben. Den Schritt ins Nichts, in die ei-gentliche christliche Initiation, die eine echte Wieder-geburt bedeutet hätte, hat er nicht gewagt. Wäre Tolstoiseinen inneren Weg konsequent weitergegangen, sohätte er auf dem Wege der Selbsterkenntnis zum Geisti-gen in der Außenwelt hindurchdringen können. Daranhinderte ihn jedoch seine paradigmatische Ablehnungdes geistigen Christus-Wesens ebenso wie seine Verach-tung alles Materiellen. So wurde er zu einem «Verneinerder Gegenwart»15, der die heutige Kultur – insbesonderedie westliche – verdammen musste und insgesamt eineTendenz verkörperte, die stark rückwärtsgewandt war.Dies erklärt die kolossale Enttäuschung Rudolf Steiners,der sich in Tolstoi einen geistigen Mitstreiter erhoffthatte.

Die Reise geht weiterNachdem sich die verheerenden Wirkungen des Mate-rialismus im Weltgeschehen gezeigt hatten, sowohl imErsten Weltkrieg als auch in der russischen Revolutionvon 1917, konnte Rudolf Steiner in Tolstoi keine «vor-zeitige Blüte»16 mehr sehen, sondern nur noch einen

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Tolstoi von Ilja Repin 1891

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Tolstoi und die Reinkarnation

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«äußersten Ausläufer der geistigen Senilität des Ostens»,der keinerlei Gegenwartsbedeutung habe. (8.11.1920)17

Trotz dieses strengen Urteils muss jedoch betont wer-den, dass Rudolf Steiner im Laufe der 26 Jahre, in denener vielfach auf ihn zu sprechen kam, Tolstoi als Künstlerund als Denker durchweg geschätzt hat. Ferner zeugenSteiners Anmerkungen zu Tolstois Biographie von ei-nem tiefen Verständnis für die innere Zerrissenheit die-ses Menschen mit seinem immensen Bedürfnis nach In-nerlichkeit.18

Tolstois Leben gleicht in vieler Hinsicht dem KampfIwan Iljitschs mit dem «Henker». Er wollte in das«schwarze Loch» hinein, konnte es aber nicht. Undwenngleich er zum Teil schon hineingeschaut habenmag, so war er doch nicht weit genug vorgedrungen,um das Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Diesbe-züglich war ihm Iwan Iljitsch, war ihm der KünstlerTolstoi voraus. Immerhin kam Tolstoi auch als Menschin den letzten zehn Jahren seines Lebens diesem Lichthin und wieder sehr nahe: «Der Tod, das ist eine neueGeburt», notiert er am 25.5.1902 in sein Tagebuch.Und am 3.1.1904 prüft er sich: «Habe ich Angst vordem Tod?» – «Nein», antwortet er und vergleicht sichmit einem Reisenden, der im Tod «nur das Transport-mittel wechselt». Und am 1.1.1908 konstatiert er: «Zumersten Mal bin ich mir mit ungewöhnlicher, neuer Klar-

heit meiner Geistigkeit bewusst geworden: Ich binnicht ganz gesund, fühle eine Schwäche des Körpers:Ganz einfach, klar und leicht kann ich mir die Befrei-ung vom Körper vorstellen, – das ist nicht der Tod, son-dern das ist eine Befreiung vom Körper. Die Unzerstör-barkeit dessen, was das wahre ‹Ich› bedeutet, wurde mirso klar ... Und ich bin ganz sicher geworden, ich wurdeso froh!»

So erwachte also knapp drei Jahre vor seinem Tod inTolstoi die Gewissheit von dem unzerstörbaren Ich,welche die Voraussetzung für den Reinkarnationsge-danken im Steinerschen Sinne ist. Allerdings: Das Mo-tiv der Flucht vor dem Leben, das sich unter anderemin den häufigen Selbstmordgedanken niederschlug,taucht an seinem Lebensende noch einmal auf, ja holtihn geradezu ein. In seiner Beichte hatte er jene Hin-neigung zum Tod folgendermaßen beschrieben: «DieMacht, die mich trieb, das Leben zu lassen, war stärker,wuchtiger, umfassender als das Wollen. Es war eineKraft, dem früheren Trieb zum Leben ähnlich, nur inumgekehrter Richtung.»19 Aus dieser umgekehrtenRichtung mag er – wie Iwan Iljitsch auf der Schwelleins Jenseits – vieles erkannt haben, woraus er als Künst-ler schöpfen konnte. Weil ihn seine mangelnde Ein-sicht in die wiederholten Erdenleben indes blindmachte für die Möglichkeit einer eigenen Prägung ausfrüheren Inkarnationen, mag ihn dies zugleich demLeben entfremdet haben.

Tolstois letzte Reise, die in Astapovo abbricht, ist eineFlucht, die das Widersprüchliche seines Lebens gleich-sam zusammenfasst: die schwierige Beziehung zu seinerFrau; seine Ablehnung des Luxus, ohne den er als freierSchriftsteller nicht hätte arbeiten können; und schließ-lich die Sehnsucht nach Ruhe und Zurückgezogenheit,die ihm aufgrund seiner Popularität nicht beschiedenwar. Der Rückzug vom weltlichen Leben ist ihm nichtgeglückt, weder durch die asketische Abkehr von denFreuden des Lebens noch durch seine fluchtartige Reiseins Nirgendwo. – Und wie der Selbstmörder in einemnächsten Leben erneut auf die nicht gelösten Anforde-rungen stößt, so geht auch für ihn die Reise (mit wech-selnden «Transportmitteln») weiter.

Claudia Törpel, Berlin

Autorennotiz Claudia Törpel:geboren 1965 in Mannheim. Studium der Kunsttherapie in Ottersberg, desweiteren Ausbildung zur Gesundheitsberate-rin, zur Poesiepädagogin und zur Biographieberaterin. ZurZeit tätig als freischaffende Schriftstellerin in Berlin. Autorinvon Man denkt nur mit dem Herzen gut – zum Leibverständnisder alten Ägypter, Perseus Verlag 2003.

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Leo Tolstoi

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Anthroposophisches aus Ungarn

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1 «Haeckel, Tolstoi und Nietzsche» vom 9.11.1901 (GA 31);

«Theosophie und Tolstoi» vom 3.11.1904 (GA 53); und «Tols-

toi und Carnegie» vom 28.1.1909 (GA 57).

2 «Graf Leo Tolstoi – Was ist Kunst» (1898) in: Kunst und Kunst-

erkenntnis (GA 271); und: «Literatur und das geistige Leben im

19. Jahrhundert» in: Biographien und biographische Skizzen

1894 –1905 (GA 33).

3 «Theosophie und Tolstoi» vom 3.11.1904 (GA 53), siehe auch

1. Teil des Artikels in Jg. 13, Nr. 1 (November 2010).

4 In einem Brief aus Petersburg vom 28. Juli / 2. August 1894

schreibt Vladimir Solowjew: «In einem Gespräche, das ich

kürzlich mit Ihnen hatte, sagten Sie, dass wir, indem wir die

Auferstehung und somit auch eine besondere übernatürliche

Bedeutung des Christus zugeben wollten, die Christen veran-

lassen würden, für die Rettung ihrer Seele sich mehr auf die

geheimnisvollen Kräfte dieses übernatürlichen Wesens zu ver-

lassen, als auf die eigene moralische Anstrengung.

Ein solcher Missbrauch der Wahrheit wäre aber schließlich

und endlich doch nichts anderes als nur ein Beweis gegen

diejenigen Menschen, die mit der Wahrheit selbst Missbrauch

treiben. Da der Christus in Wirklichkeit, obgleich von den To-

ten auferstanden, ohne unser eigenes Dazutun nichts für uns

tun kann, so besteht für die aufrichtigen und gewissenhaften

Christen keine Gefahr, in Quietismus zu verfallen. Diese Ge-

fahr wäre noch denkbar, wenn der auferstandene Christus für

die Menschen eine physisch sichtbare Realität geblieben wä-

re, aber bei den gegenwärtigen Daseinsbedingungen, wo die

wirkliche, persönliche Verbindung mit ihm nur eine geistige

sein kann, was eine moralische Arbeit des Menschen an sich

selbst voraussetzt, da können wirklich nur Heuchler oder

Schurken sich auf das Heilswerk berufen zum Schaden ihrer

moralischen Pflichten. Zudem ist der Gottmensch nicht das

alles absorbierende Absolute der östlichen Mystiker, und die

Vereinigung mit ihm kann daher keine einseitig-passive sein.

Er ist der Erstling der von den Toten Auferstandenen, er weist uns

den Weg und ist uns Führer und Panier zu einem Leben in

Aktivität, Kampf und Streben nach Vollkommenheit, aber

nicht zu einem Sichversenken in Nirvana.»

5 Leo Tolstoi: Meine Beichte. (a.a.O.), S. S. 87.

6 Lew Tolstoi: Antwort auf den Beschluss des Synods vom

20. bis 22. Februar (Moskau 4. April 1901) In: Lew Tolstoi –

Ein Lesebuch für unsere Zeit. Berlin 1992, S. 527.

7 Leo Tolstoi: Meine Beichte. (a.a.O.), Kap. 14, S. 107.

8 vgl. Rudolf Steiner: GA 61, 15. Vortrag und GA 131, 5. Vor-

trag.

9 Lew Tolstoi. Gesammelte Werke, Band 9. Berlin 1980, S. 264.

10 Rudolf Steiner: «Literatur und das geistige Leben im 19. Jh.»

(a.a.O.), S. 112.

11 1901 wurde Tolstoi von der russisch-orthodoxen Kirche

exkommuniziert.

12 Brief an S.L.Tolstoi (Jasnaja Poljana, 8.3.1890).

13 Lew Tolstoi: Antwort auf den Beschluss des Synods vom

20. bis 22. Februar (a.a.O.)

14 in Tolstois Nachwort zur «Kreuzersonate». In: Lew Tolstoi.

Gesammelte Werke, Bd. 12. Berlin 1970, S. 260 – 276.

15 Rudolf Steiner: «Tolstoi und Carnegie». In: Wo und wie findet

man den Geist (GA 57), S. 230.

16 Rudolf Steiner: Die Apokalypse des Johannes (GA 104), Vortrag

vom 24. Juni 1908, S. 154.

17 Rudolf Steiner: Gegensätze in der Menschheitsentwickelung

(GA 197), 9. Vortrag, S. 165.

18 Rudolf Steiner: «Tolstoi und Carnegie». (a.a.O.)

19 Leo Tolstoi: Meine Beichte. (a.a.O.), Kap. 4, S. 27.

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Anthroposophisches aus Ungarn

Am 13. November 2010 – Todestag des Papstes Ni-kolaus I. – konnten die ungarischen anthroposo-

phischen Freunde im Budapester «Haus der Freien Ge-danken» an der Vernissage der ungarischen Ausgabeder Biographie von D. N. Dunlop teilnehmen. Das istnicht das erste große Ereignis einer solchen Bucher-scheinung. Wir haben die Initiative von Herrn ThomasMeyer aufgegriffen, und seit 2002 mehrere Biogra-phien der größten anthroposophischen Persönlichkei-ten um Rudolf Steiner herum übersetzt. So z.B. vonEmanuel Zeylmans Wer war Ita Wegman?, Band I – III,die Werke von Thomas Meyer Ludwig Polzer-Hoditz –Ein Europäer, Ehrenfried Pfeiffer – Ein Leben für den Geist,Helmuth von Moltke und jetzt D. N. Dunlop – Ein Zeit-und Lebensbild. In diesen Werken sind nicht nur die

Biographien der einzelnen Persönlichkeiten enthalten,sondern es erschließt sich in ihnen auch ein breites Pa-norama der Weltgeschichte von frühesten Zeiten bisheute. Ohne diese Werke könnte man in den anthro-posophischen Betrachtungen nicht weiterkommen,und die Anthroposophie wäre sehr arm und einseitig –ein «einarmiger Riese», wie man auf Ungarisch sagt.Wir sind deshalb dem Perseus Verlag sehr dankbar,dass es uns ermöglicht wurde, diese Werke zu überset-zen und zu publizieren. Wir verlieren nie aus den Au-gen, dass die Übersetzungen nicht nur den ungari-schen Lesern, sondern auch unserem Volksgeist einengroßen Dienst leisten.

Maria Scherak, Budapest

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Menschheitssymbole1 sind wegen ihrer Vieldeutig-keit unausschöpflich anregend und lassen der sub-

jektiven Interpretation allen Spielraum. Das verstärktsich noch, wenn ein solches Symbol wie das Labyrintheingegliedert erscheint in die komplexe Gesamtkompo-sition der Kathedrale von Chartres. Dennoch kann esein Anliegen sein, der ursprünglichen Intention desschöpferischen Architekten bzw. des geistigen Inspira-tors der Kathedrale von Chartres näherzukommen. Sosoll in einem letzten Anlauf gerade der Zusammenhangdes Chartreser Labyrinths mit der vielschichtigen Ge-samtkomposition der Kathedrale herausgestellt werden,nachdem in zwei früheren Artikeln2 zunächst das Erleb-nis des Labyrinths zur Einstimmung in das Passionsfens-ter vorangestellt wurde und dann im Folgeartikel die In-terpretation des Passionsfensters dazu anregte, dasLabyrinth als ein in die Erde geschriebenes Sonnenkreuzzu verstehen. Das ist trotz vielfacher Anerkennung nichtohne persönlichen Widerspruch geblieben, und so sollnun nach genauerer Betrachtung des Labyrinths selberder ursprünglich intendierte Zusammenhang mit dem

Grundriss der Kathedrale, mit der Westrose und mit demPassionsfenster beleuchtet werden. Das erscheint auchdeswegen notwendig, weil nach einer späten Notiz eineTafel im Zentrum des Labyrinths den Kampf des Theseusmit dem Minotaurus dargestellt haben soll.3 Mit gedul-diger Phänomenologie ist die Grundlage zu schaffen fürdie Erschließung der ursprünglichen Intention.

Der unmittelbare Anblick (Das Phänomen, Abb. 1+2) Wenn man durch das Westportal in die Kathedrale ein-tritt, sieht man auf dem Boden unter dem dritten undvierten Joch des Mittelschiffs, dessen Breite ausfüllend,ein großes kreisförmiges begehbares Labyrinth. Dessenäußere Begrenzung bildet ein kreisförmiger Fries ausdunklen Steinen. Im Innern des Labyrinths trennendunkle Begrenzungslinien die hellen Weg-Bahnen von-einander. Die Andeutung eines durchbrochenen (gewis-sermaßen gestrichelten) Kreuzes, das im Labyrinthzen-trum seinen Mittelpunkt hat, wird möglich durch diegeordnete Weg-Führung in Halb- und Viertelkreisen, dieeine Aufteilung der Kreisfläche in 4 Quadranten zur Fol-ge hat. An den Stellen zweier benachbarter Quadranten,an denen je zwei halbkreisförmige Weg-Kehren auf glei-chem Niveau zueinander in Opposition stehen, weitensich die dunklen Begrenzungslinien zu beidseitig kon-kaven Flächen, zu den dunklen Markierungsflächen fürdas regelmäßig durchbrochene Kreuz. Das Kreuz wirdangedeutet durch 3 solcher Markierungsflächen in denSeitenarmen und durch 4 solcher Markierungen imKopfbalken, während Einstiegs- und Zielgerade den tragenden Balken bilden. Allerdings liegt nur die Ziel-gerade genau auf einer Linie mit dem Kopfbalken. Dasunverstellte Phänomen des Labyrinths frei von Kirchen-gestühl ist für das Begehen und Erkunden nur an einembestimmten Wochentag zugänglich.

Die GrößeMessungen ergeben je nach Ansatz verschiedene, z.T. wi-dersprüchliche Werte. Einerseits werden verschiedeneDurchmesser eines Ellipsoids vermerkt: 12,60 m in Ost-West-Richtung und 12,30 m in Nord-Süd-Richtung.4 An-derseits gibt man für die unterstellte Kreisform verschie-dene Durchmesser-Werte an, die zwischen 12,858 m (Fries-außengrenze) und 12,285 m (Friesinnengrenze) differie-ren.5 – Um ein kreisförmiges Zentrum mit Durchmesser3,11 m (ohne Begrenzungslinie 2,94 m) sind 11 Kreis-ringe gelegt, auf denen helle Weg-Bahnen mit durch-

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Das Labyrinth von ChartresZur ursprünglichen Intention

Abb. 1 Das Labyrinth im Mittelschiff

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schnittlich 0,34 m Breite verlaufen, eingefasst von dunk-len Begrenzungslinien mit durchschnittlicher Breite von0,081 m.6

Die genaue Lage Das Zentrum des Labyrinths auf der Mittellinie desHauptschiffs gliedert die 7 Joche vom Westen bis zurVierung 7 im Verhältnis 3:4. Das Labyrinthzentrum hatzudem die gleiche Entfernung vom Vierungsmittel-punkt wie die Mitte zwischen den beiden östlichstenChorhauspfeilern,8 auf der ursprünglich der Altar ge-standen haben soll. Die Mitte des Labyrinths wurde alsoauf einen ausgezeichneten Punkt des Grundrisses ge-legt. – Für diese Mitte des Labyrinths ist eine weiterequantitative Beziehung bedeutungsvoll: Das Zentrumder Westrose ist von seinem Fußpunkt an der Innensei-te des Westportals genau so weit entfernt wie das Zen-trum des Labyrinths.9 Wenn man im Geiste die Westro-se nach innen auf den Boden klappte, würde also ihrZentrum das Zentrum des Labyrinths bedecken. Zudemist auch der Durchmesser von Westrose und Labyrinthnahezu gleich groß. So darf man sicher annehmen, dassWestrose und Labyrinth mit einer bestimmten Intentionarchitektonisch aufeinander bezogen sind.

Die Form Während im kretischen Labyrinth ein Kreuz der Aus-gangspunkt der Konstruktion ist und diese Form auchin der fertigen Konstruktion als exzentrisches Kreuzsichtbar bleibt,10 entsteht in der Chartreser Form des Labyrinths11 die Andeutung eines zentrumbezogenen

Kreuzes erst durch die Weg-Führung. Der Weg führtdurch 11 konzentrische Kreisringe zum zentralen Kreis– eindeutig ohne Irrtumsmöglichkeit. Doch die verwir-renden Wendungen von 13 Halbkreisen und 18 Viertel-kreisen führen Blick und Fuß von Betrachter und Bege-her bald näher und bald ferner dem zentralen Ziel desWeges nach innen. Der innerste Kreis wird ausgefülltdurch 6 aneinander grenzende nach innen offene Teil-kreise – kleinen Apsiden vergleichbar. Apsiden deswe-gen, weil die Kreislinien zweier benachbarter Teilkeisein eine gemeinsame Linie mit abschließendem Kreuzauslaufen und damit den christlichen Charakter des La-byrinthzentrums kennzeichnen (Abb. 3+4).

Dem entspricht, dass die oben beschriebene Form desLabyrinth-Kreuzes (3 Markierungsflächen in den Seiten-armen und 4 Markierungen im Kopfbalken) in genauerKorrespondenz zu dem großen Kreuz der christlichenKathedrale (jeweils 3 Joche seitlich in den Querschiffenund 4 Joche im Chorhaus, dem «Kopfbalken») bewusstgewählt wurde. Bei dem scheinbar ähnlichen und an-geblich vorbildlichen Labyrinth von Sens (Abb. 8, nurin Zeichnungen erhalten) hätte sich eine solche Korres-pondenz nicht erreichen lassen, da dort sich nur 2 Mar-kierungsflächen für die Seitenarme des Kreuzes und 3für den Kopfbalken ergeben.

Für den christlichen Charakter dieses Labyrinths istweiter ein bisher nicht beachtetes Phänomen von Be-deutung. Der wesentliche Zusammenhang des umge-benden Frieskreises (Zackenkranzes, Abb. 2) mit derKreuzesform wird in ungewöhnlicher Weise betont. DerFries-Kreis kann aus praktischen Gründen nur gebildetwerden durch die Zusammensetzung von Einzelkörpern

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Abb. 2 Das Labyrinth in der Draufsicht

Abb. 3 Der innerste Kreis des Labyrinths

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(Frieselementen, Abb. 5), die mit ihrer Basis von 0,343 mgenau der Breite des Labyrinth-Pfades entsprechen. Sokann zunächst durch Weglassen eines von 114 demFriesumfang eingemessenen Einzelkörpern der Eingangin das Labyrinth eröffnet werden (Abb. 2). Auf der ge-nau gegenüberliegenden Seite zeigt sich ein bedeu-tungsvolles Phänomen. Drei solcher Körper sind in ei-nem Stein zusammengefasst – zugleich mit der obersten

Kreuzmarkierung (Abb. 6). Das heißt, der eigentlich un-geteilte Fries-Kreis ist ideell direkt mit dem Kreuz ver-bunden zu denken. Es ist die Andeutung des Sonnen-kreuzes,12 dessen esoterische Form in dem westlichenPassionsfenster gestaltet ist (s.u.).

Die Frieselemente sind keine Burgzinnen.13 Denn siefinden ihr Pendant an der westlichen Außenwand ingleichartigen Elementen, die den innersten Kreis der Ro-se säumen und so einen 12-Pass bilden, der von 12 klei-neren Kreisen mit 8-Pässen gleicher Bildung («Innen-fries») umgeben wird. In die Zwischenräume zwischenden 8-Pässen und der äußeren Begrenzung der Rose sind12 Vierpässe eingefügt, deren gleichartiger «Innenfries»wegen der geringen Größe und Erhaltung kaum wahr-zunehmen ist. Die Westrose der Kathedrale von Chartresist auch in der Außenwandgestaltung kein Radfenster der Fortuna mehr,14 sondern wegen ihrer blütenhaftenAuflösung und wegen der weiteren Verwendung ihrer 8-Passformen in den frühgotischen kleinen Rosen desObergadens die konstruktive Übergangsform zu den ei-gentlichen Maßwerkfenstern. Wir erkennen also in denFrieselementen des Labyrinths einen weiteren Bezug zurWestrose, nachdem schon auf den annähernd gleichenDurchmesser von Westrose und Labyrinth und die glei-che Entfernung ihrer Zentren vom Fußpunkt an der In-nenseite der Westwand hingewiesen wurde.

Die Konstruktionsregel Eine allgemeine Konstruktionsregel für das christliche Labyrinth (zentrumbezogenes Kreuz im Kreis) lässt sichnicht angeben. Die individuelle Form wird vorbestimmtmit der Entscheidung für eine bestimmte Anzahl konzen-trischer Kreisringe um die zentrale Kreisfläche und durchdie Verwendung bestimmter Kreiselemente (Vollkreis,Dreiviertelkreis, Halbkreis, Viertelkreis). Weiter ist ent-scheidend, auf welcher Stufe der Kreisringe die Einstiegs-grade in den ersten Quadranten einbiegt und welche dervorgesehenen Kreiselemente zunächst verwendet wer-den. Die regelmäßige Form des Labyrinths von Chartresmit den bewusst gewählten Zahlen der Kreuzmarkierun-gen wird nur durch die Wahl von 11 Kreisringen um denZentralkreis und durch die Beschränkung auf Halb- undViertelkreise möglich. So ist das Kernstück der Bewe-gungsformen die rationelle Folge von dreimal drei fort-schreitenden Halbkreisen mit je zwei eingeschobenenrückschreitenden Viertelkreisen. Zwei jeweils angehängteViertelkreise ermöglichen die nächste Bewegung (Abb. 7).Damit wird dreimal ein gleichartiger vollständiger Durch-gang durch alle vier Quadranten vollzogen – zunächst imUhrzeigersinn nach innen (in Abb. 7 gelb), dann in derGegenrichtung nach außen (rot) und wiederum im Uhr-

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Abb. 4 Der Kreuz-Abschluss der Apsiden

Abb. 5 Frieselemente

Abb. 6 Betonte Verbindung von Kreis und Kreuz

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zeigersinn nach innen (blau). Die anderen Kreiselemente(orange und grün) sind für die Konstruktion des Ganzen Er-möglichungsformen – raumschaffend und vervollständi-gend. – Wenn das scheinbar ähnliche Labyrinth von Sens(Abb. 8) mit ebenfalls elf Kreisringen um einen zentralen(allerdings ungestalteten) Kreis nur je zwei seitliche Kreuz-markierungen und nur drei obere Kreuzmarkierungen auf-weist, dann hängt das damit zusammen, dass für dieseKonstruktion 1 Vollkreis, 2 Dreiviertelkreise, 12 Halbkrei-se und 10 Viertelkreise verwendet wurden. Damit sinddann 3 verschiedenartige in sich zusammenhängendeDurchgänge durch alle 4 Quadranten möglich – zunächstim Uhrzeigersinn nach innen (zweimal folgt einem vor-schreitenden Halbkreis ein rückschreitender Viertelkreis;den Umlauf vollendet der dritte Halbkreis). Dann geht esim Gegensinn wieder nach innen (!) (dem vorschreitendenDreiviertelkreis folgen ein rückschreitender Halbkreis undein vorschreitender Dreiviertelkreis) und schließlich führtein Vollkreis wiederum im Uhrzeigersinn um das Zentrumherum.15 Der Vorteil der Chartreser Form wird also deut-lich: Die Beschränkung auf Halb- und Viertelkreise er-möglicht drei gleichartige Umgänge und damit gleiche Ab-stände (eine Wegbreite) zwischen den Markierungen jeeines Arms. Dadurch ergibt sich ein ausgewogeneres Ge-samtbild. Weiter ist wesentlich die Erhöhung der Zahl derKreuzmarkierungspunkte jeweils um eine Markierung(auf 3,3,4), sodass die Zahl der Kreuzmarkierungen gleichist der Zahl der Joche (3,3,4), die in Querschiff und Chor-haus die Proportionen von Seitenarmen und Kopfbalkendes Grundriss-Kreuzes bestimmt. Diese objektive Anord-nung der Halb- und Viertelkreise wird nicht davon be-

rührt, dass sie im realen Durchschreiten des Labyrinthssubjektiv verschieden erlebt werden kann.

Die Deutung Das Labyrinth war zunächst jederzeit frei zugänglich. Ausdem 17. Jahrhundert wurde berichtet, dass man seitensdes Klerus das oberflächliche Spiel auf dem Labyrinth alsStörung des Gottesdienstes empfand. Von einem tieferenSinn des Labyrinths ist da keine Rede mehr. So ist es nichtverwunderlich, dass in Amiens, Reims und Arras Labyrin-the zerstört wurden, ehe noch der radikale Rationalismusder französischen Revolution wirksam wurde.16

Für die Frage nach dem ursprünglichen Sinn des Laby-rinths von Chartres scheint es zunächst bemerkenswert zusein, dass Labyrinth-Darstellungen des Chartreser Typs inden Codices gelehrter Mönche häufig Bezüge zur Antikeund zum alten Testament aufweisen, dass im Französi-schen eine der Bezeichnungen für das Labyrinth dédalelautet (nach Daidalos, dem mythischen Erbauer des Palas-tes von Kreta mit dem Labyrinth) und dass in den Laby-rinthen von Reims und Amiens die Namen der Architek-ten vermerkt wurden.17 Nach einer späten Überlieferungsoll im Zentrum des Labyrinths von Chartres eine Kupfer-tafel den Kampf des Theseus mit dem Minotaurus darge-stellt haben. Die Tafel ist nicht erhalten. Im Boden findensich vollkommen abgeschliffene Stümpfe von stählernenVerankerungen, deren unregelmäßiges Muster keinenRückschluss erlaubt, wie die Oberfläche einer darauf be-festigten Kupferplatte ausgesehen haben mag. Die in derForschung vertretene Meinung, dass dort auf einer Kupfer-platte der Kampf des Theseus mit dem Minotaurus darge-

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Abb. 7 Die Konstruktionsregel für das Labyrinth von Chartres Abb. 8 Das Labyrinth von Sens

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stellt wurde,18 stößt auch auf Widerspruch.19 Sollte es dortwirklich eine solche Darstellung gegeben haben, dannkann es sich nach meiner Überzeugung nur um eine spä-tere Einfügung gehandelt haben. Denn sie widersprichtder Intention des Architekten bzw. des Inspirators. Wir ha-ben hervorgehoben, dass die Andeutung des Labyrinth-Kreuzes durch die jeweils 3 Markierungsflächen in den Seitenarmen und die 4 Markierungen in bewusster Konso-nanz mit dem großen Kreuz der christlichen Kathedralegestaltet ist – im Einklang mit den jeweils 3 seitlichen Jo-chen des Querschiffs und den 4 Jochen des Chorhauses. –Wir konnten zeigen, dass in einem Stein 3 Frieskörper desumgebenden Frieses mit der äußersten Kreuzmarkierungzusammengeschlossen sind und damit den ideellen Zu-sammenhang von Kreis und Kreuz betonen. Dieser Zu-sammenhang ist schon im uralten Symbol des Sonnen-kreuzes gegeben, das dann neu für den Erdenbereicherscheint als die Aureole des Christus und übernommenwird in den Apostelkreuzen der Kirchenbauten, im Päpst-lichen Kreuz (vorreformatorisch), im Weihekreuz. – Wirhaben gesehen, dass der christliche Charakter des Zen-trums durch die 6 Kreuze an den Apsiden betont wird –wie auch die Gestalt des 6-Passes der Apsiden nur eine be-wusste Variation der 12-, 8- und 4-Pässe der christlichenKathedrale darstellt. – Die einzelnen Frieselemente des La-byrinths sind in der Form direkt vergleichbar mit denFormelementen der 12-, 8-, und 4-Pässe der Westrose inder Außenwand. – Der Labyrinthfries ist ideell durch 114Elemente gebildet – für die Öffnung des Eingangs wird nur1 Element weggelassen. Teilt man die Zahl 114 durch dieZahl 6 der zentralen Apsiden, ergibt sich die Zahl 19, dieman in 12+7 zerlegen kann. Über 11 Kreisringe, die Zahlder sündigen Welt nach mittelalterlicher Auffassung,führt der Weg in den 12. Bereich des Zentrums. Im Zen-trum umschließen die 6 kleinen Apsiden den 7. Bereichdes innersten Kreises. Dort sind also die Zahlen 12 und 7ineinander verschränkt. – Da die 6 Apsiden exakt zweige-teilt sind,20 könnte man sich darin 6 Apostelpaare vorstel-len, die den Christus im Zentrum umstehen. Dieser zu-nächst ungewöhnliche Gedanke ist sogar naheliegend.Denn die Westrose bildet rechts und links von der zentra-len Christusgestalt je 3 Apostelpaare ab. – Lässt sich dieHypothese, dass ebenfalls im Labyrinth der Christus imZentrum steht, mit innerer Notwendigkeit erweisen? DasZentrum der Westrose, die das apokalyptische Bild desEndgerichts gestaltet, hat einen annähernd gleich großenDurchmesser wie das Labyrinth und hat die gleiche Ent-fernung vom Fußpunkt der Innenwand wie das Zentrumdes Labyrinths, ist also bewusst auf das Labyrinth bezo-gen. Was könnte denn dem Bild des gekreuzigten Erlösersim Labyrinth wesensgemäß korrespondieren?

Die früheste Überlieferung zur christlichen Deutungdes Labyrinths bezieht sich auf einen Ostertanz des Kle-rus,21 der anscheinend einen Bezug zur Ostersonne desChristus andeuten sollte. – Für die Laien darf man wohlannehmen, dass die heilige Begeisterung, mit der von al-len Bevölkerungsschichten die Kathedrale nach demBrand 1194 wieder errichtet wurde, zumindest in der An-fangszeit auch in der Menge der Laien nachklang. So wer-den die Laien, angeleitet durch den Klerus, nicht achtlos,sondern religiös gestimmt das Labyrinth betreten haben.Den Weg ins Zentrum konnte man als einen Pfad der Bu-ße, des Gebets, der Meditation betrachten. Im Labyrinthwird, wie gezeigt, die Zusammengehörigkeit von Kreisund Kreuz betont (s. Abb. 5). Die dunkle Farbe von bei-den ist notwendig für die Begrenzung des hellen Pfades,der durch Gebet und Meditation erhellt über die 11 Kreis-bahnen des Sündenfeldes hinausführt – nach innenzur Vergegenwärtigung des Jesus Christus.22 Nach demBericht des Evangelisten Johannes offenbarte sich derChristus am 8. Tage des Laubhüttenfestes den Juden mitden Worten: «Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nach-folgt, wird nicht im Finstern wandeln [das Weg-Motiv],sondern das Licht des Lebens haben.» (Joh. 8,12). Damitvollzog der Christus die spirituelle Überhöhung des Ge-schehens der Vergangenheit, bei dem eine Wolkensäuleam Tage und eine Flammensäule des Nachts dem israeli-tischen Volke den Weg durch die Wüste zeigte. Auf diesernun durch den Christus erhöhten Stufe ging es darum,den aus der Gemeinschaft Ausgesonderten (der Ehebre-cherin und dem Blindgeborenen) und überhaupt demauf sich selbst gestellten Ich den Weg zu weisen. Vor die-sem Hintergrund erscheint mir der wesentliche Bezugvon Westrose und Labyrinth einleuchtend. Damit imjüngsten Gericht der Erlöser wirken kann, muss der ein-zelne Mensch auf der Erde einen Zugang gefunden habenzu dem, der von sich sagen durfte das Wort vom Licht derWelt, vom Weg, der Wahrheit und dem Leben. Wahr-scheinlich war ursprünglich das Labyrinthzentrum ent-weder leer und nur durch mündliche Belehrung mit Be-deutung erfüllt, sodass auch das achtlose Überschreitendes Unkundigen nicht bedenklich schien. Oder eine klei-ne vermutlich kreisförmige Tafel über dem Mittelpunktwies auf das Licht der Welt hin. – Doch der Einzelne aufseinem Weg durch das Labyrinth zum Licht der Weltkonnte womöglich seines unvermittelten Zugangs zu JesusChristus selber innewerden. Wer im Zentrum des Laby-rinths innerlich erlebend spricht: «Ich bin das Licht derWelt», berührt damit auch das Geheimnis seines eigeneninnersten Wesens. Als der Einfluss der Kirche auf die See-len geringer wurde, wie es einzelne «Ketzer» (Arnold vonBrescia) und ganze Bewegungen (Albigenser, Katharer)

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zeigten, hat man möglicherweise den befreienden Hin-weis auf das Sonnengeheimnis des Christus getilgt unddurch den profanen Bezug auf den antiken Theseus-Mythos ersetzt, falls in späterer Zeit tatsächlich eine sol-che Tafel im Zentrum angebracht wurde. Selbst wennman den Retter Theseus als Präfiguration des ErlösersChristus auffasste, der unmittelbare Bezug des Labyrinth-Weges zu Christus selber würde damit getilgt.

Der Architekt oder der Inspirator des Labyrinths musszwar nicht das kleine Labyrinth auf einer Sandsteinplattean der Kirchenwand im italienischen Pontremoli (12.Jahrhundert) gekannt haben, in dessen Zentrum das Mo-nogramm des Jesus JHS erscheint und am unteren Randdie Umschrift Sic curritis, ut comprehendatis (So lauft, da-mit ihr [den Siegespreis] ergreift, Paulus 1. Korinther9,24) – in konsequenter Christianisierung der Labyrinth-form.23 Doch er hatte die wunderbare Komposition derWestfenster vor Augen, die den Brand von 1194 über-standen hatte und in die Konzeption des Neubaus einbe-zogen werden konnte. Er kannte entweder durch eigeneEinsicht oder durch eine noch frische mündliche Über-lieferung höchst wahrscheinlich das Geheimnis des west-lichen Passionsfensters, das als geistiger Höhepunkt sosorgfältig in die Gesamtkomposition der 3 Westfenstereingefügt wurde. Wie wir bereits in eingehender Inter-pretation gezeigt haben,24 wird in den beiden Bildern derzentralen 4. Stufe des Passionsfensters das Kreuz in auf-fallend symbolischer Weise in den Kreis gestellt. Die bei-den grünen Kreuze werden durch eine schmale rote Leis-

te eingefasst. Das Todeskreuz wird so zumSymbol des Lebens und der Liebe. Es ragt hi-nein in zwei weiß gepunktete konzentrischeKreise, die Blattornamente und Kreuzblütenin kleinem Kreis (das Kreuz-im-Kreis-Motiv imKleinen wiederholend) umschließen. Das ge-schieht in der Gesamtkomposition der dreiWestfenster in bewusster Steigerung der geo-metrischen Formen und der farbigen Gestal-tung. Für die geometrischen Formen ist dasauch ohne Abbildungen leicht nachzuvoll-ziehen. Im rechten Wurzel-Jesse-Fenster wirdeine vertikale mittlere Reihe von Quadratenflankiert von Halbkreisen. Das mittlere Fens-ter ist durch den regelmäßigen Wechsel vonQuadraten und Kreisen gekennzeichnet: aufder 1. unteren Stufe durch die Folge der Bild-rahmen Quadrat – Kreis – Quadrat, auf der 2.Stufe durch die Folge Kreis – Quadrat – Kreisetc. Das linke Passionsfenster fasst auf 7 Stu-fen alle 14 Bilder in die Kreisform. So stehenauf der zentralen 4. Stufe die beiden Kreuze

im Kreis, ja ragen in den Kreisring hinein. Man kann esso deuten, dass die Kreuzesfarben rot und grün ihren Ur-sprung haben im Kreisring mit seinen Blatt- und Blüten-ornamenten. Symbolisch weisen die grünen/ gelben/bräunlichen Blattornamente und die roten Kreuzblütenim kleinen Kreis auf die Sonnenkraft hin – mit ihrer Voll-macht über das Werden und Vergehen des Pflanzenle-bens. Das scheint zunächst auf die physisch sichtbareSonne zu deuten. Doch diese vermag nicht die Auferste-hung von Jesus Christus im Geist-Leib (sôma pneumatikónPaulus 1. Korinther 15) zu bewirken. So ist der symboli-sche Verweis auf die Sonne noch einmal auf die geistigeSonnenkraft des Christus hin zu vertiefen, die sich aus-spricht in den Worten seiner Wesensoffenbarung: «Ichbin das Licht der Welt» (Joh. 8,12), «Ich bin die Auferste-hung und das Leben» (Joh. 11,25). Die beiden Kreuzes-bilder werden in ihrer einzigartigen künstlerischen Ge-staltung verständlich, wenn man sie als Hinweis auf dasGeheimnis des christlichen Sonnenkreuzes versteht.25

Mit innerer Notwendigkeit in christlichem Sinne sinddie Kreisformen des Passionsfensters, des Labyrinths undder Westrose aufeinander bezogen. Das Passionsfensterweist im Zeichen des Sonnenkreuzes auf das Menschheits-ereignis hin, das mit der Verklärung, dem Kreuzestod undder Auferstehung des Christus gegeben ist, und zeigt aufder abschließenden 7. Bildstufe den Weg zweier einfacherJünger ohne Apostel-Aureole, die durch ihr intensives Rin-gen um Verstehen den Auferstandenen herbeirufen kön-nen. Das begehbare Labyrinth, ein in die Erde geschrie-

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Abb. 9 Das Passionsfenster, Bild IV,1

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benes Sonnenkreuz, regt dazu an, auf dem Erdenweg alseinzelner Mensch den Weg zum Licht der Welt zu suchen,damit am Ende der Zeit, wie es in der Apokalypse derWestrose dargestellt ist, durch die Verbindung mit demChristus Jesus die Erlösung möglich ist. –

Das Weg-Motiv der Westfront – der innere Schu-lungsweg der Platoniker durch die 7 Freien Künste (Ar-chivolten des rechten Portals) und der Gang der bäuer-lichen Tätigkeiten im Jahreslauf (Archivolten des linkenPortals) – erfährt hier im Innern der Kathedrale vonChartres die ganz einzigartige Erweiterung durch dasPassionsfenster,26 das Labyrinth und die Westrose mitdem Erlöser in ihrem Zentrum. – Auch unabhängig vonchristlichen Inhalten könnte man das Labyrinth inChartres als einen Weg nach innen wahrnehmen und esverstehen als einen Weg zu sich selbst.27

Horst Peters, Steinen

Autorennotiz Horst Peters:Nach Studium der Klassischen Philosophie und der Philoso-phie Promotion 1968. Die Frucht jahrzehntelanger Platon-Forschung ist die wissenschaftliche Publikation «Platons Dialog Lysis. Ein unlösbares Rätsel?» 2001 (Bd. 11 der wissen-schaftlichen Reihe Prismata, Europäischer Verlag der Wissen-schaften Peter Lang), Leiter des Novalis-Zweiges Lörrach.

Bildnachweis:

Michal Ladwein28 Abb. 1

Hermann Kern29 Abb. 2, 3

Horst Peters Abb. 4, 5, 6, 7

Jean Villette30 Abb. 8

Editions Houvet, Chartres Abb. 9

1 Johannes Maringer, Das Kreuz als Zeichen und Symbol in der

vorchristlichen Welt, St. Augustin bei Bonn 1980. Hermann

Kern, Labyrinthe, München 1982.

2 Der Europäer Sept. 2009, 14 –18. Dez./Jan. 2009/2010, 22 – 28.

3 Notre-Dame de Chartres. Das Rätsel des Labyrinths, Chartres

o.J. (dt. Übersetzung), darin Jean Villette, «Das Rätsel des

Labyrinths», 6.

4 Benita von Schröder, Das Mysterium von Chartres, Stuttgart

1992, 350 nach Maurice Guingand, Chartres, les templiers

architects, Paris 1974.

5 John et Odette Ketley-Laporte, Chartres, le labyrinthe dé-chiffré,

133.

6 Ketley-Laporte a.a.O. 139.

7 Hier der rechteckige Raum im Kreuzungsbereich von Längs-

schiff und Querschiff, vgl. Wilfried Koch, Baustilkunde,

München 1994, 491.

8 Ketley-Laporte a.a.O. 61– 62 veranschaulichen diese Tatsache

mit den geometrischen Gliederungen des Grundrisses der

Kathedrale durch John James und durch Jean Villette.

9 Villette, a.a.O., 12. Roland Halfen, Chartres Bd. 3, Architektur

und Glasmalerei, 680.

10 Kern, a.a.O., 35 – 36.

11 Diese Form ist vor allem in Handschriften bereits mehrfach

vorgebildet, 1072 besonders schön – allerdings ohne Außen-

fries und durchgestaltetes Zentrum – in einem Codex von

St. Sebastian in Silos (Nordspanien), Kern a.a.O., 154. Halfen

a.a.O., 645 f.

12 Das Kreuz im Kreis der steinzeitlichen Felszeichnungen (Ma-

ringer a.a.O., 21, 45, 49, 53) ist vor der Erfindung des Spei-

chenrades nicht als Radkreuz zu bezeichnen, auch nicht nur

unter irdischem Aspekt als Jahreszeiten- und Himmelsrich-

tungskreuz. Man kann es auch kosmisch verstehen als Zei-

chen des Sonnenlichtesopfers für Pflanzen, Tiere und Men-

schen, als Sonnenkreuz. – Benita von Schröder belädt in

ihrem gehaltvollen Buch das Labyrinth von Chartres als Bild

des Sonnenkreuzes leider mit z.T. weit hergeholten Deutun-

gen: a.a.O., 350 – 357.

13 Die Ähnlichkeit mit dem Zinnenkranz des Labyrinths in einer

Sammelhandschrift des 12. Jahrhunderts, die Halfen a.a.O.,

669f. wahrzunehmen meint, ist nicht gegeben. Damit entfällt

auch die Anknüpfung an den Parzifalmythos.

14 Das aber scheint Halfen, a.a.O., 681– 685 anzunehmen. An-

ders Michael Ladwein, Chartres. Ein Führer durch die

Kathedrale, Stuttgart 2010, 151.

15 Das Streben nach vollständigen Umläufen zeigt auch das re-

gelmäßige Labyrinth (Kern a.a.O., 200 mit Abb. 233, Halfen

a.a.O. 670), das basierend auf 6 Kreisringen den Umgang um

das Zentrum im Uhrzeigersinn mit 3 Halbkreisen und zwei

rückschreitenden Viertelkreisen durchführt und in der Gegen-

richtung mit einem Vollkreis vollzieht. Den Wechsel von Uhr-

zeigersinn und Gegenrichtung bei fünf vollständigen Umläu-

fen sieht man sehr schön in Abb. 193 bei Halfen, a.a.o., 164.

16 Villette, a.a.O., 5 – 6.

17 Halfen, a.a.o., 641– 650. 653 – 664.

18 Villette, a.a.O., 6 –7.

19 Kern, a.a.O., 225. Ketley-Laporte a.a.O., 168. – Halfen, a.a.O.,

638 – 639 und Ladwein, a.a.O., 127–130 diskutieren ange-

sichts der fehlenden Kupferplatte und der unsicheren Über-

lieferung mehrere vor allem christliche Deutungen.

20 S. Abb.3.

21 Kern a.a.O., 215. Halfen, a.a.o., 657– 658. Ladwein a.a.O.,

129–130.

22 So kann auch das in die Erde geschriebene zunächst verdun-

kelte Sonnenkreuz aufgehellt werden.

23 Kern a.a.O., 235 (Abb. 274). Halfen, a.a.o., 349 (Abb. 356). 668.

24 S. Anm. 2.

25 Die Geistesforschung Rudolf Steiners hat das Sonnengeheim-

nis des Christus neu erschlossen, vgl. z.B. GA 202, Die Brücke

zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen,

GA 207, Anthroposophie als Kosmosophie, Teil I, GA 211, Das

Sonnenmysterium und das Geheimnis von Tod und Auferstehung.

26 Genaueres zum Weg-Motiv im Passionsfenster s. Der Europäer

Dez./Jan. 2009/2010, 24.27.

27 Kern a.a.O., 13: Das Motto (wohl im Sinne von C.G. Jung):

Im Labyrinth verliert man sich nicht. Im Labyrinth findet

man sich. Im Labyrinth begegnet man nicht dem Minotau-

rus. Im Labyrinth begegnet man sich selbst.

28 S. Anm. 1 Hermann Kern, a.a.O., S. 225.

29 S. Anm. 14 Michael Ladwein, a.a.O., S. 120.

30 S. Anm. 3 Jean Villette, a.a.O., S. 7.

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Page 29: Jg.15/Nr. Dezember/Januar 2010/2011 2/3 - Perseus · 2015. 10. 28. · Rudolf Steiner sagte von Collins’ Schrift: «Nicht in ganzen Biblio-theken sind Worte von solcher Tiefe zu

Das Motiv des Lebensbaums

29

Rudolf Steiner weist darauf hin, dass Berichte über ge-schichtliche Ereignisse, sobald sie in Form von My-

then überliefert werden, einer zeitlichen und räumli-chen Festlegung enthoben sind und so für die hinterden äußeren Ereignissen wirksamen geistigen Kräftetransparent werden.1

In diesem Sinne soll nun die folgende Darstellung desLebensbaummotives versucht werden. In vielen altenLegenden wird dieses Thema vom Sündenfall derMenschheit und dem damit verbundenen Entzug der«paradiesischen Lebensfrüchte» behandelt. Sie weisenaber prophetisch darauf hin, dass deren Wiedererlan-gung durch Christi Kreuzestod möglich gemacht werde.

Die «Kreuzesholz-Legende» fand nach Osterrieder inder gesamten Christenheit Verbreitung.2

Sie schildert, wie Seth, der jüngste Sohn Adams, dervon dem Zwist der beiden Älteren, Kain und Abel, un-berührt war, auf Bitten seines sterbenden Vaters, sichbis vor die Pforten des Paradieses begibt, um einigeTropfen des «Öls der Barmherzigkeit» vom Baum desLebens zu erbitten. Dieser Wunsch muss ihm versagtbleiben, aber Seth darf auf Weisung des Erzengels Mi-chael dreimal in das Paradies blicken: Beim ersten Malsieht er die Quelle des Lebenswassers, aus der die vierParadiesesflüsse entspringen. Abseits der Quelle stehtein verzweigter Baum ohne Laub und ohne Rinde: derabgestorbene Baum der Erkenntnis.Beim zweiten Mal bemerkt Seth,dass sich die Schlange um den kah-len Stamm windet. Das dritte Malgewahrt er, dass der Baum mit sei-ner Krone bis in den Himmel ragt.In der Krone aber liegt ein neuge-borenes, in Windeln gewickeltesKind. Die Wurzeln des Baumes rei-chen in die Unterwelt hinab undumklammern die Seele seines er-schlagenen Bruders Abel. Da er-fährt Seth vom Erzengel Michael,dass aus den Leiden jenes Kindes,das von Adam so ersehnte Öl derBarmherzigkeit gewonnen werde.Das Kind werde sein Blut vergießenan einem Holz, das wachsen mussaus drei Samenkörnern. Anschlie-ßend erhält Seth die drei Kernevom Lebensbaum, die er Adam inden Mund legen soll.

Seth kehrt zurück und berichtet seinem Vater, wasihm aufgetragen wurde. Adam verbirgt die drei Samen-kerne unter seiner Zunge und stirbt. Aus seinem Grabwachsen alsbald drei Bäumchen, die sich später zu ei-nem einzigen Baum vereinen.

Moses bricht einen Stab von dem Holz dieses Bau-mes, mit dem er auf Geheiß Jahwes Wasser aus dem Fel-sen sprudeln lässt. König Salomon will den Stamm inseinen Tempelbau einfügen, doch das Holz lässt sichnicht zurechtschneiden.

Daraufhin wird der Stamm von den Juden achtlosbeiseite geworfen, bis man den Heiland auf diesem Holzkreuzigt. Das Kreuzesholz auf Golgatha, der «Schädel-stätte» Adams wird zum «Lebensspendenden Kreuz» er-höht. Gleichzeitig beginnt der kahle Baum der Erkennt-nis wieder zu grünen. Die Verheißung erfüllt sich: Adamwird mit dem lebendig machenden Öl der Barmherzig-keit gesalbt.

Im keltischen Sagenkreis wird dieses Thema in der Erzählung von dem Helden Bran behandelt, derauf der Suche nach der Sonneninsel Emain von einergeheimnisvollen Frau einen Zweig vom Baum des Lebens mit einer Verheißung erhält: Auf hoher Seeempfängt er die Offenbarung, dass einst ein Erlöserkommen werde, der die Folgen des Sündenfalles aus-gleichen werde.

In der Gewissheit, dass diese Verhei-ßung ihre Erfüllung gefunden hat,frohlockt ein irischer Mönch imJahre 955:

König des Lebensbaumes in vollerBlüte,Allüberall von edlen Heerscharenumgeben,Seine Wipfel und sein reich fallen-des Geäst breiten sich ausAllseitig über die Felder und Ebe-nen des Himmels.Eine herrliche Vogelschar sitzt aufdem Lebensbaum, singt vollkommene Lieder derreinsten Gnaden.

In seinen Basler Vorträgen über dasLukas-Evangelium geht Rudolf Stei-ner auf die, aus dem alten Testa-ment bekannte Paradieses-Erzäh-

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Die Bildsprache des Lebensbaummotives

Kreuzstein am Eingang der Bibliothek von Halbat

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Das Motiv des Lebensbaums

30

lung ein. Im siebenten Vortrag schildert er die Unmög-lichkeit für die höheren Mächte, die Kräfte des Haupt-paares Adam und Eva, nachdem sie der luziferischenVersuchung bereits erlegen waren, in die Nachkommen-schaft herunterzuleiten. Dies hieße biblisch ausge-drückt: «Sie haben genossen vom Baum der Erkenntnis,des Guten und Bösen; jetzt müssen wir ihnen die Mög-lichkeit nehmen auch zu genießen vom Baume des Le-bens.» Das heißt, es wurde eine gewisse Summe vonKräften des Ätherleibes zurückgehalten. Dieser noch un-schuldige Teil des Adam: «Diese Urkräfte der Adam-Indi-vidualität wurden [...] dahin geleitet, wo dem Josef undder Maria das Kind geboren wurde.» Letzteres beziehtsich auf den nathanischen Jesus-Knaben. Rudolf Steiner

weist darauf hin, dass das Begriffs- und Sprachverständ-nis vom Menschen nicht willkürlich, wie seine Gefühls-und Willensäußerungen gehandhabt werden können,sondern höheren Gesetzmäßigkeiten unterliegen. «Injedes Menschen Willkür war das gestellt, was seinemWillen entspricht. Der Mensch kann seinen Willen alsseinen persönlichen geltend machen; ebenso seine Ge-fühle. Das Individuelle hört aber sofort auf, wenn wiraufsteigen vom Gefühl zum Denken – ja sogar schon zu dem Ausdruck der Gedanken zu den Worten [...] Eswurden also Gedanke und Sinn der menschlichen Will-kür entzogen und vorläufig in der Göttersphäre aufbe-wahrt. Daher können wir auf dem Erdkreis überall indi-viduelle Menschen finden mit individuellen Gefühlenund individuellen Willens-Impulsen. Aber wir habenüberall gleiches Denken und gleiche Sprache bei denVölkern.»3

In den Vorträgen «Der Baum des Lebens und derBaum der Erkenntnis» beschreibt Rudolf Steiner, wie esmit Hilfe der Geisteswissenschaft möglich ist, durchVerlebendigung des Denkens zu einem vertieften Chris-tusverständnis zu gelangen. So kann die, als Folge derluziferischen Versuchung unterbrochene Übereinstim-mung des Menschen mit den Zielen der Schöpfungs-mächte, wieder hergestellt werden.4

Die Darstellung des Lebensbaummotivs in der KunstAus vorchristlicher Zeit findet man dieses Motiv auf su-merischen Rollsiegeln ebenso wie bei den AboriginesAustraliens. Im frühen Christentum wird das Lebens-baummotiv mit der Form des Kreuzes verknüpft. Aller-dings das Kreuz nicht als Zeichen des Todes, sondern als«Lebenszeichen».

Dies zeigen besonders die Darstellungen auf den «ste-caks» (stehende Steine), den Grabsteinen in Bosnien-Herzegowina, die unter dem Einfluss der bogumilischenGlaubenslehre entstanden sind.

Diese folgt weitgehend der Verkündigung des Glau-bens durch den Apostel Paulus in den Pastoral-Briefen.5

Das Motiv erscheint auf armenischen Chatsch`kharen(Kreuzsteinen), auf langobardischen Sarkophagen undanderen Steinmetz-Arbeiten.

In prägnanter Form wird der Gegensatz von «Wach-sen und Vergehen» und dem zwischen den beiden Prin-zipien vermittelnden Kreuz auf einem langobardischenBrunnen dargestellt.6

Häufige Verwendung findet das Motiv auch in derBuchmalerei, z.B. dem Book of Kells und verschiedenen

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Sarkophag der Bogomilen, Radimlja / Herzegowina

Fortsetzung auf Seite 35 �

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4. Jahrh.)R

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6. Jahrh. für das Christentum

bei den Franken tätig)

14.Felix, Ferm

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eis 1874, Erfinder des Telefons

15.M

acarius (berühmter ägypt. Einsiedler des 4. Jahrh.), M

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Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

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16.Faustus (lebte zu A

lexandrien im 3. Jahrh.), M

arcellus (christl.Lehrer in Asien 2.Jh)

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1901M

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ntonius (ägypt. Einsiedler, welcher durch 15 Jahre ein G

rab bewohnte und dort seine

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ekenner unterwies), Sulpicius Severus (bedeutender Prediger des 5. Jahrh.)

Speosippus, Eleosippus, Meleosippus (D

rillinge, die als Märtyrer im

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enjamin Franklin 1706

18.Felicitas (die M

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elchen sie den Märtyrertod starb)

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er-Lytton 1873

Helvetus, M

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harles de Montesquieu 1689

19.Sara, Pius, Prisca (berühm

te Weissagende des 2. Jahrh.)

Hans Sachs 1576

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artha (die Schwestern des Lazarus im

Joh. Ev.)M

oriz Carrière 1895, Philosoph

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att 1736G

eorges Picqu

art 1914, Verteidiger von

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osa Mayreder 1938

20.Fabian, Sebastian

Ch. M

. Wieland 1813

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1859

21.A

gnes, Eusebius, Patroclus, Mainrardus

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ré 1841

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efährten 628 in Persien), EverardusB

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1561, Lessing 1729, Am

père 1775, Byron 1788

23.C

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egen seiner Predigten gegen die Dianaverehrung gesteinigt)

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Edmon

d Halley 1742

26.Polykarpus (der Schüler des Evangelisten Johannes, zu Sm

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lter im Jahre 169 verbrannt)

Edward Jenner 1823, Im

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ischof zu Constantinopel),Julius, V

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ozart 1756, F.W. Schelling 1775, D

.F. Strauss 1808

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gnes, Carolina, G

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1933

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1. Kalen

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eiträge Nr. 37/38 zur R

udolf Steiner Gesam

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Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

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Das Motiv des Lebensbaums

35

Evangeliaren. Auch auf mittelalterlichen Glasfensternerscheint das Lebensbaummotiv. Im Jesse-Fenster derKathedrale von Chartres, wird der Entwicklungsweg derMenschheit, ausgehend von Adam und Eva in Schlan-genform aufwärts führend, mit der Darstellung deshimmlischen Jerusalems gekrönt.

Auf einem Glasfenster der Kirche Saint Nazaire inCarcassonne tragen die Zweige des Baumes breite Bän-der mit gotischen Lettern. Sie spenden gleichsam Früch-te aus herzförmigen Kassetten. Am Wipfel des Baumessieht man den Gekreuzigten, darüber einen brütendenPelikan.7

In der Gegenwart findet sich dieses Motiv in stilisier-ter Form in der Volkskunst und in kunstgewerblichenArbeiten. Es füllt seinem religiösen Charakter entspre-chend häufig die Nischen orientalischer Gebetstep-piche.

Das Erleben der reinen LinienformDie besprochenen vormittelalterlichen Lebensbaum-Darstellungen sind als Steinmetz-Arbeiten in reinen Linienformen ausgeführt.

Rudolf Steiner beschreibt sehr genau, wie der Menschsolche Formen erlebt:

«Nicht so erlebt man sie, dass man sie vor sich in ir-gend einem Raume gezeichnet sähe, sondern so, als obman in fortwährender Bewegung mit seinem Ich jedenLinienschwung, jeder Gestaltung selbst folgte. Ja, manfühlt das Ich als den Zeichner und zugleich als das Ma-terial, mit dem gezeichnet wird. Und jede Linienfüh-rung, jede Ortsveränderung sind zugleich Erlebnissedieses Ich. Man lernt erkennen, dass man mit seinem

bewegten Ich hineingeflochten ist in die schaffendenWeltenkräfte.»8

Zum Erleben dieser Doppelbeziehung kann mandurch vertieftes Üben solcher Formen kommen. Manfühlt sich wie eintauchend in einen lebendigen For-menbildestrom.9

Erich Prochnik, Wien

Hinweis:

Über die botanische Seite des «Lebensbaumes» und seine

Anwendung in der homöopathischen Medizin gibt Dr. Si-

monis in seinem Heilpflanzenbuch Auskunft. Der Lebens-

baum gehört zu den Thujengewächsen. Aus Zweigen und

Blättern wird Öl gewonnen. Der Name Thuja soll sich vom

griechisch thyein – thyon – «duften, rauchen», herleiten.

So steht dieser Baum an der Schwelle der dies- und jenseiti-

gen Welt. Er wird wie die mit ihm verwandte Zypresse in

vielen Ländern auf Friedhöfen gepflanzt (siehe: Werner-

Christian Simonis, Heilpflanzen und Mysterienpflanzen. Me-

dizinisch-botanische Wesendarstellungen, VMA Verlag 2001).

1 Siehe hierzu: Vortrag von Rudolf Steiner «Der Baum des

Lebens und der Baum der Erkenntnis», Dornach, 7. 8. 1915,

GA 162.

2 Markus Osterrieder, Sonnenkreuz und Lebensbaum, Verlag

Urachhaus.

3 Siehe: Rudolf Steiner, Das Lukas-Evangelium, Basel 1909,

GA 114.

Zur Frage nach dem in der geistigen Welt zurückbehaltenem

Teil der Adam-Seele, siehe: Benjamin Schmidt «Ich-Abbilder

des Jesus Christus», in: Der Europäer, Jg.13, Nr. 9/10 (2009).

4 Siehe: Vortrag von Rudolf Steiner «Der Baum des Lebens und

der Baum der Erkenntnis», Dornach, 25. 7. 1915 (GA 162).

5 Vgl. Rudolf Steiner, Von Jesus zu Christus, Karlsruhe 1911,

GA 131.

Rudolf Steiner äußert sich dazu im Sinne des Apostel Paulus:

So wie Adam der Stammvater des sterblichen Menschen ist,

so bildet der auferstandene Christus den «geistigen Stamm-

baum» des zweiten, unverweslichen Adam.

6 Rudolf Kutzli, Langobardische Kunst, Verlag Urachhaus. Das

Buch enthält viele langobardische Lebensbaum-Darstellun-

gen.

7 Déodat Roché, Die Katharer-Bewegung, Ogham Verlag. Nach

Roché bezieht sich diese Darstellung auf eine Schrift des

Franz von Assisi in der Leitung des Franziskanerordens nach-

folgenden S. Bonaventura über den Lebensbaum (lignum

vitae). Das Motto dieser in lateinischer Sprache verfassten

Schrift ist die Stelle aus der Apokalypse 22, vom «Holz des

Lebens, das zwölfmal Früchte trägt».

8 Rudolf Steiner, Die Stufen der höheren Erkenntnis, Dornach

1959, GA 12.

9 Das sogenannte «Formenzeichnen» ist ein integrierender

Bestandteil im Kunstunterricht der Waldorfschulen. In verän-

derter Form wird es in der anthroposophischen Kunsttherapie

angewendet.

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Brunnen, Venedig, Museo Correr

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Die Ware und ihr Wert

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Der folgende Text ist ein Auszug aus einer Semesterarbeit vonDamian Mallepree für die Philosophische Fakultät der Hein-rich Heine-Universität Düsseldorf, Sozialwissenschaftliches In-stitut – Politikwissenschaft vom August 2009. Ein Text überden «Mehrwert» wird folgen.

Redaktion

Wie soll die Gesellschaft organisiert sein?Nach Ansicht von Karl Marx kommt die Beeinflussungdes Proletariers von außen. Diese Sichtweise entsprichtMarx’ materialistischer Sichtweise, nach der das Seindas Bewusstsein bestimmt: nicht die Gedanken, son-dern nur die wirtschaftlichen Zustände haben eine Bedeutung.1 Für Rudolf Steiner ist es dagegen wichtig,nachzuvollziehen, wie der Proletarier denkt2, um dieproletarische Bewegung verstehen zu können. Denndann begreift man erst, dass die proletarische Bewegungnicht von außen, von «Wirtschaftsimpulsen gemacht[wird], sondern von Menschen; von deren Vorstellun-gen und Willensimpulsen.»2

Man müsse mit dem Proletariat mitdenken, so RudolfSteiner, und nicht über dasselbe. Man kommt auchnicht zu einem «notwendigen Verständnis der Weltla-ge»2, wenn man die Auffassung vertritt, «dem ‹ungebil-deten› Proletarier sei durch den Marxismus [...] der Kopfverdreht worden»2. Das Wesentliche ist für Rudolf Stei-ner, zu erkennen, das proletarische Klassenbewusstseinmit Begriffen zu füllen, «die ihren Charakter aus derneueren wissenschaftlichen Entwicklung heraus genom-men haben»2.

Soll nun, wie von Marx gefordert, jeglicher Privatbe-sitz aufgehoben werden, und wie soll das Verhältniszwischen Arbeiter und Staat sein? Nach Rudolf Steinerbesteht gegenwärtig «bei sozialistisch Denkenden dieMeinung, dass sein [der Privatbesitz] Bedrückendes nurbeseitigt werden könne durch seine Verwandlung in All-gemeinbesitz»2. Rudolf Steiner stellt dieses Problem ineinen größeren Zusammenhang. Dazu muss kurz dar-gestellt werden, was er unter dem Begriff «sozialer Orga-nismus» versteht. Der soziale Organismus ist seiner Auffassung nach, wie der Name schon sagt, etwasLebendiges, ein «fortwährend Werdendes, Wachsen-des»2. Der soziale Organismus verändert durch sein Leben ständig «dasjenige, was in ihm entsteht»2. Dasheißt, dass man in Rudolf Steiners Sinne dem sozialen

Organismus nicht eine feste, eine beste Form gebendarf. Damit würde man seine Lebensbedingungen un-tergraben.

Genau dies, das heißt, dem sozialen Organismus einebestimmte Form geben, ist aber das Ziel von Karl Marx.Bei Marx ist das sogenannte «Zwei-Phasen-Modell» Aus-druck desjenigen Verhältnisses, das zwischen Proletarierund Staat besteht. In der ersten Phase übernimmt dasProletariat die von ihm so genannte «bourgeoise»Staatsform, schafft allen Privatbesitz ab (Phase des So-zialismus) und erst in der zweiten Phase wird jeglicheKlassenherrschaft aufhören und der Staat absterben(Ziel des Kommunismus). Dann wird jeder nach seinenFähigkeiten und Bedürfnissen leben können, ein neuerMenschenschlag wird von Marx in dieser Hinsicht an-gestrebt.

Rudolf Steiner kritisiert diese Sichtweise als einenAberglauben gegenüber der wirtschaftlichen Ordnung3,wenn Marx der Meinung ist, dass die Menschen sichverändern werden, wenn in der ersten Phase des Sozia-lismus die bourgeoise Ordnung fortgeführt wird, alsonur eine Ordnung, die einseitig das Wirtschaftslebenbetrifft. Denn «durch wirtschaftliche Evolutionen wirdniemals der neue Mensch erzeugt, einzig und allein voninnen heraus»3. Um diese Umwandlung zu erreichen,muss das «geistige Leben frei auf sich selber gestelltsein»3.

Der Begriff der «Ware»Bei Marx ist der Begriff der «Ware»Teil seiner «Arbeits-wertlehre». Das Problem, das Marx frühzeitig erwähnt,ist, dass der Kapitalismus «nahezu allen wirtschaftli-chen Gütern den Stempel der Ware aufdrückt»4. Marxunterscheidet daraufhin den Tausch- und den Ge-brauchswert einer Ware: «Als Gebrauchswerte sind dieWaren vor allem verschiedener Qualität, als Tauschwer-te können sie nur verschiedener Quantität sein, enthal-ten also kein Atom Gebrauchswert»5. Dadurch, dass Wa-ren von unterschiedlicher Qualität sind und einenanderen Gebrauchswert für jeden haben, sind sie kaumvergleichbar. Doch Marx findet den gemeinsamen Nen-ner aller Waren: alle haben nur einen Wert, «weil abs-trakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht odermaterialisiert ist»5. Die Kritik an der Arbeitswerttheorievon Marx läuft darauf hinaus, dass er den Wert «ursäch-lich in der Produktion»6 ansiedelt und gleichzeitig aber

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Die «Ware» und ihr (volkswirtschaftlicher) WertDie politischen Ökonomien von Karl Marx und Rudolf Steiner im Vergleich (1)

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Die Ware und ihr Wert

37

darauf angewiesen ist, dass der Wert in der Zirkulationder Geldströme entsteht. Zusammengenommen bedeu-tet dies, dass sich der schon vorhandene Wert einer Wa-re noch in der Zirkulation ausdrücken muss.6

Nun wird komplizierte Arbeit normalerweise höherbewertet als einfache, und ein Arbeiter nutzt die Ar-beitszeit effizienter als der andere. Für Marx ist die Ar-beit «gleiche menschliche Arbeit, Verausgabung dersel-ben menschlichen Arbeitskraft»5. Mit der Gleichheit derArbeit meint Marx nicht den «natürlichen Charakterder verschiedenen menschlichen Arbeiten, der in dergleichen organischen Grundlage wurzelt, sondern dieideelle, rechtliche Gleichheit»7.

Zur Auffassung, dass der Tauschwert der Warendurch die Menge an Arbeit bestimmt wird, nennt derSoziologe Bernd Ternes kritische Stimmen der österrei-chischen Grenznutzenschule, eine in den siebziger Jah-ren des 19. Jahrhunderts aufkommende Theorierich-tung der Volkswirtschaftslehre (als deren Begründer giltder österreichische Nationalökonom Carl Menger,1840-1921): «Diese Bestimmung wird als objektivis-tisch abgelehnt, d.h. als eine Wertbestimmung, die kei-nerlei Rücksicht nimmt auf die Realität der Vorstel-lungen und Einstellungen, die Menschen haben»6.Christoph Strawe kommentiert den Wertbildungspro-zess folgendermaßen und vergleicht ihn mit dem Ar-beitsbegriff Rudolf Steiners: «Wenn Marx schreibt, dieArbeit ‹als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft imphysiologischen Sinn›, in der ‹Eigenschaft gleichermenschlicher Arbeit› bilde den Warenwert, so betontSteiner die Rolle nicht nur der aufgewendeten, sondernauch der ersparten Arbeit für die Wertbildungs- undVerwertungsvorgänge»4. Die ersparte Arbeit dürfe, soversteht Strawe Rudolf Steiner, deshalb bei der Wertbil-dung nicht außer acht gelassen werden, da sie erstdurch «geistige Tätigkeit, die solche Ersparnisse herbei-führt»4 ermöglicht werde.

Wie setzt sich nun der volkswirtschaftliche Wert ei-ner Ware bei Rudolf Steiner zusammen? Rudolf Steinerbetont nicht die Rolle der aufgewendeten oder erspar-ten Arbeit für die Wertbildungsvorgänge! Rudolf Stei-ner: «Wo entsteht der volkswirtschaftliche Wert einerWare? Er entsteht nicht bei dem Hereinkristallisierender Arbeit in die Ware, nicht bei dem Ersparen der Ar-beit durch die Ware; da entsteht überall nicht dervolkswirtschaftliche Wert. Der volkswirtschaftlicheWert ist ein Spannungszustand»1. Was ist mit «Span-nungszustand» gemeint? Rudolf Steiner gibt dazu fol-genden Hinweis: «[...] also auf der einen Seite steht dieWare an einem bestimmten Ort und in bestimmterZeit. Auf der andern Seite steht das menschliche Be-

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

dürfnis, was dasselbe ist wie künstliches oder natür-liches Interesse»1. Die Bedürfnisse dürfen, so RudolfSteiner, niemals rein volkswirtschaftlich entwickeltwerden1.

ZusammenfassungÜbereinstimmungen zwischen Karl Marx und RudolfSteiner findet man bei dem allgemeinen Begriff derWare. Ähnlich wie Marx schreibt auch Rudolf Steiner,dass Ware nur das ist, «was in Zusammenhang gekom-men ist mit menschlicher Tätigkeit»3. Und es stellt sichheraus, dass sowohl Rudolf Steiner als auch Karl Marxden Warenbegriff für menschliche Arbeitskraft kritisie-ren. Dann aber trennen sich die Wege, beide kommenzu völlig unterschiedlichen Lösungen. Während KarlMarx ein Ende der Ausbeutung, die Aufhebung derKlassengegensätze fordert, will Rudolf Steiner, dass das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitneh-mer nicht mehr als wirtschaftliche Frage betrachtetwird. Für Rudolf Steiner gehört die Regelung diesesVerhältnisses in das Gebiet des Rechtslebens, in demGleichheit herrscht.

Damian Mallepree, Essen-Kettwig

1 Rudolf Steiner: Der Goetheanismus- ein Umwandlungsimpuls

und Auferstehungsgedanke. Menschenwissenschaft und Sozialwis-

senschaft. Zwölf Vorträge, gehalten in Dornach zwischen dem

3. Januar und 2. Februar 1919. GA 188. 1982. S. 183ff.

2 Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebens-

notwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. Lizenzausgabe,

Frankfurt a. Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1985. GA 23.

3 Rudolf Steiner: Die soziale Frage als Bewusstseinsfrage. Acht

Vorträge, gehalten in Dornach zwischen dem 15. Februar und

16. März 1919. GA 189. 1980.

4 Christoph Strawe: Marxismus und Anthroposophie. Stuttgart

1986. S. 195.

5 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. In:

Lieber, Hans Joachim/ Kautsky, Benedikt (Hrsg.): Karl Marx.

Ökonomische Schriften. 4. Band, Stuttgart 1962. S. 6f.

6 Bernd Ternes: Karl Marx. Eine Einführung. Konstanz 2008.

S. 212 – 217.

7 Franz Petry: Der soziale Gehalt der Marxschen Werttheorie.

Nachdruck mit Genehmigung des Gustav Fischer Verlages.

Bonn: Verlag Willi Hammer 1984. S. 24.

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Apropos

38

Der 17-jährige Frank, der – wie schon mehrfach er-wähnt – buchstäblich in mein Leben gepurzelt ist,

kommt schelmisch grinsend und hält mir einen Textunter die Nase: «Wenn sich keine Beweisstücke für dieUnberührtheit des Mädchens beibringen lassen, sollman das Mädchen hinausführen und vor die Tür ihresVaterhauses bringen. Dann sollen die Männer ihrerStadt sie steinigen und sie soll sterben; denn sie hat eineSchandtat begangen, indem sie in ihrem Vaterhaus Un-zucht trieb. Du sollst das Böse aus deiner Mitte weg-schaffen.» «Was ist denn das, aus dem Koran?», frageich. Der Jüngling meint maliziös: «Nein, das ist aus derBibel, es steht im 5. Buch Mose1.»

Gewalt in der BibelDa regen wir uns – zu Recht – darüber auf, wenn in ei-nem islamischen Land wieder ein Mensch zum Todeverurteilt wird durch Steinigung, wie kürzlich die 43-jährige Iranerin Sakineh Mohammadi e Ashtiani wegenangeblichen Ehebruchs. Dabei steht diese Todesstrafeals Forderung in der Heiligen Schrift von uns Christen.(Im Koran kommt sie im Übrigen nicht vor…) Wenn wirgenauer in die Bibel schauen, wird auch die Gewalt ansich zum Problem. So heißt es etwa im 3. Buch Mose:«Wer des Herrn Namen lästert, der soll des Todes ster-ben; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Ob Fremd-ling oder Einheimischer, wer den Namen lästert, sollsterben.»2 Oder: «Nachdem Mose so zu den Israelitengesprochen hatte, führten sie den, der den Fluch ausge-sprochen hatte, aus dem Lager hinaus und steinigtenihn. So erfüllten sie, was der Herr dem Mose aufgetragenhatte.»3

Im 5. Buch Mose liest man: «... so willige nicht einund gehorche ihm nicht. Auch soll dein Auge ihn nichtschonen, und du sollst dich seiner nicht erbarmen undseine Schuld nicht verheimlichen, sondern sollst ihnzum Tode bringen. Deine Hand soll die erste wider ihnsein, ihn zu töten, und danach die Hand des ganzenVolks. Man soll ihn zu Tode steinigen, denn er hat dichabbringen wollen von dem Herrn, deinem Gott, derdich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführthat, auf dass ganz Israel aufhorche und sich fürchte undman nicht mehr solch Böses tue unter euch.»4 Und wei-ter: Vater und Mutter sollen «zu den Ältesten der Stadtsagen: Dieser unser Sohn ist eigenwillig und ungehor-sam und gehorcht unsrer Stimme nicht und ist ein

Schlemmer und ein Trunkenbold. So sollen ihn stei-nigen alle Leute der Stadt, dass er sterbe, und sollst alsodas Böse von dir tun, dass es ganz Israel höre und sichfürchte.»5

In den Psalmen ist zwar nicht von Steinigung, aberdoch von einer nicht minder brutalen Methode die Rede: «Wohl dem, der deine jungen Kinder packt undsie am Felsen zerschmettert!»6

Jesus und die EhebrecherinGenug der Beispiele! Sie zeigen, dass in der jüdisch-christlichen Kultur Gewalt im Allgemeinen und Steini-gung im Besonderen einst durchaus normal war. Das galtfürs Alte, aber nicht mehr fürs Neue Testament – magman nun einwenden. Fordert Jesus im «Gleichnis vonden anvertrauten Pfunden» wirklich zum Mord an den«Feinden Gottes» auf? In der Lutherbibel von 1912 heißtes jedenfalls: «Doch jene meine Feinde, die nicht woll-ten, dass ich über sie herrschen sollte, bringet her underwürget sie vor mir.»7 Im Johannes-Evangelium tauchtdann aber die berühmte Geschichte «Jesus und die Ehe-brecherin» auf: «Da brachten die Schriftgelehrten unddie Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt wor-den war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm:Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tatertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solcheFrauen zu steinigen. Nun, was sagst du? Mit dieser Fragewollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte sich undschrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckigweiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen:Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einenStein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb aufdie Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einernach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieballein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand.Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie ge-blieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Kei-ner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dichnicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!»8

Rudolf Steiner und die Entwicklung der MenschheitDer 17-jährige Frank, der – wie bei der heutigen Jugendüblich – nicht besonders bibelfest ist, staunt: «Da habenwir Christen aber einen großen Weg zurückgelegt, vonder brutalen Gewalt bis zur relativen Friedfertigkeit!»

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Apropos 68:

Ohne Islam hätten wir Christen keine Wissenschaft!

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Apropos

39

Nun – das ist der Weg, den Rudolf Steiner als Entwick-lung der Menschheit beschreibt: «Es bedeutet einen sitt-lichen Fortschritt, wenn der Mensch zum Motiv seinesHandelns nicht einfach das Gebot einer äußeren oderder inneren Autorität macht, sondern wenn er denGrund einzusehen bestrebt ist, aus dem irgendeine Ma-xime des Handelns als Motiv in ihm wirken soll. DieserFortschritt ist der von der autoritativen Moral zu demHandeln aus sittlicher Einsicht. Der Mensch wird aufdieser Stufe der Sittlichkeit die Bedürfnisse des sittlichenLebens aufsuchen und sich von der Erkenntnis dersel-ben zu seinen Handlungen bestimmen lassen. SolcheBedürfnisse sind: 1. das größtmögliche Wohl der Ge-samtmenschheit rein um dieses Wohles willen; 2. derKulturfortschritt oder die sittliche Entwicklung derMenschheit zu immer größerer Vollkommenheit; 3. dieVerwirklichung rein intuitiv erfasster individueller Sitt-lichkeitsziele.»9 Weiterführendes findet sich in SteinersHauptwerk Philosophie der Freiheit.

Ziel wird sein: «Das wichtigste Problem alles mensch-lichen Denkens ist das: den Menschen als auf sich selbstgegründete, freie Persönlichkeit zu begreifen.»10

Ein jedes Volk hat seine spirituelle AufgabeFrank ist nicht ganz zufrieden. «Wie kommt es denn,dass wir trotz dieser Entwicklung massive Probleme miteinigen Ländern und manchen Menschen hier ha-ben?», fragt er forschend. Nun, die Entwicklung verläufteben nicht gleichmäßig, sondern ganz verschieden. Ru-dolf Steiner hielt fest: «Die Erde hat verschiedene Auf-gaben durchgemacht. Es hat ja nicht nur der einzelneMensch eine Aufgabe, die ganze Erde hat fortwährendihre verschiedenen Aufgaben.»11 Zudem gilt, dass «dieVölker mit ihrer Arbeit, mit ihrem kulturellen Schaffenkeineswegs isoliert dastehen in der Weltentwickelung,im Menschheitsfortschritt. Ein jedes Volk hat seine spi-rituelle Aufgabe, es hat einen ganz bestimmten Beitragzu leisten für das, was wir den menschlichen Fortschrittnennen. Unsere Kultur ist ja heute schon eine ganzkomplizierte, und sie ist dadurch so kompliziert gewor-den, dass viele einzelne Kulturströme zusammengeflos-sen sind. Wir haben in unserem heutigen Geisteslebenund in unserem äußeren Leben einen Zusammenflussder mannigfaltigsten Völkerkulturen, die von den ein-zelnen Völkern mehr oder weniger einseitig, im Sinneihrer Mission geleistet wurden und die dann in den ge-meinsamen Strom hineingeflossen sind. Deshalb unter-scheiden sich alle einzelnen Völker voneinander, des-halb können wir bei jedem Volke von seiner besonderenMission sprechen. Und wir können fragen: Was könnenwir, die wir ja die Kulturarbeit unserer Vorfahren in un-

serer eigenen Kultur enthalten haben, was können wirheute aufweisen, das uns zeigt, was diese oder jene Völ-ker uns zu geben hatten für den gemeinsamen Men-schenfortschritt?»12

Christentum und IslamSo hat sich beispielsweise das Christentum bemüht, «indie verschiedenen anderen Religionsformen hineinzu-wachsen». Es drang «in immer neue Gebiete und Völ-kerschaften» vor. «Es war die Anpassungsfähigkeit desChristentums, die das ermöglichte. Die christliche Reli-gion dehnte sich immer mehr aus; wegen dieser Vielge-staltigkeit brauchte sie aber auch einen mächtigen Zen-tralpunkt: das ist das römische Papsttum. Alle Schäden,die später durch das Christentum hervorgebracht wor-den sind, sind mit dieser weltgeschichtlichen Missiondes Papsttums verknüpft.» Demgegenüber mussten die«semitischen Völker» aber «anders angefasst werden.Das tat Mohammed. Er hat einen ersten großen Lehr-satz aufgestellt, in dem er sagte: Alle Götter außer demEinen sind keine Götter. Nur derjenige, den ich euchlehre, ist der einzige Gott. Dieser Lehrsatz kann nur ver-standen werden als Opposition zum Christentum.» Stei-ner hielt weiter fest, «dass im Mohammedanismus jetztin bewusster Weise nicht mehr angeknüpft werden sollan die alten, noch spirituellen Religionsformen des Hei-dentums, sondern es soll nur noch durch die physischeWissenschaft der richtige Weg gefunden werden, umden physischen Plan zu erobern.»13

Ahrimanisch, aber notwendigRudolf Steiner beleuchtet den Islam – oder «Mohamme-danismus», wie er ihn hier nennt – von zwei Seiten. Dieerste: «Der Mohammedanismus ist die erste ahrimani-sche Manifestation, die erste ahrimanische Offenba-rung nach dem Mysterium von Golgatha. Der Gott Mo-hammeds, Allah, Eloha, ist ein ahrimanischer Abklatschoder Abglanz der elohistischen Wesenheiten, der Elo-him, aber monotheistisch erfasst. (…) Die mohamme-danische Kultur ist ahrimanisch, aber die Gemütsverfas-sung der Islamiten ist luziferisch.»14

Die andere Seite: Zwischen dem Christentum unddem Mohammedanismus haben in der Vergangenheit«starke Kämpfe» stattgefunden. Da hat der Letztere «et-was sehr Merkwürdiges gemacht». Der Mohammedanis-mus «hat das Christentum im Süden umgangen und(…) dann von der linken Flanke aus angegriffen». Wenner das nicht getan hätte, «wenn sich bloß das Christen-tum ausgebreitet hätte, dann hätten wir heute noch kei-ne Wissenschaft! Das religiöse Element des Mohamme-danismus ist abgewehrt worden, das ist durch Kriege

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bekämpft worden. Aber das geistige Element, das sichnicht mit religiösen Streitigkeiten befasste, sondern dasdie alte Wissenschaft fortgepflanzt hat, das ist mit demMohammedanismus nach Europa gekommen. Und das,was die Europäer da gelernt haben, das ist bis in die heu-tige Wissenschaft hineingeflossen.» So kommt Steinerzur Schlussfolgerung: «Daher haben wir heute in Europaeigentlich zweierlei in unserer Seele: Wir haben die Reli-gion, die vom Christentum angeregt worden ist, undwir haben die Wissenschaft, die vom Mohammedanis-mus angeregt worden ist, wenn auch auf Umwegen.Und das Christentum konnte sich auch hier nur so ent-wickeln, dass der Mohammedanismus es wissenschaft-lich beeinflusste.»15

Warum der Islam zu Mitteleuropa gehörtSo gesehen ist die Feststellung nicht übertrieben, dassder Islam integrierender Bestandteil dessen ist, was manchristlich-abendländische Kultur nennt – auch wenndas für viele paradox tönen mag und auch wenn das diedeutsche Bundeskanzlerin nicht zu wissen scheint, ob-wohl sie die Tochter eines Pfarrers ist, sonst hätte sie ihre effekthascherische Äußerung «Multikulti ist ge-scheitert, absolut gescheitert!» nicht gemacht. Unter«Multikulti» wird üblicherweise verstanden, dass Men-schen aus verschiedenen Kulturen friedlich zusammen-leben. Und dieser «Ansatz» ist nicht nur nicht geschei-tert, er ist der einzige, der zukunftsfähig ist. Das wurdehier bereits dargestellt, ist aber in vielen Köpfen nochnicht angekommen. Deshalb sei der Hinweis daraufnochmals erlaubt, was Rudolf Steiner als «die wichtigsteöffentliche Aufgabe der gegenwärtigen und der nächstzukünftigen Menschheit» angesehen hat, damit «dieMenschheit überhaupt weiter bestehen könne, damitsie zu wirklich sozialem innerem Erfühlen des Men-schenlebens kommen könne.» Der unsägliche Nationa-lismus und der vielfältige Gruppenegoismus müssenverschwinden. Denn: «Alte soziale Strukturen sind her-vorgegangen aus Blutsverbänden, aus der kleinen undgroßen Familie, aus der Sippe, den Klassen und so wei-ter. Die haben sich dann erweitert zu Volkszusammen-hängen. Heute zappelt die Menschheit, indem sie in einer verlogenen Weise glaubt, sich an solche Zusam-menhänge halten zu können, in Volkszusammenhän-gen, während sie im Grunde genommen längst über-wunden hat, was Volkszusammenhänge sind, währendlängst die Notwendigkeit da ist, zu anderen sozialen Zu-sammengehörigkeiten zu kommen, als sie die Blutsver-wandtschaft durch die Völker darstellt.»16

Auf diesem Hintergrund wird auch sichtbar, wie idio-tisch die Behauptungen gewisser Leute sind, die nur in

Wörtern und nicht in begrifflichen Zusammenhängendenken können – Menschen, die sich für Anthroposo-phen halten nicht ausgeschlossen – und deshalb Steiner«rassistische» und «antisemitische» Tendenzen unter-schieben. Das Gegenteil ist richtig: Er hat beispielsweiseschon sehr früh das Verhängnis des politischen Zionis-mus gesehen (obwohl er ihn noch gar nicht als solchenbenennen konnte), wie reaktionär und menschenver-derbend er ist, indem er die alte Blutsverwandtschaft ze-mentieren will. Das können wir heute jeden Tag beob-achten. Die israelischen Regierungen verletzen dauerndin erheblichem Maß das Völkerrecht, sind also krimi-nell, auch wenn das – aus falscher Zurückhaltung –kaum jemand zu sagen wagt.

Gesucht: billige Arbeitskräfte…Apropos deutsche Bundeskanzlerin: Dieser Art Politikergeht es ja nicht um die Wahrheit, sondern nur darum,wahltaktisch Stimmungen auszunützen und Sonderin-teressen zu bedienen. Sie wird sich aber hüten, diese offen anzusprechen. Schon ab 1961 warben deutscheUnternehmen auf der Basis eines Abkommens zwi-schen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei678 702 Männer und 146 681 Frauen, also insgesamt825 383 Menschen, als türkische Gastarbeiter an.17 Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt erklärte dazu im letz-ten Jahr: «Im Grunde genommen ging es (…) darum,durch Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte dasLohnniveau niedrig zu halten. Mir wäre stattdessen lie-ber gewesen, die deutschen Löhne wären gestiegen.»18

Selbstverständlich war auch die Türkei froh über dieseEntwicklung. So kamen Devisen ins Land, die demHandelsüberschuss entgegenwirkten, was wiederum diedeutsche Exportwirtschaft erfreute. Das Problem dabei:Es kamen nicht nur billige Arbeitskräfte, sondern Men-schen mit Ecken und Kanten und Bedürfnissen, bei-spielsweise die Familie auch dabei zu haben. Das allesist heute nicht viel anders. Jetzt sind allerdings nichtmehr Menschen aus Ostanatolien erwünscht, die nichtwissen, dass ein Bidet nicht zum Gemüse- und Wäsche-waschen dient, die aber für einen Hungerlohn Dreckar-beit verrichten; heute erschallt der Ruf nach «Spezialis-ten» und «qualifizierten Fachkräften», die dann imHerkunftsland fehlen. «Der Präsident des DeutschenIndustrie- und Handelskammertages (DIHK), HansHeinrich Driftmann, warnte, inzwischen fehlten derWirtschaft rund 400 000 Ingenieure, Meister und gutausgebildete Fachkräfte. Deutschland verzichte da-durch jährlich auf rund 25 Milliarden Euro Wertschöp-fung. ‹So geht uns rund ein Prozent Wirtschaftswachs-tum verloren.›»19

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Sklavenhalter-WirtschaftDas Problem dabei: Was heute als Wirtschaft auftritt, isteine Sklavenhalter-Wirtschaft. (Vgl. Apropos 64 und 65)Die Wirtschaft ist nicht dazu da, den Gewinn (einzel-ner Abzocker) zu maximieren, wie das heute üblich ist,sondern die Wirtschaft hat primär die (materiellen)menschlichen Bedürfnisse aller Menschen zu befriedi-gen. Anders ausgedrückt: Der heute herrschende Kapi-talismus, die unsoziale Marktwirtschaft, muss überwun-den werden, aber nicht durch den Staat (das führt – wiedas der Osten leidvoll gezeigt hat – zum Staatskapitalis-mus), sondern durch die von Rudolf Steiner vorgeschla-gene Dreigliederung des sozialen Organismus.

Anlass zur Suche der hier dargestellten Hintergründegab der Dreckseller Deutschland schafft sich ab des deut-schen Ex-Bundesbankers Thilo Sarrazin, der an dieserStelle schon zweimal aufs Korn genommen worden ist.Es sei hier nicht bestritten, dass im Migrations- und imSozialwesen Missstände bestehen, die beseitigt werdenmüssen. Nur wird das mit Schaumschlägereien nicht ge-lingen. Im Gegenteil: Der Herr S. bereichert sich scham-los auf Kosten von armen Teufeln. Auch dort, wo dieseUnrecht tun, indem sie den Staat mit unwahren Anga-ben betrügen, muss man sehen, dass das auch Ausflussdes sozialen und wirtschaftlichen Klimas ist. Da gibt esLeute, die in Saus und Braus leben, ohne zu arbeiten. Inder Schweiz ist kürzlich eine Studie erschienen, diezeigt, dass etwa die Hälfte der ganz großen Vermögengeerbt wurde. In wenigen Jahren sind diese verdoppelt.Nach Rudolf Steiner müssten diese Mittel nach etwa 14Jahren verschwunden sein, wenn sie nicht sinnvoll derWirtschaft und Gesellschaft zur Verfügung gestellt wer-den.

Deutschland wurde bereits abgeschafft …Im Übrigen schafft sich Deutschland nicht ab. Es wurdebereits abgeschafft, wenn man berücksichtigt, an wel-cher Arbeit es gehindert wurde. Vor über 100 Jahren hatRudolf Steiner festgestellt: «Wir haben eine ganz beson-dere Aufgabe hier in Mitteleuropa. Nichts würde es unshelfen, einseitig morgenländisch oder einseitig englischzu sein. Wir müssen das Morgenrot des Ostens und diephysische Wissenschaft des Westens zu einer großenHarmonie vereinigen. Dann werden wir verstehen, wievereinigt wird die Idee der Zukunft mit der Idee desKampfes um das Sonderdasein.»20 Welche «ahrimani-schen Umtriebe» das mit verhindert haben, schildertSteiner in seinen Zeitgeschichtlichen Betrachtungen, diekürzlich vom Berner Historiker Alexander Lüscher inhervorragender Weise neu herausgegeben wurden21:«Jetzt kann man nichts dagegen tun. Man kann einzig

die ganzen Dinge, die da vorliegen, klar zu erkennen su-chen und mit diesen Erkenntnissen wirklich leben. Manmuss immer daran festhalten, dass Gedanken wirkliche,dynamische Kräfte sind. Die Dinge klar durchdenken –das ist das Einzige, was wir jetzt tun können. Und auchwenn man nur zwei Tage lang mit diesen wahren Ge-danken lebt und sich dann vielleicht wieder durch dieschwarze Magie des Journalismus herumkriegen lässt, sosind diese zwei Tage schon eine Kraft. Dann kommtvielleicht einmal der Zeitpunkt, wo das genutzt werdenkann, indem man selber etwas bewirken kann oderdurch seinen Einfluss jemand anderen veranlassenkann, etwas zu tun. Man lese nur zum Beispiel die Geschichte des heiligen Nikolaus von Myra oder des Nikolaus von der Flüe.»22

Boris Bernstein

P.S. Eigentlich hätte hier von den soeben erschienenenMemoiren des früheren amerikanischen PräsidentenGeorge W. Bush die Rede sein sollen, von denen Uwe-Karsten Heye, Regierungssprecher unter Ex-Kanzler Gerhard Schröder, sagt: «Bush kann das Lügen nicht las-sen», und die Grundlage genug wären, ihn vors Kriegs-verbrechertribunal in Den Haag zu bringen. Die von Rudolf Steiner dargestellten Hintergründe waren mirdiesmal wichtiger.

1 Deuteronomium 22,20 – 21.

2 Levitikus 24,6.

3 Levitikus 24,23.

4 Deuteronomium 13,9 –11.

5 Deuteronomium 21,20 – 21.

6 Psalm 137,9.

7 Lukas 19,27.

8 Johannes 8,3-11.

9 Rudolf Steiner, GA 4, S. 156.

10 Rudolf Steiner, GA 3, S. 92.

11 Rudolf Steiner, GA 182, 30.4.1918.

12 Rudolf Steiner, GA 3, S. 92.

13 Rudolf Steiner, GA 92, 24.6.1904.

14 Rudolf Steiner, GA 300a, 2.1.1920.

15 Rudolf Steiner, GA 353, 19.3.1924.

16 Rudolf Steiner, GA 191, 19.10.1919.

17 Der Spiegel, 11. März 2007.

18 Helmut Schmidt, Giovanni di Lorenzo: Auf eine Zigarette mit

Helmut Schmidt, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2009,

S.132 –134.

19 Spiegel Online 16.10.2010.

20 Rudolf Steiner, GA 54, 12.10.1905.

21 Vgl. Der Europäer, Jg. 14, Nr. 6/7 (April/Mai 2010).

22 Rudolf Steiner, GA 173c, 13.1.1917.

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Das ProblemSeit längerer Zeit läuft «in den anthroposophischen Kreisen» dieDiskussion um das Problem der vermeintlichen Widersprüchezwischen dem «frühen» und dem «späten» Steiner. Sie wurdespätestens bereits in den 70er Jahren durch Lindenbergs SchriftIndividualismus und offenbare Religion eingeleitet1 und wurdedann z.B. 2003 von Ravagli und Röschert bedeutend erweitert.2

2010 erschien das Buch Wie hast du’s mit der Anthroposophie?von Taja Gut, in welchem dieses Problem eine bedeutende Rol-le spielt.3 Die Unterschiede zwischen gewissen früheren undspäteren Äußerungen Rudolf Steiners sind nicht zu leugnen.Wenn wir z.B. die Schilderung der Seele aus dem Vortrag «DerUrsprung der Seele», den Rudolf Steiner in Berlin am 3. Oktober1903 gehalten hat,4 mit der klassischen Darstellung der Theoso-phie5 vergleichen, so sind sie nicht zu übersehen. Während Stei-ner in der Theosophie deutlich zwischen dem Ätherleib, den ereben der Leiblichkeit des Menschen zuschreibt, und der Seeleunterscheidet, und diese in drei klar voneinander unterscheid-bare Stufen gliedert (Empfindungs-, Verstandes-, und Bewusst-seinsseele), spricht Rudolf Steiner in dem genannten BerlinerVortrag von der «vegetativen Seele», die «unseren ganzen Kör-per aufgebaut» hat und die Menschen mit den Pflanzen ge-meinsam haben,6 von der «animalischen Seele», die uns «dasEmpfindungs-, Begehrungs-, das Bewegungsvermögen» gibtund die den Menschen und den Tieren eigen ist,7 und schließ-lich von der «Verstandesseele», die nur dem Menschen zu-kommt, und die die Fähigkeit hat, «das Wirkliche und Wahre»zu erkennen.8 Man kann zu Steiners «Verteidigung» halten, dasser in dem genannten Vortrag bloß die Ansichten der «alten For-scher» referiere,9 aber auf der anderen Seite distanziert er sichüberhaupt nicht von ihnen und tadelt die Verwechslung desLeiblichen mit dem Seelischen, welche nach seiner späterenDarstellung im Begriff der «vegetativen Seele» eindeutig festzu-stellen ist, nicht. Die Frage ist jedoch, ob sich bei solchen be-deutenden Verschiebungen seiner Darstellungen um echte Wi-dersprüche handelt, die von Steiner bewusst vertuscht wordensind, wie z.B. Taja Gut zu behaupten scheint,10 oder um eineEntwicklung, Erweiterung, Präzisierung der Sicht, die eines Wi-derrufes nicht bedarf. Ich meine, dass sich bei den voneinanderabweichenden Äußerungen Rudolf Steiners um die zweite Mög-lichkeit handelt. Diese Behauptung lässt sich nicht allgemein«beweisen», ich möchte sie jedoch mit einigen konkreten Bei-spielen belegen. Ich werde dabei versuchen, die Vorgehenswei-se anzuwenden, welche Rudolf Steiner selbst empfohlen hat:

Wer alles bei mir überschauen wollte, der würde Einklang se-hen, wo er, da er es eben nicht überschaut, nur Widerspruchfindet.11

Der «Egoismus-Aufsatz»Vor kurzem wurde der sog. Egoismus-Aufsatz Rudolf Steiners, der1899 im Sammelband Der Egoismus (Hrsg. Arthur Dix) und (viel)später in GA 30 unter dem Titel «Der Individualismus in der Phi-losophie»12 (S. 99 –151) erschien, als eigenständige Publikation,editiert und eingeleitet von Daniel Baumgartner, herausgege-ben.13 Das Neuerscheinen dieses wichtigen Aufsatzes gab Anlass

zu einigen Diskussionen in den «anthroposophischen Krei-sen»,14 da er die Frage des Verhältnisses zwischen den Ansichtendes «frühen» und des «späten» Steiner ins grelle Licht rückt. Stei-ner scheint nämlich in diesem Aufsatz die geistige Welt und sei-ne Wesenheiten als eine bloße Erfindung des Menschengeistesabzukanzeln,15 macht sich über die «christliche Sittenlehre» undden «Christengott» lustig,16 will die ganze Welt von dem Ich desMenschen ableiten lassen,17 und zwar nicht von irgendwelchemtranszendenten, abstrakten, sondern von dem ganz konkreten,leiblichen Ich.18 Nur ein paar Jahre später aber sprach RudolfSteiner bekanntlich von der geistigen Welt und ihren Wesenhei-ten ganz anders, oft diese Wesenheiten als «Götter» bezeich-nend, indem er sie als ganz real, unabhängig vom Menschen-geist existierend darstellte und dem «Christengott» die zentraleStelle in der Evolution der Erde zuschrieb. Mehr noch, er beton-te mehrmals, dass das leibliche Ich ein quasi Phantom sei, bloßeine Vorstellung,19 bloß ein schwarzer Punkt, schwarzer Fleck,der mit jedem Schlaf ausgelöscht werde,20 und dass man nachdem «höheren Ich» bzw. «höheren Selbst»21 streben, es «erwe-cken» oder «gebären» solle.22 Schlimmer noch, es scheint, dasssich Rudolf Steiner in einen Selbstwiderspruch verwickelt, indem er auf der einen Seite die Vorstellung von Gott als bloß eineErfindung des Menschengeistes radikal verwirft, und auf der an-deren Seite in einem so zentralen Frühwerk wie Die Philosophieder Freiheit, wenn er die besondere Stellung des Gedankenlebenshervorheben und hoch preisen will, es als «Leben in Gott» be-zeichnet.23 Was ist da passiert, wie kann man solche scheinbarkrassen Widersprüche überbrücken? Diese Aufgabe wird zusätz-lich durch die Tatsache erschwert, dass Rudolf Steiner den «Ego-ismus-Aufsatz» explizit in seiner Autobiographie erwähnt, ohneeine Spur der Distanzierung von seinen damaligen Aussagen zuzeigen.24 Und Harmonie zwischen dem «frühen» und dem «spä-ten» Steiner müssen wir suchen. Er selber schrieb im besagtenAufsatz, dass unser ganzes Wesen «auf Harmonie gerichtet» ist.25

Eine Möglichkeit eine Brücke zwischen den beiden «Werkperi-oden» Steiners zu schlagen, wäre zu postulieren, dass er um 1900eine wichtige Erfahrung gemacht habe, welche ihm seine seelisch-geistigen Augen auf die Realität der Inkarnation Christi öffnete.Man kann sich dabei auf die bekannte Stelle aus Steiners Autobio-graphie berufen, welche eine solche Erfahrung eindrücklich schil-dert.26 Ein solches Argument würde zwar die andere Stellung des«späteren» Steiner zum Christentum, kaum aber seine aus der«späteren» Sicht sonderbare Behauptung des «Egoismus-Aufsat-zes», dass die geistige Welt bloß ein Erzeugnis des menschlichenGeistes ist, wie auch seine in diesem Aufsatz zum Vorschein ge-brachte Apotheose des (leiblichen) Ich erklärlich machen. DieSchwierigkeit mit dieser «Überbrückungsstrategie» besteht jedochdarin, dass Rudolf Steiner in seiner Autobiographie ziemlich ex-plizit feststellt, dass die Realität der Inkarnation Christi schon vielfrüher und zwar spätestens am Ende der 80er Jahre, vor seinemgeistigen Blick stand. Dies geht eindeutig aus seinem Bericht übersein Gespräch mit Professor (und Zisterzienser Ordenspriester)Wilhelm Neumann hervor.27 Die Schwierigkeit vertieft sich zuse-hends, wenn man bedenkt, dass Steiner in derselben Autobiogra-phie feststellt, dass die geistige Welt für ihn schon sehr früh undzwar spätestens mit ungefähr neun Jahren gleich real wie die Welt

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Das Problem des «frühen» und des «späten» Steiners

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der Sinne war.28 Wie kann er dann behaupten, dass diese geistigeWelt bloß ein Geschöpf des menschlichen Geistes ist?!

Eine Skizze der BrückeGeistige oder göttliche Weltordnung als «Geschöpf desmenschlichen Geistes»?Im Weiteren möchte ich den Versuch wagen, eine Brücke zwischen den «seltsamen» Feststellungen des «Egoismus-Aufsat-zes» und dem «späten» – anthroposophischen – Steiner skizzie-ren.29 Wenden wir uns zunächst dem Problem der Behauptungzu, dass die geistige Welt bloß ein Geschöpf des menschlichenGeistes ist. Die meisten Leser haben sicherlich bemerkt, dass ichdie Steinersche diesbezügliche Formulierung aus dem «Egois-mus-Aufsatz» (absichtlich) falsch zitiert habe. Steiner stelltenicht fest, dass die geistige Welt Geschöpf des menschlichenGeistes, sondern, dass «eine göttliche Weltordnung» ein solchesGeschöpf ist. Worin liegt der Unterschied zwischen den beidenFormulierungen? Wenn Rudolf Steiner Visionen der europäi-schen Mystiker diskutiert, so macht er darauf aufmerksam, dasstrotz ihrer Schönheit und ergreifenden Kraft der Geistesforschernüchtern feststellen muss, dass sie oft bloß Umwandlungspro-dukte der organischen Tätigkeit,30 oder umgeformte Erinnerun-gen an frühe Erlebnisse sind.31 In seiner Autobiographie stellt erdementsprechend Folgendes fest:

Beginnt man die Geist-Welt als Mystiker darzustellen, so istjedermann voll berechtigt, zu sagen: du sprichst von deinenpersönlichen Erlebnissen. Es ist subjektiv, was du schilderst.32

Und mit dieser «mystischen» Haltung kontrastiert er das-jenige, was er durch Anthroposophie beabsichtigte:

Einen solchen Geistesweg zu gehen, ergab sich mir aus dergeistigen Welt heraus nicht als meine Aufgabe. Diese Aufga-be bestand darin, eine Grundlage für die Anthroposophie zuschaffen, die so objektiv war wie das wissenschaftliche Den-ken [...].33

Wenn man dies weiß, wird unschwer einzusehen sein, dassaus der Steinerschen, nach wissenschaftlicher Objektivität inder Darstellung der geistigen Welt strebenden Sicht, die Vorstel-lungen der Götterwelt nicht nur der Mystiker, sondern auch all-gemeiner der real-historisch existierenden Religionen als bloßeProjektionen des Menschengeistes bezeichnet werden mussten.Denn ob man sich die Vorstellung des Gottvaters mit einemlangen Bart auf einem vergoldeten Throne sitzend vergegen-wärtigt, oder ob man an die Gottheiten der griechischen My-thologie oder anderer Mythologien denkt, so muss man zuge-ben, dass diese Vorstellungen mit den wirklichen geistigenWesenheiten, die an der Evolution der Menschheit real beteiligtsind, wenig Gemeinsames haben und im besten Fall als ver-sinnlichte Masken dieser Wesenheiten betrachtet werden kön-nen. In dem Vortrag «Das Wesen der Gottheit vom theosophi-schen Standpunkt», der in Berlin am 7. November 1903gehalten wurde, machte Rudolf Steiner diesen Punkt explizit:

Aber ist es nicht wahr, dass tatsächlich der Mensch sich seineGötter erschafft? Ist es nicht wahr, dass unsere Meinungenüber die Götter aus unserer eigenen Brust entspringen?34

Das Wesen des IchEs ist also verständlich, dass Rudolf Steiner die anthropomor-phischen Vorstellungen der institutionellen Religionen verwer-fen, ihre illusionäre Natur entlarven wollte. Wie konnte er aberan der Stelle des selbsterzeugten Gottes das menschliche Ich set-zen wollen, wenn er von diesem Ich sagte, dass es bloß eine Vor-stellung, ein Phantom, ein «schwarzes Loch» ist? Wie konnte erdiesem Ich die Stellung, die innerhalb der Religionen dem Gottreserviert ist, zuweisen wollen?

In der Philosophie der Freiheit trennt Rudolf Steiner scharf das-jenige, was zum leiblichen Organismus des Menschen gehörtvon seiner wahren Individualität und formuliert die frappieren-de Behauptung, dass «[d]as Individuelle in mir [...] nicht meinOrganismus mit seinen Trieben und Gefühlen, sondern [...] dieeinige Ideenwelt, die in diesem Organismus aufleuchtet [ist].»35

Wir wissen auch, dass Steiner bereits 1911 während des phi-losophischen Kongresses in Bologna deutlich darauf hinwies,dass sich das wahre Ich des Menschen nicht in seinem Kopf,sondern außerhalb seines physischen Leibes, «in der Gesetzmä-ßigkeit der Dinge» befindet.36 Ähnliche Vorstellungen des Ver-hältnisses zwischen dem Ich des Menschen und seinem physi-schen Organismus liegen auch vor z.B. in den SteinerschenSchilderungen des (bewussten) Gedankenprozesses (das Ich be-reitet durch seine Tätigkeit im Gehirn den Spiegel vor, der dasbewusste Erscheinen des Gedankens möglich macht37), oder sei-nen Schilderungen der aktiven Beteiligung der Individualitätdes Menschen an der embryonalen Entwicklung und dannpostnatalen Umformung des Leibes und insbesondere des Ge-hirns des Säuglings.38 Wenn man sich diese Schilderungen ver-gegenwärtigt, gewinnt man die Einsicht, dass das Ich des Men-schen seiner wahren Wesenheit nach etwas völlig anderes seinmuss, als das schattenhafte Wesen, das uns im gewöhnlichenLeben als unser «Ich» bekannt ist, ein Wesen, das sich jedeNacht verliert und kaum die Kraft hat, einfache charakterologi-sche Anlagen umzuformen, geschweige denn Gottes Thron zuusurpieren. Diese Einsicht kann wesentlich vertieft, aber auchkonkretisiert werden, wenn man sich an jene markante Stelledes Zyklus Die Bhagavad Gita und die Paulus Briefe erinnert, inwelcher Rudolf Steiner die Bedeutung der Vision des WesensKrishnas, welche dem Arjuna auf seine Bitte gegönnt wird, er-läutert.39 Rudolf Steiner zitiert die Worte des 11. Gesanges derBhagavad Gita, also des Momentes, in welchem Krishna denWunsch Arjunas erfüllt und sich ihm in all seiner Herrlichkeitoffenbart. Arjuna ist durch diese Vision überwältigt und spricht:

Die Götter schau ich all in deinem Leib, o Gott; so auch dieScharen aller Wesen [...]. Mit vielen Armen, Leibern, Mün-dern, Augen seh ich dich, überall, endlos gestaltet, nicht En-de, nicht Mitte und auch Anfang nicht seh ich an dir, o Herrdes Alls. [...].40

Es folgten noch viele Verse, die das Staunen Arjunas in An-blick dieses Wesens und sein Unvermögen, es zu fassen zumAusdruck bringen. Und dann kommt eine völlig unerwarteteund schockierende Wende: Rudolf Steiners Kommentar zu die-ser Szene. Er lautet:

So spricht Arjuna, wenn er allein ist mit dem, das sein eigenesWesen ist, wenn ihm dieses eigene Wesen objektiv erscheint.41

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Diese Worte tönen wie Wahnsinn: Die Vision des höchstenGottes soll die Vision des eigentlichen Wesens des Menschensein! Ist es nicht ein Irrtum? Hat Rudolf Steiner nicht zufälliger-weise einen grundlegend falschen Eindruck erweckt? Er lässtaber im weiteren Verlauf des Vortrages keinen Zweifel darüber,dass dieser merkwürdige Ausspruch seine Intention korrekt zumAusdruck bringt, und er warnt ausdrücklich davor, diese Wahr-heit mit Alltagsgefühlen zu empfangen:

Denn es gibt nichts, was den Menschen in größere Gefahrbringen könnte, als wenn er heranbrächte an diese Worte desArjuna ein Gefühl, wie er es sonstwie habe könnte im Leben.Würde er irgendein solches Gefühl des Alltagslebens heran-bringen an das, was er da ausspricht, würde das nicht ein ganzEigenartiges sein, würde er das nicht empfinden als das größ-te Weltengeheimnis, dann wäre Wahnsinn, Größenwahn eineKleinigkeit gegen die Krankheit, in die er verfiele durch einHeranbringen der gewöhnlichen Empfindungen gegenüberKrishna, das heißt seinem eigenen höheren Wesen.42

Dieses Weltengeheimnis wird vielleicht verständlicher gemacht durch jene Äußerungen Rudolf Steiners, die den Men-schen als die vierte Hierarchie der geistigen Wesenheiten charak-terisieren.43 Im Vortrag vom 11. Januar 1924 schildert Steiner,dass der Mensch ursprünglich die Stellung der geistigen Intelli-genz der Erde (so wie andere Geisteswesen Intelligenzen andererWeltkörper sind) hatte, die Aufgabe erhalten hatte, in das, wassich auf die Stellung der Erde im Kosmos bezieht, regelnd, ord-nend einzugreifen.44 Der Mensch hat diese hohe Stellung durchseine «kosmische Sünde» verloren, was dazu führte, dass dieSonne (mit ihren geistigen Wesenheiten) diese Aufgabe über-nehmen musste, sich somit zum «unrechtmäßigen Fürst dieserWelt» entwickelnd.45 Es ist tief bewegend zu lesen, dass die ko-pernikanische Weltanschauung nur dadurch wahr wurde, dass«der Mensch eben nicht das geworden ist auf der Erde, was erauf der Erde hätte werden sollen.»46

Solche Schilderungen lassen ahnen, wie hoch die eigentlichemenschliche Wesenheit im geistigen Kosmos einzuordnen ist.Sie machen somit die eingangs (vgl. Endnote 17) zitierte For-mulierung des «Egoismus-Aufsatzes» verständlich:

Darauf kommt es in dieser Darstellung an, zu zeigen, in wel-cher Weise sich das Ich den Machtbereich wieder zurücker-obert, den es im Verlauf der abendländischen Gedankenent-wicklung an ein selbstgezeugtes Geschöpf abgetreten hat.

Der Mensch ist seinem ursprünglichen Wesen nach ein Gottund es ist von entscheidender Wichtigkeit, dass er diese seineWürde wieder erobert.47

Das leibliche oder das leibhafte Ich?Man könnte gegen meine Interpretation einwenden, dass sievöllig ausser Acht die zentrale Tatsache lässt, dass Rudolf Steinerin seinem Aufsatz vom leiblichen Ich sprach, dass er also unmög-lich die hier kursorisch angedeuteten tiefen geistigen Dimensio-nen des menschlichen Wesens meinen konnte. Nun, den aller-meisten Lesern ist sicherlich aufgefallen, dass ich mir in derFormulierung «leibliches Ich» nochmals erlaubt habe, Steiner(absichtlich) falsch zu zitieren: er sprach in seinem Aufsatz

nicht vom «leiblichen», sondern vom «leibhaften Ich». Waskann wohl der Unterschied zwischen diesen zwei scheinbar un-bedeutend unterschiedlichen Formulierungen sein?

Nirgends in seinem Werk hat Rudolf Steiner von einem «leib-lichen Ich» gesprochen, denn ein solches Ding existiert nicht.Nicht nur hat das Ich (in seinem Ursprung) nichts mit den dreileiblichen Gliedern des Menschen (physischer Leib, Ätherleib,Empfindungsleib) zu tun, es steht auch eindeutig über den dreiseelischen Menschengliedern (Empfindungsseele, Verstandes-bzw. Gemütsseele, und Bewusstseinsseele), ist also rein geistigerNatur.48 Was wollte denn Rudolf Steiner mit dem Ausdruck«leibhaftes Ich» zum Ausdruck bringen?

Es ist wichtig in diesem Zusammenhang, sich darauf zu be-sinnen, dass er deutlich das Ich-Bewusstsein bzw. die Ich-Vorstel-lung vom wesenhaften Ich trennte. Dies kam besonders deutlichzum Vorschein im bereits erwähnten Zusatz zu der 2. Auflageder Philosophie der Freiheit:

Innerhalb des Eigenwesens des Denkens liegt wohl das wirk-liche «Ich», nicht aber das Ich-Bewusstsein. Dies durchschautderjenige, der eben unbefangen das Denken beobachtet. Das«Ich» ist innerhalb des Denkens zu finden; das «Ich-Bewusst-sein» tritt dadurch auf, dass im allgemeinen Bewusstsein sichdie Spuren der Denktätigkeit [...] eingraben. (Durch die Lei-besorganisation entsteht also das Ich-Bewusstsein. Man ver-wechsele das aber nicht etwa mit der Behauptung, dass daseinmal entstandene Ich-Bewusstsein von der Leibesorganisa-tion abhängig bleibe. Einmal entstanden, wird es in das Den-ken aufgenommen und teilt fortan dessen geistige Wesenheit.Das «Ich-Bewusstsein» ist auf die menschliche Organisationgebaut.49

Ähnliche Formulierungen findet man auch an anderen Stel-len der Gesamtausgabe. Man kann die obige Beschreibung sodeuten, dass das «Ich-Bewusstsein» in der jetzigen Inkarnationeines Menschen entsteht. Das hätte aber zur Folge, dass mannach jeder Inkarnation ein neues (und anderes) «Ich-Bewusst-sein» im Leben nach dem Tode hätte, was eindeutig absurd ist.Was kann also Rudolf Steiner mit der Formulierung «Einmalentstanden, wird [das Ich-Bewusstsein] in das Denken aufge-nommen und teilt fortan dessen geistige Wesenheit» meinen?Die Schwierigkeit löst sich auf, wenn man die Tatsache berück-sichtigt, dass das Ich-Bewusstsein des Menschen nicht heuteoder gestern, sondern in der fernen lemurischen Vergangenheitentstanden ist. In seiner Beschreibung dieses Schlüsselmomentsder Evolution des Menschen in seiner Geheimwissenschaft weistRudolf Steiner darauf hin, dass wenn die «Geister der Form» denMenschen «mit dem Funken aus ihrem Feuer» im Erdenleben, al-so während der leiblichen Inkarnation, beschenkten, trat fürden Menschen eine wesentliche Veränderung nicht nur für dieZeit seines Erdenlebens (das Ich wurde in ihm «entfacht»), son-dern auch für seine leibfreie Existenz ein:

Vor diesem Entwickelungspunkte seines Wesens hatte derMensch gegenüber der geistigen Welt keine Selbständigkeit.Er fühlte sich innerhalb dieser geistigen Welt nicht wie eineinzelnes Wesen, sondern wie ein Glied in dem erhabenenOrganismus, der aus den über ihm stehenden Wesen sich zu-sammensetzte. Das «Ich-Erlebnis» auf Erden wirkt nun auch

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in die geistige Welt hinein nach. Der Mensch fühlt sich nun-mehr auch in einem gewissen Grade als Einheit in dieserWelt. Aber er empfindet auch, dass er unaufhörlich verbun-den ist mit derselben Welt.50

Der Ausdruck «leibhaftes Ich» erweist sich also auch im Sinnevom «späten» Steiner als durchaus zutreffend: das Bewusstseinder Individualität des Menschen, seines Ichs, entzündet sich amphysischen Leibe, ist «leibhaft». Man hat es also mit zwei indivi-dualisierenden Prozessen zu tun: zum einen mit der Erweckungder Ich-Vorstellung an dem jeweiligen physischen Leibe der ge-genwärtigen Inkarnation; zum anderen, und diesem Prozess vor-rangig, mit der Entstehung des individualisierten Seelenlebens, deswesenhaften Ichs durch die Begabung des im physischen Leibinkarnierten Menschen mit dem «Ich-Funken», was zur Grund-lage des individuellen seelischen Erlebens im Leben sowohlwährend der physischen Inkarnation, wie auch in dem entkör-perten Zustand wurde. Man erkennt jetzt wie die oben zitierteStelle aus der Philosophie der Freiheit, welche die Entzündung desIch-Bewusstseins am Leibe beschreibt, nichts anderes als einephilosophische Umschreibung jenes zentralen Momentes derIch-Begabung des Menschen durch die Geister der Form dar-stellt! Die Harmonie zwischen dem «frühen» und dem «späten»Steiner ist perfekt.

Der «frühe» und der «späte» SteinerEs zeigt sich also, dass – zumindest im Falle des «Egoismus-Auf-satzes» kein inhaltlicher Bruch zwischen dem «frühen» und dem«späten» Steiner auszumachen ist. Um den Einklang zwischenseinen beiden Werkphasen zu finden, muss man einfach Steineraufmerksam und vor allem umfassend lesen bzw. studieren.51

Es zeigt sich aber auch, so hoffe ich, dass man Steiner sehr ge-nau lesen muss. Seine Formulierungen sind, vielleicht trotz des gegenteiligen oberflächlichen Eindrucks, ungewöhnlich präzisund scharf. Und dennoch, es ist nicht zu leugnen, dass man beidem «frühen» Steiner nicht die «okkulten» bzw. «esoterischen»Inhalte des «späten» Steiner findet. Wieso eigentlich? Dies kannwohl nicht an den radikalen Unterschieden seiner «frühen»und «späten» Erfahrungen liegen. Aufgrund Steiners Schilde-rungen in seinem Mein Lebensgang ist es schließlich hinreichendklar, dass er mit der Wirklichkeit der geistigen Welt bereits sehrfrüh bestens vertraut war. Man muss zudem bedenken, dass die Unterscheidung zwischen dem «frühen» und dem «späten»Steiner nicht durch eine zwischen dem «jungen» und dem «al-ten» Steiner ersetzt werden kann: im Jahr 1900 war Steiner be-reits 39. Hat sich tatsächlich Steiners Seelenverfassung inner-halb von zwei Jahren (zwischen dem «Egoismus Aufsatz» 1899und Der Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens ...1901) so grundlegend geändert, dass er die Inhalte seiner Schrif-ten so radikal umkrempeln musste/konnte? Man kann diese Zäsur eigentlich noch schärfer ziehen. Denn es ist berechtigt zu behaupten, dass die erste «esoterische» Schrift Rudolf Stei-ners bereits am 28. August 1899 (der Aufsatz «Goethes geheimeOffenbarung» veröffentlicht im Magazin für Literatur 52) erschie-nen ist, also praktisch parallel zum «Egoismus-Aufsatz». Wennaber die Gründe für Steiners «esoterische Wende» nicht in einerradikalen Veränderung der Seelenverfassung Rudolf Steiners (innerhalb einiger Monate) liegen (können), was hat ihn dazubewogen, die Inhalte, die so lange in seiner Seele lebten, zu-

rückzuhalten und erst um 1900 sie der Welt anzuvertrauen?Diese bedeutende Frage muss hier offen gelassen werden.

Marek B. Majorek

Autorennotiz Marek B. Majorek:Geboren 1954 in Warschau, Polen. Studium der Psychologie und

Philosophie in Warschau und in Sydney. 2001 Promotion in Philo-

sophie an der Uni Basel. 1991– 2009 Englisch- und seit der Promoti-

on auch Philosophielehrer an der Rudolf Steiner Schule Basel.

2004 – 2006 Lehrauftrag am Philosophischen Seminar Uni Basel.

Zahlreiche Vorträge und Publikationen.

1 Lindenberg, Christoph: Individualismus und offenbare Religion. Ru-dolf Steiners Zugang zum Christentum. Stuttgart: Verlag Freies Geis-tesleben 1970 (erweiterte Neuausgabe 1995). Vgl. Taja Gut, S. 74.

2 Ravagli, Lorenzo und Röschert, Günter: Kontinuität und Wan-del: zur Geschichte der Anthroposophie im Werk Rudolf Steiners.Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, 2003.

3 Gut, Taja: Wie hast du’s mit der Anthroposophie? Eine Selbstbefra-gung. Dornach: Pforte 2010.

4 In GA 52, S. 27– 40.5 Abschnitt IV («Leib, Seele und Geist») des Kapitels «Das Wesen

des Menschen».6 GA 52, S. 34.7 ebd., S. 35.8 ebd., S. 36f.9 vgl. ebd., S. 34.

10 vgl. z.B. Gut, a.a.O., S. 46.11 GA 28, Faksimile nach S. 392.12 Was der Intention Rudolf Steiners entspricht (vgl. Mein Lebens-

gang: «Mir fiel für dieses Buch [Der Egoismus] die Darstellungdes ‹Egoismus in der Philosophie› zu. Nun trägt mein Aufsatzdiese Überschrift nur deshalb, weil der Gesamttitel des Bucheses forderte. Diese Überschrift müsste eigentlich sein: ‹Der Indi-vidualismus in der Philosophie›.»

13 Rudolf Steiner: Das integrale Ich. Der Egoismus in der Philosophie,herausgegeben und eingeleitet von Daniel Baumgartner, Ru-dolf-Steiner Verlag, Dornach 2009.

14 vgl. z.B. Kovce, Philip: «Das personale Ich», in: Das Goetheanum17/2010 (23.4.), S. 8 – 9, und Darvas, János: «Radikaler Individua-lismus», in: Das Goetheanum 21– 22/2010 (21.– 28.5.), S. 8 –10.

15 «Eine göttliche Weltordnung ist ein Geschöpf des menschli-chen Geistes. Nur ist sich der Mensch nicht klar darüber, dassder Inhalt dieser Weltordnung aus seinem eigenen Geiste ent-sprungen ist. Er verlegt ihn daher nach außen und ordnet sichseinem eigenen Erzeugnis unter.» (GA 30, S. 101).

16 «In der christlichen Sittenlehre zeigt sich fast noch klarer alssonst das Schiefe dieser Weltanschauung [gemeint ist derchristliche Glaube]. [...] Wenn ein solches Urwesen wie derChristengott angenommen wird, so bleibt es unverständlich,wie das Gebiet des Handelns in zwei Reiche zerfallen kann: indas des Guten und das des Bösen.» (ebd., S. 122). vgl. auchebd. S. 121, 127.

17 «Darauf kommt es in dieser Darstellung an, zu zeigen, in wel-cher Weise sich das Ich den Machtbereich wieder zurückerobert,den es im Verlauf der abendländischen Gedankenentwicklungan ein selbstgezeugtes Geschöpf abgetreten hat.» (ebd., S. 140).

18 «Es scheint nach diesen Ausführungen fast überflüssig, zu sa-gen, dass mit dem Ich nur das leibhaftig reale Ich des Einzel-nen und nicht ein allgemeines, von diesem abgezogenes ge-meint sein kann.» (ebd., S. 151).

19 z.B. in GA 67, S. 310; GA 115, S.128 –130; GA 137, S. 89f.

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

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Der Kalender 1912/13

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20 z.B. in GA 67, S. 57; GA 82, S. 189.21 GA 10, S. 154; GA 13, S. 327, 332; GA 54, S. 224, 442;

GA 139, S. 97f. usw.22 GA 8, S. 24, 36, 49, 53; GA 10, S. 35; GA 30, S. 94; GA 58,

S. 231 usw.23 «Das gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt, er-

greift somit der Mensch in seinem Denken. Das mit dem Ge-dankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich dasLeben in Gott.» (GA 4, S. 250).

24 GA 28, S. 407– 409.25 GA 30, S. 100.26 «In der Zeit, in der ich die dem Wort-Inhalt nach Späterem so

widersprechenden Aussprüche über das Christentum tat, war esauch, dass dessen wahrer Inhalt in mir begann keimhaft vor mei-ner Seele als innere Erkenntnis-Erscheinung sich zu entfalten.Um die Wende des Jahrhunderts wurde der Keim immer mehrentfaltet. Vor dieser Jahrhundertwende stand die geschildertePrüfung der Seele. Auf das geistige Gestanden-Haben vor demMysterium von Golgatha in innerster ernstester Erkenntnis-Feierkam es bei meiner Seelen-Entwickelung an.» (GA 28, S. 366).

27 GA 28, S. 126.28 «Denn die Wirklichkeit der geistigen Welt war mir so gewiss

wie die der sinnlichen» (GA 28, S. 22).29 Schon aufgrund der üblichen räumlichen Einschränkungen ei-

nes Zeitschrift-Artikels muss dieser Versuch eben lediglich eineSkizze bleiben.

30 GA 79, S. 92f; GA 84, S. 183f.31 GA 72, S. 316f; GA 238, S. 20f; GA 322, S. 49f.32 GA 28, S. 409.33 ebd.34 GA 52, S. 52 (meine Hervorhebung, M.B.M.). Es ist übrigens

äußerst interessant, die scharfen Vorwürfe Steiners an dieAdresse der christlichen Sittenlehre, welche er in seinem Auf-satz formulierte, aus der heutigen Perspektive zu bewerten. Ha-ben die jüngsten Skandale innerhalb der katholischen Kirchenicht mit ganzer Vehemenz offenbart, dass die ethischenRichtkräfte, welche sich aus den christlichen religiösen Vorstel-lungen ergeben, nicht tragfähig sind, um die wahrhaft sittlicheLebenshaltung zu stützen?

35 GA 4, S. 163f.36 GA 35, S. 139. vgl. auch GA 18, S. 607, wo Rudolf Steiner selbst

diese Stelle zitiert und z.B. GA 162, S. 29ff.

37 vgl. z.B. GA 151, S. 73f.38 vgl. z.B. GA 72, S. 47; GA 127, S. 62f; GA 199, S. 81.39 GA 142, S. 70f.40 ebd., S. 70.41 ebd., S. 71.42 ebd., S. 72.43 vgl. GA 233a, S. 23, 38, 39, 50, 56, 60; GA 291, S. 228 – 231.44 GA 233a, S. 56.45 ebd., S. 60. vgl. auch ebd., S. 63.46 ebd., S. 66.47 Rudolf Steiner weist auf diese Tatsache mehrmals hin, so z.B.

wenn er vom sich inkarnierenden Menschen als vom physischumkleideten Wesen, «das den Gott in sich trägt» spricht (GA233a, S. 160), oder in diesen gut bekannten Worten des Grund-steinspruches: «...Wo in waltendem/ Weltenschöpfer-Sein/ Daseigne Ich/ Im Gottes-Ich/ Erweset...» (z.B. in GA 233, S. 159).Man könnte argumentieren wollen, dass dieser göttliche Statusnicht dem menschlichen Ich, sondern erst seinen höheren We-sensgliedern: dem Geistselbst, Lebensgeist, und insbesonderedem Geistesmenschen zukommt und somit die obigen Ausfüh-rungen nichts mit dem «Egoismus-Aufsatz», der ausschließlichvom Ich des Menschen handelt, zu tun haben. Ich glaube, einesolche Auffassung wäre falsch. Überdies muss betont werden,dass eine Aufteilung des menschlichen höheren Wesens in diedrei soeben erwähnten Glieder Rudolf Steiner erst in seinerTheosophie vollzogen hat, dass sie also für das Verständnis derIntentionen des «Egoismus-Aufsatzes» irrelevant ist.

48 vgl. GA 9, Kapitel «Das Wesen des Menschen», S. 24 – 60. 49 GA 4, S. 148f.50 GA 13, S. 243f.51 Ein sehr wichtiges Licht auf das Problem der vermeintlichen

Widersprüche in Steiners «frühen» und «späten» Behandlungvon solchen Persönlichkeiten wie z.B. Ernst Haeckel, CharlesDarwin und Friedrich Nietzsche werfen seine Äußerungen ausdem Vortrag vom 17. Dezember 1903 (Berlin), in welchem Ru-dolf Steiner von der Notwendigkeit der Überwindung der «Kin-derkrankheiten des Widerlegens» der Ansichten, mit welchenman nicht einverstanden ist, spricht (in GA 52, S. 123 –125).Die Konsequenzen dieser Äußerung für die Interpretation dergenannten Widersprüche aufzuzeigen, wäre aber die Aufgabefür einen eigenständigen Aufsatz.

52 GA 28 (Dornach 1982), S. 481.

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

D er Europäer-Kalender schließt sich an einen Impuls an,der von wesentlicher Bedeutung für die Zukunft ist. Ge-

naueres über den auch heute sehr aktuellen Kalenderimpulssoll in einem weiteren Beitrag ausgeführt werden. Hier könnenvorläufig nur einige Informationen zur Entstehung dieses Ka-lenders gegeben werden.

Im Frühjahr 2011 werden hundert Jahre vergangen sein,seit Imme v. Eckardtstein die Möglichkeit einer Erneuerungdes Kalenders, durch ihre Frage an Rudolf Steiner, wie ein Ka-lender für die Zukunft aussehen könnte, eröffnete.

Es war im kleinen Küstenort Portorose (südwestlich vonTriest), der von Rudolf Steiner und Marie v. Sivers, im Frühjahr1911 mehrere Monate als Rückzugsort genutzt wurde, wo Im-me v. Eckardtstein die entscheidende Frage stellte. Sie war esauch, die für das Quartier in Portorose gesorgt hatte.

Dort führte Rudolf Steiner mit ihr Gespräche, in denen erdie Aufgabe stellte, neue geisteswissenschaftliche Einsichtenin die zwölf Regionen des Tierkreises und deren imaginativeGestaltung zu realisieren. Die einzige dazu bekannte Äuße-rung von Imme v. Eckardtstein: «Die Aufgabe wurde mir mit

Der Kalender 1912/13 und seine Bedeutung für die ZukunftHinweise zum neuen Europäer-Kalender

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Der Kalender 1912/13

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einigen Bleistiftstrichen skizziert, nähere Mitteilungen erhielt ichin einer Reihe von Stunden … Jedes Bild steht da für eine kosmi-sche Epoche.»1 Imme v. Eckardtstein wurde in einem Privat-studium von Rudolf Steiner für die Aufgabe geschult, die Er-denevolution in Beziehung zu den Tierkreiskräften zu studieren.Diese Schulung bezeichnete sie in einem Brief als heutigeKlassenstunden. Dann gab er ihr die Aufgabe, sich mit denTierkreisbildern zu beschäftigen. Bei dieser Arbeit waren MarieSteiner und Alexander Strakosch anwesend. In einem Vor-trag beschrieb Margot Rössler diese Aufgabenstellung ge-nauer:

«… Imme v. Eckardtstein [hatte] die Aufgabe, sich mit der auf-gehenden Sonne vor einem Tierkreis-Bild als Erlebnis zu beschäfti-gen, dann dieses Bild in die Seele hereinzuholen, es mit der innerenSonne zu beleuchten, um wirklich zu einem geistigen Bild diesesSinnbildes zu kommen, das durch die Meditation in der eigenen See-le wie aufersteht.»2

Von diesen Aufgaben her sind die Bilder zum Tierkreis imKalender 1912/13 zu verstehen. So ergibt sich die Notwendig-keit, den Tierkreis zweifach zu erleben. Einmal entgegen demSonnengang, als Erdenevolution durch die Tierkreiskräfte undzum Anderen im Sonnengang des Jahreslaufes vor dem Tierkreis.

Dieser Zusammenhang wurde auch durch den zweifachenTierkreis im Modellbau zu Malsch3 angedeutet.

Der Kalender 1912/13 entstand in einer Zeit der Auseinan-dersetzungen und beginnenden Trennung von der Theosophi-schen Gesellschaft unter Annie Besant, die sich auch an derabrupten Absage des Kongresses in Genua im September 1911zeigte. Der Kampf um den Krishnamurti-Humbug hatte einge-setzt. Im Spätjahr 1911 war der Versuch einer Stiftung für eineGesellschaft für theosophische Art und Kunst durch Rudolf Steinererfolgt. In deren einzigen Sitzung am 15. Dezember 1911 wur-de die Herausgabe des Kalenders beschlossen. Dieser beinhal-tet besonders durch seine neue Datierung eine Kalenderreformvon allergrößter Bedeutung. Der Beginn des Kalenders ist die ers-te Aprilwoche, die eine neue Jahreszählung beinhaltet. Dasneue Kalenderjahr beginnt mit der Geburt des ICH (der 3. April 33ist nach geisteswissenschaftlichen Ergebnissen Todestag JesuChristi). So stand auf dem Kalender 1912/13: Im Jahre 1879nach des ICH Geburt. Diese neue Jahreszählung findet sichauch auf der Urkunde zur Grundsteinlegung des ersten Goe-theanums. Dort heißt es:

Gelegt vom JBV (Johannesbauverein) für die anthroposophischeArbeit am 20. Tage des Septembermonats 1880 n.d.M.v.G. (nachdem Mysterium von Golgatha), d.i. 1913 nach Christi Geburt.

Es wurde von Rudolf Steiner auf diese Tatsache der erneuer-ten Jahreszählung, im Zusammenhang mit dem Erscheinendes Kalenders mehrfach hingewiesen. Die hinzugefügten Tier-kreisbilder waren von Imme v. Eckartstein gestaltet. Das Ka-lendarium wurde von Rudolf Steiner zusammengestellt. Es warbisher nicht bekannt, welche Quellen Rudolf Steiner für dasKalendarium der Namenstage heranzog. Eine dieser Quellen,die sich in der Privatbibliothek Rudolf Steiners befindet, konn-te jetzt gefunden werden.4 Eine weitere Quelle zur Erstellungdes Kalendariums wird noch geprüft.

Die benutzten historischen Quellen des Kalendariums dage-gen sind bekannt.5 Der zweite Teil des Kalenders 1912/13 be-stand aus dem anthroposophischen Seelenkalender, der heuteweit verbreitet ist.

Eine Art Vorläufer zum neuen Kalender findet sich bei MabelCollins in dem 1895 erschienenen Buch The Story of the Year.6

Über den Seelenkalender, der den zweiten Teil des Kalen-ders von 1912/13 bildet, ist bereits sehr viel Studienmaterialvorhanden, über den ersten Teil dagegen gibt es kaum genaue-re Untersuchungen. Da er bisher nicht ausführlich betrachtetwurde, wird im nächsten Beitrag darauf näher eingegangen.

Darüber hinaus soll auf die Menschen geschaut werden, diemutig an den Aufgaben eines neuen Kalenders tätig waren undauch auf diejenigen, die es heute tun. Genannt seien hier: Eli-sabeth Vreede, Joachim Schultz, Lili und Eugen Kolisko, FranzRulni, Emil Funk, Suso Vetter, Werner Kehlert, Margot Rössler,Walther Bühler, Wilhelm Hoerner und Christine Cologna. DieArbeit dieser Menschen hat Voraussetzungen dafür geschaffen,einen Kalender zu erhalten, der den Bedürfnissen und Anfor-derungen für die Entwicklung der Zukunft gerecht wird.

Carsten Tiede, Tübingen

1 Aus einem Brief an Otto Daeglau, Breslau, 13.12.1925.

2 [zit. nach S. Vetter, Tierkreisimaginationen, Dornach 1989,

S. 13, Fußnote 1].

3 Vortrag von Margot Rössler 4.6.1969, Stuttgart, unveröffent-

lichtes Typoskript.

4 Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Heft 37/38, 1972,

S.32.

5 Drechslers Kalenderbüchlein, Katechismus der Chronologie, 3.

Aufl., Leipzig, 1881,166 S. (Siehe auch Beiträge, Heft 114/115,

1995, S. 88ff.)

6 Es gibt einen Hinweis auf die deutsche Herausgabe dieses

Buches von Mabel Collins an Rudolf Steiner; Brief vom 8. Fe-

bruar 1912 – dt. Ausgabe 1904; 1912 unter dem Titel Wenn die

Sonne nordwärts geht, wiedererschienen, und Die Geschichte des

Jahres, zweisprachig neu herausgegeben von Thomas Meyer,

2001.

Dezemberbild im Kalender 1912/13

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Peter Selgs Vreedebuch

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Peter Selg: Elisabeth Vreede (1879 –1943). Verlag des Ita Wegman Instituts, Arlesheim 2009341 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-905919-14-1, Verkaufspreis: 55 CHF / 39 EUR

Ein Beitrag zur Rehabilitierung Elisabeth VreedesEine umfängliche Würdigung Elisabeth Vreedes war längstüberfällig. Umso erfreulicher, dass Peter Selg sich der Sache an-genommen hat. In aufwendigen Recherchen hat er die histori-schen Dokumente (Zeitzeugenberichte, Briefe, Mitschriftenetc.) zusammengesucht und ein Buch verfasst, welches anVreedes Wirken für die anthroposophische Bewegung erin-nert. Elisabeth Vreede, in Den Haag geboren, studierte Mathe-matik, Astronomie und Philosophie. Mit 24 Jahren begegnetesie Rudolf Steiner und hörte einen Großteil seiner Vorträge. Siezog zunächst nach Berlin und später nach Dornach, wo siebeim Bau des ersten Goetheanums mitarbeitete. Sie richtetezudem das «Rudolf Steiner Archiv am Goetheanum» ein, ent-faltete eine reiche Vortragstätigkeit im In- und Ausland undleitete die Mathematisch-Astronomische Sektion der FreienHochschule für Geisteswissenschaft. Einige ihrer Schriftenwurden posthum verlegt.

Verdienstvoll ist Selgs Buch allein schon deshalb, weil es ei-nen Beitrag zur Rehabilitierung Elisabeth Vreedes leistet.1 Dievielseitig gebildete und sozial sehr engagierte Persönlichkeitmusste in der Zeit nach 1925 viel Unrecht erdulden. RudolfSteiner, der Vreede überaus schätzte, hatte sie an der Weih-nachtstagung 1923 in den Vorstand berufen, doch nach sei-nem Tod wurde sie sukzessive ihrer Mitbestimmungsrechteenthoben und 1935 (ebenso wie Ita Wegman) aus dem Vor-stand und zugleich aus der Anthroposophischen Gesellschaftausgeschlossen. Vreede, die damit nahezu ihre gesamte Ar-beitsgrundlage verlor, hatte unter diesem Beschluss noch stär-ker zu leiden als Ita Wegman, wenngleich sie ihr Leid mit Humor trug, ohne zu verbittern. Die von Selg gesammeltenAufzeichnungen zeugen überdies von der Klarsichtigkeit, Inte-grität und Geradlinigkeit Vreedes, die sich bei aller erlittenenSchmach ihre innere Souveränität zu erhalten wusste. Somitträgt Selg zur Vergangenheits-Aufarbeitung der Anthroposo-phischen Gesellschaft bei. Ohne irgendetwas zu beschönigen,bringt er die vielfältigen Intrigen, Verleumdungen, Schikanenund Demütigungen zur Sprache, die von Albert Steffen, Gue-nther Wachsmuth und Marie Steiner ausgingen.

Elisabeth Vreede und Jaques de MolayErschütternd wirkt Selgs Buch allerdings nicht nur durch dieberichteten Fakten, sondern auch durch einen Vergleich, dersich angesichts einer nicht näher belegten Aussage über Vree-des karmischen Hintergrund aufdrängt. Gleich im Vorwortstößt man auf eine Äußerung, die nicht weiter ausgeführt wird,jedoch untergründig beim Lesen des gesamten Buches mit-schwingt. Rudolf Steiner, so Selg, habe mit Vreede einmal überihre (sehr wahrscheinlich) letzte Inkarnation gesprochen. Siesei eine «leitende Persönlichkeit der Templergemeinschaft» ge-wesen – mit «schwerem, ja furchtbarem Schicksal». (S. 12) Um

welche Persönlichkeit es sich konkret handeln soll, erfährt manim Anmerkungsteil: «Jakob von Molay († 18.3.1314, als Ketzerverbrannt auf der Seine-Insel von Paris).» Als Gewährspersonfür diese Karmaangabe Steiners wird Willi Sucher genannt.

Woher diese Mitteilung stammt, die Selg als verbürgte Tat-sache hinstellt, verrät er in seinem Buch nicht. Und gerade in-dem er sie nicht aufgreift, nicht bewusst thematisiert, wirkt sieumso stärker auf den Leser. Wenn Selg zum Beispiel schreibt,dass die gegebene Situation in Dornach für Vreede «Elementeeines Martyriums» aufwies (S. 203) oder dass Vreede als «Ketzerverklagt» worden sei (S. 163), dann arbeitet er ja unterschwel-lig mit jenen Analogien. Dies entbehrt – bei all dem Makabren– nicht einer gewissen humoristisch-satirischen Komponente.So käme Albert Steffen hierbei die Rolle eines Inquisitors zu,der freilich nicht mit den Methoden der alten Inquisition, abermit anderen wirksamen Mitteln dafür sorgt, dass bestimmteihm unliebsame Menschen ausgeschaltet werden.

So treffend der Vergleich mit dem Inquisitionsgeschehen invieler Hinsicht ist, so fragt sich andererseits, ob es die Intentiondes Autors war, derartige Entsprechungen aufzuzeigen. Ein be-wusster Umgang mit solchen Parallelen – ganz unabhängig vonirgendwelchen Reinkarnationsaspekten – wäre hier wünschens-wert gewesen. Dasselbe gilt für die Behauptung, Elisabeth Vree-de sei die wiederverkörperte Individualität des Jaques de Molay.Empfiehlt es sich doch, Reinkarnationsaussagen sorgfältig zuprüfen, bevor man sie einer biographischen Publikation zugrun-de legt. So aber wird der Leser mit zahlreichen Fragen allein ge-lassen. Ein Widerspruch ergibt sich schon durch eine AuskunftRudolf Steiners (nach Elisabeth Knottenbelt), die Selg ebenfallswiedergibt: «Vreede habe sich zu früh inkarniert, um bei derEntfaltung der Anthroposophie zu Beginn des 20. Jahrhundertsanwesend sein zu können, unter Preisgabe ihres Schicksalsum-kreises, ihrer alten Bezüge und Freunde.» (S. 12) Demnach dürf-ten in ihrem Umfeld keine oder kaum andere «Templer-Indivi-dualitäten» zu finden sein. Im Übrigen existiert neben SelgsDarstellung noch eine weitere, wonach sich die IndividualitätJaques de Molays als Felix Peipers (1873 –1944) inkarniert habensoll. Nachzulesen ist dies bei Wilfried Hammacher2, der seineAnnahme immerhin begründet und sich auf reale Erlebnisschil-derungen von Peipers bezieht.

Nicht wirklich eine BiographieSelgs Buch ist nicht im eigentlichen Sinne eine Biographie.Vielmehr grenzt Selg sein Thema absichtlich ein und konzen-triert sich überwiegend auf das von Vreede in Dornach «Gese-hene, Erfahrene und Erlittene». (S. 17) Eine solche Eingrenzungerscheint sinnvoll und verständlich. Trotzdem kann man es alsMissverhältnis empfinden, wenn Selg seitenweise Rudolf Stei-ner zitiert, aber lediglich in einem Nebensatz erwähnt, dassVreede eine wissenschaftliche Promotion absolviert hat. KeinWort dazu, worüber sie promoviert hat, ja nicht einmal in wel-chem Fach. Mit derselben Flüchtigkeit geht Selg über VreedesInteresse an den astronomischen Bänden Camille Flammarionshinweg, derentwegen sie in ihrer Jugend Französisch lernte. Be-dauerlich ist auch, dass man nichts Näheres über ihren «Verin-

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Der Vergessenheit anheimgefallen: Elisabeth VreedeBuchbesprechung

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Felix Peipers und Albrecht Sellin

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nerlichungsprozess» nach 1935 erfährt, den Selg erwähnt (S.206). Und was ihre Vorträge und Schriften betrifft, so be-schränkt sich die Information zumeist auf die Titelnennung;ganz im Gegensatz zu Steiners Vorträgen, die sehr ausführlich,aber nur selten in der Reflexion Vreedes behandelt werden.

Bei alledem bleibt Selgs Betrachtungsweise doch recht äu-ßerlich. Um sich in Vreedes Denkweise, in ihre Sicht- und Er-lebnisweise hineinzuversetzen, wäre es zum Beispiel hilfreichgewesen, sich in dasjenige Gebiet hineinzubegeben, in wel-chem sie selber am meisten zuhause war: die Astronomie.Vreede hat ihre Einblicke in die Astronomie und Astrologiemit dem anthroposophischen Welt- und Menschenbild zu ver-binden vermocht; dies war ihr großes Anliegen und ihr Ver-mächtnis für die Zukunft. Selg klammert diesen Bereich je-doch, wie er im Vorwort sagt, bewusst aus, um sich stattdessenmehr auf Vreedes Märtyrerrolle fokussieren zu können. In dergut gemeinten Absicht, sie dadurch aus der Versenkung he-rauszuholen, lässt er sie indes – durch die Art seiner Darstel-lung – als Persönlichkeit hinter Rudolf Steiner und den Ereig-nissen in der Anthroposophischen Gesellschaft weitgehendverschwinden.

Damit wiederholt sich etwas, was ihr schon zu Lebzeitenimmer wieder passiert ist: dass sie mehr oder weniger überse-hen und in ihren Fähigkeiten unterschätzt wurde. Dies fälltaber deswegen kaum auf, weil ja eine andere, und zwar eineextrem geachtete und ruhmvolle Persönlichkeit gewisserma-ßen an ihre Stelle tritt: der Großmeister des Tempelritter-Or-dens. – Ohne die Seriosität von Selgs Quellen und seiner Kar-maforschung beurteilen zu können und zu wollen, sei dochangemerkt, dass bei seiner Vorgehensweise die Versuchunggroß ist, Vreedes Persönlichkeit künstlich aufwerten zu wollen.Indem er ihr eine «Identität» als Jaques de Molay verschafft,verleiht er ihr eine Würde und eine Geltung, die er ihr ansons-ten, in ihrem Leben als Elisabeth Vreede, meines Erachtensnicht wirklich zugesteht.

Claudia Törpel, Berlin

1 Eine offizielle Rehabilitierung von Seiten der Anthroposophi-

schen Gesellschaft ist bis heute nicht erfolgt.

2 Wilfried Hammacher: Die Uraufführung der Mysteriendramen.

Verlag am Goetheanum, Dornach 2010.

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Wiederverkörperte Templer unter den Schülern Rudolf SteinersZum 66. Todestag von Felix Peipers am 1. Januar 1944

Vor etwas über 700 Jahren wurdenam 12. Mai 1310 vor den Toren von

Paris 54 Templer verbrannt, welche dieunwahren Geständnisse gegen den Or-den, die ihnen unter der Qual der Folterabgepresst worden waren, widerrufenhatten. Zu ihnen gehörte ein Mann, derin seiner nächsten Inkarnation schonals Knabe Erinnerungen an sein frühe-res Templerdasein in sich trug und spä-ter die einstige Verbrennung als Temp-ler erlebt hat. Der Wahrheitsgehaltdieses Erlebnisses ist ihm von RudolfSteiner bestätigt worden.1 Es handeltsich um Albrecht Wilhelm Sellin (1841–1933). Sellin wurde in recht vorgerück-tem Alter bei der Münchner Urauf-führung der Mysteriendramen RudolfSteiners die Rolle des Hilarius, desGroßmeisters des mittelalterlichentemplerähnlichen Ordens, übertragen.Das geschah offenbar nicht zufälligoder mangels anderer Darsteller. Nach Rudolf Steiner seien«die Münchner Darsteller in dieser Inkarnation eigens dazuangetreten, um die Mysteriendramen Wirklichkeit werden zulassen».*

Die Rolle des Benedictus, des Führers der Geistgemein-schaft, welche Züge des Dominikanerordens trägt, wurde Felix

Peipers (1873 –1944) übertragen. Bene-dictus ist in den mittelalterlichen Sze-nen die zweite große Führergestalt neben Hilarius. Auch Peipers hatte rein-karnatorische Erlebnisse. Schon in sei-nen Jugendjahren trug sich der spä-tere Arzt mit dem Gedanken, eine umfassende Reinkarnationsdichtung zuschreiben. Peipers innere Erlebnissekreisten aber nicht um den Dominika-nerorden, sondern ebenfalls um denTemplerorden und seinen Untergang.Andrej Belyj gibt in seinem Buch Ver-wandeln des Lebens die Impression wie-der, die er von Peipers hatte – nämlicheine solche als «Tempelritter» – und füg-te hinzu: «Ich glaube, dass damit derGrundwesenszug Peipers ausgesprochenist: er war ‹Ritter›, in einer völlig neuenBedeutung; und seine Zurückhaltungauf dem äußeren Kampffeld (Vorträge,Aufsätze, leitende Funktionen) war of-

fenbar durch das innere Wachehalten bedingt (H / 229).»

* Wilfried Hammacher, Die Uraufführung der Mysteriendramen von

und durch Rudolf Steiner, München 1910 –1913, Dornach 2010,

S. 299. Im Folgenden zitiert als H.

Albrecht Wilhelm Selling

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Felix Peipers und Albrecht Sellin

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Peipers wurde von Marie Steiner wegen seines tief ernstenspirituellen Strebens als «Pionier der Pioniere» unter den frü-hen Schülern Steiners bezeichnet (H / 232). Er entwickelte zu-sammen mit Rudolf Steiner eine Farbtherapie und erwarb sichdie Fähigkeit, bei den Sitzungen den Ätherleib der Patienten zubeobachten. Ein lebenslanges Lungenleiden bedingte immerwieder Abwesenheiten auf dem «äußeren Kampffeld» undzwang ihn schließlich zu einem langjährigen Aufenthalt imklimatisch günstigen Teneriffa. Das «innere Wachehalten»wurde dadurch nicht unterbrochen.

Felix Peipers und Jacques de MolayVor bald dreiunddreißig Jahren gelangte ein Bericht in das Ar-chiv der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, der aus der Federvon Berthold Peipers, des Neffen Felix Peipers stammt. Wirentnehmen ihm folgende Sätze: «Dr. med. Felix Peipers hatmir wiederholt einen eindeutigen Hinweis auf seine letzte In-karnation gegeben. Er sagte (im Hinblick auf seine schwereLungenerkrankung und eine Operation, welche er bewusst oh-ne Narkose durch Dr. Noll ausführen ließ): ‹Jakob von Molayhat die Folter nicht bestanden.› Es hat den Anschein, dass R.Steiner bei einer Meditation zur Farbtherapie diese Vergangen-heiten voll mit einbezogen hat.» (H / 236f.)

Auch Jakob von Molay, der letzte Großmeister des Ordens,ist gefoltert worden; nach Rudolf Steiner «aber anders wie dieanderen»2, zu denen der spätere Sellin gehörte.

Das wird wohl heißen, in einer noch perfideren Art undWeise, war es doch besonders wichtig, aus dem Munde desGroßmeisters ein Zeugnis gegen den Orden zu erpressen. Molayscheint dadurch in extremer Weise geschwächt worden zusein, so dass er nicht drei, sondern sieben, zum Teil in Kerker-haft verbrachte Jahre brauchte, bis er die Kraft errang, alles Ge-standene mit einem Schlag zu widerrufen. Dies geschah am18. März des Jahres 1314. Molay wurde noch am selben Tag,zusammen mit dem Präzeptor Guy de Normandie, auf der Seine-Insel von Paris verbrannt.

Peipers oben zitierte Bemerkung über die «nicht bestandeneFolter» ist tiefgreifend. Sie betrachtet die in soratischem Sinne«erfolgreiche» Folterung Molays alsnicht bestandene Prüfung der Geistes-stärke. Die Bemerkung zeugt außerdemvon einer gründlichen Beschäftigungmit der Rätselfrage, weshalb gerade auchMolay unter Folter ein falsches Geständ-nis ablegte, welches er erst sieben Jahrespäter entschieden zu widerrufen ver-mochte. Die (nicht näher bekannte Ope-ration) unter Schmerzen war wie einnachträglicher Versuch, den leiblich-seelischen Ursachen des Geschehens aufden Grund zu kommen, ein Selbstver-such über die Trübung des Bewusstseinsunter Schmerzeinwirkung.

Elisabeth Vreedes Rolle in den MysteriendramenIm Zusammenhang mit der angeführtenBemerkung Steiners, «die MünchnerDarsteller seien in dieser Inkarnation ei-

gens dazu angetreten, um die Mysteriendramen Wirklichkeitwerden zu lassen» – ist es interessant, die Rolle Elisabeth Vree-des zu beachten, obwohl sich Vreede nach einer BemerkungSteiners «zu früh» und «unter Preisgabe ihres Schicksalsum-kreises» inkarniert hatte (Peter Selg, Elisabeth Vreede 1879–1943, Arlesheim 2009 **, S. 12).

Elisabeth Vreede erhielt im 1912 aufgeführten Drama DerHüter der Schwelle verschiedene Rollen: als «Nymphe und Sche-men» und als «ahrimanische Tänzerin», wie sie selbst berichtet(H / 389). Letzteres ist insofern besonders beachtenswert, alsSteiner von ihr bemerkte, dass sie in einer früheren Inkarnati-on «bei einer Naturkatastrophe umgekommen» sei (S /12).

Elisabeth Vreede und Jacques de MolayNun brachte Peter Selg in seiner vor einem Jahr erschienenenVreede-Monographie gleich auf den ersten Seiten auch einemündliche, namentlich durch Willi Sucher getragene Überlie-ferung zur Sprache, der zufolge Rudolf Steiner Vreede auf ihre«(sehr wahrscheinlich) letzte Inkarnation als leitende Persön-lichkeit der Templergemeinschaft, mit schwerem, ja furcht-barem Schicksal» (S /12) aufmerksam gemacht habe. In einerAnmerkung wird dann diese «leitende Persönlichkeit» (S / 286,Anm. 16) als Jacques de Molay identifiziert.

Es ist offenkundig, dass damit fast zeitgleich zwei mitei-nander völlig unvereinbare Angaben über eine Reinkarnati-on von Molay unter den nahen Schülern Steiners publiziertworden sind. Es könnten theoretisch beide Angaben falsch,aber es können unmöglich beide wahr sein. Diese Wahr-heitsfrage muss letztlich durch eine Prüfung in der Akasha-chronik geklärt werden. Selg macht keinen Anspruch auf ei-ne solche Prüfung, sondern beruft sich auf eine mündlicheÜberlieferung, die an sich natürlich wahrheitsgemäß seinkönnte.

Gibt es aber, abgesehen von einer solchen prinzipiellenMöglichkeit, auch Symptome, die konkreter für oder gegenden Wahrheitsgehalt der einen oder der anderen Angabesprechen?

Claudia Törpel weist in oben stehender Rezension des Vree-debuches auf die Fragwürdigkeit derVreede betreffenden Überlieferung hin.Da hier keine schriftliche Aufzeichnungdes Wortlautes dieser Äußerung vorliegt(weder durch Steiner noch durch Vreedeselbst noch durch eine Drittperson),kann nicht auf einen eindeutig exaktenund garantierterweise unverfälschtenWortlaut aufgebaut werden.Es besteht kein Anlass zu bezweifeln,dass Steiner Vreede auf Molay hinge-wiesen habe (vielleicht gerade im Zu-sammenhang mit ihrer Rolle bei denMünchner Mysteriendramen).Es besteht andererseits kein Anlass, dieRealität des (von Steiner bestätigten)Templer-Erlebnisses von Sellin zu be-zweifeln. Wenn Vreede den überliefer-ten Templerhintergrund gehabt haben

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Felix Peipers 1929

** Im Folgenden zitiert als S.

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sollte, dann wäre sie damit überdies in München in un-mittelbare Berührung mit einem ehemaligen Schicksals- und Leidensgenossen gekommen, was schwer vereinbar ist mit der Äußerung von der «Preisgabe ihres Schicksalsumkreises»(H /12).3

Auch die Aufzeichnung des Neffen Peipers kann nichteinfach als Resultat der Einbildung oder gar als freie Erfin-dung abgetan werden, auch wenn hier keine direkte Bestäti-gung von Steiner vorliegt. Im Gegenteil: Die (immerhindurch einen unmittelbaren Ohrenzeugen aufgezeichnete)Bezugnahme Peipers auf Molay verdient Beachtung, da sievon einem Menschen stammt, der zu den ernstesten Geistes-schülern Steiners gehörte und der gewiss keine Neigung be-saß, mit Reinkarnationszusammenhängen leichtfertig um-zugehen. Die ganze Art von Peipers Bezugnahme kann nuraus einem tief innerlichen Umgang mit dem Schicksalsrätselder letzten sieben Jahre im Leben Molays hervorgegangensein. Auch hier wird allerdings erst eine Prüfung in der Akas-hachronik letztlich die volle Erkenntnisgewissheit bringenkönnen. –

Peter Selg hat nun auf dem Hintergrund der mündlichenÜberlieferung, auf die er sich stützt, kürzlich noch eine karmi-sche Vreede-Studie angekündigt, die im Dezember im Verlagdes Ita Wegman Instituts für Anthroposophische Grundlagen-forschung erscheinen wird. Laut jüngstem Verlagskatalog wer-den darin die Lebenswege und Wirkenswege von Plinius d. Ä.und von Jakob von Molay thematisiert. Wohl im Zusammen-hang mit inzwischen laut gewordenen Fragen an die Authen-tizität der besagten Überlieferung wird der Zusammenhangzwischen Vreede und Molay (und Plinius) im Prospekt nichtapodiktisch ausgesprochen: «Die Studie (...) geht möglichen Be-zügen zur Lebensgeschichte Elisabeth Vreedes nach.» (Kursivdurch TM) Die Frage ist eben, wie weit diese Bezüge einer rein-karnatorischen Wirklichkeit entsprechen.4

Ein Glück also, dass Wilfried Hammacher das bisher kaumbekannte und auch in Selgs erstem Vreedebuch noch unbe-rücksichtigte Material über die reinkarnatorischen Templer-Er-lebnisse von Albrecht Sellin und Felix Peipers ebenfalls veröf-fentlicht hat; rund sechsundsechzig Jahre nach dem TodePeipers, dessen von seinem Neffen überlieferter Bericht runddreiunddreißig Jahre, nachdem er in ein Dornacher Archiv ge-geben worden war, nun erstmals für eine größere Leserschaftzugänglich ist.

Zeichen der Zeit?Die merkwürdige, fast zeitgleiche Publikation von divergieren-den Angaben zum späteren Schicksal von Jacques de Molay istmeines Erachtens nicht einfach als etwas Negatives zu bewer-ten. Diese Tatsache kann an einem gewichtigen Fall deutlichmachen, wie schwierig die Klärung von Karmafragen ist, dieletztlich nur aus einer konkreten Akashaforschung heraus zubeantworten sind.

Im Vorfeld einer Antwort aus der Akashachronik stehen unsaber zunächst verschiedenartige Symptome zur Verfügung, diein die eine oder andere Richtung weisen. Wer sich auf sie unbefangen einlässt, wird zumindest Wegweiser zur Lösungder durch die genannten Publikationen aufgeworfenen tief bedeutsamen Schicksalsfrage finden können. Einige dieserSymptome haben wir angeführt.

Darüber hinaus kann in dieser von den Autoren offenbarnicht absichtlich herbeigeführten

Publikationskonstellation vielleicht ein Zeichen der Zeit er-blickt werden – ein Zeichen nämlich für ein erneutes Wirksam-werden von einstigen Templerindividualitäten im Beginn derdritten, um 1998 einsetzenden welthistorischen Welle des Wir-kens Sorats, eines der mächtigsten ahrimanischen Dämonen.Und welche Individualitäten könnten diesem Wirken mehr anGeisteskraft entgegensetzen als solche, die zur Zeit der zweitenSorat-Angriffswelle im dreizehnten Jahrhundert aus unver-nichtbarer Christusliebe ihren Opfertod erlitten hatten?5

Thomas Meyer

1 Das Erlebnis von Sellin war auch anderen Schülern Steinersbekannt. In Notizen von W.J. Stein aus dem Jahre 1924 findetsich die Bemerkung: «Sellin erlebte seine Verbrennung alsTempler» (Archiv des Perseus Verlags).

2 W.J. Stein, Archiv des Perseus Verlags.3 Eine weitere Persönlichkeit unter den Schülern Steiners mit

Templerhintergrund ist D.N. Dunlop. Rudolf Steiner machtezu der mit Dunlop tief befreundeten Eleanor C. Merry einediesbezügliche Äußerung: «Er erwähnte mir gegenüber nur eine besondere Inkarnation Dunlops: Er sei Mitglied einer Ge-heimgesellschaft innerhalb des Templerordens gewesen.»(Zitiert in: Th. Meyer, D.N. Dunlop – Ein Zeit- und Lebensbild,Basel, 2. Aufl. 1996, S. 344.)Dunlop gehörte zu den Menschen, die Vreede (wie auch Weg-man) in der Zeit vor den Dornacher Ausschlüssen unterstütz-te, indem er sie u.a. 1934 zu einer Sommerschule in Weston-birt einlud (siehe Abb. 25 in der Dunlop-Biographie).

4 Was diese neue Vreede-Publikation Peter Selgs von vornehe-rein leider zusätzlich belastet, ist die Tatsache, dass im glei-chen Verlag etwa zeitgleich mit Selgs erstem Vreedebuch einWerk erschienen ist, in dem sich eine bis heute unkorrigiertefalsche Karmaangabe findet, welche Rudolf Steiner zugeschrie-ben wird. Emanuel Zeylmans behauptet in dem posthum vonseiner Witwe herausgegebenen und im Verlag des Ita WegmanInstituts erschienenen Werk Die Erkenntnis des Herzens, RudolfSteiner hätte als frühere Verkörperung von Brunetto Latini,des Lehrers Dantes, den römischen Dichter Ovid angegeben(a.a.O., S. 456). In Wirklichkeit hat Steiner an keiner der vonZeylmans nur pauschal angegebenen Latini-Vortragsstellenvon einer solchen früheren Verkörperung Brunetto Latinis ge-sprochen; dagegen teilte er in dem Londoner Karmavortragvom 24. August 1924 (GA 240) ein einziges Mal mit, dass einespätere Verkörperung der Ovid-Individualität in der Persön-lichkeit des englischen Schriftstellers und Okkultisten LaurenceOliphant erfolgt sei. – Dieser Tatbestand wurde dem Verlag desIta Wegman Instituts von verschiedener Seite mitgeteilt.

5 Das Wirken Sorats lässt sich nicht auf die Jahreszahl 666 oderein Mehrfaches von ihr begrenzen. Schon die durch diese Wesenheit geistig impulsierte Vernichtung des Templerordenssetzte beinahe zwanzig Jahre vor dem Jahr 1332 (also zweiMal 666) ein. Ähnlich lassen sich im zeitlichen Umfeld von1998 entsprechende Erscheinungen finden; nicht zuletzt dieEreignisse vom 11. September 2001, die dem 21. Jahrhunderteinen nachhaltigen soratischen Impuls einverleibten. –

Eine guten Überblick über die Geschichte des Templerordens undseines Untergangs bietet die französische Historikerin Régine Per-noud in: Les Templiers, Paris 8. Aufl 1999 (puf).

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Das Versepos Der Mann im Pantherfell von Schota Rustaweli1

ist etwa um das Jahr 1200 entstanden und zählt zu den be-deutendsten mittelalterlichen Dichtungen. Es ist die Zeit Wolf-ram von Eschenbachs (ca. 1170 – um 1220) und die Blütezeitdes Hochmittelalters. Vom Autor ist nicht viel bekannt. Erdürfte eine hochgestellte Persönlichkeit am Hofe der bedeu-tenden Königin Tamar (Regierungszeit 1184 –1212) gewesensein und schrieb in georgischer Sprache. Seine Dichtung hatfür das Land Georgien eine so überragende Bedeutung wie Ho-mers Werke für Griechenland und gilt nicht zuletzt wegen sei-ner Sprache als absoluter Höhepunkt innerhalb der georgi-schen Literatur.

Swiad Gamsachurdia (1939 –1993), ehemaliger PräsidentGeorgiens, hat Ende der Achtziger Jahre ein Buch mit dem Ti-tel Die Bildsprache in Rustawelis Mann im Pantherfell verfasst.Sein Sohn Konstantin Gamsachurdia hat es Mitte der Neun-ziger Jahre ins Deutsche übersetzt und damit den letztenWunsch seines ermordeten Vaters erfüllt. Jetzt hat er das Buchim Eigenverlag endlich veröffentlichen können.2 Ab 2011 wirdes über den Perseus Verlag vertrieben werden. Im Europäer istvor fünf Jahren bereits ein Beitrag von Konstantin Gamsa-churdia zum georgischen Nationalepos erschienen, der jetzt inweiten Teilen Eingang in das Vorwort zum übersetzten Buchseines Vaters gefunden hat.3

Allegorische BildspracheDas Epos ähnelt einem höfischen Ritterroman und erzählt vonLiebe und Freundschaft, Leiden und Heldentaten, in realisti-scher und zugleich orientalisch zauberhafter Sprache. Aus Lie-be zu der schönen Königstochter Tinatin zieht der Ritter Aw-tandil in die Welt hinaus, um die Geliebte seines FreundesTariel zu suchen. Tariel, der Mann im Pantherfell, ist von Nes-tan Daredschan durch ein grausames Geschick getrennt wor-den und verlor darüber fast den Verstand. Awtandil stößt aufvielerlei Schwierigkeiten und Hindernisse, doch mit Hilfe treu-er Freunde nimmt die Geschichte der beiden Freunde ein gutesEnde und drei Paare finden glücklich zueinander. Man könntedas Werk auch ganz oberflächlich lesen und verstehen. Dochzeigt allein schon eine aufmerksame Lektüre des Prologs, dasses eigentlich um Höheres geht, das es hinter der Oberflächedes bunten Geschehens und der Bilder zu entdecken gilt. Solauten etwa zwei Verse des Prologs (in der Übersetzung RuthNeukomms) wie folgt:

Die Dichtkunst ist vor allemeine Frucht der Weisheit,dem Göttlichen geweiht und göttlich zu verstehen,für den, der hören kann, reichlicher Gewinn.Auch hier wird sie geliebt,wann immer ein würdiger Mann ihr lauscht.Dass wenige Worte weiten Sinn umschließen,ist eines Verses Zier.

(...)

Ich will von jener ersten Liebe [sc. zu Gott] sagen,geboren aus reinen Himmelshöhn.Schwer ist’s, davon zu sprechen,und kaum in Worte lässt sich’s fassen.Sie ist ein himmlisch Ding,verleiht der Seele Schwingen.Wer sich ihr weiht,muss Leiden viel erdulden können.

Das, was Rustaweli schildern möchte, ist göttlich zu ver-stehen, schwer in Worte zu fassen, doch wer hören kann, derwird reichlichen Gewinn daraus ziehen. Das erinnert an denBeginn von Richard Wagners Parsifal, wenn Gurnemanz dieKnaben aufrüttelt, nachdem in den Posaunen feierlich dasGralsmotiv erklungen ist: «Hört ihr den Ruf? Nun danket Gott,dass ihr berufen, ihn zu hören!» Swiad Gamsachurdia möchtemit seinem Buch das Interesse für die Bildsprache Rustaweliswecken, damit der Leser sie erkennen und so zu einem immertieferen Verständnis des Werkes gelangen kann. Um falschenErwartungen vorzubeugen, ist darauf hinzuweisen, dass es sichum keinen erläuternden Kommentar oder eine systematischeDeutung handelt. Wer Rustawelis Epos nicht kennt, wird essich aus Gamsachurdias Buch nicht im Zusammenhang er-schließen können.

Gamsachurdia möchte zeigen, wie dieses Buch der Weis-heit mit Hilfe einer allegorischen Sprache tiefste Wahrheitendarstellen möchte. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist die Ästhetik von Dionysius Areopagita4, dem Rustaweli tief ver-bunden war und auf dessen Traktat Die Hierarchie der EngelGamsachurdia Bezug nimmt (auf S. 29 f.), um den Begriff«Bildsprache» im Sinne eines allegorischen Denkens ver-ständlich zu machen. Danach hat sich die Offenbarung dich-terischer Formen bedient, «um gestaltlose Geister vor uns erscheinen zu lassen», weil sie auf das menschliche Erkennt-nisvermögen Rücksicht nahm. Man könne auch aus denniedrigsten Bestandteilen irdischer Materie «Gestalten for-men, welche als Sinnbilder himmlischer Wesen nicht ganzunpassend sind».5 Ohne Kenntnis dieses Hintergrunds kanndie rustawelische Ästhetik nicht verstanden werden. Die gött-lich zu verstehende Poesie ist ein Vorteil im Leben, weil sieein Mittel zur Erlösung der Seele im Sinne der geistig-seeli-schen Evolution sein kann.

Im Rahmen einer Rezension ist es unmöglich, den umfang-reichen und gelehrten Darstellungen Swiad Gamsachurdiasgerecht zu werden. Es sollen die einzelnen Teile daher nach-folgend nur kurz charakterisiert werden. Das erste Kapitel zeigtdie Entwicklung der allegorischen Methode in der Antike undim Mittelalter und bringt eine Fülle von Beispielen aus dengriechischen und ägyptischen Mythen. Gamsachurdia arbeitetheraus, dass den mythischen Urbildern zumeist der Einwei-hungsweg zugrunde lag und das Bild der gefangenen Jungfraufür die menschliche Seele steht, deren reine, edle Wesensteile,gefesselt durch niedere Triebe und Leidenschaften, nach demEinstieg in die materielle Verkörperung an ihrer freien Entfal-

Freundschaft und Einweihung

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Freundschaft als Weg zur Einweihung Das georgische Nationalepos Der Mann im Pantherfell

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Freundschaft und Einweihung

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tung gehindert wird (z.B. Perseus und Andromeda). Burgver-lies, Höhle, Unterwelt stehen als Bilder für die irdische Leib-lichkeit.

Im zweiten Kapitel schildert Gamsachurdia die Bezüge zummittelalterlichen Frauenkult und zur platonischen Schule vonChartres. Die Lehrer dieser Schule, die angesehenen Theolo-gen Bernardus Silvestris, Alanus ab Insulis (franz. Alain de l’Is-le) und andere, verfolgten in ihrem literarischen Schaffen dasZiel der Neuschöpfung des Mythos in der Form der Allegorie.Nach ihrer Ansicht war dies untrennbar von der Praxis des Er-kennens im Geiste. Da die antike Mythologie schon der Ver-gangenheit angehörte, konnte sie die spirituelle Realität nichtmehr beleben. Deshalb schufen die Philosophen von Chartreslebendige Allegorien als Ausdruck der spirituellen Wirklich-keit, weil die Poesie für sie (wie auch für Rustaweli) eine Dis-ziplin der Gottesgelehrtheit war. Parallele Tendenzen siehtGamsachurdia unter anderem auch im Sufismus, den er in sei-nem esoterischen Kern für christlich hält. So hat auch der spa-nisch-arabische Dichter Ibn el Arabi (1165 –1240) die sinnli-che Liebe als Allegorie der geistig-göttlichen Liebe verwendet.Heute wird nach Gamsachurdia allgemein anerkannt, dass esel Arabis Ziel war, eine Darlegung des sufistischen geistigenWeges in Form der Liebespoesie zu vermitteln. Er weist jedochauch auf gewisse Unterschiede hin. Im Sufismus wird als Zielder Initiation das Verschmelzen des Ichs mit dem Gottes-Ichangestrebt (ein Aufsaugen des Menschenselbst durch das Got-tesselbst), während bei Rustaweli die Persönlichkeit trotz derVereinigung mit Gott weiter bestehen bleibt.

Kultus des heiligen GeorgIm dritten Kapitel widmet sich Gamsachurdia dem Kultus desheiligen Georg, dessen Urgestalt und Inspirator der ErzengelMichael ist. Michael besiegt den kosmischen Drachen, derchristliche Ritter Georg den irdischen. Der Drache verkörpertdie niederen Triebe, die der zur Einweihung strebendeMensch besiegen und überwinden muss. Der heilige Georggenoss in dem nach ihm benannten Land eine anderswonicht vorkommende offizielle und zentrale Verehrung. Als offizielle Kirchenfeiertage beging die Kirche Georgiens die Georgsfeste des 23. April und des 3. November. Außerdem warder Tag nach dem Fest des kosmischen Michaels-Konzils (der10. November) ebenfalls dem Georgskult geweiht. Gamsa-churdia führt aus, dass bei der Verehrung der Georgsgestaltdrei grundsätzliche Haupttypen unterschieden werden kön-nen: Erstens einen riesenhaften Helden von der Statur einesGoliaths und mit immensen Kräften ausgestattet, zweitens ei-nen einfachen, mutigen Menschen, der als ein großer Glau-bensheld und Vorbild des Rittertums bereit ist, sein Lebenhinzugeben, und drittens den «lebendigen» Georg, der immuslimischen Osten Hizr oder Hidr genannt wurde und des-sen Kultus sich unter Einbezug der Elias-Verehrung überGeorgien bis nach Persien und Arabien (Schutzpatron der Su-fisten) ausbreitete. Elias-Georg besitzt die Gewalt über dieQuelle des Lebens, die überall fließt, wo sein Wesen sich of-fenbart, z.B. unter Bäumen, den Wahrzeichen seines unsterb-lichen, sich ständig verjüngenden Lebens. Elemente diesesdreigestaltigen Georgs können nach Gamsachurdia in dendrei Hauptfiguren des Mannes im Pantherfell gefunden werden.Tariel gleicht in seiner Heldenkraft jenem mit übernatürlicher

Stärke ausgestatteten Riesen. Awtandil trägt die Züge Hizrs,des persisch-arabischen Georgs, weshalb er auch als ein Ara-ber gekennzeichnet wird. In Pridon schließlich kann die glau-bensstarke Gestalt des ritterlichen Helden, des heiligen Reitersgesehen werden.

Symbolische Bedeutung der handelnden PersonenDas vierte Kapitel behandelt die Symbolik der Heldennamenim Epos. Der Name des Haupthelden Tariel setzt sich zusam-men aus Tar mit el. Das weist auf den göttlichen Weg, auf dashimmlische Prinzip, auf Sternenwelt und Logos, so dass derName nach Ansicht Gamsachurdias geradezu ein Synonym fürdas «Antlitz Gottes», d.h. Michael ist. Schon an anderer Stellehatte er darauf aufmerksam gemacht, dass mit Tariel «einerSonne Abbild» gemeint ist, Urmensch und Urkönig, ein «Solinvictus», «Herr der Sternenwelt» oder «König des Kosmos». Erist mit dem Pantherfell bekleidet, Sinnbild für die Sternenwelt(in seiner gefleckten Musterung), allerhöchste Vernunft in sichtragend. Gleichzeitig tritt er unter einem anderen Aspekt auchals Menschenwesen hervor, geschaffen nach dem EbenbildGottes (Adam). Nestans Urgestalt dagegen ist Persephoneia.Wenn diese in der Oberwelt weilt, trägt sie ein grünes Kleid,genau wie Nestan und Dantes Beatrice. Doch während ihresWinteraufenthalts im Hades erscheint sie schwarzgewandet,gleich wie Nestan bei den Kadzheti (den finsteren Gegen-mächten, aus denen sie Tariel gemeinsam mit Awtandil undPridon befreien muss). Nestan Daredschan ist zugleich ein Ur-bild des Weiblichen, nach sufistischer Auffassung ein Jensei-tiges. Darum benannten sie es als «diejenige, die es in dieserWelt nicht gibt» – «Nest andare Dschehan». Gott, die voll-kommene Idee, ist nicht sinnlich, sondern nur übersinnlichfassbar. Nestan erscheint daher zum einen als Verkörperungdes Heiligen Geistes, als himmlische Sophia, zum anderen alsirdische Eva, deren Symbol der Baum des Lebens ist. Nestanwird folgerichtig auch als «Zypresse, im Garten Eden ge-pflanzt» bezeichnet.

Der Name Tinatins kann symbolisch gedeutet werden alsdie individuelle menschliche Vernunft und Spiegel der göttli-chen Vernunft. Die phonetische Übereinstimmung Tinatinsmit der Göttin Athene und ihrer Stadt (Athina) ist nach Gam-sachurdia kein Zufall. Unter den Bewohnern des Olymps ver-körperte Athene die Philosophie und den spekulativen Ver-stand. Wurde in Zeus die «höchste Wahrheit» verehrt, so inAthene deren klarer Spiegel. Tinatin personifiziert bei Rusta-weli das spekulative (beschauliche) Philosophieren der von je-der äußeren Erfahrung unabhängigen, reinen Vernunft. Sie istdie Geliebte des Glaubens, den Rustaweli in Awtandil darstellt.Die harmonische Verbindung von Intellekt und Glaube wardas Ideal der mittelalterlichen Scholastik. Die Vernunft (Tina-tin) erteilt zu Beginn des Epos ihrem Vater (der alte König Ros-tewan, die Urweisheit der Menschheit, die sich als nicht mehrzeitgemäß erweist) den Rat, das Unbegreifliche (in Form desfremden Ritters) zum Ziel eines tieferen Erkennens zu machen.Und so beginnt die Odyssee der Erkenntnis: Awtandil (der phi-losophische Glaube) schickt sich an, Tariel (den verkörpertenLogos, den Urmenschen im Pantherfell) zu suchen. Von einertiefen symbolischen Bedeutung ist das Abschiedsgeschenk, dasTinatin Awtandil überreicht. Es ist eine Perle, das Bild des ge-läuterten, reinen Denkens von unvergänglichem Bestand.

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Freundschaft als Weg zur EinweihungTinatin und Awtandil wären fürsich allein niemals glücklich ge-worden, wenn sie Tariel und Nes-tan nicht gefunden hätten, undwenn sie nicht ihre Freunde ge-worden wären. Aber auch Nestanund Tariel benötigen für die Er-langung des Glücks jene Freunde,die ihnen die philosophische Er-kenntnis und die wissenschaftli-che Gnosis bringen können. Nurdank ihren vereinten Kräftenkann ihnen die Einweihung indas Leben der göttlichen Weis-heit (Sophia) zu Teil werden. Pri-don als dritter im Bunde schließ-lich verkörpert symbolisch dieHoffnung. Glaube, Hoffnung undLiebe sind in Awtandil, Pridonund Tariel vereint. Wegen dieseshohen Stellenwerts der Freund-schaft beendet Swiad Gamsa-churdia seine Ausführungen zurBildsprache Rustawelis mit demSchlusswort (das letzte Kapitel behandelt die Helden-Initiation),dass die großen Epen die Kämpfeeinzelner Individualitäten schil-dern, deren Ziel die Einweihungin ein höheres Leben sei. Aber dasbrüderliche Element eines gemeinsamen Kampfes zweierFreunde zum Erreichen der Initiation oder die Freundschaft alsFaktor bei der tatsächlichen Einweihung sei in der georgischenDichtung Der Mann im Pantherfell literarisch einzigartig, nichtnur im Vergleich mit anderen mittelalterlichen Ritterroma-nen, sondern in der gesamten Weltliteratur.

Die Lektüre von Gamsachurdias Buch ist keine einfacheKost, nicht nur wegen der zahlreichen Fremdworte. Zuweilenfehlt es ein wenig an der Stringenz der Gedankenführung unddes konkreten Bezugs zum behandelten Werk. Doch niemandwird das Buch ohne Gewinn aus der Hand legen. Es sind ihmdeshalb viele beherzte und geduldige Leser zu wünschen, diedas nötige Erkenntnisinteresse mitbringen und fasziniert eineosteuropäische Sicht auf die Grundfragen des menschlichenLebens studieren möchten, mit vielen Hinweisen und Bezügenzur Mythologie, zur Philosophie und zur untergründigen Strö-mung des esoterischen Christentums (es werden auch Paralle-len zur Chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreutz Anno1459 behandelt). Manch einer wird dann vielleicht neugierigwerden und zu Rustawelis Mann im Pantherfell greifen. ZumAbschluss dieser Rezension sei deshalb noch ein kurzer Aus-schnitt aus dem ersten Kapitel in der Prosaübersetzung RuthNeukomms zitiert (a.a.O., S. 11), wenn Rostewan, König ausGottes Gnaden, seiner Tochter Tinatin, dem strahlenden Lichtder Welt, das Szepter überreicht (die historische Parallele ist im Entschluss des georgischen Königs Giorgi III. zu sehen, derkeinen Sohn besaß und deshalb 1178 seine Tochter Tamar zur

Mitregentin erhoben hatte; als er1184 starb, wurde sie alleinigeHerrscherin): «Weine nicht, meine Tochter,und höre auf meine Worte. Vonheute an bist du Arabiens Köni-gin, von mir zur Herrscherin aus-gerufen. Von nun an ist dies Kö-nigreich dir anvertraut. Mögestdu weise sein in deinem Tun, vollDemut und Einsicht! So wie dieSonne gleicherweise auf Rosenwie auf Unrat scheint, so sollstauch du nie müde werden, denGroßen wie den Geringen deineGnade zu erweisen. Der Großmü-tige bindet den Freien, der schonGebundene aber wird ihm willigfolgen. Spende in Fülle, so wiedas Meer die Fluten, die es emp-fangen, weiterströmen lässt. Frei-gebigkeit ist Königen wie derAloebaum dem Garten Eden ein-gepflanzt. Dem Großmütigen fügtsich jeder, selbst der Ungetreue!Speise und Trank bekommen unswohl, was aber nützt es, Güter an-zuhäufen? Nur was du gibst, istwahrhaft dein, was du behältst,das ist verloren!»

Gerald Brei, Zürich

1 Eine schöne deutsche Ausgabe in Prosa, übersetzt von Ruth

Neukomm, ist 1974 im Manesse Verlag Zürich erschienen,

die jedoch leider vergriffen ist, ebenso wie die 2. Auflage

1991. Antiquarisch ist sie jedoch manchmal noch zu finden

(z.B. auf www.zvab.com).

2 Swiad Gamsachurdia: Die Bildsprache in Rustawelis Mann im

Pantherfell, Basel 2010.

3 Konstantin Gamsachurdia: «Der reimende Schriftsteller. Der

Mann im Pantherfell von Schota Rustaweli», Der Europäer, Jg. 9,

Nr. 9/10 (Juli/August 2005).

4 Heute allgemein als (Pseudo-) Dionysius Areopagita (zwischen

476 und 518/528) bezeichnet, weil er mit dem in der Apostel-

geschichte (17, 34) genannten, von Paulus in Athen auf dem

Areopag bekehrten Griechen nicht identisch sein könne.

Denn die unter seinem Namen überlieferten, geistesge-

schichtlich überaus bedeutsamen Schriften wurden erst um

500 verfasst, enthalten sie doch eindeutige Bezüge zu dem

Neuplatoniker Proklos (412 – 485). Vgl. Beate Regina Suchler:

Dionysius Areopagita. Leben – Werk – Wirkung, Freiburg im

Breisgau 2008 (Herder Verlag).

5 Konstantin Gamsachurdia zitiert nach Dionysios Areopagita:

Die Hierarchien der Engel und der Kirche (übersetzt von Walter

Tritsch), Otto Wilhelm Barth Verlag, München-Planegg 1955,

S. 102 ff.

Freundschaft und Einweihung

54 Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Shota Rustaweli

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Philosophischer Dialog

55Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Herr Zweifel: Gibt es überhaupt ein reines Wahrnehmenganz unabhängig vom Denken, sozusagen ein Wahr-

nehmen jenseits des Denkens? Oder ist nicht vielmehr jedemmeiner Wahrnehmungsakte immer schon ein Denken beige-mischt, da es sonst für mich gar keinen bewussten Wahrneh-mungsakt und -gegenstand geben könnte?

Frau Licht: Ich kann versuchen, bloß zu beobachten, reinwahrzunehmen. Im bloßen Beobachten verzichte ich auf allesDenken; ich unterlasse dann alles Darüber-nach-Denken. Imreinen Wahrnehmen gebe ich mich wahrnehmend ganz hinan den Gegenstand meiner Wahrnehmung.

Herr Zweifel: Aber ist nicht auch in diesem «reinen Wahr-nehmen», von dem Sie sprechen, ein unbewusstes Denken, ei-ne unwillkürliche Denkleistung vorhanden? Ich könnte dochsonst gar nicht von einem bestimmten Wahrnehmungsein-druck sprechen. Ja, schon dass ich weiß, dass ich «etwas»wahrnehme, ist doch eine Denkleistung, ein Produkt meinesDenkens, oder etwa nicht?

Frau Licht: Ich kann doch deutlich unterscheiden zwischeneiner Phase des wahrnehmenden Aufnehmens eines mir Neu-en, eines mir Gegebenen, und einer zweiten Phase des aktivenNachdenkens darüber. Im Wahrnehmen mache ich Erfahrun-gen, die rätselhaft sein können, die Fragen aufwerfen. Im Den-ken versuche ich sodann, diese Erfahrungen zu verstehen.

Zweifel: Aber schon wenn ich sage, etwas sei rätselhaft, istdas doch ein Ausdruck meines Denkens. Ich kann doch «Rät-selhaftes» nicht wahrnehmen, schon gar nicht «rein» wahr-nehmen.

Licht: Ja, gewiss.

Zweifel: Also ist doch die «rätselhafte Erfahrung» ein Ge-danke und niemals eine reine Wahrnehmung!

Licht: Ich frage mich, ob das wirklich exakt beobachtet ist,was Sie da sagen. Zwar ist das Sprechen und Denken über die«rätselhafte Erfahrung» Ausdruck des Denkens, da haben Sievöllig recht; aber der ursprüngliche Auslöser, der unmittelbareWahrnehmungseindruck, der muss eben zuerst einfach wahrge-nommen, sprich erlebt werden. Sonst hätte doch das Denkengar keinen Anlass, über «etwas» nachzudenken.

Zweifel: Ich kann das nicht verstehen! Ich kann die «reineWahrnehmung» nicht denken …

Licht: Man kann die reine Wahrnehmung auch nicht den-ken, man kann sie nur machen!

Zweifel: Ja, aber wie denn?!

Licht: Herr Zweifel, geben Sie mir bitte einmal Ihre Hand.

Zweifel: … aua, nicht so fest!

Licht: Was haben Sie wahrgenommen?

Zweifel: Meine Hand tut weh.

Licht: Haben Sie das jetzt gedacht oder wahrgenommen?

Zweifel: – Ich weiß doch, dass das meine Hand ist und ichweiß auch, was Schmerz ist – das sind doch alles schon fertige

Begriffe und keine unmittelbaren Wahrnehmungen.

Licht: Ich habe mal eine Gegenfrage: Nehmen Sie Ihre «fer-tigen Begriffe», Ihr mitgebrachtes und der Wahrnehmungübergestülptes Wissen unmittelbar wahr oder nur mittelbarmit Hilfe Ihres Denkens.

Zweifel: Das verstehe ich nicht.

Licht: Was unterscheidet denn Ihr sofort auftretendes Wis-sen, Ihre «fertigen Begriffe» von anderen sofort auftretendenWahrnehmungen?

Zweifel: Sie meinen, dass ich auch mein Wissen nur wahr-nehme?

Licht: Genauso unmittelbar, wie Sie den Händedruck wahr-nehmen, genauso nehmen Sie doch anscheinend ihr Wissenwahr, dass es Ihre Hand ist, die schmerzt. Und das sind dannwohl zwei verschiedene Wahrnehmungen, oder nicht?

Zweifel: Ja, aber … ich kann doch den Händedruck nur mit-tels meines Wissens, dass es Hände gibt und was eine Hand ist,bewusst wahrnehmen. Das ist doch der springende Punkt.

Licht: Herr Zweifel, wären Sie noch mal so freundlich undwürden mir Ihre Hand reichen …

Zweifel: Also, lieber nicht … ach, so kommen wir auch nichtweiter.

Licht: Sie scheuen also die direkte Erfahrung?

Zweifel: Na, jetzt werden Sie mal nicht unhöflich.

Licht: Ist es nicht so, dass der Händedruck als ganz spezifi-sche Wahrnehmung bei Ihnen einfach aufgetreten ist, unddass Ihr Denken sodann blitzschnell mit der Zuordnung be-stimmter Begriffe reagiert hat?

Zweifel: Was war zuerst, die Henne oder das Ei?

Licht: Kann Ihr Denken an dem Zustandekommen und ander Eigenart unseres Händedrucks unmittelbar irgendetwas be-wirken? Ist die Annahme eines unbewussten Denkens imWahrnehmen nicht rein spekulativ und zudem selbstwider-sprüchlich? Denn Sie können Ihre Argumentation doch nurauf etwas stützen, das Sie bewusst erleben, also nicht auf einunbewusstes, bloß erschlossenes Denken.

Zweifel: Jetzt wollen Sie mir also auch noch weismachen,dass ich auch mein Denken rein wahrnehmen muss, um vonihm sprechen zu können?!

Licht: Gewissermaßen ja. Allerdings sollten wir dann nochunterscheiden zwischen einem von alleine auftretenden Wissen – dem mitgebrachten Vorstellungsschleier, der sich be-hindernd vor die reine Wahrnehmung legen kann – und demaktiven wirklichen Denken. Ein Denken, das einem vollbe-wussten und geistesgegenwärtigen Bildeprozess entspringt.Diesen lichten Bildeprozess kann ich rein wahrnehmend erle-ben, während ich denke.

Der Autor: Meine Herrschaften, ich danke Ihnen für diesesGespräch.

Steffen Hartmann

Die reine Wahrnehmung oder ein Händedruck…

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Grundeinkommen/Dreigliederung

56 Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Im Vorfeld von «150-Jahre Rudolf Steiner» lud das Goethea-num für den 4. November 2010 zu einer internationalen Pres-

sekonferenz nach Dornach. Ein Tagungsordnungspunkt lautete:«Bedingungsloses Grundeinkommen – Archimedischer Punktaller Gesellschaftsentwicklung von jetzt an, oder Blindgängerwirklichkeitsfremder Utopie?»2 Auch der Petitionsausschuss des deutschen Bundestages musste sich im November bei einerAnhörung mit dem Thema befassen. Ende Oktober hat die Delegiertenversammlung der Sozialdemokratischen Partei derSchweiz ein neues Parteiprogramm verabschiedet. Darin wurdedie Forderung nach einem «erwerbslosen Grundeinkommen»verankert. Und schon Pfingsten 2010 hatte die Christenge-meinschaft den Programmpunkt «Das Bedingungslose Grund-einkommen» auf die Tagung mit dem urdeutschen Titel «Futu-re Now» gesetzt.3 Wenn selbst die Christengemeinschaft diese«Utopie» der Gegner der Anthroposophie (siehe Rudolf SteinersKarlsruher Vorträge Von Jesus zu Christus, GA 131) auf die Tages-ordnung setzt, dann ist es doch beruhigend, noch Autoren zufinden, die ihren Steiner gelesen haben: Maurice le Guerrannichat seine Widerrede gegen den «Blindgänger einer wirklich-keitsfremden Utopie» in Buchform gegossen.1

HistorischesErste Variationen des Themas «Grundeinkommen» lassen sichnach 1982 im literarischen Umfeld der «Katholieke UniversiteitLeuven»4 lokalisieren. Dort studierte auch Herwig Büchele SJ,der 1985 mit Co-Autorin Lieselotte Wohlgenannt und AloisRiedlsperger SJ (Lektor und Vorwortschreiber) das «Grund-einkommen» inaugurierte5. Auf deren Standardwerk fußen dieseither erschienenen Arbeiten. 1987 zitierte Benediktus Har-dorp in Unternehmensbezogene Einkommensbildung, AssoziativePreisbildung und Soziales Hauptgesetz die Urheber der abstraktenIdee noch: «Vgl. u. a. Büchele/Wohlgenannt, Grundeinkommenohne Arbeit, Wien 1985 (Kath. Sozialakademie) [...]»6. Zu seinenInspiratoren hat Hardorp folgende Einstellung: «Es ist ja eine al-te Idee – und warum sollte die katholische Soziallehre sich nichtdafür aussprechen? Wenn jemand als Jesuit etwas Richtigessagt, bleibt es ja trotzdem richtig.»7 Naivitäten dieser Art wider-legte Rudolf Steiner schon 1917: «Das Irrtümlichste, dem mansich hingeben kann, das ist, wenn heute jemand sagen würde:Ach, gleichgültig, woher der Friede kommt, wenn er auch vondem Papst kommt.»8

«Kein Impuls der Brüderlichkeit»Alexander Caspar und Andreas Flörsheimer hatten mit «DasGrundeinkommen – die Fiktion einer Lösung» und «Grundein-kommen und Dreigliederung – Zur Debatte über das be-dingungslose Grundeinkommen»9 im Europäer grundsätzlichStellung bezogen. Maurice le Guerrannic arbeitet mehr die Dis-krepanz zwischen Denken und Fühlen heraus. Gleich zu Beginnstellt er die Frage: «ob Menschen, die gegenwärtig sehr mühsa-me Arbeiten, Nachtarbeiten, Tausende von wenig profitablenBerufen oder auch Fließbandarbeiten ausüben und deren Ent-löhnung im allgemeinen sehr niedrig ist, von dem Zeitpunkt

der Einführung des Grundeinkommens an ihre Tätigkeiten weiterhin ausüben möchten? [...] Wie viele ... würden noch einInteresse daran haben, eine Arbeit zu suchen, wenn sie doch ein Grundeinkommen erhalten?» Daran knüpft er die zweiteFrage: «Die Brüderlichkeit unter den Menschen kann sich nurentwickeln, wenn diejenigen, welche aktiv im Erwerbsleben ste-hen, dafür sorgen, dass jene, die dies nicht können, eine genü-gende ‹Unterstützung› (Grundeinkommen) erhalten, die aus-reicht, um anständig zu leben. Ist dies aber möglich, wenn alle‹staatliche Unterstützungsgelder› im Sinne des bedingungslosenGrundeinkommens verlangen?» Sein erstes Fazit lautet: «DieseFragen offenbaren, dass das bedingungslose Grundeinkommenkeinen Impuls bezüglich der Brüderlichkeit leisten könnte, son-dern einzig bezüglich einer gewissen Unabhängigkeit gegenüberden materiellen Zwängen der menschlichen Existenz.»

Guerannic fasst den Kern des Problems schon im Vorwortbeim Schopf: «[...] Götz Werner sieht wohl viele bürokratischeMissstände bezüglich der Sozialhilfe, welche die Frage der chro-nischen Arbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft oft erst nachspitzfindigen, misstrauischen und ohne Fantasie getroffenenAbklärungen in Angriff nimmt. Die bürokratischen Verirrungenerzürnen ihn derart, dass seine Überlegungen und seine Vorstel-lungskraft ihrerseits blind geworden scheinen gegenüber denFolgen seiner eigenen Vorschläge, gegenüber seiner Idee, dieihm sehr teuer geworden ist und die heute eine ziemlich großeUnterstützung in der Öffentlichkeit genießt. Ohne ein genü-gendes Studium der Dreigliederung kann er offensichtlich nichterkennen, dass die Probleme, von denen er spricht, auf ganz an-dere Weise durch die soziale Dreigliederung gelöst werden kön-nen. [...] Ich finde es nur außerordentlich bedauernswert, dassseine Idee nicht rechtzeitig aus dem Lichte der sozialen Drei-gliederung beleuchtet werden konnte. Er hätte sich dann für ei-ne Idee einsetzen können, die in völlig andere Dimensionenführen [kann] ...»

Das falsch verstandene soziale HauptgesetzDamit deutet Guerrannic auf den Webfehler der Utopie: die Pre-diger des «Grundeinkommens» argumentieren auf der Gefühls-ebene. Würde dagegen auf der Verstandesebene argumentiert(wie es dem Zeitalter der Bewusstseinsseele angemessen wäre),käme man falschen Argumenten schnell auf die Schliche. Syl-vain Coiplet hielt schon 2007 fest: «Ein bedingungsloses Ein-kommen für alle lehnt Rudolf Steiner aber ab: ‹Es kommt alsodarauf an, dass man überhaupt den Begriff der Arbeit nicht in ir-gendeiner Weise zusammenbringt, wie er heute vielfach zusam-mengebracht wird, mit dem Begriff des Einkommens. Sein Ein-kommen bekommt ja ein Mensch wahrhaftig nicht bloß dafür, dasser isst und trinkt oder sonst irgendwelche leiblichen oder seelischenBedürfnisse befriedigt, sondern auch dafür, dass er für andere Men-schen arbeitet.› [...] Diese und andere Klarstellungen aus demJahr 1919 werden gerne von denjenigen übersehen, die RudolfSteiner und sein soziales Hauptgesetz [siehe Kasten] für ihre For-derung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen ver-einnahmen möchten. Sie sehen nicht, dass Rudolf Steiner das

«Ohne ein genügendes Studium der Dreigliederung...»Das Grundeinkommen im Lichte der Sozialen Dreigliederung 1 von Maurice le Guerrannic

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Grundeinkommen/Dreigliederung

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Einkommen gerade an eine Bedingung knüpfen will. Wer das so-ziale Hauptgesetz einsieht, strebt eine soziale Ordnung an, wo die Ar-beit erst dann zum benötigten Einkommen führt, wenn sie wirklichfür das Wohl anderer Menschen geleistet worden ist.»10

Rudolf Steiners «Brotbeispiel»Singuläre Lösungen im Wirtschaftsleben hat Rudolf Steinerschon im Dezember 1919 verworfen, er umriss damals eine abs-trakte Einzelmaßnahme im Wirtschaftsleben wie folgt: «EineVerbesserung kann nur eintreten, wenn nicht einzelne Maß-nahmen für dieses oder jenes als Heilmittel angesehen werden,sondern wenn dieser Gang des Wirtschaftslebens in seinemganzen Wesen durch die Dreigliederung zu etwas anderem ge-macht wird. Einzelne Maßnahmen können ja manches im ein-zelnen vorübergehend bessern; wenn aber das Wesen des Wirt-schaftens dasselbe bleibt, so kann eine einzelne Verbesserungnichts helfen; sie muss sogar eine Verschlechterung auf einem an-deren Gebiete zur Folge haben.»11 Diesen schwer wiegenden Hin-weis haben die Grundeinkommensschwärmer offenbar genausoübersehen wie das zur Untermauerung dieser These 1922 im Nationalökonomischen Kurs gegebene «Brotbeispiel»:

«...Es sind so und so viele Arbeitslose da, also man führt neueBauten auf und so etwas, dann sind die Leute untergebracht. Ja,für die nächsten fünf Schritte hat man das Problem los, aberman hat doch nichts Neues produziert. Alle Arbeiter zusammenhaben nicht mehr zu essen, als sie früher zu essen hatten. Wennich auf der einen Seite die Waagschale sinken lasse, muss sie aufder anderen Seite steigen. Es muss also, indem ich nicht durcheinen zusammenhängenden volkswirtschaftlichen Prozess, son-dern durch eine bloße einzelne Maßregel irgend etwas veran-lasst habe, auf der anderen Seite eine volkswirtschaftliche Kala-mität eingetreten sein. Und man würde, wenn man zu beob-achten verstünde, sich ausrechnen können: wenn ich in dieserWeise soziale Reform treibe, dass ich einfach die brotlosen Leu-te dadurch, dass ich Neubauten aufführen lasse, in Brot setze,verteure ich diese oder jene Artikel für eine andere Anzahl vonLeuten. So dass es gerade auf wirtschaftlichem Gebiete eben er-sichtlich ist, wie man nicht kurz denken darf, sondern alles imZusammenhang denken muss. Und so muss man sich eben sa-gen: Es kommt schon darauf an, dass die Dinge eben im Zusam-menhang gedacht werden. Das ist etwas, was absolut nicht soleicht ist im volkswirtschaftlichen Prozess, die Dinge im Zusam-menhang zu denken, einfach aus dem Grunde, weil der volks-

wirtschaftliche Prozess etwas anderes ist als ein wissenschaftli-ches System.»12

ErdentüchtigkeitZur auf die Gefühls- oder Instinktebene wirkenden «Grund-einkommens»-Propaganda scheibt Guerannic: «Es spricht die reflexartig entstehende Akzeptanz an, wenn ein Leben ohne Ar-beit in Aussicht steht.» Wenn man diese luziferisch-schwärme-rischen Aspekte und die Reduzierung der sozialen Frage auf rei-ne Geldfragen sieht, ist Guerrannics Kritik berechtigt.

Und was die eingangs genannten Inspiratoren betrifft, mussman sogar fragen, ob nicht von interessierter Seite ganz bewusstein Spaltpilz in die anthroposophische Menschengemeinschaft(diesmal in den Dreigliederungsgedanken) getragen wird – un-ter Ausnutzung der sogenannten anthroposophischen «Promi-nenz». Als Gegenpol zum erdenflüchtigen «Grundeinkommen»und den erdensüchtig machenden Ausuferungen der heutigenWirtschaftsordnung («Gier frisst Hirn»), wünschte man sichdoch etwas mehr Erdentüchtigkeit im neuen Jahrtausend. RudolfSteiner charakterisierte das Erfordernis 1917 einmal so: «Was wirin der Gegenwart überall feststellen müssen, das ist die Oberflächlich-keit; man kann nicht oft genug darauf aufmerksam machen. Wirmüssen überall diesen furchtbaren Hang zur Oberflächlichkeit auf-spüren. Er äußert sich ja heute vorzugsweise, wo er auch äußerlichfurchtbar schädlich wirkt, auf dem Gebiete des sozialen, des ökono-mischen Denkens. Da will man nicht in die Dinge untertauchen, nichtin das untertauchen, was in der Natur der Dinge liegt.»13

Maurice le Guerrannic hat in bester anthroposophischer Tra-dition fein herauskristallisiert: wer sich – von Verdrängungenund Realitätsferne gezeichnet – nur noch mit dem Ruf nach abs-trakten Einzellösungen und staatlich verordneter Alimentie-rung an der Entwicklung des sozialen Organismus beteiligt,spricht nur die Gefühlsebene an. Einem ähnlich gelagerten Fallerteilte Rudolf Steiner am 2. August 1922 in Dornach (National-ökonomischer Kurs, GA 340) eine eindeutige Absage. Am Beispieldes katholischen Moralpädagogen Friedrich Wilhelm Foerster(1869 –1966) machte er deutlich: «Es fehlt heute nicht an Men-schen, die herumgehen und sagen: ‹Unsere Volkswirtschaftwird gut, furchtbar gut, wenn ihr Menschen gut werdet. IhrMenschen müsst gut werden!› – Stellen Sie sich einmal vor, sol-che Foersters und dergleichen, die überall herumgehen und pre-digen, wenn die Menschen nur selbstlos werden, wenn sie denkategorischen Imperativ der Selbstlosigkeit erfüllen, dann wirdschon die Wirtschaft gut werden! Aber solche Urteile sind ei-gentlich nicht viel mehr wert als auch das: Wenn meine Schwie-germutter vier Räder hätte und vorne eine Deichsel, wäre sie einOmnibus, – denn es steht tatsächlich die Voraussetzung mit derKonsequenz in keinem besseren Zusammenhang als da, nur et-was radikaler ausgedrückt.»

Franz Jürgen Römmeler

Kursiv & [...]: FJR.

1 Maurice le Guerrannic: Grundeinkommen im Lichte der Sozialen

Dreigliederung, Basel 2009.

2 http://www.rudolf-steiner-2011.com/upload/files/Presse-

Downloads/Pressekonferenz.pdf

3 http://futurenow2010.org/typo3/de/arbeitsgruppen.html :

Das soziale Hauptgesetz«Das soziale Hauptgesetz, welches durch den Okkultismusaufgewiesen wird, ist das folgende: ‹Das Heil einer Gesamt-heit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer,je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen fürsich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträg-nissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eige-nen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern ausden Leistungen der anderen befriedigt werden›. Alle Einrich-tungen innerhalb einer Gesamtheit von Menschen, welche die-sem Gesetz widersprechen, müssen bei längerer Dauer irgendwoElend und Not erzeugen.»

Rudolf Steiner, GA 34.

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Leserbriefe

4 «Löwen» (niederländisch Leuven) im belgischen Flandern.

Universitätsgründung 1425 durch Papst Martin V.

5 Grundeinkommen ohne Arbeit. Auf dem Weg zu einer kommuni-

kativen Gesellschaft, Wien 1985.

– Herwig Büchele SJ, u.a. Theologiestudium in Leuven/Löwen,

Leitung der Katholischen Sozialakademie Österreichs, Dekan

der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck;– Lieselotte Wohlgenannt, Mitarbeiterin des Bureau de l’En-seignement Catholique du Congo, des Secrétariat de l’Enseig-nement Catholique pour l’Afrique et Madagascar und der Katholischen Sozialakademie Österreichs in Wien;– Alois Riedlsperger SJ, u.a. Leitung der Katholischen Sozial-akademie Österreichs.

6 https://secure.dhmp.de/native.php?nativedownloads=13243546&file_id=8&nativedownloads=13243546&fn=B-01-09.pdf

7 zitiert aus Hardorps Brief vom 14.2.2007 an den Europäer.8 Rudolf Steiner, 29. September 1917: Die spirituellen Hintergründe

der äußeren Welt, GA 177.9 Der Europäer, Jg. 10 / Nr. 8 (Juni 2006) bzw. Jg. 11 / 9/10 (Juli/

August 2007); pdf-Datei: www.perseus.ch10 http://www.dreigliederung.de/essays/2007-04-100.html11 Rudolf Steiner: «Einsicht tut not», Aufsätze über die Dreigliede-

rung des Sozialen Organismus und zur Zeitlage, GA 24.12 Rudolf Steiner, 31. Juli 1922: Nationalökonomischer Kurs, GA 340.13 Rudolf Steiner, 21. Januar 1921: Die Verantwortung des Men-

schen für die Weltentwickelung, GA 203.

lichkeit mit dem Leib, die Seele mit derFreiheit und der Geist erst mit derGleichheit verbunden sein kann. Heute wird Brüderlichkeit nicht auf dasWirtschaftsleben bezogen, Freiheit nichtauf die Seele beschränkt und Gleichheitin jeder Beziehung verlangt. Es wäre sinn-voll, nicht im Allgemeinen zu sprechenoder zu schreiben, sondern die geistigeRealität wirklich ins Auge zu fassen.

Harald Högler

Beobachtung der aktuellen DenktätigkeitZu: Barbara Steinmann/ Jean-Marc Decres-sonnière: Forum: «Wege zur Geisterfahrungim Denken», Jg. 15, Nr. 1 (November 2010)

Dass eine falsche Lehre sich nicht wider-legen lässt, weil sie auf der Ansicht be-ruht, dass das Falsche wahr ist (so un-gefähr sagt es Goethe), beweist dieBuchbesprechung des Buches Das Tor zurgeistigen Welt. Seine Riegel und Scharniereim Europäer. Das genannte Buch kanndie Lehre von Renatus Ziegler nicht fürdiejenigen Leser widerlegen, die dersel-ben Überzeugung wie Ziegler sind. Ich kann nur den beiden Autoren derBesprechung fast wörtlich dieselbenVorwürfe machen, die sie mir gemachthaben1, in der Hoffnung, dass damitdeutlich wird, wie unsinnig – weil voll-kommen subjektiv – eine solche Buch-besprechung ist.Allerdings lassen Steinmann und Decressio-nière sich auf den von Mosmuller differen-ziert beschriebenen Prozess nicht ein, son-dern beginnen ihre Kritik unreflektiert direktauf der Stufe, auf die Mosmuller schrittwei-se hinarbeitet. Fatalerweise sind sie nichtbereit, die Gesichtspunkte Mosmullers mitzu denken. Sie bleiben auf der Sprachebene

Leserbriefe

Das schönste und verständlichstephilosophische Werk ...Zu: Renatus Ziegler, «Vorstellendes und rei-nes Denken», Jg. 14, Nr. 12 (Oktober 2010)

Für mich ist die Philosophie der Freiheitvon Rudolf Steiner das schönste und dasverständlichste philosophische Werk un-seres Zeitalters. Davon konnte ich michwieder einmal bei Renatus Zieglers Auf-satz überzeugen. Wie viele Steiner-Inter-preten scheitert er. Satzungetüme wie«Ergänzend zur reflexiven Untersuchungder Natur des Denkens im Ausnahmezu-stand» machen mich so sprachlos wie dieEntgleisung «Epistemische Intuitionendienen der Erfassung des Zusammen-hangs von gegebenen, das heißt gewor-denen spezifischen Welterscheinungenin universell-begrifflicher Form.» Ein Grund, wieder einmal das Originalzu lesen.

Bärbel Goat-Schwendi, Riehen

Die geistige Realität ins Auge fassenZu: Boris Bernstein, Apropos 66: «Die Lügeals Methode der Politik», Jg. 14/ Nr. 12(Oktober 2010)

In Apropos 66 (Nr. 12/2010) «Die Lügeals Methode der Politik» schreiben Sieunter dem Kapitel: ‹Warum Volkszu-sammenhänge überholt sind› den Satz:«Das wirkt dem unsäglichen Nationalis-mus und vielfältigen Gruppenegoismusentgegen.» Bitte erlauben Sie mir dazudie folgenden Bemerkungen: Ich nehme an, Sie meinen damit dasübersteigerte Nationalbewusstsein, den

Chauvinismus, und mit Gruppenegois-mus jene Volks-Minderheiten, die in ih-rem Blutzusammenhang über die ein-heimische, nicht mehr durch Blut-,wohl aber Schicksal-verbundene Mehr-heit bestimmen möchten; unter ande-ren auch jene, die das Bewusstsein ha-ben, bald die Mehrheit zu sein. DerenBlutzusammenhang ist aufzulösen. Die-se Auflösung, man kann sie auch In-tegration nennen, wird aber, weil das gegenüberstehende Selbstbewusstseinfehlt, mit Erfolg als NS-Nationalismusund Rassismus gebrandmarkt. Das aberist nicht im Sinne der Geisteswissen-schaft, die sich gegen eine vorzeitigeAuflösung der Nationalstaaten wendetund diese aus dem freien Willen des Vol-kes heraus sich entwickeln lassen will.Die allgemeine geistige Grundlage dazuist heute keinesfalls gegeben. RudolfSteiner spricht in diesem Zusammen-hang von der sechsten Kulturepoche.Heute besteht die vorsätzliche Absicht,durch ungebremste Zuwanderung – vonanderen Rassen und Blutsverbänden –nicht nur des Menschen Würde und Frei-heit herab zu stufen, sondern eine neueMenschenrasse zu schaffen, analog demNiveau einer im Zusammenwirken vonLuzifer und Ahriman bewirkten Men-schenrasse, wie sie zur Zeit des Bolsche-wismus geschaffen wurde. Amerika hat jadiesen Bolschewismus unterstützt. Dieneue Menschenrasse soll durch Vermi-schung entstehen und das EU-Volk erge-ben, ein ebenso leicht beherrschbares,wie das amerikanische. Das bewirkt aberkeine anderen sozialen Zusammengehö-rigkeiten, denn woher soll dieser Men-schenrasse die Idee der Dreigliederungdes sozialen Organismus kommen oderdie andere Geist-Grundlage, dass Brüder-

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stehen und scheitern bei der Lektüre Mos-mullers an dem Wort «Beobachtung».Es wurde in der Buchbesprechung sugge-riert, ich hätte dieses Wort «Beobach-tung» stillschweigend in einem allgemei-nen, unspezifischen Sinn verwendet. Esmuss also sein, dass die beiden entwederden Gedankengängen Mosmullers nicht zufolgen vermögen oder sie haben das Buchnur selektiv gelesen. Gerade die Bedeutungdes Wortes «Beobachtung», die bei Zieg-ler so ganz anders verwendet wird als beiRudolf Steiner, wurde für mich zu Ver-wunderung, und dadurch zum Aus-gangspunkt für meine Kritik (S. 211 ff).In meinem Buch wird nicht von einer«intuitiven Erfahrung des Denkens» ge-sprochen, sondern von einer «Beobach-tung der aktuellen Denktätigkeit». Diesehat begrifflich eine ganz andere Bedeu-tung als die von Ziegler beschriebene in-tuitive Denkerfahrung.So erfinden die Autoren zuerst ein«selbstverschuldetes Missverständnis»,das sie dem Buch zugrunde legen, umdann die ganze Arbeit in das Lächerlichezu ziehen.Was in den Fußnoten dann noch weitergesagt wird, ist nicht mehr lächerlich,sondern tief traurig. Dagegen will ichmich nicht einmal wehren, denn es sindnur tendenziöse, rein auf die Persönlich-

keit gerichtete Verleumdungen, die al-len Dialog unmöglich machen. Die Un-möglichkeit eines Dialoges war übrigenseher der Grund für das Buch Das Tor zurgeistigen Welt … als die Folge.

Mieke Mosmuller

1 Die kursiv geschriebenen Sätze sind Zita-te aus der Buchbesprechung.

Anmerkung: R. Steiner gibt im dritten Ka-pitel der Philosophie der Freiheit an, dassund weshalb die aktuelle Denktätigkeitnicht beobachtet werden kann. Dies ist fürdas Gegenstandsbewusstsein unmöglich;das in diesem keimhaft tätige Intuitionsbe-wusstsein macht aber eine Erfahrung jedesaktuellen Denkaktes. Deren Resultate kön-nen nachträglich wieder beobachtet wer-den. Die Beobachtbarkeit des aktuellenDenkens zu postulieren, zeugt m. E. von ei-nem Missverständnis von Steiners diesbe-züglichen Klarstellungen. Über Steiners,nicht in jedem Punkt leicht verständlicheDarstellungen sollten sachliche Dialogedurchaus möglich sein. Siehe dazu: «Beob-achtung und Intuition des Denkens – Zuzwei häufig auftretenden Missverständnis-sen im Umgang mit der Philosophie der Frei-heit», in Th. Meyer, Von Moses zu 9/11 –Weltgeschichtliche Ereignisse und geisteswis-senschaftliche Kernimpulse, Perseus Basel2010, S. 315ff.

Thomas Meyer

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Impressum

P E R S E U S V E R L A G B A S E L

Symptomatisches aus Politik, Kultur und WirtschaftMonatsschrift auf der Grundlage der Geisteswissen-schaft Rudolf Steiners (Hg. von Thomas Meyer)

Jg. 15 / Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Bezugspreise:• Einzelheft: Fr. 13.– / € 9.– (zzgl. Versand)• Doppelheft: Fr. 22.– / € 15.– (zzgl. Versand)• Jahresabonnement: Fr. 145.–/ € 85.– (inkl. Versand)• Luftpost/Übersee: Fr. 210.– / € 150.– (inkl. Versand)• Probeabonnement (3 Einzelnrn. oder 1 Einzelnr.

und 1 Doppelnr.): Fr. 40.– / € 25.– (inkl. Versand)• AboPlus (Jahresabo plus Spende): Fr. 200.– / € 140.–• Probenummer: gratis

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Kündigungsfrist:Eine Kündigung muss bis spätestens am 1. Oktoberbei uns eingetroffen sein, sonst wird das Abonnementautomatisch um einen Jahrgang verlängert. Der Jahr-gang beginnt jeweils im November und endet im Ok-tober. Geschenkabonnements sind auf 1 Jahr befristet.

Redaktion:Thomas Meyer (verantwortlich), Monica Beer, BorisBernstein, Brigitte Eichenberger, Andreas Flörsheimer, Marcel Frei, Christoph Gerber, Ruth Hegnauer, Franz-Jürgen Römmeler, Lukas Zingg.

Redaktionsanschrift: Perseus Verlag, Leonhardsgraben 38 A, CH-4051 BaselTel: 0041 (0)61263 93 33, Fax: 0041 (0)61261 68 36E-Mail: [email protected], www.perseus.chJeder Autor verantwortet seinen Beitrag selbst. Bei unaufgefordert eingesandten Manuskripten kannRücksendung nicht garantiert werden.

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Sämtliche Artikel und Zeichnungen dieser Zeit-schrift sind urheberrechtlich geschützt.

ISSN 1420–8296 www.perseus.ch

Gegendarstellung

Gegendarstellung des Rudolf Steiner Verlags

Zu den Beiträgen von Marcel Frei in Jg. 14,Nr. 9/10 (Juli/August 2010, S. 10 –11) undNr. 11 (September 2010, S. 9 –11)

1. Der Auslieferungsstopp von einigenBänden der Gesamtausgabe Rudolf Stei-ners erfolgte Ende 2007 durch die Ru-dolf Steiner Nachlassverwaltung, weilaufgrund der Rechtslage ein schwerwie-gender Schaden für den Ruf und die Ver-breitung des Werkes von Rudolf Steinerzu erwarten war. Die Bände werdenüberarbeitet, wobei Textstellen, die ausheutiger Sicht möglicherweise als ras-sendiskriminierend angesehen werdenkönnen, angemessen kommentiert wer-den. Die Bände erscheinen grundsätz-lich gleich nach ihrer Fertigstellung,manche benötigen bei einer Neuauflageauch sonst eine sorgfältige und aufwen-dige Überarbeitung durch die Herausge-ber im Rudolf Steiner Archiv.

2. M. Frei legt in Nr. 11 nahe, dass Spendengelder für die Finanzierung desBuches von Taja Gut, Wie hast du’s mitder Anthroposophie? eingesetzt wurden.Das Buch erhielt in keiner Weise Zu-schüsse von innerhalb oder außerhalbdes Verlags. Es entstand als selbständigeSchrift des Autors, übrigens auch außer-halb seiner Arbeitszeit als Mitarbeiterim Verlag. 3. Das erwähnte Buch von Taja Gut gibt weder allgemeine Auffassungen des Rudolf Steiner Verlags noch der RudolfSteiner Nachlassverwaltung wieder. Eserklärt sich ja selber deutlich als eine in-dividuelle Auseinandersetzung mit Ru-dolf Steiner und der Anthroposophie inForm eines Selbstgesprächs, das innereFragen auch als kontroverse Widersprü-che darstellt.

Cornelius Bohlen, Verwaltungsrat Rudolf Steiner Verlag AG

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Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011Inserenten verantworten den Inhalt ihrer Inserate und Beilagen selbst

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Rudolf Steiner und Christian Rosenkreutz

208 Seiten, 28 Abb., Leinen mit SUEuro 28,– / CHF 42,– ISBN 978-3-905919-25-7

Rudolf Steiner sprach in vielen Vorträgen über die Beziehung der

anthroposophischen Geisteswissenschaft zum Rosenkreuzer-tum, sehr viel seltener über die «Wesenheit des Christian Ro-senkreutz», aus guten Gründen. «Über Christian Rosenkreutz zu sprechen, setzt voraus ein großes Vertrauen in die Mysteri-en des geistigen Lebens, ein Vertrauen nicht in die Person, sondern in die großen Geheimnisse des spirituellen Lebens», sagte er am 27. September 1911 in Neuchâtel. Steiner nannte Christian Rosenkreutz einen der «großen Führer der Mensch-heit» – eine Individualität oder Wesenheit, die die okkulte Be-wegung in die Moderne hinein zu leiten hat und als «größter Lehrer des Christentums» wirkt, auch im Hinblick auf die Wiederkunft des Christus im Ätherischen. Diesen Zusammen-hängen und ihrer Bedeutung für die Lebensarbeit Rudolf Stei-ners geht die Studie nach.

RUDOLF STEINER

UND

CHRISTIANROSENKREUTZ

PETER SELG

VERLAG DESITA WEGMAN INSTITUTS

A U S D E M V E R L A G S P R O G R A M M

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Mabel Collins:

Geschichte des JahresThe Story of the Year

Zweisprachige Ausgabe

Dieses von R. Steiner hochgeschätzte kleine Werk ist ein Vorläuferseines «Seelenkalenders» und seiner großen Imaginationen der Festeszeiten. Die Ausgabe ist ergänzt durch eine Würdigung Stei-ners aus dem Jahre 1905, eine Betrachtung von W. J. Stein zu denZwölf heiligen Nächten und einem bisher unveröffentlichten Vor-trag Michael Bauers.Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von ThomasMeyer.

«Nicht in ganzen Bibliotheken sind Worte von solcher Tiefe zu finden.»Rudolf Steiner

150 S., geb., Fr. 29.80 / € 17.80ISBN 978-3-907564-35-6

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Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011

Buchbestellungen über den Buchhandel www.perseus.ch P E R S E U S V E R L A G B A S E L

U N S E R E N E U E R S C H E I N U N G E N – A B S O F O R T L I E F E R B A R :

Thomas Meyer:

Von Moses zu 9/11

Weltgeschichtliche Ereignisseund geisteswissenschaftlicheKernimpulse

Betrachtungen aus vierzehn Jahren

Durch die im vorliegenden Buch gesammelten Europäer-Betrach-tungen aus vierzehn Jahren ziehen sich u.a. folgende Grundmotive: – das Schicksal Europas in Vergangenheit und Zukunft– der Zusammenhang von Deutschtum und Judentum– der Gedanke der Zugelassenheit des Bösen durch ein höheres Gutes– die Verlogenheit als Grundzug unseres öffentlichen Lebens– die Bedeutung der philosophischen Basis der Geisteswissenschaft

R. Steiners– die Einsicht in die weltgeschichtliche Dimension derselben– der Mut, die Furcht vor dem Geist zu überwinden

Dieses Buch erhofft sich Leser, die sowohl von akribischer Liebe zumDetail wie auch vom Bedürfnis nach geisteswissenschaftlicher Ge-samtschau beseelt sind.

416 S., brosch., Fr. 34.– / € 22.– ISBN 978-3-907564-76-9

Thomas Meyer:

Scheidung der Geister

Die Bodhisattwafrage als Prüfstein des Unterscheidungs-vermögens

Mit den Vorträgen von Elisabeth Vreede und Adolf Arenson

21 Jahre nach der Erstauflage liegt dieses Buch hiermit in erweiterterForm wieder vor. Elisabeth Vreedes Vorträge sind nach wie vor mus-tergültig in ihrer Klarsicht: Sie betonen den Ich- und Intuitionscha-rakter von Steiners Geisteswissenschaft, die sich von jeder Bodhisatt-wa-Inspiration unterscheidet. Ein neuer Beitrag von Meyer zeigtaußerdem, dass Steiner bereits in der Pforte der Einweihung denWeg zur Lösung der Bodhisattwafrage gewiesen hat. Ein Nachwortnach 21 Jahren verfolgt u.a. das weitere Schicksal von Krishnamurti,in das auch der zypriotische Heiler Daskalos verflochten ist.

«Enthusiastische Leser sagen manchmal von einem Buch: ‹Ich konnte esnicht mehr weglegen.› Das ist offenbar entweder ein Vergleich oder eineÜbertreibung. Doch in meinem eigenen Fall kann ich mich keines ande-ren Buches entsinnen, das diesem Satz buchstäblich näher kam als DieBodhisattwafrage.»

Owen Barfield zur englischen Ausgabe dieses Buches

284 S., brosch., Fr. 27.– / € 19.–ISBN 978-3-907564-75-2

Charles Kovacs:

Betrachtungen zurApokalypse

Ein Kommentar zum Nürnberger Zyklus von Rudolf Steiner

Charles Kovacs (1907–2001) hinterließ eine tiefgründige Studie zumNürnberger Apokalypse-Zyklus (1908) von Rudolf Steiner.Seine Kommentare schlagen Brücken zum heutigen Zeit- und Zivili-sationsleben.Nicht nur für Kenner von Steiners Nürnbergerzyklus, sondern für je-den wachen Zeitgenossen. Dem Buch sind 16 farbige, hiermit erst-mals veröffentlichte Reproduktionen von Bildern Kovacs beigefügt.Eine Lebensskizze Kovacs von Thomas Meyer bildet den Abschlussdes Bandes.

176 S., geb., Fr. 29.– / € 21.–ISBN 978-3-907564-77-6

Charles Kovacs

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Betrachtungen zur ApokalypseEin Kommentar zum Nürnberger Zyklus

von Rudolf Steiner

Norbert Glas:

Der ahrimanischeDoppelgänger desMenschen

Eine menschenkundlich-biographische Studie

Norbert Glas (1897–1986) griff eine Angabe Rudolf Steiners überden ahrimanischen Doppelgänger aus dem Jahre 1917 auf.Dieser ist die Ursache aller spontan auftretenden «organischerKrankheiten», z. B. Krebs. Sein «luziferischer Bruder» ruft die neuro-tischen Krankheiten hervor. Glas untersucht das Wirken des ahrima-nischen Doppelgängers an unbekannten Menschen und an denWertken oder am Leben von Dostojewski, Woodrow Wilson und Johannes Brahms; das des luziferischen anhand des Schicksals Höl-derlins.

80 S., geb., Fr. 23.– / € 17.– ISBN 978-3-907564-78-3

Der ahrimanische Doppelgänger des MenschenEine menschenkundlich-biographische Studie

P E R S E U S

Norbert Glas

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Pfingsten – Fest des GeisterwachensKursleitung: Thomas Meyer, Basel

Beginn: Samstag, 11. Juni 2011, 11:00Ende: Montag, 13. Juni 2011, 13:00 Ort: Rüttihubelbad (Schweiz)Kursgebühr: CHF 420.–(Frühbuchungsrabatt; günstige Unterkünfte im Angebot;

Kursgeldermässigung für Studierende und Auszubildende)

Diese Tagung möchte Anstöße geben, die Realität kon-

kreter geistiger Wesenheiten und ihr Hereinwirken in

die Menschensphäre genauer in den Blick zu fassen. Am

Ausgangspunkt wird das Ereignis der ätherischen Wie-

derkunft Christi und das Wirken des Zeitgeistes Michael

stehen.

Dann wird ein Überblick gegeben über das, was man

«die unvollendete Dämonenlehre» der Geisteswissen-

schaft Rudolf Steiners nennen könnte. Sie umfasst ins-

besondere Phantome, Spektren und Dämonen (im enge-

ren Sinne des Wortes). Diese Wesen werden durch unser

geistig-seelisches Verhalten geschaffen und müssen

auch durch uns wieder erlöst werden. Daneben gibt es

von uns unabhängige «Anti-Michael-Dämonen», die

insbesondere seit dem Beginn der Michaelzeit im Jahre

1879 stark wirksam sind und heute störend in die wei-

tere Entfaltung des anthroposophischen Weltimpulses

hineinwirken.

In einem dritten Teil wenden wir uns der übersinnlichen

Michaelschule und dem durch Rudolf Steiner in seiner

letzten Lebenszeit gegebenen 19-stufigen Meditations-

weg zu.

In allen drei Teilen werden Bezüge zur Zeitgeschichte

hergestellt.

Zur Vorbereitung empfohlen

(für die Teilnahme nicht erforderlich):

� Pfingsten, das Fest der freien Individualität,

Vortrag vom 15. Mai 1910, GA 118.

� Das Pfingstfest des seelischen Zusammenstrebens,

Vortrag vom 9. Juni 1908, GA 98.

� Esoterische Betrachtungen,

Vortrag vom 20. Juli 1924, GA 240.

Anmeldung und Auskunft:

Rüttihubelbad, Tel. +41 (0)31 700 81 81

[email protected]

Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011 Inserenten verantworten den Inhalt ihrer Inserate und Beilagen selbst

P E R S E U S V E R L A G B A S E Lwww.perseus.ch

-Samstag

Veranstaltung im Gundeldinger-Casino(10 Minuten zu Fuss vom Hinterausgang Bahnhof SBB)Güterstrasse 211 (Tellplatz, Tram 15 /16), 4053 Basel10.00 –12.30 und 14.00 –17.30 Uhr

Samstag, 11. Dezember 2010

Kursgebühr: Fr. 85.– / € 60.–, Texte werden bereitgestellt

Anmeldung erwünscht an [email protected] Telefon 0041 (0)61 383 70 63

Veranstalter:

DER MEDITATIONSWEGDER MICHAELSCHULEIN 19 STUFENThomas Meyer, Basel

P E R S E U S V E R L A G B A S E Lwww.perseus.ch

-Samstag

Veranstaltung im Gundeldinger-Casino(10 Minuten zu Fuss vom Hinterausgang Bahnhof SBB)Güterstrasse 211 (Tellplatz, Tram 15 /16), 4053 Basel10.00 –12.30 und 14.00 –17.30 Uhr

Samstag, 22. Januar 2011

Kursgebühr: Fr. 85.– / € 60.–, Texte werden bereitgestellt

Anmeldung erwünscht an [email protected] Telefon 0041 (0)61 383 70 63

Veranstalter:

ERKENNTNIS UNDENTWICKLUNG

Von der «Philosophie der Freiheit» zur «Theosophie»

Steffen Hartmann, Hamburg

Veranstalter:

www.perseus.ch P E R S E U S V E R L A G B A S E L

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Der Europäer Jg. 15, Nr. 2/3, Dezember/Januar 2010/2011Inserenten verantworten den Inhalt ihrer Inserate und Beilagen selbst

Kurs mit Thomas Meyerim Scala Basel

Die Philosophie der Freiheit und der anthroposophische Schulungsweg

In diesem Kurs werden Grundaspekte der Philosophie der Freiheit (GA 4) sowie der Schrift Die Stufen der höheren Erkenntnis (GA 12) erarbeitet.

Jeweils Donnerstagabend 19.30 – 21.00 Uhr

1. Block: 6. Januar 2011 – 14. April 2011(ohne Fasnachtswoche)

2. Block: 2. Juni 2011 – 23. Juni 2011

Beide Kursblöcke können für sich besucht werdenKeine Teilnahmevoraussetzungen Richtpreis Fr. 25.–/Abend

Auskunft: [email protected]. 079 781 78 79 oder 061 263 93 33

Ist Rudolf Steiner noch aktuell?Zum 150. Geburtstag

Aus Anlass des 150. Geburtstages Rudolf Steiners soll sein Lebenswerk kritisch ins Auge gefasst werden. Was davon hat Bestand? Waldorfschulen und anthroposophisch orientierte Medizin? Was ist von Vorwürfen angeblicher Unchristlichkeit oder chauvinis-tischer Tendenzen zu halten? Der Kurs bietet eine Standortbestimmung: Wo steht die Anthroposophie im heutigen Kulturleben?

Thomas Meyer, Verleger, Schriftsteller

Kurs Nr.: K1401070Dienstag, 01.02.11 – 22.02.1120.15 – 22.00 h, 4-malUniversität Basel, Kollegienhaus, Petersplatz 1, BaselKursgebühren: CHF 100.00

Information und Anmeldung:Volkshochschule beider Baselwww.vhsbb.ch

D I E N E U E E U R O P Ä E R - C D

www.perseus.ch P E R S E U S V E R L A G B A S E L

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Bitte Talon abtrennen und einsenden an: Beat Hutter, Flühbergweg 2b, CH-4107 Ettingenoder per Fax an: 0041 (0)61 721 48 46oder per E-Mail an: [email protected]