Johann Figl - Nietzsche und die Religionen∶ Transkulturelle Perspektiven seines Bildungs- und Denkweges

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Philosophie, Religion, Nietzsche

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  • Nietzsche und die Religionen

    Johann Figl

    Walter de Gruyter

  • Johann FiglNietzsche und die Religionen

  • Nietzsche und die Religionen

    Transkulturelle Perspektivenseines Bildungs- und Denkweges

    vonJohann Figl

    Walter de Gruyter Berlin New York

  • Gedruckt auf surefreiem Papier,das die US-ANSI-Norm ber Haltbarkeit erfllt.

    ISBN 978-3-11-019065-6

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

    ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin.

    Dieses Werk einschlielich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Ver-wertung auerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustim-mung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigun-gen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung

    in elektronischen Systemen.

    Printed in Germany

    Einbandgestaltung: Martin Zech, BremenEinbandgestaltung unter Verwendung von Ausschnitten von GSA 71/61, p. 15,

    Foto: Stiftung Weimarer Klassik und KunstsammlungenDruck und buchbinderische Verarbeitung:

    Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Gttingen

  • Vorwort Vorwort Vorwort In der vorliegenden Studie geht es um Nietzsches Kenntnisse ei-ner Vielfalt von Religionen, insbesondere um das in seinem Bil-dungsweg vermittelte Wissen ber nichtchristliche Religionen und andere Kulturen; schwerpunktmig sollen daher die frhen Schriften und Aufzeichnungen Nietzsches untersucht werden. Diese liegen nun in der historisch-kritischen Edition der nachge-lassenen Aufzeichnungen aus der Kindheit, Jugend- und Studen-tenzeit in fnf Textbnden (1995-2006) vor, die die Erste Abteilungder von Giorgio Colli und Mazzino Montinari begrndeten Kritischen Gesamtausgabe der Werke bilden. Ergnzend wurden einige Schul-mitschriften, die erst im Nachbericht zu verffentlichen sind, sowie in Auswahl auch Kollegnachschriften bercksichtigt. Auf dieser Basis ist es mglich, besonders die frhe Begegnung Nietzsches mit alt- und auereuropischen Kulturen sowie vor- und nichtchristlichen Religionen in neuer Weise zu erforschen.

    Mit der Verffentlichung dieser Monographie ist auch ein per-snliches Anliegen verbunden: ich mchte darin zwei Arbeitsge-biete, denen ich mich seit langem gewidmet habe, miteinander verknpfen, nmlich den weiten Bereich der Religionswissen-schaft und die speziellen Fragen der Nietzsche-Forschung. Dabei konnte ich auf berlegungen in mehreren Artikeln aufbauen, die schon verffentlicht sind, hier aber in berarbeiteter Weise in den Gesamtkontext integriert wurden, was im Einzelnen jeweils ange-geben ist. Durch diese fcherbergreifende Fragestellung traten nicht allein bisher wenig beachtete Aspekte an Nietzsches Bil-dungsweg und seiner spteren Philosophie klarer hervor, son-dern es wurde ebenfalls das wissenschaftsgeschichtliche Umfeld der Entstehung des Faches Religionswissenschaft in einigen

  • Vorwort VI

    Aspekten deutlicher sichtbar; diese Disziplin hatte sich im An-schluss an die vergleichende Sprachwissenschaft entwickelt, die Nietzsche in seinem Philologiestudium gut kennen gelernt hat.

    Die vorliegende Untersuchung htte nicht ohne die aktive Un-tersttzung von Seiten vieler Personen durchgefhrt werden kn-nen. Zu danken habe ich zunchst den Verantwortlichen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar, die in stetem Entgegenkommen die Einsicht in die Origi-nalmanuskripte Nietzsches ermglichten. Fr wertvolle Unter-sttzung danke ich auch Frau Marie-Luise Haase. Ebenso mchte ich den Mitarbeitern der Herzogin-Anna-Amalien-Bibliothek, in der ich die Bestnde der Bibliothek Nietzsches wiederholt einsehen konnte, meinen Dank aussprechen, namentlich Herrn Erdmann von Wilamowitz-Moellendorf fr die sachkundige Hilfe. In gleicher Weise gilt mein Dank Frau Petra Dorfmller, Leiterin der Bibliothek der Schule in Schulpforta, fr ihre Untersttzung. Mein besonderer Dank gilt Frau Institutsreferentin Dagmar Hofko, die alle fr die Erstellung des Druckmanuskriptes erforderlichen Sekretariatsar-beiten mit Sorgfalt und Geduld durchgefhrt hat. Herrn Mag. Manfred Hinterleitner, Assistent am Institut fr Religionswissen-schaft der Universitt Wien, danke ich in besonderer Weise fr sein groes Engagement bei der Durchsicht des Manuskriptes. Ebenfalls ist dem Verlag Walter de Gruyter Dank auszusprechen, vor allem Frau Dr. Gertrud Grnkorn, Frau Annika Tanke sowie Herrn Andreas Vollmer und Herrn Christoph Schirmer, durch deren engagierte Betreuung die sorgfltige Drucklegung dieses Buches realisiert werden konnte.

    Ich hoffe, dass durch die Fragestellung der vorliegenden Un-tersuchung neue Dimensionen an Nietzsches Bildungsweg aufge-zeigt werden knnen, und diese zu einem besseren Verstndnis seines transkulturellen Denkens beitragen mgen.

    Wien, den 2. Februar 2007 Johann Figl

  • Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Einleitung ...................................................................................... 1

    1. Religionswissenschaft und Nietzsche-Forschung........... 1 2. Wahrnehmung fremder Religionen und Kulturen ..... 4 3. Zur Genese transkulturellen Denkens.............................. 6 4. Hauptetappen des Bildungsweges Nietzsches................. 8

    1. Kapitel: Auereuropische Kulturen in Nietzsches gymnasialem Bildungsweg........................................ 11

    Methodologische Vorberlegungen ......................................... 11 1. Bildungsziele in Naumburg und Schulpforta................... 17 2. Rassen und Religionen diskriminierende

    Darstellungen in Schulbchern.......................................... 40 3. Wilde Vlker innerhalb der Weltgeschichte ............ 52 4. Altorientalische Kulturen (insbesondere die Perser) ...... 66 5. Religion und Kultur der klassischen Antike .................... 77 6. Mythologie und Dichtung der Germanen........................ 87 7. Indien und indoeuropische Sprachverwandtschaft ...... 101 8. Der Islam Leben Mohammeds und Glaubensartikel.. 132 9. Das Judentum Literarkritik des Alten Testaments...... 145 10. Zusammenfassung: Vom Welt-Bild des Kindes

    zur Welt-Anschauung des Jugendlichen....................... 152

    2. Kapitel: Religionen und Religionswissenschaft in Nietzsches Universittsstudium .............................. 159

    1. Philosophien und Religionen (besonders Indiens) in historisch-vergleichender Perspektive .......................... 163

  • Inhaltsverzeichnis VIII

    2. Komparatistik und Sanskrit-Kenntnisse in Philologie-Vorlesungen ....................................................... 188

    3. Der Terminus Religionswissenschaft in Nietzsches Aufzeichnungen ............................................... 202

    3. Kapitel: Religionswissenschaftlich relevante Fragen in Nietzsches akademischer Ttigkeit..................... 229

    1. Lektre von Max Mllers Essays..................................... 229 2. Darlegung der vergleichenden Sprachwissenschaft

    (Grammatik-Vorlesung).................................................. 236 3. Resultate und Grenzen der komparativen

    Methodik (Enzyklopdie-Vorlesung)............................ 238 4. Religionsethnologie und Philologie

    (Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen) ............... 245

    4. Kapitel: Anstze transkulturellen Denkens .......................... 267

    1. Transkulturelle Perspektiven in der Geburt der Tragdie .......................................................... 268

    2. Alternative Beurteilung auereuropischer Vlker (Unzeitgeme Betrachtungen)........................................ 280

    3. Interesse an stlicher Philosophie ..................................... 287 4. Historisches und komparatives Philosophieren

    (Menschliches, Allzumenschliches) ................................. 292 5. Religionsgeschichte Indiens als Modell fr Europa

    (Morgenrthe)..................................................................... 297 6. Tod Gottes religionsgeschichtliche Aspekte............ 301 7. Nietzsche und die Religionsstifter................................. 312 8. Nietzsches Weg zu einer transkulturellen

    Hermeneutik ......................................................................... 329

  • Inhaltsverzeichnis IX

    Quellen- und Dokumentationsverzeichnis ................................. 349

    A Quellenverzeichnis............................................................... 349 B Dokumentationen ................................................................ 351 C Zu Nietzsches Bibliothek und Lektre............................. 352

    Literaturverzeichnis ........................................................................ 355

    A Werke und Briefe Nietzsches (mit Siglen) ....................... 355 B Lexika und Nachschlagewerke........................................... 356 C Schulbcher, die zitiert wurden (Auswahl) ...................... 356 D Monographien und Artikel ................................................. 358

    Register ...................................................................................... 379

    A Personenregister ................................................................... 379 B Sachregister ........................................................................... 386

  • Einleitung Einleitung

    1. Religionswissenschaft und Nietzsche-Forschung 1. Religionswissenschaft und Nietzsche-Forschung Die folgenden Ausfhrungen versuchen, die beiden Themenberei-che Nietzsche-Forschung und Religionswissenschaft einander anzunhern. Es geht grundlegend darum, den geistigen Werde-gang Nietzsches und seine Aussagen ber Religionen aus der Sicht religionswissenschaftlich relevanter Fragestellungen zu erforschen, neu zu lesen und zu interpretieren; dabei ist Religionswissenschaft in einem weiten Sinn verstanden. Zudem werden wissenschaftsge-schichtliche Fragen des Faches miteinbezogen. In engem Zusam-menhang damit wird schwerpunktmig der Frage nachgegangen, in welcher Weise und in welchem Umfang in Nietzsches schu-lischer und akademischer Ausbildung religionskundliches Wissen vermittelt wurde und wie er es aufgenommen hat.

    Die Fragestellung legt sich einerseits aufgrund der Gleichzei-tigkeit von Nietzsches Bildungs- und Studienweg und der Entste-hung der Vergleichenden Religionswissenschaft nahe, andererseits wegen der inneren Verflochtenheit von Philologie und Religions-wissenschaft. Es gilt als eine weithin anerkannte Tatsache, dass Max Mller mit seinen Schriften in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Grundlage einer Vergleichenden Religionswis-senschaft im engen Anschluss an die damals aufblhende Verglei-chende Sprachwissenschaft gelegt (hat)1.

    Dieser komparativen, insbesondere auf der Indogermanistik beruhenden Sprachwissenschaft ist Nietzsche in bisher kaum beachteter intensiver Weise schon in Schulpforta in verschiede-_____________1 K. Rudolph, Die Religionsgeschichte an der Leipziger Universitt und die Ent-

    wicklung der Religionswissenschaft, 1962, 13.

  • Einleitung 2

    nen Unterrichtsfchern begegnet, erst recht in seinem Philologie-Studium; und er setzte sich als Professor der Klassischen Philolo-gie damit auseinander. In diesem Kontext konnte es praktisch nicht ausbleiben, sich auch mit jenem Philologen, der die Brcke zur vergleichenden Religionsforschung geschlagen hat, nmlich Max Mller, zu befassen, was Nietzsche in rezeptiver und zugleich kritischer Weise getan hat. Nietzsche aber ist nicht allein dem Werk des Begrnders der Religionswissenschaft begegnet, son-dern in seinem Werdegang spielen jene geistesgeschichtlichen Entwicklungen eine wichtige Rolle, die zu umfangreichen neuen Kenntnissen ber andere, auereuropische (aber auch alteuro-pische) Kulturen und Religionen gefhrt und die Entstehung ei-ner eigenen Disziplin Religionswissenschaft vorbereitet haben. Unter diesen Antecedents of Comparative Religion zhlt Eric J. Sharpe in seiner bedeutenden Geschichte des Faches auer den bersetzungen indischer und persischer Werke seit Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts namentlich auch die entstehende Indogermanistik und die durch sie ermglichten vergleichenden in-doeuropischen Studien auf, die zu der Einsicht fhrten, dass die Vergangenheit der europischen Vlker, wie der Griechen und Germanen, mit der Vergangenheit Indiens und Persiens eng ver-knpft ist2. Nietzsche hat diese Grundberzeugungen schon in seiner gymnasialen Ausbildung kennen gelernt, wie im Folgenden ausfhrlich dargelegt wird. In Schulpforta hat er aber ferner schon Autoren kennen gelernt, die ebenfalls zur Vorgeschichte der Religionswissenschaft gehren3 und in ihrem Denken fremde Kulturen, insbesondere indische Motive, miteinbezogen haben, wie vor allem Ralph Waldo Emerson; und in der Studentenzeit jenen Autor, der einer der groen Protagonisten der ffnung der euro-pischen Kultur zum stlichen Denken hin war, nmlich Arthur

    _____________2 Vgl. E. J. Sharpe, Comparative Religion, 51997, 22f. 3 Vgl. a. a. O., 23f.

  • 1. Religionswissenschaft und Nietzsche-Forschung 3

    Schopenhauer. Dies geschah im Wesentlichen in dem Zeitraum, in dem sich das Fach Religionswissenschaft herausbildete4.

    Allein von dieser historischen Gleichzeitigkeit her legte sich die Untersuchung des Verhltnisses Nietzsche und die Religionen vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte der Religionswissen-schaft nahe. Doch letztlich waren es sachliche Grnde, die die Be-fassung mit einem solchen Problem motivierten, nmlich die Fra-ge, in welchem Ausma Nietzsche, der als einer der ersten trans-kulturellen und die eigene Religion, Kultur und Nationalitt kritisch berschreitenden Denker gelten kann, in seinem Bildungs-weg Kenntnisse ber auereuropische Religionen und Kulturen vermittelt wurden und wie diese im Einzelnen ausgesehen haben. Darauf versucht die vorliegende Arbeit eine Antwort zu geben, indem frheste Notizen Nietzsches herangezogen werden. Sie fhrt sowohl in die Entstehungsgeschichte des Denkens Nietz-sches als auch der Disziplin Religionswissenschaft hinein. Es ist eine Verknpfung, die in der wissenschaftsgeschichtlichen Signa-tur des 19. Jahrhunderts grundgelegt ist5. Bei aller gegebenen Eurozentrik bzw. trotz des aufstrebenden Nationalismus in die-sem Jahrhundert ist doch eine in der vorhergehenden Geschichte ungeahnte Ausweitung des Wissens ber auereuropische Kultu-ren und Religionen erfolgt.

    Damit sind im Prinzip zugleich die Anstze einer transkulturel-len Sicht der Vlker und Religionen grundgelegt: in der Religionswis-senschaft fhren diese zu einer objektiveren Wertung der verschie-denen auereuropischen Religionen; im Denken Nietzsches zu einer tendenziellen berschreitung der Kulturen und Religionen, zu ei-

    _____________4 Vgl. a. a. O., 28. 5 Im 20. Jahrhundert kann dann auch die andere Linie, jene von der Reli-

    gionswissenschaft zu Nietzsche, bzw. dessen Einfluss auf die religions-wissenschaftliche Forschung untersucht werden, wie es sehr berzeu-gend die Studie von Volkhard Krech macht; vgl. ders., Wissenschaft und Religion. Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland 1871 bis 1933, 2002, bes. 293-312: Das Nietzsche-Syndrom.

  • Einleitung 4

    nem auch in diesem Sinn transkulturellen Denken. Die vorliegende Studie mchte einige Einblicke in die Anfnge eines solchen Den-kens vermitteln, wie sie sich in der entstehenden Religionswissen-schaft und bei Nietzsche (beginnend mit seiner Schulzeit) gezeigt haben. Es ist ein Weg, der bei Nietzsche von der heimatlichen Atmosphre, von den durch das preuische Bildungssystem in der Mitte des 19. Jahrhunderts vermittelten Inhalten ber andere Vl-ker und Religionen zu einer globalen Perspektive fhrt; damit war eine Basis gegeben, die im Prinzip transnationale, kulturenberschrei-tende Perspektiven ermglichte, als deren Vordenker Nietzsche ver-standen werden kann.

    Der Schwerpunkt liegt daher auf dem bildungsmigen Wer-degang Nietzsches, also insgesamt auf dem so genannten jungen Nietzsche, dem Schler und Studenten der Philologie; zudem auch auf Nietzsches wissenschaftlicher Ttigkeit als Professor der Klassischen Philologie. Gerade in diesem Bildungs- und Wissen-schaftsweg sind enge Verknpfungen mit allgemeineren Kenntnissen ber auereuropische Kulturen und Religionen sowie mit der damals ent-stehenden Religionswissenschaft gegeben, wie im Folgenden, z. T. unter Heranziehung von bisher unverffentlichten sowie wenig beach-teten Aufzeichnungen Nietzsches, aufgezeigt wird.

    In diesem Interessenhorizont knnen daher nicht allein Nietz-sches frhe religionskundliche und sptere explizit religionswissenschaftli-che Kenntnisse ber fremde Kulturen aufgezeigt werden, son-dern zugleich deren Vernetzung mit dem wissenschaftsgeschichtlichenKontext seiner Zeit, in dem die Begegnung mit auereuropischen Kulturen in einem neuen Ausma ermglicht wurde.

    2. Wahrnehmung fremder Religionen und Kulturen 2. Wahrnehmung fremder Religionen und Kulturen Da sich die vorliegende Untersuchung schwerpunktmig dem Bildungs- und Wissenschaftsweg Nietzsches vom Schler bis zum Professor zuwendet, es sich mithin um einen pdagogisch-di-

  • 2. Wahrnehmung fremder Religionen und Kulturen 5

    daktisch akzentuierten Zugang handelt, kann sehr klar gesehen werden, wie sich im speziellen Ausbildungsweg Nietzsches jene allgemeine und in einer weiteren ffentlichkeit verbreitete Art des Umgangs mit fremden Religionen und Kulturen widerspiegelt, die im deutschen Sprachraum in der Mitte des 19. Jahrhunderts anzutreffen war: wie andere Racen, wie die Terminologie da-mals lautete, aus eurozentrischer Sicht wahrgenommen wurden; wie einerseits offen rassistische Inhalte in den Lehrbchern, die an den von Nietzsche besuchten Gymnasien (z. B. in Geographie) verwendet wurden, anzutreffen sind; wie aber andererseits durch die hohe philologische Qualifikation der Lehrer sowie durch his-torische Studien nach und nach damals stark verbreitete Vorur-teile gegenber nichtchristlichen Religionen und auereuropi-schen Kulturen abgebaut wurden; wie z. B. vermittels der Indo-germanistik und Beispielworten aus dem Sanskrit die sprachge-schichtliche und vlkerverbindende Brcke zu den Kulturen und Religionen Indiens hergestellt werden konnte; oder wie vermittels damals neu erschienener Arbeiten ber Mohammed und den Is-lam, auf die in den hheren Klassen des gymnasialen Geschichts-unterrichts Bezug genommen wurde, diskriminierende Aussagen ber diese Religion relativiert wurden.

    Die vorliegende Untersuchung vermag so nicht allein einen Beitrag zur Erforschung des Bildungsweges und der damit ver-knpften Entstehungsgeschichte zentraler Auffassungen ber au-ereuropische Kulturen und Religionen bei einem der bedeu-tendsten Philosophen der Moderne zu leisten, sondern zugleich einen Einblick in die Thematisierung des Fremden in jener eu-ropischen Kultur zu geben, von der ausgehend Nietzsche schlielich Schritt fr Schritt zu einem sie relativierenden transkul-turellen, zu einem bereuropischen Blick gelangte.

    Nietzsches Denken selbst ist heute in diesen transkulturellen Kontext hineinzustellen, wobei sich umgekehrt zeigt, dass seine universelle, die einzelnen Kulturen berschreitende Sicht eine spe-zifische Genese hat, die angemessen nicht ohne Beachtung des

  • Einleitung 6

    allgemeinen kulturellen und besonders wissenschaftsgeschichtli-chen Kontextes im Europa des 19. Jahrhunderts verstanden wer-den kann. Dies trifft nicht allein auf inhaltliche Aspekte zu, son-dern in vielleicht noch grerem Ausma auf die Methoden: die Wissenschaft dieses Jahrhunderts war eine historisch-genealogi-sche und eine komparativ-vergleichende; davon ist Nietzsches Denken von seinen Anfngen bis zu den spten Werken geprgt.

    3. Zur Genese transkulturellen Denkens 3. Zur Genese transkulturellen Denkens Die vorliegende Untersuchung zielt primr darauf ab, die religi-onskundlichen und religionswissenschaftlichen Kenntnisse Nietz-sches in den einzelnen Etappen seines Bildungs- und Forschungswe-ges zu erfassen. Erst wenn dies geschehen ist, kann die Frage des inneren Zusammenhanges und der weiteren Differenzierung ein-zelner Themen, die Aspekte von Religionen betreffen, innerhalb seines philosophischen Werkes rezeptionsgeschichtlich besser ein-geordnet werden. Obwohl es hermeneutisch problematisch wre, die Befassung des Kindes bzw. Jugendlichen Nietzsche mit gewis-sen Fragen (z. B. archaische Kulturen oder Antike) im Sinne einer linearen Fortfhrung als Vorwegnahme analoger Themen der spteren Philosophie zu deuten (z. B. der blonden Bestie oder der Bedeutung der Antike), wre es umgekehrt nicht angemessen und wohl auch nicht mglich, bei der Lektre seiner frhen Auf-zeichnungen von den tragenden Begriffen und Symbolfiguren der ausgearbeiteten Philosophie vllig abzusehen. Es ist sowohl die jeweilige Zeitgebundenheit und quellengeschichtliche Herkunft eines spezifischen Themas oder Begriffes als auch dessen Integra-tion im Kontext des gesamten Denkweges Nietzsches zu beach-ten. Dabei mag sich zeigen, dass frhe Denkfiguren und wissen-schaftliche Grundannahmen (z. B. der Indogermanistik) das wei-tere Denken Nietzsches z. T. bis zum spten Nachlass mitpr-

  • 3. Zur Genese transkulturellen Denkens 7

    gen. Einige dieser Elemente wird die vorliegende Untersuchung herausstellen. Damit verbunden ist eine weiterreichende Intention: nmlich die grundlegende Bedeutung solcher frher religionswissenschaftli-cher Kenntnisse fr Nietzsches philosophische und kritische Ana-lyse der Religionen und Kulturen aufzuweisen und so zum Ver-stndnis der Genese seines transkulturellen Denkens beizutragen. Die vorliegende Schrift will an Nietzsches Denkweg aufzeigen, wie sehr er im Verhltnis zu auereuropischen Kulturen einerseits zutiefst von den kulturellen Vorgaben seiner Zeit geprgt ist, in der in Europa eine neue und reichhaltige Kenntnisnahme frem-der Kulturen beginnt eine Vorstellungswelt, die in die traditio-nellen Denkformen nicht ohne weiteres integrierbar und in die-sem Sinn transkulturell ist; wie er andererseits aber durch per-manente kritische Auseinandersetzung sowohl mit der eigenen als auch mit fremden Kulturen zu Auffassungen gelangt, welche die hegemoniale eurozentrische Weltsicht, die er in der Mitte des 19. Jahrhunderts kennen lernte, relativieren, kritisieren und z. T. berwinden. Zu diesem Zweck ist der Weg zu verfolgen, der von den frhesten, innerhalb des damaligen Schulwesens vermittelten Kenntnissen ber fremde Kulturen zur universitren Bildung weiterfhrt, und hier wiederum von den im Studium vermittelten transkulturellen Inhalten zu Nietzsches eigener Vermittlung des Wissens ber ferne Kulturen, die in seiner Lehrttigkeit als Pro-fessor der Klassischen Philologie geschieht; es ist ein Weg, der von der Erfahrung der Heimat und der eigenen Sprache zunchst zu den klassi-schen Sprachen, dann aber ebenso zur Indogermanistik fhrte, wodurch erste Kenntnisse ber Sanskrit und indische Religionen und Philosophien ermg-licht wurden. In diesem Bildungsweg wird eine Flle von religi-onskundlichem Wissen vermittelt, das sich auf alle groen religi-sen Traditionen erstreckt und zudem von frh an auch Kennt-nisse ber die archaischen Religionen impliziert, die schlielich eine wichtige Rolle bei der Interpretation der Religion der Griechenerhalten, die Nietzsche unter Einbeziehung grundlegender Werke

  • Einleitung 8

    der damaligen Ethnographie, der ethnologischen Richtung der entstehenden Religionswissenschaft in Grobritannien (besonders Tylor), erlutert. Im Hinblick auf die Geschichte des Faches Religi-onswissenschaft ist es von besonderem Interesse, dass Nietzsche, wie seine Aufzeichnungen zeigen, schon gegen Ende der Studen-tenzeit (1868) eine klare Konzeption der Religionswissenschaft im Rah-men der Philologie gekannt hat. Ebenso lsst sich anhand von Nietzsches bisher unverffentlichten Kollegnachschriften aufzei-gen, dass er schon als Student der Philologie (1864-1868) wiederholt vom Schrifttum Max Mllers gehrt hat, der als der, jedenfalls als einer der bedeutendsten Begrnder der Religionswissenschaft gilt, und zwar von dessen Werken zur Sprachwissenschaft und Mythologie also zu einem Zeitpunkt, als dessen religionswissen-schaftlichen Essays noch nicht ins Deutsche bersetzt waren; dies geschah erst 1869/70, und aus diesen Bnden hat Nietzsche gleich nach ihrem Erscheinen Exzerpte angefertigt.

    Die genauere Erforschung dieser wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrnde vermag daher zugleich ein Licht auf die Genese des Faches Religionswissenschaft zu werfen, die zuinnerst mit der in der Mitte des 19. Jahrhunderts schon seit einigen Jahrzehnten eta-blierten und ausgearbeiteten vergleichenden Sprachwissenschaft verbun-den ist.

    4. Hauptetappen des Bildungsweges Nietzsches 4. Hauptetappen des Bildungsweges Nietzsches In der folgenden Darstellung sind die Hauptetappen des Bildungs-weges Nietzsches und seiner Begegnung mit vor- und nichtchrist-lichen Religionen und auereuropischen Kulturen in chrono-logischer Reihenfolge angeordnet.

    Im ersten Kapitel werden die im gymnasialen Ausbildungsweg (1855-1864) vermittelten Kenntnisse ber nichtchristliche Religionen er-fasst.

  • 4. Hauptetappen des Bildungsweges Nietzsches 9

    Im zweiten Kapitel wird die Studentenzeit Nietzsches (1864-1868), besonders in Hinsicht seiner Begegnung mit der damals entste-henden Religionswissenschaft, behandelt.

    Das dritte Kapitel wendet sich der Professorenzeit Nietzsches (1869-1879) zu und zeigt auf, wie er als Universittslehrer grundlegende kultur- und religionswissenschaftliche Kenntnisse in seine philolo-gischen Vorlesungen integriert.

    Im vierten Kapitel werden schlielich einige Perspektiven aufge-zeigt, wie kultur-, religions- und sprachwissenschaftliche Denkfor-men Nietzsches philosophische Publikationen mitprgen angefangen von der Geburt der Tragdie bis hin zu einigen Grundannahmen der spten Werke und des Sptnachlasses. Dieses letzte Kapitel wird nur einige exemplarische Beispiele fr diese kultur- und reli-gionswissenschaftliche Strukturierung des philosophischen Den-kens Nietzsches bringen knnen; eine tendenziell erschpfende Darstellung wrde eine weitere und umfassendere Monographie erfordern.

    Der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung liegt somit einerseits auf der schulischen Vermittlung anderer Religionen und Kulturen, die aber schon (besonders in Schulpforta) in einem wis-senschaftlichen, besonders sprachvergleichenden Kontext ge-schieht; andererseits auf der Studenten- und Professorenzeit, die vom Fach her eine Begegnung mit der Religionswissenschaft nahelegte, whrend in der spteren Zeit, nachdem Nietzsche seine Ttigkeit als Lehrer der Philologie aufgegeben hat, der wissenschaftliche Aspekt hinter den existenziell-philosophischen zurcktritt, wie im letzten Kapitel aufgezeigt wird; in diesem Prozess erhalten die (re-ligions-)wissenschaftlichen Methoden und Kenntnisse eine trans-formierte Gestalt bzw. neue Funktion.

    Nietzsche hat auf seinem bildungsmigen und philosophi-schen Weg selbst realisiert, was er in spten Fragmenten (1885), im Kontext dionysischer Symbolik, als Aufgabe vor Augen stellt:

  • Einleitung 10

    Schritt vor Schritt umfnglicher werden, bernationaler, europischer, bereuropischer, morgenlndischer, endlich griechischer denn das Grie-chische war die erste groe Bindung und Synthesis alles Morgenlndi-schen und eben damit der Anfang der europischen Seele, die Entdek-kung unserer neuen Welt () (KGW VII 3, 416: 41 [7]).

  • 1. Kapitel: Auereuropische Kulturen in Nietzsches gymnasialem Bildungsweg

    1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg Methodologische Vorberlegungen

    Methodologische Vorberlegungen Es mag von manchen die Frage aufgeworfen werden, wieso den Aufzeichnungen aus der Kindheit und Jugend Nietzsches bei der hier verfolgten Fragestellung ein so groer Wert beigelegt wird, dass sich eine detaillierte Erforschung dieser Materialien nahelegt. Ein genereller Grund ist fr mich die Annahme, dass sich beson-ders in den pdagogisch und didaktisch transferierten Inhalten unmittelbar spiegelt, in welcher Weise eine Kultur mit dem Fremden umgeht, wie sie die Menschen ferner Lnder und die Angehrigen anderer Religionen bewertet es sind nicht allein Wissensinhalte, sondern vielmehr Werthaltungen, die hier ver-mittelt werden. In Schulbchern schlgt sich z. B. das weithin akzeptierte Urteil einer Gesellschaft ber ferne Ethnien, fremde Religionen, andere Ethiken etc. nieder. Darin zeigen sich Werthaltungen, die fr die kommende Generation als wichtig erachtet werden. Diese knnen zwar aus den betreffenden didaktischen Materialien, aus den verwendeten Schulbchern direkt entnommen werden, doch ist es eine weitere Frage, was davon im konkreten Unterricht tatschlich vermittelt wurde und wie diese Inhalte von den Schlerinnen und Schlern aufge-nommen und verarbeitet wurden. Dies kann an entsprechenden Aufzeichnungen von Seiten der Rezipienten abgelesen werden. Im Fall von Friedrich Nietzsche sind wir in der gnstigen Situa-tion, dass solche Mitschriften aus dem Schulunterricht zu einem beachtlichen Teil erhalten sind. Sie knnen nicht allein in ihrer Relevanz fr Nietzsches Bildungsweg, sondern zugleich auch als

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 12

    Dokumente fr die damalige kulturelle Situation, wie sie sich aus der Sicht des Schlers widerspiegelt, gelesen werden1. Diese Mate-rialien sind eine Basis, um das geistige und kulturelle Umfeld Nietzsches mglichst detailliert zu erfassen, um Nietzsches Stel-lungnahme dazu wrdigen zu knnen; zugleich zeigen sie, wel-chen Anschauungen und Begriffen (z. B. Rasse) Nietzsche schon frh begegnet ist. Dabei ist es wichtig, die Originalitt von Nietzsches Aussagen nicht ohne ihre notwendige Kontextualitt zu wrdigen, die wesentlich durch Bildung und Lektre, durch die Kultur und das Wissen seiner Zeit mitgeprgt ist. Dies trifft besonders in Hinsicht auf die spezielle Thematik der Religionen zu. Nietzsches eigener Anteil darf aber auch bei diesen frhen und frhesten Aufzeichnungen nicht vernachlssigt werden, denn diese zeigen in ihrer zwar kindgemen Art dennoch eine bisweilen sehr originelle Auseinandersetzung z. B. mit griechi-schen Mythen und germanischen Heldensagen, aber auch im Zusammenhang mit der Kreuzritterthematik mit der christlich-islamischen Konfrontation. In einer Zeit, die sich zu Recht dem Philosophieren von und mit Kindern mit groer Aufmerksamkeit zuwendet, ist es naheliegend, solche dichterisch gestalteten

    _____________1 Diese Grnde haben mit dazu beigetragen, dass solche Schulmaterialien

    in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches (KGW) ediert werden. In dieser Neuausgabe sind auch eine Reihe von schulischen Texten (bersetzungen u. dgl.) sowie Exzerpte, Aufgabenhefte u. . verffentlicht, die in der ber ein halbes Jahrhundert zuvor herausgege-benen Historisch-Kritischen Ausgabe der Werke der Jugendzeit nicht aufgenommen waren. In mehreren Beitrgen bin ich, meist im Zusam-menhang mit der Herausgabe der Ersten Abteilung der Kritischen Gesamt-ausgabe der Werke Nietzsches (KGW I), auf diesen Problemkreis eingegan-gen. Zur Schulzeit Nietzsches vgl. bes. die Arbeiten von R. Blunck, R. Bohley, Th. H. Brobjer, S. L. Gilman, H. G. Hdl, R. G. Mller, M. Pernet und vor allem von H. J. Schmidt, der am ausfhrlichsten die Kindheit und Jugend Nietzsches dargestellt hat (siehe die einschlgigen Publikationen im Literaturverzeichnis).

  • Methodologische Vorberlegungen 13

    berlegungen in der Kindheit zu beachten2. Aus diesem Grund wird die vorliegende Darstellung auch die Naumburger Gymna-sialzeit Nietzsches miteinbeziehen, d. h. die Aufzeichnungen, die im Band I 1 der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches enthalten sind ergnzt um einige wenige Schulmaterialien, die erst im ,Nachbericht zur Abteilung I abgedruckt werden.

    Zu Beginn des ersten Kapitels dieser Untersuchung (1.) wird ei-ne allgemeine Darstellung der beiden Gymnasien (Naumburg und Schulpforta) gegeben. In den folgenden Punkten (2.-9.) werden religions- und kulturspezifische Lehrinhalte erfasst, und zwar (je-weils Unterpunkt 1.) die Naumburger Zeit (1855-1858) und dann (jeweils Unterpunkt 2.) die Ausbildung in Schulpforta (1858-1864). Obwohl einerseits die Unterschiede zwischen dem Naumburger Domgymnasium und der wie es oft heit Eliteschule in Pforta in lehrplanmiger und organisatorischer Hinsicht nicht allzu groe Differenzen zur Folge hatten, bildete doch anderer-seits der Schulwechsel fr Nietzsche eine bedeutsame biographi-sche Zsur, die sich zudem mit dem lebensgeschichtlichen ber-gang von der Kindheit zur Jugendzeit berlappt. Auch die inhaltli-chen Orientierungen und Informationen ber fremde Kulturen in Naumburg waren (u. a. bedingt durch die Verwendung anderer Schulbcher) von jenen in Schulpforta teilweise verschieden; vor allem ergibt sich organisch eine Differenz durch die unterschiedli-chen Schulstufen mit entsprechend verschiedenen Lehrinhalten. Um diesen Fakten zu entsprechen, wird hier darstellungsmig so-wohl die klare Unterteilung im gymnasialen Studienweg Nietz-sches als auch die strukturelle Zusammengehrigkeit (vom Schul-typ her) beachtet.

    In einem berblick ber universelle Bildung notiert Nietzsche unter der Rubrik Wissen: 1. Geogr / 2. Gesch und andere Fachgebiete (KGW I 2, 136: 6 [77]). Die beiden erste-ren Fcher in den Lehrplnen meist zusammen genannt waren _____________2 Vgl. auch die zusammenfassenden berlegungen am Schluss dieses Ka-

    pitels, S. 152ff.

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 14

    es auch, in denen in den Schulbchern Nietzsches der Tendenz nach schon im Naumburger Gymnasium ein universeller berblick ver-mittelt wurde, der mit anderer Akzentuierung in Schulpfortaweitergefhrt wurde. Informationen ber fremde Kulturen und Re-ligionen in Geschichte und Gegenwart wurden freilich auch in anderen Fchern vermittelt, wie insbesondere in den Sprachen (Latein und Griechisch, besonders auch in Deutsch, z. T. aber auch in Franzsisch,wenn z. B. bersetzungen von Texten zu machen waren, die von der islamischen Kultur handelten; ebenso in Hebrisch besonders ber das Judentum). In verschiedenen Fchern konnten also auereuropische Kulturen und vor- bzw. nichtchristliche Religi-onen zur Sprache kommen3. Natrlich konnte auch der Religions-unterricht zu einer Quelle von Kenntnissen ber nichtchristliche Religionen werden4. Wenn wir hier Nietzsches eigene Notizen aus den ersten Klassen des Gymnasiums heranziehen, so finden sich darin zwar nur wenige Hinweise auf Informationen ber nicht-christliche Religionen, was freilich nicht bedeutet, dass es sie nicht zahlreicher gegeben hat. In dem Schulaufgaben-Heft des Zwlf-jhrigen (es reicht vom 17. Mai bis Juni 1856, und spter wird es ab September d. J. weitergefhrt, erstmals verffentlicht in KGW _____________3 Vgl. dazu die umfassende Untersuchung von G. Peuster-May, Die Be-

    handlung der Religionen in der schulbezogenen Literatur des 18./19. Jahrhunderts unter besonderer Bercksichtigung der Jahre 1850-1900, 1988, und die statisti-schen Auswertungen zur Thematisierung nichtchristlicher Religionen. Peuster-May wertete Geschichts-, Religions- und Deutschbcher be-sonders des 19. Jahrhunderts und die Erdkundebcher allgemein sowie speziell (Religionen der Vlker) aus; auf die Religionen der klassischen Antike, aber auch auf das Judentum, wurde dort verzichtet (vgl. Einlei-tung, XVI).

    4 Vgl. grundlegend U. Tworuschka, Die Geschichte nichtchristlicher Religionen im christlichen Religionsunterricht. Ein Abri, 1983, sowie die von ihm und M. Klcker betreute Dissertation von Peuster-May (siehe vorherge-hende Anm.), die den Religionsunterricht eigens einbezieht, zugleich aber auch nachweist, dass in anderen Fchern, neben Geschichte vor allem in Erdkunde, die Vermittlung von Wissen ber auereuropische Kulturen umfangreicher als im Fach Religion war.

  • Methodologische Vorberlegungen 15

    I 1, 329-347: 2A [1]) werden sehr oft Aufgaben, die zum Religi-onsunterricht gehren, genannt, z. B. wiederholt Biblische Ge-schichte(n) (vgl. 330; 335; 339f; 345ff), Die zehn Gebote () (333), das Lernen von Liedern (mit Angabe der Seite bzw. Num-mer im Gesangbuch) (vgl. 335), dann Repetitionsaufgaben dazu mit Anfhrung der Liedanfnge (vgl. 347). Dieser Tatbestand zeigt das kirchliche Interesse an unhinterfragbaren Stoffen aus Katechismus, Bibel und Gesangbuch, wie es z. B. in einem preu-ischen ministeriellen Erlass von 1854 ins Zentrum gerckt wur-de5. Trotz dieser ekklesiozentrischen Ausrichtung des Religions-unterrichts war es mglich und z. T. auch notwendig, andere Reli-gionen wenigstens zu erwhnen und in Einzelfllen nher darzu-stellen.

    Dieser Sachverhalt spiegelt sich auch im Religionsbuch, das in Schulpforta eingefhrt wurde, als Nietzsche dort die letzten Klas-sen besuchte, und das er 1863 fr sich gekauft hat, nmlich das Hlfsbuch fr den evangelischen Religionsunterricht von Wilhelm Adolf Hollenberg 6. Hauptinhalte dieses Buches waren Kirchenlieder (1ff), der kleine Katechismus Luthers (34ff) und das christliche Kirchenjahr (50-52), dann das alte und neue Testament (53ff bzw. 95ff); ausfhr-lich kommt die Kirchengeschichte (alte, mittlere, neuere) zur Sprache (143-245), und am Schluss die Glaubenslehre und die Augsburgerische Confession zusammen mit den drei kumenischen Symbolen (246 bzw. 283ff). Vor- und nichtchristliche Religionen werden bei der bibli-schen Umwelt (das Heidenthum, vgl. 58) und im kirchengeschicht-lichen Kontext erwhnt; Muhamed. 571-632 wird in einem eigenen Paragraphen behandelt (164-166) wie auch in der Profange-

    _____________5 Vgl. Chr. Grethlein, Art. Religionsunterricht, in: 4RGG 7, 390. 6 Es war die 5. Auflage von Nietzsche am 26. September 1863 gekauft

    (vgl. GSA 71/361, 4; Blatt 181); vgl. G. Campioni u. a. (Hg.), Nietzsches persnliche Bibliothek, 2003, 303. Es ist aber nicht mehr in der Bibliothek Nietzsches erhalten und auch nicht mehr im neuen Bestandsverzeichnis der Bibliothek Schulpforta angefhrt (wohl war es im alten mit Signatur genannt).

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 16

    schichte in chronologischem Zusammenhang, vor Bonifatius (680-755). Indien kommt im Zusammenhang mit dem Missionsauftragdes Christentums zur Sprache (z. B. 240-243), aber die Religionen Indiens werden nicht nher erlutert.

    Der systematischen Fragestellung dieser Untersuchung ent-sprechend soll zunchst in den auf die Darstellung der beiden Gymnasien (1.) unmittelbar folgenden Punkten (2. und 3.) auf diejenigen Fcher eingegangen werden, in denen ein berblick ber die Racen (wie es in den Schulbchern damals hie) und Religionen vermittelt wurde, wobei zuerst schwerpunktmig der Geographieunterricht zu bercksichtigen ist; daran anschlieend auf die universalistische Konzeption des Geschichtsunterrichtes, bei dem ein grundlegender Aspekt die Darstellung des archaischen Ursprungswar; in diesem Horizont wurden die lebenden indigenen Vlker als Wilde verstanden. In den folgenden Punkten ist dann auf ein-zelne Kulturen und Religionen einzugehen: insbesondere auf jene des altorientalischen Raumes (besonders Perser, 4.), dann auf jene der Griechen (5.) und Germanen (6.); danach wird auf die Indogermanis-tik als Brcke zu Indien eingegangen (7.); schlielich auf das Bild von den Muslimen (8.) und Juden (9.), das Nietzsche in seiner Sozia-lisation in christlichen Schulen7 vermittelt wurde. Bei der Darstel-lung des berblicks sowie der einzelnen nichtchristlichen Religionen sind wie erwhnt jeweils zuerst (Unterpunkt 1.) die Naumbur-ger Schulmaterialien auszuwerten, dann (Unterpunkt 2.) jene von Schulpforta.

    _____________7 Nietzsches Kennenlernen des Christentums in seinem Bildungsweg ha-

    be ich in mehreren Publikationen dargestellt; es sei besonders verwiesen auf J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, 47-70 (Gymnasialzeit); zur Kind-heit vgl. den Hinweis auf Bohley in der folgenden Anmerkung.

  • 1. Bildungsziele 17

    1. Bildungsziele in Naumburg und Schulpforta 1. Bildungsziele 1.1. Christliche Orientierung und religionswissenschaftliche Bildung der Lehrer am Naumburger Domgymnasium

    1.1.1. Grundlegung der schulischen Ausbildung Noch bevor Friedrich Nietzsche (geboren am 15. Oktober 1844) an die Naumburger ffentlichen Schulen gekommen ist und am regulren Schulunterricht teilgenommen hat, hatte er noch in R-cken als fnfjhriges Kind stundenweise Unterricht erhalten; entsprechende Zeugnisse ber diese Zeit sind erhalten8 und in der Jugendbiographie genannt, die seine Schwester verfasst hat9. Ende September 1850, also knapp vor seinem sechsten Geburtstag, kommt Nietzsche an die ffentliche Schule in Naumburg, nmlich an die Brgerschule, die er bis Ostern 1853 besucht.

    Nach der Brgerschule besucht Nietzsche gemeinsam mit seinen Freunden Pinder und Krug ein Privatinstitut, das der Pre-digtamt-Kandidat Karl Moritz Weber in Naumburg eingerichtet hatte und dessen Aufgabe in seinem Namen zum Ausdruck kommt: Institut zum Zwecke grndlicher Vorbereitung fr Gymnasien und andere hhere Lehranstalten (vgl. KGB I 4, Nb. 274).

    Im Anschluss daran kommt Nietzsche ebenfalls mit seinen beiden Freunden an das Domgymnasium in Naumburg, an eine Schule, deren wechselvolle Geschichte bis ins Jahr 1030 zurck-reicht. Whrend es bisher kontrovers diskutiert wurde, ab wann er dort war ob ab Ostern oder erst ab Herbst (Michaelis) 1855, ist

    _____________8 Vgl. den Brief der Mutter Franziska Nietzsche an ihre Freundin Emma

    Schenk vom 16. 11. 1849: Fritzchen geht seit seinem Geburtstag tg-lich auf eine Stunde in die ffentliche Schule (); zit. nach R. Bohley, Nietzsches christliche Erziehung, in: Nietzsche-Studien 16 (1987) 167 Anm. 18. Zu den Anfangsgrnde(n) des Schreibens vgl. J. Figl, Das religis-pdagogische Kindheitsmilieu Nietzsches, in: A. Schirmer/R. Schmidt (Hg.), Entdecken und Verraten, 1999, 24-36, bes. 24-26.

    9 Vgl. E. Frster-Nietzsche, Der junge Nietzsche, 1912, 19 und 22.

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 18

    diese Frage durch ein neu aufgefundenes Dokument geklrt, in dem der Direktor des Domgymnasiums, Dr. Frtsch, Ende Sep-tember 1858 im Abgangszeugnis besttigt, dass Friedrich Wilhelm Nietzsche von Michaelis 1855 bis jetzt (scil. September 1858; J. F.) Schler des hiesigen Domgymnasiums gewesen (ist) und das letzte Semester der Tertia desselben angehrt (hat)10. Darauf weist auch eine briefliche Aussage der Mutter Nietzsches vom 14. Februar 1856 hin, die besagt, dass Fritz doch seit Michaelis auf dem hiesigen Domgymnasium (ist) (KGB I 4, 40), d. h. seit Herbst 1855, wodurch sich die Annahme besttigt hat, dass er dann wahrscheinlich bis zu diesem Zeitpunkt am Weberschen In-stitut gewesen ist (Ende des Sommersemesters 1855); davon geht auch Reiner Bohley, der einer der besten Kenner des Bildungsweges Nietzsches war, aus11.

    Nietzsche ist also im Herbst 1855, nachdem er und seine Freunde durch Direktor Frtsch etwas exanimirt (sic!) wurden, nach Quinta des Domgymnasiums versetzt worden, worber er in seinem Rckblick auf die Kindheit, den er als 14-Jhriger ver-fasst, selbst berichtet (KGW I 1, 299: 4 [77]).

    Die Klasseneinteilung war in der Weise, dass die Reifeprfung am Schluss von Prima war; am Beginn war Sexta, die in Naumburg 1856 neu eingerichtet wurde. Nietzsche besuchte dort Quinta,Quarta und Untertertia; dann wechselte er nach Schulpforta, wo er das schon in Naumburg absolvierte erste Halbjahr von Untertertiawiederholen musste; diese Schulstufe war in Pforta die Anfangs-klasse, denn dieses Gymnasium begann erst mit Tertia; es folgten Secunda und Prima (jede dieser Schulstufen umfasste zwei Jahre, also Unter- und Obertertia usw.).

    Die Einteilung des Schuljahres war an beiden von Nietzsche besuchten Gymnasien folgendermaen: das Wintersemester begann zu Michaelis (29. September) oder kurz danach (Anfang Oktober) _____________10 Th. H. Brobjer, Why did Nietzsche Receive a Scholarship to Study at

    Schulpforta?, in: Nietzsche-Studien 30 (2001) 327. 11 Vgl. R. Bohley, Nietzsches christliche Erziehung (1987) 164ff.

  • 1. Bildungsziele 19

    und dauerte bis Ostern (Mrz oder Anfang April); danach begann das Sommersemester, das bis Mitte oder Ende September dauerte; die Sommerferien dauerten vier Wochen (etwa Mitte Juli bis Mitte August)12. Fr das Domgymnasium in Naumburg wurde eine ei-gene Ferienordnung von der vorgesetzten Schulbehrde in Magde-burg festgelegt13.

    1.1.2. Unterrichtsfcher und Schullehrbcher ber den Inhalt der Unterrichtsfcher in Naumburg sind wir durch die Schulnachrichten dieses Gymnasiums relativ gut unterrichtet. Sie er-schienen jhrlich und umfassen jeweils den Zeitraum von Ostern des einen Jahres bis Ostern des darauf folgenden Jahres. Darin werden die Lehrinhalte der einzelnen Schulstufen genannt bis 1855/56 nach drei Gruppen unterschieden und in folgender Rei-henfolge angefhrt:

    1. Sprachen, schwerpunktmig Latein, dann Griechisch, Deutsch, Franzsisch durchgehend und Hebrisch in den oberen Schulklassen;

    2. Wissenschaften, zu denen Religion, Geschichte und Geographie, Mathematik, Physik und Philosophische Propdeutik gezhlt werden. In den unteren Klassen gehren zu den Wissenschaf-ten die Naturkunde bzw. Naturbeschreibung; schlielich

    3. Singen und Zeichnen sowie Kalligraphie (in Quinta und Quarta).

    Ab 1857/58 wird in der Fcherliste zuerst Religion genannt, da-nach erst die Sprachen und die Wissenschaften, am Schluss Zeichnen und Kalligraphie. Diese neue Anordnung, mit Reli-gion an der Spitze, die auch fr Schulpforta gegolten hat, geht auf einen Erlass des kniglichen Provinzial- und Schulkollegiums vom 10. Oktober 1857 zurck. Demnach haben die Gymnasien der Provinz die zu absolvierenden Lehrpensa in nachfolgender Rei-_____________12 Vgl. Th. H. Brobjer, Nietzsches Education at the Naumburg Domgym-

    nasium 1855-1858, in: Nietzsche-Studien 28 (1999) 305. 13 Vgl. Schulnachrichten Naumburg 1856/57, XI.

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 20

    henfolge zu beachten: Religion, Deutsch, Latein, Griechisch, Franzsisch, Geschichte, Geographie, Mathematik und Rechnen, Physik, Naturkunde, Zeichnen und Schreiben14.

    Besonders aufschlussreich ist die Anzahl der Stunden in den einzelnen Fchern, v. a. in den klassischen Sprachen: sie betrgt von Quinta bis Secunda je 10 (!) Wochenstunden in Latein, in Prima8. Der Griechischunterricht umfasste von Quarta bis Prima je 8 Wo-chenstunden. Im Vergleich dazu war die durchschnittliche Stun-denzahl in Geschichte und Geographie 3, in Mathematik 3 bzw. 4, in allen anderen Fchern 2. Das groe bergewicht von Latein ist auffallend; hinzu kommt, dass Nietzsche mit seinen Freunden Pinder und Krug schon in dem Vorbereitungs-Institut auf das Gymnasium bei Cand Weber () den ersten Unterricht im Griechischen u. Lateinischen empfangen hatte (KGW I 1, 289: 4 [77]).

    In den Schulnachrichten werden die im Unterricht verwendeten Lehrbcher angegeben sowie auch die Lehrer, die diese Fcher in der jeweiligen Schulstufe unterrichteten. Es werden die Stoffgebiete und tabellarisch eine bersicht ber die Lehrgegenstnde wie auch die Ver-teilung der Lehrfcher unter den Lehrern angefhrt. Schlielich gibt es ein Verzeichnis, das die im jeweils vergangenen Jahr in den drei oberen Klassen (Prima, Secunda, Tertia) aufgegebenen Themata zu freien Ausarbeitungen im Lateinischen und im Deutschen enthlt. Weiters werden Verordnungen und Bekanntmachungen der vorge-setzten hohen Behrden mitgeteilt, insbesondere die Entschei-dungen des zustndigen kniglichen preuischen Ministeriums in Berlin, die durch die Schulbehrde in Magdeburg bekannt ge-macht wurden. Da es die zum Dom gehrige Schule war, sind auch die Entscheidungen des Hochwrdigen Domkapituls, wie es hier heit, wichtig. Eine Chronik der Schule, eine Aufstellung der neu erworbenen Bcher des Lehrapparates fr die Gymna-_____________14 Unterrichts- und Schulangelegenheiten 1856-1875, Archiv Schulpforta,

    Sign. Nr. 0466. Zu dieser auch fr Schulpforta geltenden Neuregelung vgl. unten S. 23f, Anm. 21.

  • 1. Bildungsziele 21

    sialbibliothek sowie fr die Lese- und Hilfsbibliothek der Schler ist ebenfalls in diesen Schulnachrichten enthalten, auch Angaben ber Vernderungen im Lehrerkollegium und ber die Schler der einzelnen Klassen.

    Aus einer Reihe dieser Angaben, insbesondere aus den Lehr-plnen und den verwendeten Schulbchern (v. a. in Geschichte und Geographie, aber auch in Deutsch und in weiteren Fchern) knnen Rckschlsse darauf gezogen werden, in welchem Ausma Nietz-sche schon in den ersten Klassen des Gymnasiums andere Kultu-ren der Vergangenheit und Gegenwart berhaupt kennen lernen konnte. Darber hinaus ist in einigen der verwendeten Schullehrbcher (z. B. in Welters Lehrbuch der Weltgeschichte, das in Naumburg verwendet wurde; Nietzsches eigenes Exemplar ist noch in der Bibliothek Nietzsches erhalten) ein tendenziell universalistischer, die ge-samte Weltgeschichte umfassender Ansatz gegeben, der in Anst-zen transkulturelle Intentionen impliziert. Dabei zeigen sich manche ungewohnte Perspektiven bezglich der Wahrnehmung fremder Kulturen, die im Folgenden aufgezeigt werden. Dennoch kann von der religisen Eingebundenheit des Gymnasiums her vermu-tet werden, dass die Begegnung mit auereuropischen Kulturen stark von einer christentumszentrierten Perspektive bestimmt war, denn die christliche Ausrichtung war nicht nur ein Erfordernis fr die Schler, sondern ebenso eine Vorbedingung fr die Lehrer, von denen eine wie es wrtlich in den Schulnachrichten heit religionswissenschaftliche (gemeint ist eigentlich eine theologi-sche) Zusatzausbildung verlangt wurde.

    1.1.3. Religionswissenschaft fr Nicht-Theologen christliche Orientierung der Lehrer und Schler Es bedarf keines besonderen Nachweises, dass sowohl das Gym-nasium in Naumburg als auch jenes in Pforta allein aufgrund der institutionellen und lokalen Vorgegebenheiten als Domschule bzw. als Knigliche Landesschule in einem strengen religis-christlichen, nherhin evangelischen Kontext, gestanden sind. In

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 22

    der Allgemeinen Schulordnung des Domgymnasiums in Naumburg finden wir folgende Paragraphen15:

    An Sonn- und Festtagen sind die Schler verpflichtet, dem ffentlichen Frhgottesdienste in der Domkirche gemeinschaftlich in anstndiger Kleidung, ruhig und still beizuwohnen und drfen ihre Pltze nicht vor-her verlassen als bis der inspizierende Lehrer ihnen dazu die Erlaubnis gegeben hat () ( 37);

    und es wird darauf Wert gelegt, dass der Inhalt der Predigt aufge-nommen wird:

    Whrend der Predigt sind die Schler der beiden unteren Klassen be-mht, sich das Thema und die Disposition desselben anzumerken, die oberen Schler ber den Vortrag seinen Hauptgedanken nach auf ange-messene Weise nachzuschreiben ( 38).

    ber diese lokal gegebene disziplinre Situation in Naumburg hi-nausgehend wurde aber die christliche Orientierung der Lehrer generell erwartet; und zwar wird in einem Erlass von 1856 ver-langt, dass sie Kenntnisse in der Religionswissenschaft haben. Es ist dieser Begriff nicht im fachspezifischen Sinn Max Mllers verwendet, sondern wohl in dem seit Beginn des 19. Jahrhunderts gebruchlichen Sinn, dass das Christentum als die vollkommene Religion im Rahmen der universitren Lehrerausbildung nher kennen gelernt werden soll16; also war damit christliche Reli-gionsphilosophie bzw. Theologie gemeint. In der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts sprach man von Theologie als christlicher (bzw. jdischer) Religionswissenschaft, und zwar im Sinn einer positiven Wissenschaft, welche einer bestimmten geschichtlichen Religion gilt, wodurch sie zugleich von der gesamten Religions-wissenschaft unterschieden wurde17. Der Erlass, der schon den _____________15 Zit. nach der Allgemeinen Schulordnung, Bibliothek Domgymnasium

    Naumburg. 16 Vgl. J. Figl, Einleitung. Religionswissenschaft, in: ders. (Hg.), Handbuch

    Religionswissenschaft, 2003, 21. 17 Art. Theologie, in: Meyers Konv.-Lexikon 15, 637. Vgl. auch W. Met-

    terhausen, Friedrich Nietzsches Bonner Studentenzeit, 1942, der

  • 1. Bildungsziele 23

    Abiturienten, die das hhere Lehramt anstrebten, bekannt ge-macht und deshalb auch in den Schulnachrichten verffentlicht wurde, zeigt diesen Wortgebrauch: da die Bestimmung besteht, dass Candidaten (scil. des hhern Schulamts, J. F.), welche bei der Prfung pro facultate docendi

    ungengende Kenntnisse in der Religionswissenschaft zeigen, ungeach-tet der in andern Fchern erworbenen Qualification doch erst dann an-gestellt werden drfen, wenn sie in einer wiederholten Prfung auch in der Religionswissenschaft befriedigende Kenntnisse nachgewiesen ha-ben, so wird dafr gesorgt werden, dass auf den Universitten in jedem Studienjahre den Studirenden, welche nicht bei der theologischen Fa-cultt eingeschrieben sind, Gelegenheit geboten wird, religionswissen-schaftliche Vortrge zu hren18.

    Sie haben bei der Prfungsanmeldung auch nachzuweisen, auf welchem Wege sie whrend ihres akademischen Studiums bemht gewesen sind, ihre religionswissenschaftlichen Kenntnisse zu er-werben und tiefer zu begrnden19. Von den Lehrern in allen F-chern wurde somit eine vertiefte wissenschaftliche Kenntnis des Christentums verlangt, also gerade auch von den Nicht-Theolo-gen.

    Ziel dieser ministeriellen Vorgaben war es, christliche Glau-benslehren ber den Religionsunterricht hinausgehend im Inter-esse der allgemeinen gesellschaftlichen Bedeutung dieser Religion in der Schulpdagogik generell zu verankern. In derselben Rich-tung kann die oben angefhrte20 Regelung verstanden werden, das Fach Religion als erstes in der Fchertabelle anzufhren21._____________

    Nietzsches theologische Studien noch in einem Abschnitt mit der ber-schrift Religionswissenschaft behandelt (a. a. O., II und 56ff).

    18 Schulnachrichten Naumburg 1856/57, IX. 19 Ebd. 20 Vgl. oben S. 20. 21 Ob diese Vorschrift noch eine Nachwirkung der restaurativen Bildungs-

    politik des frheren preuischen Staatsministers Eichhorn (1831-1848) war, wie vermutet wurde (vgl. H. Heumann, Typenformung durch An-staltserziehung an der Landesschule zur Pforte 1820-1910, 1940, 172),

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 24

    Whrend von den Lehrern in den profanen Fchern die Kenntnis christlicher Werte verlangt wurde, waren die Lehrer im Fach Religion nicht immer ihrer Aufgabe gewachsen; Nietzsches Erfahrungen mit ihnen waren sehr widersprchlich, sowohl in Naumburg22 als auch in Pforta23.

    1.2. Wissenschaftlich-philologische Ausrichtung und orientalistische Interessen an der Landesschule Pforta

    1.2.1. Wissenschaftliche Zielsetzungen einer Eliteschule neuhumanistischer Prgung Die Landesschule in Schulpforta war nicht nur durch die lokale Nhe mit Naumburg verbunden, sondern es gab auch personelle und institutionelle Verknpfungen. Ein Beispiel dafr ist die Lite-raria, ein literarischer Verein in Naumburg, in dem eine Reihe von Naumburger Brgern unter ihnen Personen, die Nietzsche gut kannte, wie z. B. der Vater eines seiner besten Freunde, Pinder Mitglieder waren und fast alle Pfrtner Lehrer Vortrge gehalten haben, wie z. B. Steinhart, Koberstein, Peter, Niese, Corssen u. a.24. Zwi-schen den Lehrerkollegien der beiden Gymnasien bestand uer-

    _____________kann hier nicht weiterverfolgt werden. Eichhorn suchte in berein-stimmung mit den Wnschen Friedrich Wilhelm IV () die Kirchlich-keit im Volk zu heben (vgl. Art. Eichhorn, J. A. F., in: Meyers Konv.- Lexikon 5, 360f).

    22 Whrend bei Cand Weber eine ausgezeichnete Religions-stunde gegeben war, sagt Nietzsche ber das Gymnasium in Naum-burg: was mir besonders weh that, war der wahrhaft erbrmliche Religionsunterricht, der allerdings bis Tertia fortdauerte (KGW I 1, 289 und 299: 4 [77]).

    23 Vgl. R. Bohley, Die Christlichkeit einer Schule, 1974, bes. 132ff, und J. Figl, Dialektik der Gewalt, 1984, 57 und 63 mit Anm.

    24 Vgl. die detaillierte Aufstellung der Themen der Vortrge der Pfrtner Lehrer in der Literaria bei R. Bohley, ber die Landesschule zur Pforte, in: Nietzsche-Studien 5 (1976) 318-320.

  • 1. Bildungsziele 25

    lich ein gutes Verhltnis25. Fr Nietzsche selbst war eine Verbin-dung dieser beiden Gymnasien auch dadurch gegeben, dass er wie erwhnt die schon in Naumburg absolvierte Zeit von Tertiain Pforta nochmals zu machen hatte (was aber nichts Auerge-whnliches war). Es hat den Anschein, als wollte diese Schule durch solche Prozeduren ihre gegenber anderen Gymnasien h-here wissenschaftliche Reputation unter Beweis stellen und da-fr drfte sie bekannt gewesen sein, wie aus einem Revisionsberichtvon 1861, also drei Jahre nachdem Nietzsche dort aufgenommen worden ist, hervorgeht:

    Da man bei der Aufnahme aus anderen Gymnasien diese Schulen mei-stern wolle, indem man die betreffenden Schler eine Klasse niedriger setze, stellen die Lehrer in Abrede. Indes sind doch nach einer von Prof. Buchbinder gemachten Zusammenstellung in fnf Jahren von 100 in die Landesschule aus anderen Gymnasien aufgenommenen Schlern 27 nie-driger gesetzt worden, so da der Ruf, in dem in dieser Hinsicht die Landesschule steht, nicht ganz unbegrndet ist26.

    Dieser Anspruch der berlegenheit mag mit der Zielsetzung der Schule, die auf ihre Grndungsintention zurckgeht, zusammen-hngen: das Gymnasium in Schulpforta war von Herzog Moritz von Sachsen in der Reformationszeit (1543) gegrndet worden neben den beiden anderen Frsten- und Landesschulen St. Afra zu Meien und St. Augustin zu Grimma27, die Pforte, wie sie auch genannt wird, war wie die beiden anderen in einem ehemali-

    _____________25 Vgl. z. B. die Glckwunschadresse anlsslich des 25-Jahr-Jubilums des

    Naumburger Direktors Frtsch (vgl. Jahresbericht Pforta 1858/59, XI), den Nietzsche als liebevollen, guten Manne schildert, der ihn und sei-ne beiden Freunde in das Gymnasium aufgenommen habe (vgl. KGW I 1, 299: 4 [77]).

    26 Zit. nach S. L. Gilman, Pforta zur Zeit Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 8 (1979) 418.

    27 Vgl. G. Arnhardt/G.-B. Reinert, Die Frsten- und Landesschulen Meien, Schulpforte und Grimma, 2002; H. Heumann, Schulpforta. Tradition und Wan-del einer Eliteschule, 1994 (zur Beurteilung des Schlers Nietzsche vgl. 120ff).

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 26

    gen Klostergebude untergebracht in dem frheren Zisterzien-serkloster St. Marien zur Pforte (ad portam). Diese Schulen ge-hrten zu den bedeutendsten evangelischen Bildungsinstitutionen in Deutschland oft auch Eliteschulen genannt, deren generelle Aufgabe es war, auf das Universittsstudium vorzubereiten und so zur Heranbildung von Kandidaten fr gesellschaftlich wichtige akademische Berufe beizutragen (Theologen, Philologen, rzte, Verwaltungs- und Militrbeamte u. a.). Damit verbunden war eine spezielle Vorbereitung auf den Gelehrtenberuf. In der Selbstvorstellung der Landesschule Pforte wird schon zu Beginn auf das Ziel einer spteren wissenschaftlichen Laufbahn hinge-wiesen. In dem 1 dieses Leitbildes (wie man heute sagen wrde), das von 1825 an bis 1861, also bis zu Nietzsches Zeit an der Schule, unverndert geblieben ist, heit es:

    Die Kngliche Landesschule Pforta ist, der Absicht ihrer Stifter und der eigenthmlichen Verfassung nach, eine Erziehungs- und Unterrichtsan-stalt, in der eine bestimmte Zahl junger Leute evangelischer Confession innerhalb eines gesetzlich bestimmten Zeitraums, vom reiferen Kna-benalter an bis zum Uebergange auf die Universitt, fr das hhere wis-senschaftliche Leben, oder fr den eigentlichen Gelehrtenberuf vorbe-reitet wird;

    und es wird nochmals wiederholt, dass nur solche Knaben aufge-nommen werden drfen, an denen, neben sittlicher Tchtigkeit und Unverdorbenheit, eine ernstliche Neigung und eine entschie-dene Fhigkeit zu den hheren Studien wahrnehmbar ist, und welche nicht blo eine allgemeine Bildung fr den brgerlichen und geselligen Bedarf, sondern eine tchtige Vorbereitung fr die Anforderungen des Gelehrtenstandes zu erhalten wnschen28.

    Mit diesen Zielen entsprach Schulpforta den Aufgaben des neuhumanistischen Gymnasiums 29 im Sinne der Reformen Wilhelm von

    _____________28 Zit. nach R. Bohley, ber die Landesschule zur Pforte (1976) 298.29 Neben den Gymnasien bestanden andere Bildungseinrichtungen, auch

    solche fr Mdchen, denen aber der Zugang zur Universitt verwehrt war: vgl. H. Cancik, Nietzsches Antike: Vorlesung, 2000, 6 mit Anm. 18.

  • 1. Bildungsziele 27

    Humboldts, das die Aufgabe hatte, auf das Universittsstudium vorzubereiten, und dessen Abschluss dafr Zugangsberechtigung war30. Diese Reformen wurden unter Ilgen, der von 1802 bis 1831 Rektor dieser Schule war, eingefhrt; er war mit Humboldt be-freundet und stand mit ihm in Briefwechsel; als preuischer Un-terrichtsminister war Humboldt ein groer Freund und Gnner der Schule von Pforta31. 1815 ist Pforta infolge der allgemeinen poli-tischen Ereignisse preuische Landesschule geworden. Humboldtverstand Bildung als universale Bildung, d. h. als die Entfaltung aller Persnlichkeitskrfte in der Begegnung mit der Antike, naturwis-senschaftliche Kenntnisse werden nicht ausgeschlossen, sondern integriert32. Dem Bildungsziel des Neuhumanismus entsprechend traten dann in Schulpforta allmhlich das Turnen, der Deutsch-unterricht und naturwissenschaftliche Exkurse an die Seite der Altsprachen, wenn auch nicht gleichberechtigt33.

    Der Gedanke der universellen Bildung war an dieser Schule auch zu jener Zeit noch sehr lebendig, als Nietzsche aufgenom-men wurde. Zu Beginn des zweiten Jahres34 in Schulpforta notiert er in tagebuchhnlichen Aufzeichnungen: Ich habe meinen Ge-burtstag erlebt und bin aelter geworden () Mich hat jetzt ein ungemeiner Drang nach Erkenntni, nach universeller Bildung er-griffen; Humbold (sic!) hat diese Richtung in mir angeregt (KGW I 2, 134: 6 [77]). Wahrscheinlich hat Nietzsche hier zu-gleich auch an Alexander von Humboldt gedacht, und nicht nur an _____________30 Ab der preuischen Neuordnung der Reifeprfung von 1834 wurde

    das humanist(ische) G(ymnasium) (Gelehrtenschule) zur Vorberei-tungsanstalt fr die Uni(versitt) bis dahin hatte die Artistenfakultt die Auswahl der Studenten selbst getroffen: vgl. Art. Gymnasium, in: Brockhaus-Enzyklopdie 9, 312.

    31 Vgl. P. Dorfmller/R. Konetzny (Hg.), Schulpforta, 2003, 51f, 55; R. Bohley, Die Christlichkeit einer Schule, 1974, 51ff.

    32 Art. Humboldt, W. v. , in: Brockhaus-Enzyklopdie 10, 298. 33 P. Dorfmller/R. Konetzny (Hg.), Schulpforta, 32003, 129. 34 Er schreibt in diesen Notizen von 1859 vom Sptherbst und von den

    Michaelisexcursionstagen: KGW I 2, 134: 6 [77].

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 28

    dessen Bruder Wilhelm, mit dem primr der Gedanke der Univer-salbildung verknpft ist. Er hatte nmlich zu seinem 15. Ge-burtstag (15. Oktober 1859) von seiner Tante Rosalie das Buch von P. F. H. Klencke Alexander von Humboldt. Ein biogra-phisches Denkmal35 geschenkt bekommen. Auch Alexander von Humboldts Perspektive war universell, jedoch strker auf Reisen und Lnderkunde sowie Naturwissenschaften bezogen. So konnte er in diesem Buch, also auch auerhalb des Schulunterrichts, fremde Vlker und Lnder kennen lernen. Fr Nietzsche umfasst ein innerer Trieb zu universeller Bildung wie er formuliert alles andere u. fgt vieles neues hinzu; in einer Tabelle nennt er Sprachen, Knste, Nachahmungen und Wissen (I 2, 136).

    Nachdem er unter diesen Rubriken verschiedene Bereiche an-gefhrt hat (z. B. bei den Sprachen: 1. Hebraeisch. 2. Grie-ch 3. Lat 4. Deutsch. 5. Englisch 6. Franzsich. etc.), schreibt er zusammenfassend: und ber alles Religion, die Grundveste alles Wissens! (Ebd.)36

    Diese traditionelle Glubigkeit, die sich hier am Beginn der Pfrtner Zeit noch ausdrckt, sollte gerade durch das Wissen in vielen Fchern, besonders auch ber andere Kulturen, nach und nach relativiert werden.

    Die Universalitt der neuhumanistischen Ausbildung hat trotz ihrer grundlegenden Orientierung an der Antike auch die ffnung zu auereuropischen Kulturen gefrdert. Wesentlich war hier die generelle philologische Ausrichtung: im Medium der Sprache sollte die antike Welt erschlossen werden. Wilhelm von Humboldt_____________35 Es war die 2. Auflage, Leipzig 1852; das Buch ist nicht mehr in der

    Bibliothek Nietzsches erhalten; vgl. KGB I 1, 82: an seine Tante schreibt er in der zweiten Oktoberhlfte, dass Humbolds (sic!) Biographie dem Geiste gemundet (hat) und mundet noch immer; dazu KGB I 4, 100; spter hat er diese Biographie Deussen geborgt: vgl. Brief von Deussen an Nietzsche vom 6. 1. 1867 (KGB I 3, 172).

    36 Vgl. dazu H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus II/1, 1993, 462ff; H. G. Hdl, Vom kleinen Stockphilister zum Kritiker der greisenhaften Ju-gend, in: Nietzscheforschung 5/6 (2000) 372f.

  • 1. Bildungsziele 29

    war selbst ein mageblicher Sprachwissenschaftler, dessen Studien weit ber die klassischen Sprachen hinausreichten37. Und er war, ebenso wie der Begrnder der vergleichenden Sprachwissenschaft, Franz Bopp, den er sehr frderte, von Anfang an von der Wichtig-keit des Sanskrit durchdrungen38.

    Die sprachlich akzentuierte, klassisch-philologische Bildung in Pforta konnte so zum Ausgangspunkt auch fr auereuropischePhilologien werden, und insgesamt wurde damit eine solide Basis fr die Laufbahn eines Gelehrten gelegt.

    Tatschlich haben groe Gelehrte auch in Fchern der im 19. Jahrhundert neu entstehenden Disziplinen an dieser Schule stu-diert, wie z. B. der gyptologe Lepsius 39 und der Indologe Deussen 40.Letzterer war ein Schulkollege Nietzsches, ebenso wie der sptere scharfe Kritiker von Nietzsches Geburt der Tragdie, der Klas-sische Philologe von Wilamowitz-Mllendorf 41. In Schulpforte stu-dierten auch groe Historiker wie Leopold von Ranke sowie be-deutende Philosophen und Dichter (besonders sind hier Klopstockund Fichte zu nennen); tatschlich zeigt sich aber, dass die Absol-venten in allen gesellschaftlichen Berufen, die eine akademische Vorbildung erforderten, ttig gewesen sind42.

    _____________37 Vgl. sein bekanntes Werk ber die Kawi-Sprache auf der Insel Java: nebst einer

    Einleitung ber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einflu auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechtes, 3 Bnde, 1836-1839.

    38 E. Windisch, Geschichte der Sanskrit-Philologie und indischen Altertumskunde,Band 1, 1917, 71.

    39 Lepsius vollendete Champollions Entzifferungswerk der Hieroglyphen-schrift und erhielt 1842 die erste deutsche Professur fr gyptologie in Berlin; er leitete auch eine Expedition nach gypten, vgl. V. Krech, Wis-senschaft und Religion, 2002, 107f. Siehe S. 116, Anm. 288.

    40 Siehe unten S. 287f. 41 Vgl. K. Grnder (Hg.), Der Streit um Nietzsches Geburt der Tragdie, 1969,

    27-55. 42 Vgl. als Beispiel die Aufzhlung der Studienrichtungen, die die Absol-

    venten zu whlen gedachten, in den Jahresberichten sowie die Nachrufe

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 30

    Obwohl in der erwhnten Selbstvorstellung der Schule des Weiteren auch gesagt wird, dass diese doch keineswegs als eine Verpflegungs-Anstalt fr Shne drftiger Eltern angesehen wer-den darf43, scheint in der Realitt doch der soziale Aspekt eine wesentliche Rolle gespielt zu haben. In dem Revisionsbericht von Schulrat Heiland aus dem Jahr 1861 wird die Klage des Rektors von Pforta referiert, da viele der Schler nur geringe wissenschaftli-che Befhigung htten; auch der Revisor, der im Namen der Be-hrde in Magdeburg die Schule berprft, schliet sich diesem Urteil an und mchte gerade bei den aus sozialen Grnden verge-benen Pltzen die alte Regelung beibehalten: Es wre wohl zu wnschen, da sich ein Modus finden liee, da wenigstens in die Kniglichen Freistellen nur Knaben aufgenommen wrden, die fr die wissenschaftliche Laufbahn befhigt sind, und er fgt la-konisch hinzu: Fr stumpfe Kpfe ist Pforte keine Pflanzstt-te44.

    Ob es allerdings auch zutrifft, dass Nietzsche primr deshalb an der Landesschule eine Freistelle bekommen hat, weil er einer-seits ein Halbwaise und weil andererseits sein verstorbener Vater ein Pastor gewesen ist und nicht wegen seiner Begabung und Qualifikation, msste durch eine nhere Erforschung der konkre-ten Aufnahmebedingungen fr diese Eliteschule geklrt wer-den45. Ohne auf diesen Aspekt nher eingehen zu knnen, ist den-

    _____________(mit Angabe ihrer beruflichen Ttigkeit, Jahresbericht 1858/59, X) auf die verstorbenen ehemaligen Pfrtner Schler, fr die jhrlich ein soge-nanntes Ecce abgehalten wurde: siehe dazu nher: J. Figl, Tod Gottes und die Mglichkeit neuer Gtter, in: Nietzsche-Studien 29 (2000) 82-101, bes. 85ff: Totenfeiern in Schulpforta.

    43 Zit. nach R. Bohley, ber die Landesschule zur Pforte (1976) 298. 44 Zit. nach S. L. Gilman, Pforta zur Zeit Nietzsches (1979) 418. 45 Diese Annahme vertritt Th. H. Brobjer, Why did Nietzsche Receive a

    Scholarship to Study at Schulpforta? (2001) 322-328, bes. 325; als Beleg nennt er das von ihm im Archiv in Pforta aufgefundene Abgangszeug-nis Nietzsches von Naumburg, insbesondere die Benotung in zentralen Fchern (Griechisch, Latein), die nur durchschnittlich gewesen sei.

  • 1. Bildungsziele 31

    noch festzuhalten, dass einerseits Nietzsche im Laufe der Ausbil-dung seine herausragende Begabung besonders in sprachlichen Fchern (einschlielich des Deutschen) unter Beweis stellte, und dass andererseits die besondere wissenschaftliche Reputation der Schule auch noch zu seiner Zeit gegeben war. Diese lag z. B. ge-genber den Lehrern am Naumburger Gymnasium nicht nur in der formal hheren Qualifikation, die sich im Titel Doktor oder Professor zeigt46, sondern m. E. vor allem in dem Ansehen, das die Publikationen einiger der langjhrig in Schulpforta ttigen Pro-fessoren in der damaligen akademischen Welt besonders auch an Universitten genossen haben, wie insbesondere die wich-tigsten Werke von Koberstein, Steinhart, Corssen u. a., auf die er sich im Lebenslauf anlsslich seiner Berufung als Professor an die Uni-versitt Basel namentlich bezieht47. Die Begegnung mit solchen Lehrern brachte fr Nietzsche schon im Gymnasium eine Ausei-nandersetzung mit anspruchsvollen wissenschaftlichen Fragen, die des Weiteren eine erste Brcke zu auereuropischen Sprachen und Kulturen erffnet haben.

    1.2.2. Literatur ber auereuropische Kulturen (insbesondere Orientalia) und sprachwissenschaftliche Schwerpunkte Ein Zeugnis fr die Offenheit gegenber der wissenschaftlichen Beschftigung mit fremden Kulturen stellt die Bibliothek dar48,deren Neuerwerbungen (unter Lehrapparat) im Jahresbericht der Schule jeweils ausgewiesen wurden. Vor allem im 19. Jahrhun-dert erreichten die Bestnde eine Qualitt, die weit ber den Rah-men einer Gymnasialbibliothek hinausging. Die Bibliothek um-fasst heute ca. 80.000 Exemplare, darunter kostbare Erstausgaben

    _____________46 Vgl. dazu Th. H. Brobjer, Nietzsches Education at the Naumburg

    Domgymnasium 1855-1858 (1999) 311. 47 Vgl. unten S. 106ff; 119ff; 128ff. 48 Vgl. dazu grundlegend: P. Dorfmller, Zur Geschichte der Bibliothek

    Schulpforte, 2001.

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 32

    von Kopernikus, Galilei und Tycho de Brahe49. Der reiche Bestand hngt mit der Qualitt der Ausbildung zusammen: Hier machte sich natrlich auch positiv bemerkbar, dass der Staat von Anfang an sehr interessiert daran war, mglichst nur hervorragende Ge-lehrte als Lehrer in den Landesschulen einzusetzen, denn ihr wis-senschaftliches Niveau und Interesse spiegelt sich auch in den Be-stnden wider50.

    Diese Bibliothek war Lehrern und Schlern an bestimmten Tagen zugnglich. Von Nietzsches Entlehnungen in Prima(1863/64) sowie aus seiner Zeit als Student und spter als Profes-sor (anlsslich von Ferienaufenthalten in Naumburg, 1865-1879) liegt ein verffentlichtes Verzeichnis vor51.

    Im vorliegenden Zusammenhang ist von Interesse, dass in der Bibliotheca scholae Portensis eine eigene Abteilung Orientalia anzutref-fen ist. Unter Orientalismus verstand man zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als dieser Begriff eine lexikalische Verbreitung fand, zunchst das Studium des gesamten, des Nahen und Fernen Os-tens52. Das Bestandsverzeichnis aus dem 19. Jahrhundert umfasst eine zwar nicht sehr groe, aber doch beachtliche Anzahl von ausgewhlten Werken zu orientalischen Sprachen und Kulturen, z. B. des Arabischen und gyptischen, aber auch Foliobnde und frhe Verffentlichungen zum Islam vom 17. bis zum 19. Jahr-hundert53. Die Einbeziehung orientalischer Kulturen und Religio-_____________49 P. Dorfmller/E. Kissling, Schulpforte, 2004, 74. 50 Ebd. 51 M. Oehler, Nietzsches Bibliothek, 1942: Anhang, 45-55; hier sind die philo-

    logischen Schriften aufgenommen; eine Vervollstndigung dieser Angaben wre wnschenswert!

    52 G. Endre, Einfhrung in die islamische Geschichte, 1982, 20f. Zur Euro-zentrik und der daraus resultierenden Problematik des Begriffs Orient im 19. Jahrhundert vgl. grundlegend E. W. Said, Orientalism, 1978 (dt. 1979).

    53 Z. B. A. Hinckelmannus, Lex Islamitica Muhammedis filii Abdallae pseu-doprophetae, 1694; M. Wolff, El-Senusis Begriffsentwicklung des mu-hammedanischen Glaubensbekenntnisses, Arabisch und Deutsch, 1848.

  • 1. Bildungsziele 33

    nen ist ebenso in anderen Abteilungen der Bibliothek gegeben, wie insbesondere in der Altertumswissenschaft. Unter dieser Rubrik werden unter anderem sprachvergleichende Werke und Zeit-schriften angefhrt, darunter auch solche, die fr die entstehende Religionswissenschaft wichtig waren. So wurde z. B. regelmig die Zeitschrift der Deutschen Morgenlndischen Gesellschaft er-worben54; ebenso die Zeitschrift fuer vergleichende Sprachfor-schung von Adalbert Kuhn 55, zu deren Mitarbeitern fhrende Sprachwissenschaftler gehrten, unter ihnen Max Mller 56; ferner Werke wie die Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Send, Ar-menischen, Griechischen, Lateinischen, Litauischen, Altslavi-schen, Gothischen und Deutschen von Franz Bopp 57, dann das Sanskrit-Wrterbuch, bearbeitet von Bhtlingk und Roth 58, die Bnde des berhmten Werkes von Christian Lassen Indische Al-terthumskunde (Berlin 1852) sowie das Verzeichnis der Sansc-rithandschriften von Dr. Weber, mit 6 Schrifttafeln (Berlin 1853)59 und von demselben Autor als Privatdozenten des Sanskrit in Berlin Ueber den Zusammenhang Indischer Fabeln mit Grie-chischen (Berlin 1855) sowie Eine Legende des Catapartha-Brahmana (1855)60. Aus diesen Verzeichnissen ergibt sich, dass die religions- und sprachwissenschaftlichen Kenntnisse der Zeit ber den Orient, einschlielich Indiens, in Pforta zumindest pr-sent waren und im Prinzip angeeignet werden konnten. Noch

    _____________Ebenso die frhe Schrift von Th. Hyde, Historia religionis veterum Per-sarum, eorumque magorum (), 1700.

    54 Vgl. z. B. Jahrgnge 5ff (1852ff). Vgl. dazu die Jahresberichte 1854f, 1857, 1859f.

    55 Vgl. Jahrgang 1858 und 1861/62. Gesamtregister der ersten zehn Bnde 1862/63, XVII.

    56 Vgl. Verzeichnis der bisherigen Mitarbeiter im Jahrgang 8 (1859) IV. 57 2. Ausgabe, Band 1-3, Berlin 1857-1861, vgl. Jahresbericht 1861/62, XVI. 58 St. Petersburg, Theil 1-3, 1855-1861, vgl. Jahresbericht 1861/62, ebd. 59 Vgl. z. B. Jahresbericht 1853, XVI; 1861/62, XVII. 60 Vgl. Jahresbericht 1855, XVI.

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 34

    viele weitere einschlgige Titel ber stliche Kulturen und Spra-chen enthlt der Bestandsnachweis der Bibliothek aus dem 19. Jahr-hundert, der heute noch eingesehen werden kann. Daneben gab es noch eine eigene Schlerbibliothek, deren Bestand fr die Zeit, als Nietzsche dort studierte, nur lckenhaft zu rekonstruieren ist. Diese Schlerbibliothek war aus der seit 1570 bestehenden Bibliothekim 19. Jahrhundert als eigene Abteilung hervorgewachsen; ab 1836 gab es in Schulpforta dafr einen eigenen Raum zunchst als Deutsche Lesebibliothek gedacht, dann (noch im selben Jahr) als Hlfsbibliothek fr Alumnen gegrndet; Letztere diente zur Unter-sttzung der Studien und war fr rmere Schler gedacht61. Ver-antwortlich dafr und wesentlich beteiligt an dieser Entwicklung war Karl August Koberstein, der seit 1820 (vor allem) Deutsch an der Schule unterrichtete und spter zu einem der einflussreichsten Lehrer Nietzsches werden sollte.

    Aus Kobersteins Nachlass befinden sich wichtige Werke in der Bibliothek, die zeigen, wie eng die Professoren mit den wissen-schaftlichen Entwicklungen ihrer Zeit vernetzt waren auch in persnlicher Hinsicht. Er war nicht nur mit den Brdern Grimm 62und mit Karl Lachmann, dem Herausgeber der Nibelungen, be-freundet63, sondern er stand auch in Kontakt mit Christian Carl Jo-sias Bunsen, dem groen Frderer von Max Mller. Mller widmet diesem als seinem Freund und Wohlthter den ersten Band sei-ner Essays, Beitrge zur vergleichenden Religionswissenschaft, der 1869 auf Deutsch erschienen ist. Bunsen hat schon 1849 Ko-berstein handschriftlich drei Beitrge64 als Sonderdruck gewidmet65;

    _____________61 Vgl. C. Kirchner, Die Landesschule Pforta in ihrer geschichtlichen Entwicklung,

    1843, 111, vgl. 140; fr den Hinweis auf diese Zusammenhnge danke ich Frau Petra Dorfmller, Bibliothekarin in Schulpforta.

    62 So gibt es eine Widmung von Jacob Grimm an seinen Freund Ko-berstein: ABLS Msc. B. 193: Mss. Kobersteins, Mp 4.

    63 Siehe unten S. 91, Anm. 212. 64 Ch. Bunsen/Ch. Meyer/M. Mller, Three Linguistic dissertations, 1848,

    254-350. Zur Zusammenarbeit von Mller und Bunsen vgl. E. Win-

  • 1. Bildungsziele 35

    dieser enthlt auch eine Abhandlung von Mller, der darin auf die indogermanistischen Forschungen der Zeit, auf die klassische in-dische Literatur, auf die Zend-Sprache und auf Pali-Inschriften und im Zusammenhang damit auf die Lehre Buddhas eingeht66.Bunsen selbst legt den Schwerpunkt auf die Bedeutung der neueren gyptologischen Studien fr die Klassifikation der Sprachen, wo-bei er ausfhrlich auf den gyptologen Lepsius eingeht, der, wie erwhnt, selbst ein Pfrtner Schler war67.

    Mit diesen Hinweisen auf Bcher in der Bibliothek und von Lehrern Schulpfortas soll kein direkter Bezug zu Nietzsches Kenntnissen ber auereuropische Kulturen hergestellt werden, aber sie vermgen zu zeigen, dass an diesem Gymnasium ein geis-tiges Klima bestanden hat, in dem eine literarische Begegnung mit nichtchristlichen Religionen und Kulturen mglich war.

    Dass das Interesse fr orientalische Sprachen und Kulturen vermutlich auch in manchen der Gymnasiasten geweckt wurde, zeigt z. B. die Studienwahl Paul Deussens, des berhmten Mitsch-lers und Freundes Nietzsches, der ab den ersten Semestern in Bonn Sanskrit-Studien betrieben hat68.

    Das umfassende Wissen der Lehrer von Pforta war somit nicht nur die beste Vorbereitung fr ein Studium der Philologie,

    _____________disch, Geschichte der Sanskrit-Philologie und indischen Altertumskunde, Teil 2, 1920, 285f.

    65 Vgl. das Exemplar mit Widmung an K. A. Koberstein in der Bibliothek Pforta (aus dem privaten Besitz Kobersteins, wie das Exlibris zeigt).

    66 Vgl. M. Mller, On the Relation of the Bengali to the Arian and Ab-original Languages of India, in: Ch. Bunsen/Ch. Meyer/M. Mller, Three Linguistic dissertations, 1848, 319-350, bes. 326, 329f.

    67 Vgl. S. 29, Anm. 39. Ch. Bunsen, On the results of the recent Egyptian researches in reference to Asiatic and African ethnology, and the classification of languages, in: Ch. Bunsen/Ch. Meyer/M. Mller, Three Linguistic dissertations, 1848, 254-299, bes. 273f; zu den damals neueren Resultaten der Indogermanistik, vgl. a. a. O., 255ff.

    68 Vgl. KGB I 3, 75: Brief Deussens an Nietzsche vom 2. Februar 1866, und P. Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, 1901, 21.

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 36

    sondern vermittelte wohl auch eine Erstbegegnung mit Vorstel-lungen stlicher Religionen und Philosophien69, sodass die Kon-frontation mit dem Denken Asiens, insoweit sie an der Universitt stattfand, Nietzsche nicht vllig unvorbereitet traf.

    Fr die Schler selbst war in einer Reihe von Unterrichtsf-chern, deren Inhalte z. T. aus den Jahresberichten zu ersehen sind, die Mglichkeit gegeben, zumindest in Ausschnitten Aspekte nicht nur vergangener, sondern auch zeitgenssischer auereuro-pischer Kulturen und Religionen kennen zu lernen. Hinzu kommt in den hheren Klassen, dass freien Ausarbeitungen von Themen (besonders in Deutsch) ein groer Platz eingerumt wurde bis hin zu eigenen Gedichten, die manchmal bei Schulfei-ern ffentlich vorgetragen werden konnten70. Der selbstndigen Beschftigung mit unterrichtsrelevanten Themen ist in Pforta of-fenbar ein groer Stellenwert beigemessen worden. In allen diesen Bereichen konnte Nietzsche auereuropische Religionen und Kulturen wenigstens in Aspekten kennen lernen. Inwieweit das tatschlich geschehen ist, muss detailliert nachgewiesen werden. Eine wesentliche Hilfe fr die Eruierung der Quellen, aus denen Nietzsche religionskundliche Kenntnisse vermittelt bekommen konnte, bilden die Jahresberichte dieses Gymnasiums.

    Die Jahresberichte der Landesschule sind hnlich strukturiert wie die Schulnachrichten der Domschule. Auch der Inhalt der Lehrplne ist bis auf kleine Differenzen derselbe. Auf solche Unter-schiede, die einige Eigentmlichkeiten des Lehrbetriebes in Pforta zeigen, sei kurz hingewiesen.

    Im Prospekt der Jahresberichte wird bei der Lehrverfassung zuerst der Unterricht in Sprachen und Wissenschaften gemeinsam aufge-_____________69 Vgl. E. Schmidt, Art. Koberstein, A. (K.), in: Allgemeine Deutsche Biogra-

    phie 16, 360-362. 70 Vgl. z. B. Jahresbericht 1859/60, X: theils selbst gefertigte Gedichte;

    1861/62, XVIIf: Ordnung der Schulfeier, bei der Nietzsche Ermanarichs Tod vortrgt; in Deutsch waren unter den Aufgaben zu freien Ausarbeitun-gen z. B. metrische Versuche zu einer beliebigen Sage mglich, oder berhaupt die freie Wahl eines Themas: Jahresbericht 1861/62, V.

  • 1. Bildungsziele 37

    zhlt (ebenso mit Religion beginnend), dann der Unterricht in den Knsten, bei denen Musik und Gesang, Zeichen- und Schreibunterricht und schlielich vor den gymnastischen bungen der Tanzunterricht genannt werden71.

    Bezglich der Aufteilung der Stunden bemhte sich der Revisi-onsbericht von 1861 um eine Reduzierung der Lektionen, da durch diese das freie Privatstudium () wesentlich eingeengt wird; insbesondere wird der Deutschunterricht in Tertia reduziert (von 3 auf 2 Stunden), auch sollen geschichtlich-geographische Lektio-nen in Untertertia knftig nur 4 sein statt der bisherigen 5. Im Ge-gensatz dazu wird befrwortet, da in Prima 10 lateinische Stun-den statt der gesetzlichen 8 der Landesschule als ein Praecipuum gelassen werden72.

    Der berblick ber die gesamten Lehrgegenstnde, in denen Nietzsche in Schulpforta unterrichtet wurde, weist insgesamt au-er den knstlerischen Fchern 197 Stunden aus, von denen knapp mehr als die Hlfte fr die beiden klassischen Sprachen vorgesehen waren: 99 (63 Latein, 36 Griechisch). Die solide, in Naumburg schon grundgelegte Ausbildung in Latein macht es

    _____________71 Dieser Unterricht wird whrend der 6 Wintermonate vom October bis

    Mrz, auf welche er zur Zeit beschrnkt ist, von dem Tanzlehrer Bartels aus Naumburg in 12 wchentlichen Lehrstunden ertheilt. Smmtliche Zglinge sind in 12 Abtheilungen gebracht, von denen jede wchentlich eine Stunde hat. Die Uebungen sind nach einer methodischen Stufen-folge vom Leichteren zum Schwereren geordnet, wobei in den untersten Abtheilungen die Regeln des ussern Anstandes in der Haltung und den Bewegungen des Krpers, als Grundlage des gesammten Tanzunter-richts, gelehrt und eingebt werden (Jahresbericht 1858/59, IV). Die Ausbildung darin drfte gut gewesen sein in Halle wurden die ehema-ligen Zglinge von Pforta als die geschicktesten Turner und als die feinsten Tnzer bezeichnet (C. L. Peter, Erklrung, in: Berliner Bltter fr Schule und Erziehung, 7. Mrz 1861, Nr. 10, 80). Zur Thematik des Tanzes bei Nietzsche vgl. z. B. sein bekanntes Wort von einem Gott (), der zu tanzen verstnde (KGW VI 1, 45); siehe dazu J. Figl, Religionen in der Moderne (2001) 67.

    72 Zit. nach S. L. Gilman, Pforta zur Zeit Nietzsches (1979) 412.

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 38

    verstndlich, dass Nietzsche diese Sprache auch im mndlichen Ausdruck gut beherrschte, wie sein Reifezeugnis besttigt73.

    Die Konzentration auf die klassischen Sprachen der europi-schen Kultur war ohne Zweifel grundlegend. Diese bildeten, wie im Folgenden begrndet wird, dennoch eine Basis, um im Kon-text der vergleichenden Philologie auch auereuropischen Kultu-ren begegnen zu knnen; eine wesentliche Rolle spielte zudem der Deutsch- und Geschichtsunterricht, der die komparative Dimension hinsichtlich der indogermanischen Sprachen thematisierte und erste Informationen ber Sanskrit und Zend, die Sprachen der heiligen Schriften des Hinduismus (sowie Buddhismus) und Zoro-astrismus, vermittelte.

    1.2.3. Antike und Orient Alternativen zur Christlichkeit einer Schule? Noch immer wichtig fr die Darstellung der christlichen Aus-richtung von Schulpforta ist die unverffentlichte Arbeit von Rei-ner Bohley ber Die Christlichkeit einer Schule. Schulpforte zur Schulzeit Nietzsches74. Das Internat und die Schule hatten im Tagesablauf einen klsterlichen Charakter: die Neuankmmlinge wurden als Novitien bezeichnet, der Tag begann mit einer Mor-genandacht und hatte weitere feste Gebetszeiten, wie vor dem Es-sen im Refektorium, und ebenso war eine Abendandacht vor-gegeben.

    Der schon erwhnte Revisionsbericht beklagt, dass die Professo-ren nicht am Morgengebet teilnhmen nicht einmal der geistli-che Inspektor Niese. Zudem fehle in dessen Unterricht, in Reli-gion (!), das geistliche Geprge im Unterschied zu Professor Buddensieg, der aber die Schler zu wenig in das Alte Testament

    _____________73 Vgl. Goethe-Schiller-Archiv in Weimar, GSA 71/361, 2; schon

    mitgeteilt von E. Frster-Nietzsche, Der junge Nietzsche, 1912, 134. 74 Der Dokumentationsteil dazu ist publiziert: R. Bohley, ber die Landes-

    schule zur Pforte, in: Nietzsche-Studien 5 (1976) 298-320.

  • 1. Bildungsziele 39

    einfhrt75. Buddensieg war ein Lieblingslehrer Nietzsches, ber dessen Tod er sehr betrbt war76.

    Bei einigen Professoren ist eine gewisse liberale Haltung ge-genber der religisen Praxis an der Schule gegeben. Die Anre-gungen von Seiten der vorgesetzten staatlichen Stellen mgen we-nig genutzt haben. Und es trifft wohl auch nicht wie Bohley zu Recht annimmt die Aussage Heilands zu, der 1862 in einem Le-xikon-Artikel schreibt, dass es im altsprachlichen Unterricht in Schulpforta zu einer Vergleichung des Heidenthums mit dem Christenthum gekommen sei, und dass die altclassische Bil-dung als Vorstufe zur christlichen Wahrheit zur Sprache ge-kommen sei77. Vielmehr drfte sich in Schulpforta eine Problema-tik gezeigt haben, die der dort langjhrig wirkende Professor Niese schon eineinhalb Jahrzehnte zuvor mit der Frage formuliert hatte: Wie knnen wir das Christenthum ber Alles setzen und uns doch an den Werken des klassischen Alterthums erfreuen und sie uns zu Mustern der Nachahmung dienen lassen?78 Dies war eine grundlegende Fragestellung, die zu Nietzsches Zeit eine wohl noch grere Brisanz bekommen hatte: die antike Kultur als Bil-dungsideal konnte auch als Alternative zum Christentum verstan-den werden. Zu dieser seit der Zeit des Humanismus gegebenen Perspektive kam im 19. Jahrhundert eine weitere dazu, die den Alleingeltungsanspruch des Christentums im Prinzip relativieren konnte, nmlich die orientalische Welt, besonders die Religio-nen Indiens. Die Orientalia hatten nicht allein in der Bibliothek von Schulpforta eine gewisse Bedeutung, sondern solche Wissens-inhalte wurden in einer Reihe von Unterrichtsfchern transportiert.

    _____________75 Zit. nach S. L. Gilman, Pforta zur Zeit Nietzsches (1979) 410. 76 Vgl. KGB I 1, 169f: Brief an die Mutter vom 20. August 1861; vgl. dazu

    Jahresbericht 1861/62, X. 77 Zit. nach R. Bohley, Die Christlichkeit einer Schule, 1974, 135. 78 Jahresbericht 1840, XI. Zu den Problemen, die sich aus dem Verhltnis

    von klassischer Bildung und christlichem Glauben ergeben konnten vgl. R. Bohley, a. a. O., 15ff, 24 und 56-62.

  • 1. Kapitel: Nietzsches gymnasialer Bildungsweg 40

    Es ist unzweifelhaft, dass die Klassische Philologie das Zentrum der Studien an dieser Schule geblieben ist; aber nicht zuletzt auf-grund der breiten, auch komparativ-philologischen Kompetenz einiger Lehrer, war eine ffnung hin zu auereuropischen Spra-chen, Kulturen und Religionen nicht nur mglich, sondern als Konsequenz einer vergleichenden Sprachwissenschaft nahelie-g