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1/10 Peter Genner Johann Rudolf Meyer Sohn (1768-1825) und die Familie Meyer Bauherr der Meyerschen Stollen war der Seidenbandfabrikant, Naturforscher, Alpinist und Falschmünzer Johann Rudolf Meyer Sohn, den wir im Folgenden bei seinem Ruf- namen Rudolf nennen. Sein Leben ist erst teilweise erforscht. Vollständig nachgezeich- net werden kann es vermutlich nie, denn wichtige Quellen scheinen vernichtet worden zu sein, um das wenig rühmliche Ende des einst hochgeachteten Mannes zu vertuschen. Vater Meyer und seine zweite Frau Marianne Ren- ner. Gemälde von Joseph Reinhart, 1794. Berni- sches Historisches Museum, Inv. 31527, Foto Yvon- ne Hurni. Rudolf wurde 1768 an seinem Bürgerort Aarau geboren. Er war der älteste Sohn des gleichnamigen Seidenbandfabrikanten (1739–1813) und der Arzttochter Elisabeth Hagnauer (1741–1781). Von den fünf überlebenden Geschwistern aus der ersten Ehe des Vaters stand ihm Hieronymus ge- nannt Jérôme (1769–1844) am nächsten. Als Rudolf dreizehn und Jérôme elf waren, starb die Mutter. Zwei Jahre darauf heirate- te der Vater wieder. Seine zweite Frau Ma- rianne Renner (1747–1823) aus Nidau ge- bar noch den Sohn Samuel Friedrich ge- nannt Fritz (1793–1882). Sie war mit den aus Hannover stammenden Freiherren von Schwachheim verschwägert, deren Vater Bad Schinznach erworben hatte und die nun in Bayern Karriere machten. Rudolfs Vater – jenseits der Legende Manches, was man über Rudolfs Vater lesen kann, ist Legende: Weder wurde »Vater Meyer« in seinem angeblichen Geburtshaus in der Halde geboren noch war er der Gründer der Kantonsschule. Anderes wurde unter den Teppich gekehrt, so sein ge- spanntes Verhältnis zu den Söhnen aus erster Ehe und die Schulden, die er hinterliess. 1771 übernahm Meyer die Seidenbandfabrik Rothpletz & Brutel. Unternehmeri- sche Leistung und günstige Zeitumstände verschafften ihm ein Vierteljahrhundert lang hohe Gewinne. Die Seide wurde aus Norditalien bezogen und in der Innerschweiz ge- sponnen. In seiner Fabrik – ab 1787 im heutigen Alters- und Pflegeheim Golatti – liess Meyer das Garn färben. Das Weben besorgten Heimarbeiter im Baselbiet. Die fertigen Bänder wurden dann in der Fabrik appretiert (nachbearbeitet). Der Unternehmer wohnte im Haus Milchgasse 35. Er beschäftigte Hausierer wie den Vater der Schuhfabrikanten Bally. Am meisten aber verkaufte er auf den Messen von Zurzach und Frankfurt am

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Peter Genner Johann Rudolf Meyer Sohn (1768-1825) und die Familie Meyer Bauherr der Meyerschen Stollen war der Seidenbandfabrikant, Naturforscher, Alpinist und Falschmünzer Johann Rudolf Meyer Sohn, den wir im Folgenden bei seinem Ruf-namen Rudolf nennen. Sein Leben ist erst teilweise erforscht. Vollständig nachgezeich-net werden kann es vermutlich nie, denn wichtige Quellen scheinen vernichtet worden zu sein, um das wenig rühmliche Ende des einst hochgeachteten Mannes zu vertuschen.

Vater Meyer und seine zweite Frau Marianne Ren-ner. Gemälde von Joseph Reinhart, 1794. Berni-sches Historisches Museum, Inv. 31527, Foto Yvon-ne Hurni. Rudolf wurde 1768 an seinem Bürgerort Aarau geboren. Er war der älteste Sohn des gleichnamigen Seidenbandfabrikanten (1739–1813) und der Arzttochter Elisabeth Hagnauer (1741–1781). Von den fünf überlebenden Geschwistern aus der ersten Ehe des Vaters stand ihm Hieronymus ge-nannt Jérôme (1769–1844) am nächsten. Als Rudolf dreizehn und Jérôme elf waren, starb die Mutter. Zwei Jahre darauf heirate-te der Vater wieder. Seine zweite Frau Ma-rianne Renner (1747–1823) aus Nidau ge-bar noch den Sohn Samuel Friedrich ge-nannt Fritz (1793–1882). Sie war mit den aus Hannover stammenden Freiherren von Schwachheim verschwägert, deren Vater Bad Schinznach erworben hatte und die nun in Bayern Karriere machten.

Rudolfs Vater – jenseits der Legende Manches, was man über Rudolfs Vater lesen kann, ist Legende: Weder wurde »Vater Meyer« in seinem angeblichen Geburtshaus in der Halde geboren noch war er der Gründer der Kantonsschule. Anderes wurde unter den Teppich gekehrt, so sein ge-spanntes Verhältnis zu den Söhnen aus erster Ehe und die Schulden, die er hinterliess.

1771 übernahm Meyer die Seidenbandfabrik Rothpletz & Brutel. Unternehmeri-sche Leistung und günstige Zeitumstände verschafften ihm ein Vierteljahrhundert lang hohe Gewinne. Die Seide wurde aus Norditalien bezogen und in der Innerschweiz ge-sponnen. In seiner Fabrik – ab 1787 im heutigen Alters- und Pflegeheim Golatti – liess Meyer das Garn färben. Das Weben besorgten Heimarbeiter im Baselbiet. Die fertigen Bänder wurden dann in der Fabrik appretiert (nachbearbeitet). Der Unternehmer wohnte im Haus Milchgasse 35. Er beschäftigte Hausierer wie den Vater der Schuhfabrikanten Bally. Am meisten aber verkaufte er auf den Messen von Zurzach und Frankfurt am

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Main. Am letztgenannten Ort unterhielt er sogar eine Filiale. Die ausländischen Han-delsplätze, mit denen die Firma Meyer 1802–1804 am häufigsten korrespondierte, wa-ren Mailand, Paris und Augsburg. Es versteht sich also, dass die Familie sprachenkun-dig war. Namentlich beherrschte sie das Französische. Dieser 1943 in Rünenberg BL aufgenommene Band-webstuhl ist zwar elektrifi-ziert, entspricht aber in Funktionsweise und Ausse-hen noch weitgehend den um 1800 gebräuchlichen. Foto: Theodor Strübin. Archäolo-gie und Museum Baselland, Liestal. Vater Meyer war auch Philanthrop, Mäzen und Revolutionär. Zu seinen gemeinnützigen Unter-nehmungen gehörte, dass er Johann Heinrich Weiss aus Strassburg unter Mitwirkung von Joachim Eugen Müller aus Engelberg die Schweizer Alpen aufnehmen und auf der Basis dieser Aufnahmen ein (in Paris verloren gegangenes) Relief sowie einen Atlas unseres Landes anfertigen liess. In seinem Auf-trag porträtierte der Luzerner Maler Joseph Reinhart 140 Schweizer Paare in ihren Trachten. 1790 erwarb und renovierte Vater Meyer Aaraus Schlössli. Er gab den An-stoss zum späteren Bau des Linthkanals, als er 1792 Präsident der Helvetischen Gesell-schaft war. Von 1795 an tagte dieser Zusammenschluss von Kritikern des Ancien Régime in Aarau.

Mit dem Übergreifen der Revolutionskriege auf Süddeutschland begann 1796 der Niedergang der Firma. 1798 beteiligte sich die Familie Meyer an der Helvetischen Re-volution und trug massgeblich zur Entstehung des Kantons Aargau bei. Rudolfs Vater vertrat diesen bis 1800 im Senat der Helvetischen Republik. Dort gehörte er der radika-len Partei der »Patrioten« an. Er war tief religiös, doch glaubte er als Deist nicht an die Heiligkeit der Bibel und an die Göttlichkeit Jesu. Als unser Land 1799 zum Schlacht-feld der Grossmächte wurde, weil die Kaiser in Wien und St. Petersburg die alte Eidge-nossenschaft wiederherstellen wollten, unterstützte Vater Meyer die Opfer der Kämpfe. So nahm er den späteren Gründer der Instrumentenbaufirma Kern als Waisenknaben in sein Haus auf. Ausbildung und Heirat Meyers Söhne Rudolf und Jérôme erhielten die erste Ausbildung durch einen Hausleh-rer und im väterlichen Betrieb. Sie sollten ebenfalls Seidenbandfabrikanten werden, der ältere mit Spezialisierung auf das Färben, der jüngere auf das Kaufmännische. Schon als Teenager besass Rudolf das Haus Rathausgasse 18 und sein eigenes Laboratorium. 1788 machte er eine siebenmonatige Reise ins Absatzgebiet der Firma Meyer. Diese führte ihn bis nach Stockholm und nach Riga, das damals zu Russland gehörte. Wäh-renddessen bildete sich Jérôme in Hamburg weiter. Anschliessend hörten die beiden bei Georg Christoph Lichtenberg an der Universität Göttingen Physik – Rudolf zwei,

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Jérôme ein Semester. Der ältere durfte noch einige Wochen Mineralogie bei Abraham Gottlob Werner an der Bergakademie Freiberg (Sachsen) anhängen. Dort befreundete er sich mit dem Berner Johann Samuel von Gruner (1766–1824). Dieser Lieblingsschüler Werners war ein entfernter Verwandter von Rudolfs Stiefmutter.

Links Johann Rudolf Meyer Sohn, rechts sein Bruder Hieronymus genannt Jérôme. Gemälde von Joseph Reinhart, um 1790. Sammlung Stadtmuseum Aarau, 2004.11.12.S003, 2004.10.14.S015. Als Rudolf 1790 nach Aarau zurückkehrte, trat er wie zuvor schon Jérôme in die Fami-lienfirma ein. Im gleichen Jahr heiratete er zur geringen Begeisterung der Eltern seine verarmte Jugendliebe Margarete Saxer (1769–1805). Während Jérômes 1789 ge-schlossene Ehe mit der malenden und musizierenden Julie Rothpletz (* 1769) kinderlos blieb und 1803 geschieden wurde, gebar »Gritli« vier Kinder. Von diesen erreichten aber nur Johann Rudolf (1791–1833) und Gottlieb (1793–1829) das Erwachsenenalter. Bau von Villa und Stollen 1792 kaufte Rudolf den Geschwistern seiner Frau Land ausserhalb der Stadt ab. Schon im Jahr zuvor hatte er damit begonnen, durch den Bau der Meyerschen Stollen einen versumpften Teil davon zu entwässern. Die nötigen Bergleute fand er im Eisenberg-werk des Staates Bern in Küttigen. Mit dem Bergbau war er unter anderem vertraut, weil Vater Meyer an der Blei-Silber-Mine Trachsellauenen zu Füssen der Jungfrau be-teiligt war. Fachwissen steuerte Gruner bei, der nach Abschluss seines Geologiestudi-ums 1792 zu Rudolf zog und die Leitung der beiden erwähnten Bergwerke übernahm. Gruner beriet auch Vater Meyer bei dessen kartografischen Unternehmungen. In Ru-dolfs Auftrag errichtete Johann Daniel Osterrieth aus Strassburg 1794–1797 auf dem ehemals Saxerschen Land eine Villa. Sie enthielt Wohnungen für den Bauherrn und für

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Jérôme. Auf der Strassenseite präsentierte sie sich als Bürgerhaus, auf der Gartenseite hingegen als Schloss mit tempelartiger Giebelfront und zwei Eckpavillons. Im Parterre des westlichen Pavillons richtete Rudolf sein Laboratorium ein, in den beiden Kellerge-schossen des Gebäudes eine Seidenfärberei, die durch die Stollen mit Wasser versorgt wurde und jene in der Fabrik des Vaters ersetzte. An der Gründung der Kantonsschule beteiligt war der Hauslehrer von Rudolfs Söhnen, der bayerische Pestalozzi-Schüler Andreas Moser. Als Verfechter eines freien Gottesglaubens wurde er 1802 aus Aar-au vertrieben. Bleistiftzeichnung von Johann Ulrich Schellenberg in dessen Exemplar von Mosers »Ge-sundem Menschenverstand«, Helvetien ohne Jahr (St. Gallen 1800). Universitätsbibliothek Basel, Si-gnatur Rb 591. Nach der Helvetischen Revolution beher-bergte Rudolf neben Gruner, der National-buchdrucker der Helvetischen Republik wurde, auch monatelang Heinrich Pestaloz-zi. Der Pädagoge war ein begeisterter An-hänger des Einheitsstaats und dessen be-kanntester Propagandist. Als Vater Meyer in den Senat gewählt wurde, übernahm Ru-dolf die Direktion der Familienfirma. Oster-rieth erhielt den Auftrag, den Ausbau Aar-aus zur Hauptstadt der Helvetischen Repu-blik zu planen.

Rudolfs begabter Bruder Gottlieb (1779–1803) fuhr 1801 ohne Wissen des Vaters nach Amerika, wo er sich zeitweise durchbetteln musste. Zuvor hatte er einen Chemiekurs in Jena, eine Italienreise und ein Praktikum in Manchester absolviert. Auf der Rückreise verschwand er – angeblich zum Dienst in der Royal Navy gezwungen – in England. Treibende Kraft hinter der Gründung der Kantonsschule Gruner gehörte seit 1799 der Bergwerksdirektion der Helvetischen Republik an. Zu-sammen mit ihm gab Rudolf den Anstoss zur Gründung der 1802 eröffneten ältesten Kantonsschule der Schweiz. An den Vorarbeiten beteiligte sich auch der Hauslehrer von Rudolfs Kindern, der bayerische Pestalozzi-Schüler Andreas Moser (1766–1806). Vater Meyer und Jérôme halfen bei der Finanzierung. Seine kleinen Söhne schickte Rudolf in Pestalozzis Institut in Burgorf. Er selber unterrichtete an der Kantonsschule unentgeltlich Chemie und Physik. Moser schuf den ältesten Turnplatz der Schweiz, den Telliring, und einen daran angrenzenden, heute verschwundenen, Schulgarten.

Doch wenige Monate nach Eröffnung der Schule entfesselte Aaraus oberster Pfar-rer Johann Jakob Pfleger eine Hetzkampagne gegen Moser, der sich in seinem 1800 in St. Gallen veröffentlichten Buch »Gesunder Menschenverstand über die Kunst Völker zu beglücken« nicht nur zur Demokratie, sondern auch offen zum Deismus bekannt hatte. Damit gab der altgesinnte Geistliche das Signal zum Ausbruch des Stecklikriegs,

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des Aufstands gegen die Helvetische Republik, den Berns Aristokratie von langer Hand vorbereitet hatte.

Mit dem Tod bedroht, musste Moser nach München fliehen. In der Folge wurden alle übrigen Kantonsschullehrer der revolutionären Periode entlassen und die meisten von ihnen aus Aarau vertrieben. Dieses Schicksal erlitten unter anderen der Pestalozzi-aner Georg Franz Hofmann, welcher die Schule geleitet hatte, und der bekannte Ma-thematiker Johann Christian Martin Bartels. Emigration nach Bayern

Erste Station der Emigration war für die Familie Meyer Schloss Rohrbach an der Ilm bei Ingolstadt. Aufnahme: Verfasser. Die Verfolgung von Anhängern der Helve-tischen Republik liess Rudolfs Schwager Johann Gottlieb Hunziker, einen Revoluti-onär der ersten Stunde, nach Paris auswan-dern, wo Rudolfs Schwester Susanna Do-rothea genannt Suzette (1767–1838) als Witwe mit den meisten ihrer insgesamt sie-ben Kinder 1822 die französische Staats-bürgerschaft annahm.

Die Familie Meyer beschloss, die Sei-denbandfabrikation von Aarau nach Bay-ern zu verlegen. Dort führten Kurfürst Max Joseph und sein Minister Montgelas radi-kale Reformen durch. Als Fabrikgebäude mietete Jérôme 1802 von einem Bekannten der Freiherren von Schwachheim Schloss Rohrbach an der Ilm bei Ingolstadt. 1803 kaufte die Familie in der Nachbarschaft von Rohrbach die aufgehobenen Klöster

Geisenfeld und Wolnzach, vertauschte diese aber 1804 gegen diejenigen von Polling, Rottenbuch und Steingaden im bayerischen Voralpengebiet (Landkreis Weilheim-Schongau).

Die Kaufverhandlungen führte Gruner, der zuletzt Oberberghauptmann der Helve-tischen Republik gewesen war. 1804 liess er sich definitiv in Bayern nieder. 1805 ver-mittelte er den Neuenburger Pierre-Louis Guinand nach Benediktbeuern, wo dieser erstmals in industriellem Massstab optisches Glas herstellte und zum Lehrer Joseph von Fraunhofers wurde. 1809 gehörte Gruner zu den Gründern des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern, für den er 1821/22 eine Studienreise in die Niederlande unternahm.

In der Verwaltung der bayerischen Güter – zuerst von Geisenfeld, dann von Polling aus – wechselten sich Jérôme und Rudolf ab. Vater Meyer hielt sich 1805 eine Zeit lang in Rottenbuch auf. Gegen 300 Personen wanderten mit der Familie aus. Zuerst bestand die Kolonie aus Aargauern und Baselbietern. Die Fabrik in Bayern gedieh aber nicht, weil ihr das Basler Seidenbandkartell die Weber abwarb. Auf der anderen Seite ver-grösserte sich die Kolonie durch Teilnehmer am Bockenkrieg von 1804, einem Auf-stand gegen die Herrschaft der Stadt Zürich über den Rest des Kantons. Erfolg hatten

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die Auswanderer mit der Zucht von Schweizer Vieh. Zu ihrer seelsorgerischen Betreu-ung besoldete Vater Meyer 1806–1814 den lutherischen Pfarrer Raiffeisen, einen Onkel des Bankengründers.

Nach seiner Scheidung verheiratete sich Jérôme 1804 oder 1805 mit der Frankfur-ter Kaufmannswitwe Luise Vinnassa geb. Wagner (1770–1826). Damit deren Kinder aus erster Ehe die Schulen Aaraus besuchen konnten, kehrte das Paar dorthin zurück. Nun übernahm Rudolf die Verwaltung der bayerischen Güter. Nachdem er 1805 seine Frau verloren hatte, heiratete er Gruners uneheliche Tochter Marie. Deren Lebensdaten sind nicht bekannt, doch war sie kaum älter als ihre Stiefsöhne. Gruner kaufte Rudolf vier Schwaigen (Viehzuchtbetriebe) ab, die dieser im Gegenzug von ihm pachtete. Ein ehrgeiziges Buchprojekt und eine neue Fabrik Titelblatt des ersten Bandes der »Naturlehre«, die Rudolf dem König von Bayern widmete und 1806–1808 in Aarau herausgab. Nach dem Erscheinen von vier Bänden musste er das ehr-geizige Projekt aus finanziellen Gründen aufge-ben. Bayerische Staatsbibliothek München, BHS II H 15-1,1. Rudolfs ganze Leidenschaft aber galt den Naturwissenschaften. Seit 1790 hatte er einschlägige Bücher zusam-mengekauft. Nun widmete er dem eben zum König von Bayern erhobenen Kur-fürsten Max Joseph eine Enzyklopädie der Chemie mit dem Titel »Systemati-sche Darstellung aller Erfahrungen in der Naturlehre«. Sie wurde von vier deutschen Wissenschaftlern redigiert, die beim Schriftsteller Heinrich Zschokke auf Schloss Biberstein ein-quartiert waren, und 1806–1808 in Aar-au gedruckt.

Als sich auf den bayerischen Gü-tern Verluste häuften, entzog Vater Meyer dem Ältesten 1807 deren Verwaltung. Rudolf kehrte darauf nach Aarau zurück, um das Buchprojekt zu retten. Da das ehrgeizige Unternehmen aber seine finanziellen Möglichkeiten überstieg, konnten nur vier von zwanzig geplanten Bänden fertiggestellt werden. Marie scheint schon vorher gestorben zu sein. Ihr Vater Gruner strengte 1808 einen Prozess gegen seinen einstigen Freund an, weil ihm dieser den Pachtzins für die erwähnten Schwaigen schuldig blieb. Im selben Jahr musste Vater Meyer das Schlössli verkaufen.

Jérôme hielt in dem Familienstreit zu Rudolf und gab diesem 1809 seine sechzehn-jährige Stieftochter Luise Vinnassa (1793–1859) zur Frau. Auch kaufte er ihm die Villa ab, so dass Rudolf dahinter um 1810 eine neue Fabrik bauen konnte. Diese nutzte mit Hilfe eines riesigen unterirdischen Wasserrads die Energie des Wassers in den Meyer-schen Stollen, doch war der Zufluss dafür oft zu gering.

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Nach der Erstbesteigung der Jungfrau droht der Konkurs Rudolf, Jérôme und zwei Walliser Gämsjäger waren die ersten Menschen, die in der Schweiz einen Viertau-sender bestiegen. Die Auf-nahme zeigt Bergsteiger mit historisierender Ausrüstung anlässlich der Jubiläumsfei-ern von 2011. Foto: visual-impact.ch | Thomas Senf. Rudolf war für seine Körperkraft bekannt. Wie schon ihr Vater ge-hörten er und Jérôme zu den Pionieren des Alpi-nismus. International bekannt wurden die beiden Brüder, als sie 1811 mit zwei Walliser Gämsjägern die Jungfrau und damit als erste Menschen in der Schweiz einen Viertausender bestiegen. Im erwähnten Jahr verkaufte Vater Meyer dem Ältesten Warenlager, Guthaben, Fabrik-gerätschaften und Webstühle. Auf Rudolfs künftiges Erbe Rottenbuch und Steingaden aber nahm er eine Hypothek auf, die den Wert der Güter überstieg.

1812 veräusserte Vater Meyer sein bisheriges Wohnhaus sowie seine ehemalige Fabrik und erwarb als Alterssitz und als künftiges Erbe des Sohnes Fritz das Haus Pelz-gasse 15. Mit Rudolfs Zustimmung trat er Polling an Jérôme ab, der dorthin zurück-kehrte und auch die Führung des Prozesses mit Gruner übernahm.

1813 starb der Vater. Um der Familienehre willen beglich Rudolf die auf Rotten-buch und Steingaden lastenden Schulden. Vom Vater übernahm er auch die Sorge um Joséphine (1806–1881), die uneheliche Tochter seines missratenen Bruders Johann Heinrich genannt Henri (1774–1809), der 1809 in Bordeaux gestorben war. Rudolfs gleichnamiger Sohn, den wir fortan Dr. Meyer nennen, promovierte mit einer mineralo-gischen Dissertation an der Universität Tübingen zum Doktor der Medizin. Gleichzeitig veröffentlichte er ein anderes Buch, in dem er den politischen Ansichten des Vaters und des Grossvaters entgegengesetzte Auffassungen vertrat. Sein Bruder Gottlieb ergriff den Kaufmannsberuf und erhielt später – wohl als vorgezogenes Erbe – die Firma.

Jérôme wurde für seine Verdienste um die bayerische Landwirtschaft 1814 in den erblichen Adelsstand erhoben. Fritz, der einige Zeit bei seiner Schwester Suzette Hunzi-ker in Paris verbracht hatte, wurde Sekretär der aargauischen Regierung. 1815 heiratete er die sechzehnjährige Aarauerin Luise Reift (1799–1831). Im gleichen Jahr erschien eine Biografie Vater Meyers. Darin stilisierte Kantonsschulrektor Ernst August Evers den Verstorbenen zum Tugendhelden. Was nicht den Idealvorstellungen der Restaurati-onszeit entsprach, liess er weg. Auch Meyers Kinder erwähnte er mit keinem Wort.

1816 verlor Jérôme den Prozess gegen Gruner. Vom Konkurs bedroht, musste Ru-dolf Rottenbuch und Steingaden unter dem Wert verkaufen. Trotzdem unterstützte er im Hungerjahr 1817 die Armen. Dr. Meyer verheiratete sich unter Verzicht auf sein Bür-gerrecht mit einer Tante – genauer gesagt einer Halbschwester seiner Mutter – und liess sich in Konstanz nieder. Jérôme verkaufte Polling 1818 einem Neffen seiner Stiefmut-ter, Major Samuel Abraham von Renner. Dieser Vetter des Dichters Eduard Mörike

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hatte wie Frau Meyers Halbbruder General Sigmund Freiherr von Renner dem Hause Österreich gedient. Er war ein Musterlandwirt, musste Polling aber 1843 einem Gläubi-ger überlassen. Die Villa in Aarau veräusserte Jérôme 1818 an Rudolfs Sohn Gottlieb. Gleichzeitig erwarb er Ammerland am Starnberger See (in der Nähe von München). Auf diesem einsam gelegenen Schlossgut hatte sich zuvor ein zum Tod verurteilter Ge-treuer Napoleons, Graf Lavallette, versteckt. Wollte Jérôme dort dem verschuldeten Rudolf Zuflucht gewähren, so wie Gruner 1812 Vater Meyer Asyl auf seinen Schwai-gen angeboten hatte? 1819 beabsichtigte Fritz, dem Halbbruder Ammerland abzukaufen und mit seiner Familie sowie seiner Mutter dorthin zu ziehen. Doch der Erbonkel seiner Frau, Stadtammann Reift, verbot ihm dies. Als Falschmünzer im Zuchthaus Falsche Sechskreuzerstücke des Grossherzogtums Hessen-Darmstadt, wie Rudolf sie herstellte. Institut für Stadtge-schichte, Frankfurt am Main. Aufnahme: Uwe Dettmar. Irgendwann zwischen 1807, als der Kanton Aargau neben dem Schlössli eine Münzstät-te einrichtete, und 1820 begann Rudolf, Geld süddeutscher Fürsten zu fälschen. Neben finanzi-ellen könnten dabei auch politische Motive eine Rolle gespielt haben. Der Familie kann Rudolfs Tun nicht unbe-kannt geblieben sein.

Unter welchen Umständen Rudolf starb, hielt man aus falsch verstandenem Lokal-patriotismus fast 200 Jahre lang geheim. Wie ich 2011 nachweisen konnte, wurde er 1820 in Karlsruhe der Falschmünzerei überführt und verhaftet. Ein Fluchtversuch blieb erfolglos. In die Hauptstadt des Grossherzogtums Baden war Rudolf wohl übersiedelt, um seinen Gläubigern zu entfliehen. Die in der Schweiz herrschende Zensur unter-drückte die Nachricht von der Verhaftung. In ausländischen Zeitungen dagegen wurde darüber berichtet, am detailliertesten vom Stadtamt Karlsruhe und vom württembergi-schen Ministerium des Innern. Die entsprechenden Akten sind verschollen, mögliche Sekundärquellen wie Privatbriefe Dritter noch nicht ausgewertet.

Dr. Meyer kehrte 1821 nach Aarau zurück und wurde Kantonsschullehrer. Jérôme verkaufte Ammerland und lebte fortan in München. Rudolf wurde 1822 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Seine junge Frau zog zu ihrer Mutter nach München. Damit sie ihr Vermögen nicht verlor, liess sie sich scheiden. Sie behielt aber den Namen ihres Man-nes und heiratete nicht wieder. Gruner kam 1824 auf dem Weg zu seinen Schwaigen ums Leben – offiziell war es ein Verkehrsunfall, doch gab es auch Indizien für einen Mord. Der Bauherr der Meyerschen Stollen starb laut seinem Zeitgenossen Staatsarchi-var Franz Xaver Bronner 1825, also im Jahr, in dem er freigekommen wäre. Sein Freund Ludwig Thilo schrieb 1829: »Dieser tugendhafte und enthaltsame Mann war voller Begeisterung für die Wissenschaften und glaubte, das geltende Recht sei nichts

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anderes als das Recht des Stärkeren; vielleicht wurde er das Opfer dieser Meinung?« (Aus dem Französischen.) Das Schicksal der Nachkommen und der Hinterlassenschaft

Als Grundlage seiner »Naturlehre« hatte Rudolf ge-gen 40 000 Bücher erworben. Der abgebildete Kata-log umfasst 458 Seiten und erschien erstmals 1827 in Aarau. Dr. Meyer musste die Bibliothek seines Vaters 1831 in Schaffhausen versteigern lassen. Aufnahme: Verfasser. Nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1823 verkaufte Fritz das Haus an der Pelzgasse und zog nach Bern, wo er von seinem Ver-mögen lebte und sich Hobbies wie dem Ent-werfen von Stickmustern widmete. Von sei-nen Kindern wurde Friedrich (* 1816) Arzt und wanderte nach Chicago aus. Luise (1818–1855) und Leonore (1819–1838) blie-ben unverheiratet. Cécile (1820–1855) heira-tete den Berner Kaufmann König. Fritz starb 1882 in Zofingen. Über die Familie König gelangte der Nachlass Vater Meyers teilwei-se in die Bundeshauptstadt.

Jérôme heiratete als 58jähriger Witwer 1828 die 22jährige Arzttochter Sophie Tan-ner (1806–1872) von Aarau. Das Paar hatte die Töchter Sophie (* 1829) und Franziska

(* 1831). 1838 investierte Jérôme – möglicherweise im Zusammenhang mit einem frü-hen Eisenbahnprojekt – in das Gut Unkundenwald bei Uffing. 1844 starb er in Mün-chen. Seine Tochter Sophie verlor ihren Mann Major Rudolf von Esenwein 1870 im Deutsch-Französischen Krieg. Franziskas Gatte, der nicht mit ihr verwandte Pfarrer Matthias von Meyer, wurde als Oberkonsistorialpräsident Oberhaupt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.

Rudolfs Söhne überlebten den Vater nicht lange. Nachdem Gottlieb 1829 gestorben war, gelangten Fabrik und Villa in den Besitz seines Associés Friedrich Heinrich Feer, eines Sohnes des Brugger Revolutionsführers Jakob Emanuel Feer. Dr. Meyer musste die naturwissenschaftliche Bibliothek des Vaters, die mit 40 000 Bänden die drittgrösste im deutschen Sprachraum gewesen sein soll, 1831 in Schaffhausen versteigern lassen. Bis zu seinem Tod im Jahr 1833 veröffentlichte er noch mehrere literarische Werke. Rudolfs Papiere – zum Beispiel seine Korrespondenz mit Gelehrten – und das Fir-menarchiv sind bis auf geringe Reste verschollen. Die Familie Meyer verliess Aarau. Der letzte männliche Nachkomme Vater Meyers, ein bescheidener Hausarzt, starb 1930 in Zürich.

1939 wurde im Park der Villa die Kirche Peter und Paul errichtet und das Gebäude selber zum römisch-katholischen Pfarramt umgebaut. Dabei kamen Papiere zum Vor-schein, die der Hausherr in der Revolutionszeit versteckt hatte, doch sind diese bis heu-te nicht vollständig ausgewertet. Beim Umbau mauerte man die tempelartige Giebel-front der Villa zu. Im unteren Kellergeschoss wurde teilweise Bauschutt eingebracht.

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Rudolfs Fabrik schliesslich samt der unterirdischen Radstube musste in den 1980er Jah-ren dem Erweiterungsbau der Hauptpost weichen.

Die Erhaltung der verbliebenen Untertagebauten stellt ein Gebot der Pietät gegen-über einem aussergewöhnlichen Aarauer dar. Um die Öffentlichkeit auf sie aufmerksam zu machen, wurde 1999 die Interessengemeinschaft Meyersche Stollen gegründet. Die Stollen können auf Anfrage besichtigt werden. Zudem betreibt und unterhält das Stadt-museum Aarau im Auftrag der Stadt den 2010 eröffneten »Aufschluss Meyerstollen« im neuen Bahnhofsgebäude. Hinweis Ergänzende Informationen sowie Quellen- und Literaturangaben finden sich in meinen nachstehenden Aufsätzen: Von Aarau nach Bayern, Auswanderung und Niedergang der Unternehmerfamilie Mey-er, in: Aarauer Neujahrsblätter, 2011, S. 36–69, 2012, S. 97–143. Die Gastgeber der Helvetischen Gesellschaft, Die Familie Schwachheim-Renner als Besitzerin von Bad Schinznach und ihre Auswanderung nach Bayern, in: Argovia, 2012, S. 126–179. Nach dem Ende der Klosterherrschaft – Schweizer Revolutionäre im Pfaffenwinkel, in: Der Welf (Schongau), 2013, S. 69–192 (am ausführlichsten), Aargauer Kantonsbiblio-thek AKB AG 2465, Staatsarchiv des Kantons Aargau STA Ah MEY 15. Zürich, 14. September 2015 Kontakt: [email protected]