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Joachim Strähle (1937–2009) Joachim StrȨhle, emeritierter Professor fɒr Anor- ganische Chemie an der UniversitȨt Tɒbingen, verstarb am 20. Januar 2009 im Alter von 71 Jahren. Er wurde 1937 in Dresden geboren, wo er 1945 als SiebenjȨhriger die ZerstɆrung der Stadt erlebte. 1954 floh die Familie vor politischer Repression in den Westen Deutschlands und ließ sich in Stuttgart nieder. Nach dem Abitur begann Joachim StrȨhle 1958 an der Technischen Hochschule Stuttgart mit dem Chemiestudium. Von den drei dort tȨtigen großen akademischen Lehrern Josef Goubeau, Helmut Bredereck und Theodor FɆrster war er tief beeindruckt, und schon frɒh reifte in ihm der Wunsch, selbst Wissenschaftler zu werden. Kurt Dehnicke, ein junger Nachwuchswissenschaftler, betrieb in Stuttgart eine chemische Forschung, die ihn faszinierte, weshalb er sich diesem zur Dok- torarbeit anschloss. Kurt Dehnicke hatte gefunden, dass aus dem nicht ungefȨhrlichen Chlorazid und Metallhalogeniden ungewɆhnliche Chloridonitri- dometall-Komplexe mit Metall-Stickstoff-Mehr- fachbindungen entstehen; mit deren Charakteri- sierung begann Joachim StrȨhle seine Forscher- karriere. Aus ClN 3 und VCl 4 entsteht durch oxida- tive Ƞbertragung einer Azidgruppe die Zwischen- verbindung VCl 4 N 3 , die sich unter N 2 -Eliminierung zum Imidchlorid VCl 3 (NCl) umlagert, dessen li- neare V NCl-Gruppe er durch Schwingungs- spektroskopie nachwies. Auf analogem Weg bildet sich aus MoCl 5 und ClN 3 das Nitridchlorid MoCl 3 (N) mit einem terminalen Nitridoliganden. Nach seiner Promotion 1965 ging Joachim StrȨhle zunȨchst fɒr ein Jahr nach Freiburg zu Georg Brauer. Dort lernte er dessen Schɒler Hartmut BȨrnighausen kennen, der gerade einen Ruf nach Karlsruhe erhalten hatte. Joachim StrȨhle ging mit ihm nach Karlsruhe, weil sich ihm die Chance bot, die damals in der Chemie kaum ver- breitete, aber ɒberaus vielversprechende Methode der Kristallstrukturbestimmung an Einkristallen durch RɆntgenbeugung zu erlernen. Was heute eine Standardmethode ist, war in den 1960er Jahren den Kristallographen vorbehalten. Joachim StrȨhle war ein Pionier, der diese Methode selbst be- herrschte, an eigenen PrȨparaten anwendete und half, sie in der Chemie zu etablieren. Seine ersten Strukturanalysen fɒhrte er an VCl 3 (NCl) und MoCl 3 (N) [1] durch. Die Strukturbeweise dieser Komplexe mit den kurzen Metall-Stickstoff-Bin- dungen ɒberzeugten alle Skeptiker. In Karlsruhe wandte er sich der Strukturchemie der Goldhalo- genide zu. Unmittelbar nach seiner Habilitation 1973 er- hielt er Rufe nach Hannover und Tɒbingen. Er entschied sich fɒr Tɒbingen, wo er 1975 Nachfolger von Walter Rɒdorff auf dem Lehrstuhl fɒr Anor- ganische Chemie wurde. Tɒbingen blieb er treu, einen Ruf an die UniversitȨt Stuttgart im Jahre 1987 lehnte er ab. Auch die Metall-Stickstoff- Chemie blieb sein Forscherleben lang im Zentrum seines Interesses. Meilensteine seiner Arbeiten waren die Ammonolysereaktionen von Metallha- logeniden mit Ammoniumionen, die zu zweikerni- gen Komplexen mit symmetrischen Nitridobrɒ- cken, wie [Br 5 Ta = N = TaBr 5 ] 3 , fɒhrten, [2] oder Komplexe mit Pentaazadienido-Liganden (R N 5 R) , bei denen es zu bemerkenswert kleinen Ab- stȨnden zwischen d 10 -konfigurierten Metallionen kommt. [3] Durch Photolyse von [Ph 3 PAuN 3 ] in Gegenwart vom Metallcarbonylen gelang die Her- stellung ganzer Serien von Heterometall-Gold- clustern. [4] Joachim StrȨhle war ein Philanthrop. Die Pflege von Freundschaften nahm in seinem Leben neben seiner Familie und der Wissenschaft den hɆchsten Stellenwert ein. Seine vielfȨltigen wis- senschaftlichen Kooperationen waren fɒr ihn stets mit engen persɆnlichen Beziehungen verbunden. Sein langjȨhriges Engagement fɒr den Aufbau der Strukturanalyseabteilung an der UniversitȨt von Santiago de Compostela in Spanien wurde 2001 mit der Verleihung des Ehrendoktortitels geehrt. Auch fɒr die Gemeinschaft der deutschen Wissenschaft- ler hat sich Joachim StrȨhle ɒber viele Jahre als gewȨhlter Fachgutachter der Deutschen For- schungsgemeinschaft ehrenamtlich eingesetzt. Er war zweimal Dekan der FakultȨt fɒr Chemie und Pharmazie an der UniversitȨt Tɒbingen und Mit- glied des UniversitȨtsrates. Joachim StrȨhle war ein ausgezeichneter akademischer Lehrer, dessen Vorlesungen sich durch klare Strukturierung aus- zeichneten. Dass ihm die Lehre besonders am Herzen lag, zeigt die Weiterfɒhrung des klassischen Lehrbuchs Jander-Blasius [5] zur anorganischen Analytik, das er mit seinem Schɒler Eberhard Schweda neu verfasste. Jede Eitelkeit war ihm fremd. Allzu viel Aufhebens um seine Person schȨtzte er nicht, stattdessen vielmehr ein offenes und gastfreundliches Haus und seine Orchideen- zucht. Seine Krankheit, die ihn in den letzten Jahren zunehmend beeintrȨchtigte, ertrug er mit einer Disziplin und Zuversicht, die hɆchste Bewunde- rung verdiente. Seine vielen Kollegen, Schɒler, Doktoranden, Studenten und alle, die ihm kannten, haben einen Meister der akademischen Lehre und herausragenden prȨparativen anorganischen Che- miker verloren. Joachim StrȨhle hinterlȨsst seine Frau Barbara, seine Kinder Christine und Stefan und zwei Enkelkinder. Johannes Beck UniversitȨt Bonn Joachim StrȨhle A ngewandte Chemi e Nachruf 2483 Angew. Chem. 2009, 121, 2483 – 2484 # 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

Joachim Strähle (1937–2009)

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Page 1: Joachim Strähle (1937–2009)

Joachim Str�hle (1937–2009)

Joachim Str�hle, emeritierter Professor f�r Anor-ganische Chemie an der Universit�t T�bingen,verstarb am 20. Januar 2009 im Alter von 71 Jahren.

Er wurde 1937 in Dresden geboren, wo er 1945als Siebenj�hriger die Zerst�rung der Stadt erlebte.1954 floh die Familie vor politischer Repression inden Westen Deutschlands und ließ sich in Stuttgartnieder. Nach dem Abitur begann Joachim Str�hle1958 an der Technischen Hochschule Stuttgart mitdem Chemiestudium. Von den drei dort t�tigengroßen akademischen Lehrern Josef Goubeau,Helmut Bredereck und Theodor F�rster war er tiefbeeindruckt, und schon fr�h reifte in ihm derWunsch, selbst Wissenschaftler zu werden. KurtDehnicke, ein junger Nachwuchswissenschaftler,betrieb in Stuttgart eine chemische Forschung, dieihn faszinierte, weshalb er sich diesem zur Dok-torarbeit anschloss. Kurt Dehnicke hatte gefunden,dass aus dem nicht ungef�hrlichen Chlorazid undMetallhalogeniden ungew�hnliche Chloridonitri-dometall-Komplexe mit Metall-Stickstoff-Mehr-fachbindungen entstehen; mit deren Charakteri-sierung begann Joachim Str�hle seine Forscher-karriere. Aus ClN3 und VCl4 entsteht durch oxida-tive �bertragung einer Azidgruppe die Zwischen-verbindung VCl4N3, die sich unter N2-Eliminierungzum Imidchlorid VCl3(NCl) umlagert, dessen li-neare V�N�Cl-Gruppe er durch Schwingungs-spektroskopie nachwies. Auf analogem Weg bildetsich aus MoCl5 und ClN3 das NitridchloridMoCl3(N) mit einem terminalen Nitridoliganden.

Nach seiner Promotion 1965 ging JoachimStr�hle zun�chst f�r ein Jahr nach Freiburg zuGeorg Brauer. Dort lernte er dessen Sch�lerHartmut B�rnighausen kennen, der gerade einenRuf nach Karlsruhe erhalten hatte. Joachim Str�hleging mit ihm nach Karlsruhe, weil sich ihm dieChance bot, die damals in der Chemie kaum ver-breitete, aber �beraus vielversprechende Methodeder Kristallstrukturbestimmung an Einkristallendurch R�ntgenbeugung zu erlernen. Was heuteeine Standardmethode ist, war in den 1960er Jahrenden Kristallographen vorbehalten. Joachim Str�hlewar ein Pionier, der diese Methode selbst be-herrschte, an eigenen Pr�paraten anwendete undhalf, sie in der Chemie zu etablieren. Seine erstenStrukturanalysen f�hrte er an VCl3(NCl) undMoCl3(N)[1] durch. Die Strukturbeweise dieserKomplexe mit den kurzen Metall-Stickstoff-Bin-dungen �berzeugten alle Skeptiker. In Karlsruhewandte er sich der Strukturchemie der Goldhalo-genide zu.

Unmittelbar nach seiner Habilitation 1973 er-hielt er Rufe nach Hannover und T�bingen. Erentschied sich f�r T�bingen, wo er 1975 Nachfolgervon Walter R�dorff auf dem Lehrstuhl f�r Anor-

ganische Chemie wurde. T�bingen blieb er treu,einen Ruf an die Universit�t Stuttgart im Jahre1987 lehnte er ab. Auch die Metall-Stickstoff-Chemie blieb sein Forscherleben lang im Zentrumseines Interesses. Meilensteine seiner Arbeitenwaren die Ammonolysereaktionen von Metallha-logeniden mit Ammoniumionen, die zu zweikerni-gen Komplexen mit symmetrischen Nitridobr�-cken, wie [Br5Ta=N=TaBr5]3�, f�hrten,[2] oderKomplexe mit Pentaazadienido-Liganden (R�N5�R)� , bei denen es zu bemerkenswert kleinen Ab-st�nden zwischen d10-konfigurierten Metallionenkommt.[3] Durch Photolyse von [Ph3PAuN3] inGegenwart vom Metallcarbonylen gelang die Her-stellung ganzer Serien von Heterometall-Gold-clustern.[4]

Joachim Str�hle war ein Philanthrop. DiePflege von Freundschaften nahm in seinem Lebenneben seiner Familie und der Wissenschaft denh�chsten Stellenwert ein. Seine vielf�ltigen wis-senschaftlichen Kooperationen waren f�r ihn stetsmit engen pers�nlichen Beziehungen verbunden.Sein langj�hriges Engagement f�r den Aufbau derStrukturanalyseabteilung an der Universit�t vonSantiago de Compostela in Spanien wurde 2001 mitder Verleihung des Ehrendoktortitels geehrt. Auchf�r die Gemeinschaft der deutschen Wissenschaft-ler hat sich Joachim Str�hle �ber viele Jahre alsgew�hlter Fachgutachter der Deutschen For-schungsgemeinschaft ehrenamtlich eingesetzt. Erwar zweimal Dekan der Fakult�t f�r Chemie undPharmazie an der Universit�t T�bingen und Mit-glied des Universit�tsrates. Joachim Str�hle war einausgezeichneter akademischer Lehrer, dessenVorlesungen sich durch klare Strukturierung aus-zeichneten. Dass ihm die Lehre besonders amHerzen lag, zeigt die Weiterf�hrung des klassischenLehrbuchs Jander-Blasius[5] zur anorganischenAnalytik, das er mit seinem Sch�ler EberhardSchweda neu verfasste. Jede Eitelkeit war ihmfremd. Allzu viel Aufhebens um seine Personsch�tzte er nicht, stattdessen vielmehr ein offenesund gastfreundliches Haus und seine Orchideen-zucht.

Seine Krankheit, die ihn in den letzten Jahrenzunehmend beeintr�chtigte, ertrug er mit einerDisziplin und Zuversicht, die h�chste Bewunde-rung verdiente. Seine vielen Kollegen, Sch�ler,Doktoranden, Studenten und alle, die ihm kannten,haben einen Meister der akademischen Lehre undherausragenden pr�parativen anorganischen Che-miker verloren. Joachim Str�hle hinterl�sst seineFrau Barbara, seine Kinder Christine und Stefanund zwei Enkelkinder.

Johannes BeckUniversit�t Bonn

Joachim Str�hle

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2483Angew. Chem. 2009, 121, 2483 – 2484 � 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

Page 2: Joachim Strähle (1937–2009)

[1] J. Str�hle, Angew. Chem. 1969, 81, 945; Angew. Chem.Int. Ed. Engl. 1969, 8, 925.

[2] K. Dehnicke, J. Str�hle, Angew. Chem. 1992, 104, 978;Angew. Chem. Int. Ed. Engl. 1992, 31, 955.

[3] J. Beck, J. Str�hle, Angew. Chem. 1988, 100, 927;Angew. Chem. Int. Ed. Engl. 1988, 27, 896.

[4] G. Beuter, J. Str�hle, Angew. Chem. 1988, 100, 1099;Angew. Chem. Int. Ed. Engl. 1988, 27, 1094; J. Miel-

cke, J. Str�hle, Angew. Chem. 1992, 104, 485; Angew.Chem. Int. Ed. Engl. 1992, 31, 464; M. Laupp, J.Str�hle, Angew. Chem. 1994, 106, 210; Angew. Chem.Int. Ed. Engl. 1994, 33, 207.

[5] J. Str�hle, E. Schweda, Jander/Blasius: Lehrbuch deranalytischen und pr�parativen anorganischen Chemie,15. Aufl., Hirzel Verlag, Stuttgart, 2005.

DOI: 10.1002/ange.200900768

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