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Johann Schmid Die Dialektik von Angriff und Verteidigung

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Johann Schmid

Die Dialektik von Angriff und Verteidigung

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Globale Gesellschaft und internationale Beziehungen

Herausgegeben von

Thomas Jäger

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Johann Schmid

Die Dialektik von Angriff und Verteidigung Clausewitz und die stärkere Form des Kriegführens

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1. Auflage 2011

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

Lektorat: Frank Schindler | Verena Metzger

VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson derefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesemWerk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solcheNamen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachtenwären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany

ISBN 978-3-531-18085-4

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Inhalt 5

Inhalt

Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung 13

Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen 19

1 Hintergrund 192 Ziel 203 Mittel: Vorgehen, Gliederung, Methodik 204 Stand der Forschung 225 Zweck: Praktische Relevanz und ein besseres Clausewitzverständnis 23

I. Kapitel: Kontroverse Diskussion 31

1 Der chinesische Kriegerphilosoph Sun Tsu (ca. 500 - 300 v. Chr.) 321.1 Hintergrund 331.2 Vorteile der Verteidigung 341.3 Vorteile des Angriffs 351.4 Abschließende Bewertung 37

2 Friedrich II. als Vollender absolutistischer Kabinettkriegführung (1712 - 1786) 382.1 Hintergrund 392.2 Offensive Grundausrichtung 402.3 Betrachtung der Defensive 422.4 Abschließende Bewertung 44

3 Napoleon Bonaparte und die französische Revolutionskriegführung (1769 - 1821) 463.1 Hintergrund 463.2 Dominanz des Offensivdenkens 483.3 Abschließende Bewertung 55

4 Ergänzende Betrachtung 564.1 Hintergrund: Kriegführung in der Renaissance 564.2 Hintergrund: Französische Revolutionskriegführung 574.3 Hintergrund: Engels Militärische Schriften 574.4 Hintergrund: Deutsche Einigungskriege 584.5 Hintergrund: I. Weltkrieg 594.6 Hintergrund: II. Weltkrieg 604.7 Hintergrund: Golfkrieg 1991 604.8 Hintergrund: Cyber War 62

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6 Inhalt

4.9 Hintergrund: Schach 634.10 Hintergrund: Terrorismus, das offensive Kampfmittel des

Schwachen 645 Kontroverse Diskussion: Zusammenfassung des Ergebnisses 65

II. Kapitel: Verständnis der Clausewitzschen These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ 67

1 Begriffsbestimmung von Angriff und Verteidigung 681.1 Angriffs- / Verteidigungsmittel 691.2 Begriff und Merkmal 701.3 Zwecksetzung 721.4 Wechselwirkung von Angriff und Verteidigung 78

2 Ganzheitlich dialektische Methode und Anspruch auf logische Konsistenz 882.1 Logik 882.2 Dialektik 922.3 Interpretationsproblem 95

3 Grad der Verbindlichkeit 963.1 Unverbindliche Meinungsäußerung 963.2 Gesetzescharakter 983.3 Häufigkeit des Sieges 1003.4 Grundsatzcharakter 1003.5 Ergebnis 104

4 Anspruch auf zeitlose Gültigkeit 1054.1 Vermeintliche Aktualität 1054.2 Selbstverständnis seiner These 1074.3 Zeitgebundenheit 1084.4 Anspruch auf zeitlose Gültigkeit 1134.5 Inhalt und Methode 1154.6 Ergebnis 116

5 Ebenenspezifische Einordnung der These (Strategie, Taktik, Politik) 1175.1 Taktische / Strategische Ebene 1175.2 Politische Ebene 119

6 Ätiologie der Clausewitzschen These 1216.1 Politische Herausforderung 1226.2 Eigene Kriegserfahrung und Auswertung des historischen

Erfahrungsraumes 1226.3 Kritische Distanz zum herrschenden Denken seiner Zeit 1236.4 Theoretische Hintergründe 125

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Inhalt 7 7 Mögliche Auswirkungen der Tatsache, dass das Werk „Vom Kriege“

unvollendet blieb 1268 Verständnis der Clausewitzschen These: Zusammenfassung des

Ergebnisses 1288.1 Begriffsbestimmung 1298.2 Methode 1318.3 Hintergrund 133

III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung der Clausewitzschen These 135

1 Angriff aus Schwäche: Offensive am Isonzo 1917 1371.1 Ein Sieg 1371.2 Der Entschluss 1381.3 Der Widerspruch 1411.4 Angriff als die stärkere Form 1431.5 Mögliche Einwände 1471.5.1 Der Kulminationspunkt im Angriff 1471.5.2 Deutsche Verstärkung 1491.5.3 Resultat 150

2 Besser „Praevenire als Praeveniri“: Der Sechstagekrieg 1967 1522.1 Der Präventivangriff als Widerspruch zur Clausewitzschen

Theorie 1522.2 Israels Präventivangriff 1542.3 Angriff als die stärkere Form 1552.4 Ergebnis 1592.5 Mögliche Einwände 1602.5.1 Geostrategische Lage 1602.5.2 Politische Zwecksetzung 1612.5.3 Abwarten als Möglichkeit? 1622.5.4 Resultat 162

3 Kriegsgeschichtliche Betrachtung: Zusammenfassung des Ergebnisses 163

IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung der Clausewitzschen Argumentation 167

1 „Natur der Sache“ 1681.1 Der negative Zweck als Stärke 1681.1.1 Großer Zweck erfordert mehr Kraftaufwand 1691.1.2 Erhalten leichter als Gewinnen? 1701.1.3 Negative Zwecksetzung nur in der Verteidigung? 172

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8 Inhalt

1.1.4 Verteidigung, die sich nicht mit der Zwecksetzung des Erhaltens begnügt 173

1.2 Vorteil des Abwartens 1751.2.1 „beati sunt possidentes“ 1761.2.2 Zeitgewinn 1781.2.2.a Verteidigung in der Offensive 1781.2.2.b „Abwarten“ als Vorteil des Angriffs 1791.2.2.c Zukunft 1801.2.2.d Überraschung 1811.2.3 Einseitige Betrachtungsweise 1811.2.4 Mangelnde Entschlossenheit 1831.2.5 Entschleunigung / Siegverweigerung 1851.2.6 Fazit 1861.3 Zusammenfassung / Ergebnis 186

2 Logik 1902.1 Mangelnde Folgerichtigkeit des Schlusses 1912.2 Fehlerhaftigkeit einer Prämisse 1922.3 Angriff als die zu bevorzugende Form des Kriegführens? 1922.4 Zusammenfassung / Ergebnis 194

3 Die „Prinzipe des Sieges“ 1963.1 Die „Prinzipe des Sieges“ als Begründung der „größeren Stärke

der Verteidigung“ 1963.2 Gesamtstruktur der Argumentation / Dogmatismus 1973.2.1 Erstes Auswahlkriterium: „Willkür des Feldherrn“ 1983.2.2 Zweites Auswahlkriterium: Besondere Beziehung zu Angriff und

Verteidigung 1993.2.2.a „Überlegenheit der Zahl“ und „Übung“ 2003.2.2.b Initiative 2023.2.3 Zusammenfassung / Ergebnis 2053.3 Überraschung 2063.3.1 Überraschung als das erste „Prinzip des Sieges” 2063.3.2 Kritik der Clausewitzschen Argumentation 2083.3.3 Zusammenfassung / Ergebnis 2113.4 Vorteil der Gegend 2123.4.1 Vorteil der Gegend als das wichtigste Prinzip des Sieges 2123.4.2 Erste Voraussetzung 2143.4.3 Zweite Voraussetzung 2163.4.4 Hindernis des Zugangs 2173.4.5 Nutzung des Beistands der örtlichen Lage 2193.4.5.a Auswahl des Geländes 219

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Inhalt 9

3.4.5.b Vorbereitung des Geländes 2203.4.6 Zusammenfassung / Ergebnis 2223.5 Anfall von mehreren Seiten 2263.5.1 Der Anfall von mehreren Seiten als das dritte Prinzip des Sieges3.5.2 Kritik der Clausewitzschen Argumentation 2263.5.3 Zusammenfassung / Ergebnis 2293.6 Beistand des Kriegstheaters, Beistand des Volkes und

Benutzung großer moralischer Kräfte 2303.6.1 Die drei Hauptprinzipe der strategischen Wirksamkeit 2303.6.2 Kritik der Clausewitzschen Argumentation 2313.6.3 Zusammenfassung / Ergebnis 2373.7 Die Prinzipe des Sieges: Zusammenfassung des

Gesamtergebnisses 2394 Der Gegenangriff 239

4.1 Unvorteilhafte Verteidigung als Hauptnachteil des Angriffs 2394.2 Erster Einwand: Gegenangriff als Stärke der Verteidigung? 2414.3 Zweiter Einwand: „Unvorteilhafte Verteidigung“ als potenzielle

Stärke des Angriffs! 2414.4 Gegenangriff ist Angriff 2424.5 Zusammenfassung / Ergebnis 243

Schlusswort: Zusammenfassung / Ergebnis / Thesen 245

1 Zusammenfassung 2452 Ergebnis 2503 Thesen 252

Literaturverzeichnis 258

Anhang 272

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Inhalt 11

„Daß die Verteidigung leichter sei als der Angriff, ist schon im allgemeinen bemerkt, da aber die Verteidigung einen negativen Zweck hat, das Erhalten, und der Angriff einen positiven, das Erobern, und da dieser die eigenen Kriegsmittel vermehrt, das Erhalten aber nicht, so muß man, um sich bestimmt auszudrücken, sagen: die verteidigende Form des Kriegführens ist an sich stärker als die an-greifende.“ (Carl von Clausewitz: Vom Kriege. VI, 1, Mit historisch kritischer Würdigung von Prof. Dr. Werner Hahlweg, Bonn 1980, S. 615) „Nicht was wir gedacht haben, halten wir für einen Verdienst um die Theorie, sondern die Art, wie wir es gedacht haben.“ (Hinterlassene Werke des Generals Carl von Clausewitz über Krieg und Krieg-führung, Bd. VII, Berlin 1835, S.361; vgl. Dietmar Schössler: Carl von Clause-witz. Hamburg 1991, S. 136) „... denn mein Ehrgeiz war, ein Buch zu schreiben, was nicht nach zwei oder drei Jahren vergessen wäre, und was derjenige, welcher sich für den Gegenstand interessiert, allenfalls mehr als einmal in die Hand nehmen könnte.“ (Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Vorrede, S. 175)

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Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung 13

Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung Als ich vor gut zwei Jahrzehnten, zu Beginn meiner Offizierausbildung, erstmals eine Ausgabe des Werkes „Vom Kriege“ erstand, war mir der Name „Clause-witz“ nur durch Zitate und Bezugnahmen auf seine Theorien in verschiedenen militärischen Publikationen bekannt. Ich erstand das Werk des preußischen Ge-nerals und Kriegsphilosophen eher beiläufig, da ich es zufällig im Regal einer Buchhandlung stehen sah, und der Meinung war, dass man so etwas als ange-hender Offizieranwärter gelesen haben sollte.

Während ich zunächst, eher skeptisch nur einzelne Kapitel des Werkes, die mir besonders interessant erschienen, las, entwickelte ich sehr bald ein großes Interesse für den Autor, seine Theorie und Methode, welches sich, je mehr ich mich in seine Gedankengänge vertiefte, zunehmend weiter festigte. Ein Buch über den Krieg von dieser Art und Qualität hatte ich bis dahin, nicht kennen gelernt. Da ich mich seit geraumer Zeit mit Geschichte und Theorie des Krieges beschäftigt hatte, begann ich Clausewitz systematisch durchzuarbeiten und seine Theorien mit den erworbenen Kenntnissen zu vergleichen. Dadurch sind mir eine Vielzahl von Gedanken und Überlegungen im Kontext von Krieg und Politik verständlicher geworden, und ich entdeckte Zusammenhänge, die mir bisher nicht bewusst waren. Einer dieser Zusammenhänge war die dialektische Wech-selwirkung von Angriff und Verteidigung. Hierbei stieß ich insbesondere auf die von Clausewitz formulierte These, wonach die Verteidigung die an sich „stärke-re Form des Kriegführens“ sei. Ich hatte den Eindruck, dass Clausewitz dieser These große Bedeutung beimaß, da er sie häufig wiederholte und auf unter-schiedliche Art und Weise zu begründen versuchte. So sehr ich mich auch darum bemühte, konnte ich diese Behauptung dennoch nicht nachvollziehen und mein-te, in der Begründung derselben einzelne argumentative Unschärfen entdeckt zu haben. Zudem stellte ich mir die Frage, ob der preußische Kriegsphilosoph in diesem Zusammenhang seiner eigenen so charakteristischen, antidogmatischen Methode treu geblieben sei. Ohne hierauf zunächst eine Antwort zu finden, setz-ten sich diese Überlegungen mit einem großen Fragezeichen versehen bei mir fest.

Einen neuen überraschenden Aufschwung erhielt der Gedanke, als ich mich etwa anderthalb Jahre später, meine künftige Verwendung als Zugführer in der Kampftruppe vor Augen, mit Erwin Rommels Kriegserfahrungen aus dem I.

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14 Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung Weltkrieg, die er unter dem Titel „Infanterie greift an“ veröffentlicht hatte, be-schäftigte.1 Dabei untersuchte ich unter anderem die Zwölfte Isonzooffensive an der Alpenfront des Ersten Weltkrieges. Die Entscheidung der deutsch-österreichischen Führung im Oktober 1917 zum Angriff überzugehen, weil sie glaubte für eine Verteidigung zu schwach zu sein, schien mir mit der Theorie von Clausewitz nicht nur nicht erklärbar, sondern in klarem Widerspruch zu dieser zu stehen. Wie kann sich eine Krieg führende Partei, die gemäß der Über-legungen von Clausewitz die Verteidigung als die „stärkere Form des Kriegführens“ betrachtet, sinnvoller Weise für die „schwächere Form“ - den Angriff - entscheiden und damit durchschlagende Erfolge erzielen, wenn sie andererseits für die vermeintlich „stärkere Form“ - die Verteidigung - zu schwach ist? Oder, um es aus dem entgegen gesetzten Blickwinkel zu betrachten: Wer stark genug ist, sich der „schwächeren Form des Kriegführens“ mit Erfolg zu bedienen, müsste gemäß Clausewitz erst recht stark genug sein, wenn er gleichzeitig auch noch die „stärkere Form“ wählte.

Durch diese Entdeckung verstärkten sich meine ursprünglichen Zweifel an der Clausewitzschen Argumentation, und die praktische Relevanz der Fragestel-lung wurde mir bewusst. Ich begann daher die Ansichten anderer bedeutender Kriegstheoretiker und Feldherren hinsichtlich ihrer Vorstellungen zum Stärke-verhältnis von Angriff und Verteidigung zu untersuchen. Hierbei stellte ich fest, dass sich in dieser Frage selbst die Vorstellungen namhafter Autoritäten zum Teil diametral entgegenstehen. Ich entdeckte unter ihnen nicht wenige, die, ganz im Gegensatz zu Clausewitz, den Angriff als die grundsätzlich „stärkere Form des Kriegführens“ betrachteten und mit Nachdruck für diese Vorstellung eintra-ten. Jedoch fehlt diesen Gedanken in der Regel eine umfassende, theoretisch fundierte Begründung. Dies alles überzeugte mich von der Notwendigkeit einer systematischen Klärung dieser Frage. Auch eine Untersuchung der verschiede-nen Clausewitzinterpretationen brachte keinen endgültigen Aufschluss. Selbst angesehene Clausewitzrezensenten hatten sich dieser Frage allenfalls oberfläch-lich angenommen, ohne auf die diesbezügliche Argumentation des Kriegsphilo-sophen in ihrem Kern einzugehen oder diese gar kritisch zu hinterfragen. Daher vermutete ich, auf eine Lücke sowohl in der Clausewitzforschung als auch in der Theorie des Krieges insgesamt gestoßen zu sein.

Nach diesen umfassenden Recherchen erkannte ich aber auch, welche Be-deutung dem preußischen Kriegsphilosophen in dieser Frage zukommt. Er war der erste und bisher einzige, der sich überhaupt umfassend und systematisch mit dieser Fragestellung beschäftigt und dabei eine theoretisch fundierte Begründung angestrebt hatte. Auch wenn diese nach meinem Dafürhalten eine Reihe von

1 Rommel, Erwin.: Infanterie greift an. Potsdam 1941

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Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung 15 Unschärfen enthält, schmälert dies in keiner Weise das Verdienst von Clause-witz, diese Frage überhaupt erst aufgeworfen und dazu eine Reihe von Argumen-ten zur Diskussion gestellt zu haben.

Inspiriert von dem Gedanken, auf eine noch offene Frage gestoßen zu sein, und im Bewusstsein der Tatsache, dass Clausewitz selbst sein Werk als eine noch „ziemlich unförmige Masse“ bezeichnet hatte, die durchaus noch einmal umgearbeitet werden sollte2, hoffte ich von da an, möglicherweise einen kleinen Beitrag zur Weiterentwicklung der Clausewitzschen Überlegungen, ganz in des-sen eigenem Sinne, leisten zu können.

Eine neue Qualität erhielten meine Bemühungen, als ich während meines Studiums Gelegenheit erhielt, mit Professor Dr. Schössler in Gedankenaustausch zu treten. Da ich bei ihm stets ein offenes Ohr für meine Überlegungen fand, er diese jedoch sehr kritisch hinterfragte, war ich ständig gezwungen, meine Argu-mente zu verbessern, und es entwickelten sich eine Reihe neuer, sehr fruchtbarer Gedanken. Ich begann die Clausewitzsche Argumentation nicht nur genauestens auf ihre Schlüssigkeit hin zu untersuchen, sondern darüber hinaus auch einen Ansatz zu entwickeln, um der Frage, inwiefern man von einer stärkeren oder schwächeren Form des Kriegführens überhaupt sprechen kann, näher zu kom-men.

Eine Bestätigung, in diesen Bemühungen möglicherweise auf einer richti-gen Fährte zu sein, erhielt ich durch einen Aufsatz des Generals von Bernhardi, welcher in einer Schrift aus dem Jahre 1911 die Behauptung von Clausewitz hinsichtlich der Verteidigung als der „stärkeren Form des Kriegführens“ zu wi-derlegen versuchte.3 Obwohl diese Schrift aus meiner Sicht nicht tiefschürfend genug war, und letztendlich zu einem Ergebnis führte, das mir nicht akzeptabel erschien4, war sie für mich dennoch sehr bedeutend, da ich mich in einigen zent-ralen Kritikpunkten an der Clausewitzschen Argumentation durch seine Überle-gungen bestätigt fand.

Durch zwei weitere Entdeckungen wurde ich in meinen Überlegungen be-stärkt. Ich stellte mir zum einen die Frage, ob es neben dem Beispiel der Zwölf- 2 Vgl. Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Mit historisch-kritischer Würdigung von Prof. Dr. Werner Hahlweg, Bonn 1980, S. 179. Bei sämtlichen Bezugnahmen auf das Werk „Vom Kriege“ wird diese Ausgabe seines Werkes verwendet. Das jeweilige Buch in „Vom Kriege“ wird dabei durch römische, die Kapitel durch arabische Ziffern gekennzeichnet. Bezugnahmen auf Werner Hahlweg stammen aus nämlicher Ausgabe. 3 Bernhardi, F. v.: Clausewitz über Angriff und Verteidigung, Versuch einer Widerlegung. In: Beiheft zum Militärwochenblatt, Berlin 1911 4 Bernhardi kam zu der Schlussfolgerung, dass der Angriff eindeutig die stärkere Form des Kämpfens und Kriegführens sei. Aus Sicht eines Kavallerieführers der damaligen Zeit ist diese Schlussfolge-rung insofern nachvollziehbar als sich Kavallerie als Truppengattung grundsätzlich nur eingeschränkt zur Verteidigung eignet und ihre eigentliche Wirkung erst im Angriff richtig zur Geltung bringen kann.

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16 Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung ten Isonzooffensive noch weitere Ereignisse in der Kriegsgeschichte gäbe, die mit den Theorien von Clausewitz nicht zu vereinbaren sind. Dabei stieß ich auf das Phänomen des Präventivangriffes, welches ich am Beispiel des Sechs-Tage-Krieges von 1967 näher untersuchte. Welchen Sinn konnte die Entscheidung Israels haben, einen Präventivangriff - mit all seinen negativen politischen Im-plikationen - in dem sicheren Bewusstsein zu führen, andernfalls innerhalb kür-zester Zeit selbst angegriffen zu werden, und damit den Vorteil zu erhalten, sich der vermeintlich „stärkeren Form des Kriegführens“ bedienen zu können?

Meine zweite Entdeckung wurde ausgelöst durch den Clausewitzschen Ver-gleich des Krieges mit dem Zweikampf.5 Dieser veranlasste mich, einige persön-liche Erfahrungen aus dem Bereich des Kampfsports mit in die Überlegungen einzubeziehen. Dabei schien mir ein Sachverhalt von besonderem Interesse. Ich hatte wiederholt die Erfahrung gemacht, gegen bestimmte „Gegner“, solange ich mich selbst einer defensiven Vorgehensweise bediente, wenig Chancen auf Er-folg zu haben, obwohl gerade dieses Verhalten in anderen Fällen äußerst effektiv war. Es zeigte sich jedoch, dass diese „Gegner“ häufig relativ schwach waren, wenn sie selbst aktiv angegriffen und zur Verteidigung gezwungen wurden. Hier drängte sich mir die Vermutung auf, es könne möglicherweise vom jeweiligen Einzelfall abhängig sein, ob Angriff oder Verteidigung die „stärkere Form des Kämpfens“ sei, womit eine pauschale Antwort in dieser Frage - wie sie von so vielen, sowohl in der einen als auch in der anderen Richtung, versucht wurde - gar nicht möglich wäre. Diese Vermutung leitete von da an meine Bestrebungen, und ich bemühte mich, dieselbe auf eine theoretische Grundlage zu stellen oder, falls dies nicht möglich wäre, sie zu falsifizieren.

Als sich mir im Rahmen meines Studiums die Frage eines Themas für eine Diplomarbeit stellte, entschloss ich mich sofort, diese Thematik weiter zu vertie-fen. Ich sah darin eine willkommene Gelegenheit, meine Überlegungen einer kritischen Prüfung unterziehen zu können, weil ich gezwungen war, diese schriftlich auszuformulieren. Zudem stellte es eine Herausforderung für mich dar, eine noch weitgehend offene Fragestellung zu bearbeiten, und dabei meine eigenen Gedanken weiterzuentwickeln.

Obwohl ich in den darauf folgenden Jahren auf Grund meiner militärischen Verwendungen zunächst nur wenig Gelegenheit hatte mich mit der Thematik weiterhin intensiv zu befassen, verfolgte ich die Fragestellung dennoch weiter und versuchte, auch mit einem gewissen zeitlichen Abstand und einem erweiter-ten Erfahrungshorizont, meine Argumentation immer wieder aufs Neue zu über-prüfen und weiterzuentwickeln. Dies führte neben sprachlichen und stilistischen Anpassungen auch zu einer Entschärfung einzelner in „Eifer des Gefechts“ ab-

5 Vgl. Vom Kriege. I, 1, S.191

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Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung 17 gegebener Bewertungen. Am Kern meiner Argumentation glaubte ich jedoch unverändert festhalten zu können.

Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 und einer Verwendung im Bereich der Sicherheitspolitik und Militärstrategie erhielten meine Überlegungen einen kräftigen neuen Impuls. Zu meinen Kernaufträgen gehörten hierbei unter anderem die Analyse und Bewertung aktueller Kriegs- und Konfliktbilder. Hier-bei hatte ich mich unter anderem mit Terrorismus und anderen Formen asymmet-rischer Kriegs- und Konfliktformen auseinanderzusetzen. Das gleiche galt für entsprechende politisch/militärische Gegenreaktionen Seitens staatlicher Akteu-re. Hierbei erkannte ich, dass Terrorismus als offensive Form gewaltsamer Aus-einandersetzung, insbesondere Seitens des Schwachen, einen geradezu exzellen-ten Beleg dafür liefert, dass Angriff in dem betrachteten Fall selbst für den schwächsten Akteur zu der für ihn stärkeren Form der Auseinandersetzung wer-den kann. Der von schwachen i.d.R. nichtstaatlichen Akteuren (bis hin zu Einzel-tätern) betriebene Terrorismus verdeutlicht dies besonders anschaulich, da derar-tige Akteure für jede andere Form der Auseinandersetzung viel zu schwach sind und sich - analog zur deutsch-österreichischen Führung an der Isonzofront 1917 - gerade auf Grund dieser Schwäche, des Angriffs als der für sie stärkeren Form des Kämpfens bedienen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch die Gegenreaktion auf die terroristische Herausforderung neben defensiven Schutz-maßnahmen zunehmend auf offensives Vorgehen setzt. Präemptives und proak-tives Handeln wurde hierbei zum Kernelement US-amerikanischer Antiterror-strategie. Damit erschien mein Untersuchungsgegenstand vor dem Hintergrund tragischer weltpolitischer Ereignisse plötzlich hoch aktuell und von unmittelbar praktischer Relevanz zu sein.

Neben dieser inhaltlichen Befassung ermöglichte mir diese Verwendung die Verbindung und den Gedankenaustausch mit der deutschen aber auch internatio-nalen sicherheitspolitischen Gemeinschaft. Hierbei konnte ich feststellen, dass sich das Interesse an Kriegstheorie und damit an Clausewitz´ Werk, welches im Ausland, insbesondere in der angelsächsischen Welt immer gegeben war, sich allmählich auch in Deutschland wieder entwickelt. Damit verbunden ist die Be-reitschaft sich auch auf intellektuelle Auseinandersetzungen zu kriegstheoreti-schen Fragestellungen einzulassen. Dies hat mich ermutigt, meine Arbeit weiter fortzusetzen um damit einen Beitrag im Rahmen dieser aufkeimenden Diskussi-on zu leisten.

Die Gelegenheit hierfür bot sich mir am Lehrstuhl für Politikwissenschaften der Universität zu Köln bei Herrn Professor Dr. Jäger, dem ich für seine anre-genden inhaltlichen Impulse, wie auch für die im Rahmen des Doktorandencol-loquiums praktizierte kreative Methode der Selbstreflexion und die hieraus zu ziehenden Erkenntnisse sehr dankbar bin.

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1 Hintergrund 19

Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen 1 Hintergrund Die Dialektik von Angriff und Verteidigung und die Frage, welche der beiden „Hauptformen“ des Kriegführens und Kämpfens die „stärkere“ ist, beschäftigt politisch-militärische Denker und Entscheidungsträger zu nahezu allen Zeiten und ist eine der grundlegenden Fragestellungen in Krieg und Konflikt. Sie erfor-dert eine permanente Beurteilung auf allen Entscheidungsebenen und wird damit zum zwingenden Bestandteil einer jeden politisch-militärischen Lagebeurteilung und daraus resultierender Entscheidungen für praktisches Handeln.

Selbst in Fachkreisen herrschen in dieser Frage jedoch die unterschiedlichs-ten Ansichten vor. Nicht selten wird hierbei gerade dem Angriff eine grundsätz-lich größere Stärke unterstellt. Der erste und bisher einzige, der diese Frage ih-rem Wesen nach, systematisch und theoretisch fundiert zu beantworten suchte, war der preußische General und Kriegsphilosoph Carl von Clausewitz. In seinem Werk „Vom Kriege“ vertritt er sehr nachhaltig die Überzeugung, dass die Ver-teidigung die „stärkere Form des Kriegführens“ sei.6 Diese mache einen Sieg nicht nur leichter, sondern auch wahrscheinlicher, erfordere weniger Kräfte als der Angriff und stelle damit einen sehr wesentlichen Faktor im Resultat einer kriegerischen Auseinandersetzung dar.7 Wer für den Angriff stark genug sei, behaupt er, sei es erst recht für die Verteidigung.8 Daraus folgert Clausewitz, dass der Angriff nur bei eigener physisch/moralischer Überlegenheit9 motiviert und Erfolg versprechend sei, während sich der Schwächere grundsätzlich der Verteidigung als der stärkeren Form zu bedienen habe.10

Diese Vorstellung steht im Widerspruch zu den Ansichten namhafter Auto-ritäten verschiedener Epochen insbesondere auch aus der Zeit des Kriegsphilo-sophen selbst. Die Verabsolutierung des Angriffsdenkens durch Napoleon Bona-parte ist hier im besonderen zu nennen. Gleichzeitig steht die Clausewitzsche Theorie von der größeren Stärke der Verteidigung im Widerspruch zu bestimm-ten, wiederkehrenden Phänomenen der Kriegswirklichkeit. Der Angriff aus

6 Vom Kriege. VI, 1, S. 615, 616 7 Vom Kriege. VI, 8, S. 649; VI, 9, S. 669 8 Vom Kriege. VII, 5, S. 880 9 Gemeint ist das Produkt aus physischer und moralischer Stärke. Der Begriff Moral ist hier im Sinne von Wille, Motivation und psychischer Stärke zu verstehen. 10 Vom Kriege. VII, 15, S. 615, 903, 904

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20 Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen Schwäche wie auch der Präventivangriff sind mit dieser Theorie nicht erklärbar und liefern einen klaren Beleg für die Unvereinbarkeit dieser Clausewitzschen These mit der Wirklichkeit des Krieges.

Im Folgenden wird aufgezeigt, was mit dieser Arbeit erreicht werden soll, wie sich die Vorgehensweise hierbei inhaltlich und methodisch gestaltet und wozu die Studie letztendlich dienen kann. In den Worten von Clausewitz ist ersteres Ziel, zweiteres Mittel und letzteres Zweck der Arbeit.

2 Ziel Die vorliegende Studie befasst sich mit dem Stärkeverhältnis der beiden Haupt-formen des Kriegführens und Kämpfens, dem Angriff und der Verteidigung. Zentraler Untersuchungsgegenstand ist hierbei die These des preußischen Gene-rals und Kriegsphilosophen Carl von Clausewitz, wonach die Verteidigung die an sich, das heißt ihrem Wesen nach, „stärkere Form des Kriegführens“ sei. Ziel der Arbeit ist es, die Stimmigkeit dieser These zu überprüfen, um festzustellen inwiefern die Verteidigung tatsächlich ihrem Wesen nach die stärkere Form des Kriegführens darstellt. Dazu soll der von Clausewitz entwickelte Theorieansatz sowohl im Lichte der Kriegswirklichkeit als auch hinsichtlich seiner argumenta-tiven Logik untersucht und bewertet werden. 3 Mittel: Vorgehen, Gliederung, Methodik Das Vorgehen zur Untersuchung dieser Fragestellung gliedert sich in vier Schrit-te, welche aufeinander aufbauen und den einzelnen Kapiteln der Arbeit entspre-chen.

Erstes Kapitel: Mit dem ersten Kapitel wird der eigentlichen Argumentation des Kriegsphilosophen ein Ausschnitt aus der zum Teil sehr kontroversen Dis-kussion in der Frage nach der stärkeren Form des Kriegführens vorangestellt. Selbst führende militärische Denker vertreten in dieser Frage Auffassungen, die sich untereinander stark widersprechen und häufig im völligen Gegensatz zu den Theorien Carls von Clausewitz stehen. Zweck dieser Untersuchung ist es, die Notwendigkeit einer umfassenden, theoretisch fundierten Klärung dieser Frage zu verdeutlichen, sowie auf deren praktische Relevanz hinzuweisen. Gleichzeitig sollen Vergleichsmöglichkeiten hinsichtlich der Clausewitzschen Argumentation geschaffen werden, um deren Einordnung und Bewertung zu erleichtern. Zu betonen ist, dass an dieser Stelle noch keine Klärung der aufgezeigten Fragestel-lung und auch noch keine Beurteilung der Clausewitzschen Argumentation ange-

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3 Mittel: Vorgehen, Gliederung, Methodik 21 strebt wird. Auch kann und soll es sich nicht um eine umfassende Darstellung der in dieser Frage geführten Diskussion handeln. Es kommt darauf an, die Vor-stellungen einzelner, sehr bedeutender militärischer Führer und Denker, deren Sachkompetenz über jeden Zweifel erhaben scheint, und die zudem in einer gewissen Beziehung zu Clausewitz stehen, herauszuarbeiten. Unter Berücksich-tigung des jeweiligen gesellschaftlich/historischen Kontexts sollen ihre jeweili-gen Vorstellungen verdeutlicht, und dabei insbesondere die Argumente, welche sie zur Begründung ihrer Theorien verwenden, hervorgehoben werden.

Zweites Kapitel: Im zweiten Kapitel wird die Frage untersucht, wie Clau-sewitz seine Theorie von der stärkeren Form des Kriegführens überhaupt ver-standen wissen wollte. Was meinte er damit, wenn er behauptet, die Verteidi-gung sei an sich die stärkere Form des Kriegführens? Eine Beantwortung dieser Frage ist notwendige Voraussetzung für jede weitergehende Untersuchung und Bewertung seiner These und der diesbezüglich von ihm entwickelten Argumen-tation. Unter Bezugnahme auf die Methode, derer sich Clausewitz bedient, soll daher versucht werden, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Die Betrachtung seiner Methode schafft zudem die Voraussetzung, um überprüfen zu können, inwiefern der Kriegsphilosoph bei der Begründung seiner Theorie den Forderun-gen, die er an sich und seine Methode stellt, selbst gerecht wird.

Drittes Kapitel: Im dritten Kapitel wird die Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ im Lichte der Kriegswirklichkeit betrachtet und bewertet. Dazu sollen zwei kriegstheoretische Phänomene - der Angriff aus Schwäche und der Präventivangriff - die mit der Theorie von Clausewitz nicht erklärbar sind und mit dieser im Widerspruch stehen, aufgezeigt und anhand kriegsgeschichtlich-empirischer Beispiele näher untersucht werden. Hierdurch soll die Clausewitzsche Theorievorstellung an der Wirklichkeit des Krieges ge-messen und gleichzeitig die praktische Relevanz der Fragestellung verdeutlicht werden.

Viertes Kapitel: Ausgehend von dem im zweiten Kapitel geschaffenen grundlegenden Verständnis der Clausewitzschen Theorie und der im dritten Kapitel aufgezeigten Unverträglichkeit seiner These mit bestimmten Phänome-nen der empirischen Wirklichkeit des Krieges, wird im vierten Kapitel die Clausewitzsche Argumentation als solche kritisch hinterfragt. Hierin ist gleich-zeitig der Schwerpunkt der Studie zu sehen. Die unterschiedlichen Begrün-dungsansätze, welche Clausewitz zur Herleitung und Verteidigung seiner These verwendet, sollen dabei systematisch herausgearbeitet, untersucht und bewertet werden. Dabei soll seine Argumentation insbesondere im Hinblick auf logische Konsistenz, Treue zu seiner eigenen Methode und Vereinbarkeit mit den Erfah-rungen der Kriegsgeschichte untersucht werden. Die Arbeit stützt sich hierbei in erster Linie auf das Werk „Vom Kriege“ selbst, da die vorhandenen Clausewitz-

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22 Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen interpretationen hinsichtlich der zu untersuchenden Fragestellung kaum weiter-führen. 4 Stand der Forschung Was den Stand der Forschung in der zu untersuchenden Fragestellung anbelangt, so ist festzuhalten, dass sich militärische Denker beinahe zu allen Zeiten mit dieser Frage beschäftigt und hinsichtlich des wechselseitigen Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung die unterschiedlichsten Ansichten vertreten haben. Auf drei der bedeutendsten, nämlich Sun Tsu, Friedrich II. und Napoleon Bona-parte wird im Rahmen dieser Studie genauer eingegangen.

Der erste und bisher einzige, der sich jedoch umfassend und systematisch mit dieser Frage auseinandergesetzt und dabei eine theoretisch fundierte Begrün-dung angestrebt hatte, war Clausewitz. Seine These, wonach die Verteidigung die stärkere Form des Kriegführens sei, löste zum Teil heftige Widersprüche aus und führte dazu, dass seither auch eine Reihe von Clausewitzinterpreten auf diese Problematik eingegangen ist. Hierbei wird der Kern der vorliegenden Fra-gestellung i.d.R. jedoch nur am Rande gestreift und kaum der Versuch einer tiefergehenden Untersuchung oder gar Weiterentwicklung der Clausewitzschen Gedankengänge unternommen. Die beinahe einzige Ausnahme hiervon bildet Friedrich von Bernhardi, welcher in einem Aufsatz aus dem Jahre 1911 die The-se des Kriegsphilosophen zu widerlegen versuchte.11 Obwohl auch diese Schrift nicht tiefschürfend genug war und letztendlich zu einem nicht zu akzeptierenden Ergebnis führte, stellt sie dennoch eine der bisher ergiebigste Auseinanderset-zung mit der Clausewitzschen Argumentation dar. Einzelne konstruktive Beiträ-ge zu dieser Frage (auf die an entsprechender Stelle eingegangen wird) finden sich u.a. bei Gat, Aron, Wallach und Fuller.

Was die Funktion der in der vorliegenden Arbeit verwendeten Fußnoten be-trifft, so erwies es sich als zweckmäßig, diese nicht nur zur Angabe von Quel-lenbelegen einzusetzen, sondern darin auch einzelne Sachverhalte zu erklären oder weiter zu vertiefen, ohne allzu häufig die zentrale Gedankenführung unter-brechen zu müssen.

11 Vgl.: Bernhardi, F. v.: Clausewitz über Angriff und Verteidigung, Versuch einer Widerlegung. In: Beiheft zum Militärwochenblatt, Berlin 1911

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5 Zweck: Praktische Relevanz und ein besseres Clausewitzverständnis 23 5 Zweck: Praktische Relevanz und ein besseres Clausewitzverständnis Wozu kann die Untersuchung einer theoretischen Fragestellung, wie sie der vorliegenden Studie zugrunde liegt, dienen? Handelt es sich um eine bloße Spie-lerei, welche bestenfalls Unterhaltungswert besitzt und für die sicherheitspoliti-sche und militärische Praxis irrelevant ist? Oder kann vielleicht auch der poli-tisch Verantwortliche bei der Entscheidung über den Einsatz von Streitkräften oder der militärische Führer bei der Führung seiner Truppen im Einsatz Nutzen daraus ziehen? Damit stellt sich die grundlegende Frage, ob für das praktische Handeln in Krieg und Konflikt eine Theorie überhaupt möglich, notwendig oder nützlich sein kann. Es soll hier kein Nachweis über den Einfluss von Theorien auf die Kriegführung angestrebt werden. Dieser wurde bereits von anderen Auto-ren erfolgreich geführt.12 Es soll an dieser Stelle genügen darauf hinzuweisen, dass gerade die in der Praxis erfolgreichsten militärischen Führer und Feldherrn besonders deutlich die Notwendigkeit von Theorie hervorhoben. Der preußische Generalleutnant von Scharnhorst hat dies auf sehr anschauliche Art und Weise getan:

„Diejenigen, die alles von der Praxis erwarten, sind den stolzen Menschen zu ver-gleichen, die alles durch sich selbst wissen wollen. Bringt sie denn nicht schon die bloße Vernunft darauf, daß die Theorie, d.h. ein auf Erfahrung und Beurteilung der größten Krieger gegründeter Unterricht des militärischen Verhaltens, den Krieg rich-tiger und geschwinder als die eigene Erfahrung lehre. Von diesem Standpunkt aus erscheint sie notwendiger als die Erfahrung.“13

General Friedrich von Bernhardi betont die Notwendigkeit einer Theorie für die Praxis folgendermaßen:

„Der bloße Routinier scheitert und muß scheitern, sobald die großen und schwieri-gen Aufgaben moderner Kriegführung an ihn herantreten. Er wird sie immer mit den unzulänglichen Mitteln zu lösen suchen, die sich ihm aus seiner beschränkten Erfah-rung bieten. Auch der Hofgeneral, der sein Leben in Nichtigkeiten zuzubringen ge-zwungen ist, und keine Zeit hat für ernste militärische Studien, kann den Anforde-rungen der Zukunft niemals genügen. Das sollten alle beherzigen, die berufen sein können, vor dem Feinde zu befehligen. Nachholen läßt sich im Kriege die Denkar-beit nicht, die im Frieden versäumt wurde. Die Zeiten des Paradegenerals sind un-

12 Vgl. hierzu Jehuda L. Wallach: Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Frankfurt am Main 1967. Wallach weist in dieser Studie den Einfluss der Theorien von Clausewitz und Schlieffen auf die Führung der deutschen Seite in den beiden Weltkriegen nach. 13 Vgl. Militärische Gedankensplitter aus vergangener Zeit. In: Österreichische Militärische Zeit-schrift. 80. Jg., I.Bd. (1903), S. 26

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24 Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen

wiederbringlich vorüber, und auch in niederen Stellungen wird der bloße Draufgän-ger dem bewußt Wagenden unterliegen.“14

Dass auch Clausewitz selbst überzeugt davon war, dass es möglich sein müsse, eine „gute, d.h. der Praxis nützliche Theorie“15 aufzustellen, wird u.a. in einem Brief aus dem Jahre 1807 deutlich, worin er Bezug auf die preußische Niederlage von Jena und Auerstedt nimmt:

„...Von allem dem, was ich in der Kriegskunst erlebt habe, habe ich unsererseits nicht das Mindeste ausführen sehen; überall aber habe ich in der Wirklichkeit die Wahrheit dessen erkannt, was die Theorie mich gelehrt hat, und überall mich von der Wirksamkeit ihrer Mittel überzeugt...“16

Diese Äußerung verdeutlicht die Grundeinstellung, mit welcher Clausewitz an die Ausarbeitung seiner Theorie heranging. Zu beachten ist, dass, wie Malmsten Schering formuliert, eine Theorie nur dann als gut bezeichnet werden könne, wenn sie der Praxis nütze, weshalb Clausewitz die Wiedervereinigung von Theo-rie und Praxis unter Anerkennung des Primats des praktischen Handelns anstre-be.17 Der Beginn der Theorie sei die Wirklichkeit des Krieges, betont Jehuda L. Wallach.18 Die Praxis unterziehe dabei die Theorie einer genauen Prüfung, und letztere leite die Praxis. Nach diesen Überlegungen kann man es als die erste und allen anderen übergeordnete Aufgabe der Theorie bezeichnen, dass sie dem Handeln zu dienen hat.19 Dieses „Dienen“ besteht unter anderem darin, die Ver-gangenheit zu analysieren und verständlicher zu machen, um somit das Urteil des Handelnden für die Bewertung von Fragen der Gegenwart und Zukunft zu schulen. Es sei die Theorie, welche der Geschichte oder vielmehr der aus ihr zu ziehenden Belehrung diene, so Clausewitz.20 Erfahrungen der Kriegsgeschichte 14 Friedrich von Bernhardi: Vom heutigen Kriege. Berlin 1912, Bd. II, S.221 15 Vgl. Walther Malmsten Schering: Die Kriegsphilosophie von Clausewitz. Eine Untersuchung über ihren systematischen Aufbau, Hamburg 1935, S. 19 16 Brief vom 2. April 1807 aus Paris, zitiert in Karl Schwarz: Leben des Generals Carl von Clause-witz und der Frau Marie von Clausewitz. Berlin 1878, Bd. I, S.261 17 Vgl. Malmsten Schering a.a.O., S. 19, 24 18 Vgl. Jehuda L. Wallach: Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkungen in zwei Weltkriegen, Frankfurt am Main 1967, S. 5 19 Vgl. Malmsten Schering a.a.O., S. 19 20 Vgl. Vom Kriege. II, 5, S. 313 Vgl. auch Wallach: a.a.O., S. 5, 9: "Eine vernünftig begründete Theorie ist deshalb ebenso für das Verständnis vergangener Kriege wie für die erfolgreiche Durchführung eines kommenden Krieges unerläßlich." "Um eine Theorie aufzustellen, die dem Ansturm des wirklichen Krieges gerecht werden kann, muß die Theorie in zwei Richtungen wirken: sie untersucht die Vergangenheit - mit Hilfe der Kriegsge-schichte - und trennt das Wesentliche, das dauernden Wert besitzt, vom Zufälligen und kristallisiert auf diese Weise das Grundsätzliche heraus. Auf der anderen Seite legt sie diese Prinzipien immer wieder auf den grausamen Prüfstand des Krieges und trennt so die immer gültigen Grundsätze von

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5 Zweck: Praktische Relevanz und ein besseres Clausewitzverständnis 25 können dadurch weitervermittelt und nutzbar gemacht werden, ohne dass sie stets von neuem mit dem Blut von Soldaten erkauft werden müssen. Dabei ist es Aufgabe der Theorie, Zusammenhänge von Ursache und Wirkung des kriegeri-schen Geschehens deutlich zu machen und zu begründen. Dies bezeichnet Clau-sewitz als besonders schwierig, da die Wirkungen im Kriege selten aus einfachen Ursachen hervorgingen, sondern aus mehreren gemeinschaftlichen.21 An anderer Stelle fasst er zusammen, worin seiner Meinung nach die Aufgaben einer Theo-rie liegen:

„Untersucht die Theorie die Gegenstände, welche den Krieg ausmachen, unterschei-det sie schärfer, was auf den ersten Blick zusammenzufließen scheint, gibt sie die Eigenschaften der Mittel vollständig an, zeigt sie die wahrscheinlichen Wirkungen derselben, bestimmt sie klar die Natur der Zwecke, trägt sie überall das Licht einer verweilenden kritischen Betrachtung in das Feld des Krieges, so hat sie den Haupt-gegenstand ihrer Aufgabe erfüllt. Sie wird dann demjenigen ein Führer, der sich mit dem Kriege aus Büchern vertraut machen will; sie hellt ihm überall den Weg auf, er-leichtert seine Schritte, erzieht sein Urteil und bewahrt ihn vor Abwegen.“22

Ein Beitrag zur Erziehung des Urteils muss nach diesen Überlegungen auch in der Bewertung des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung gesehen werden. Ob in dieser Frage die Clausewitzschen Theorien aber vor Abwegen bewahren oder gerade zu diesen führen, ist Hauptgegenstand der vorliegenden Studie. Sicher ist, dass, wenn richtige theoretische Vorstellungen der Praxis nützen können - was wohl nicht ernsthaft bezweifelt werden darf - unzutreffende Theorien in gleicher Weise Schaden anrichten. Falsche Doktrinen hätten den Untergang ganzer Staaten verursacht, betont Jehuda Wallach und verweist dabei auf die preußische Niederlage von 1806.23 Dass die Frage nach der stärkeren Form des Kriegführens für die militärische Praxis von großer Bedeutung sein kann, scheint bereits aus dem gesunden Menschenverstand hervorzugehen. Wer von der Vorstellung ausgeht, die Verteidigung sei grundsätzlich die stärkere Form des Kriegführens, wird sich in bestimmten Situationen anders verhalten, als jemand, der die gegenteilige Auffassung vertritt. Auch die Tatsache, dass sich viele bedeutende, erfahrene und erfolgreiche Feldherrn und Soldaten zu ver-schiedenen Zeiten, von Friedrich dem Großen, Clausewitz und Jomini über Moltke, Schlieffen, Foch bis hin zu Beck und Manstein mit dieser Frage beschäf-

dem, was vergänglich ist. Auf diese Art leiten die Erfahrungen der Vergangenheit die Überlegungen über die Gegenwart und die Zukunft, und das ist es, woraus die geistige Arbeit eines Feldherrn besteht." 21 Vgl. Vom Kriege. II, 5, S. 313 22 Vom Kriege. II, 2, S. 291 23 Vgl. Wallach a.a.O., S. 7

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26 Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen tigten, woraus ein Streit entstand, der nach Malmsten Schering das militärische Publikum lange Jahre in zwei feindliche Lager getrennt habe24, unterstreicht zusätzlich die praktische Relevanz dieser Frage. Die Auswirkungen dessen, was Clausewitz über die stärkere Form des Kriegführens gesagt hat, reichen dabei bis in unsere Tage, und schlagen sich u.a. in den Dienstvorschriften verschiedener Armeen nieder. So heißt es im U.S. Army Field Manual 100-5, der grundlegen-den Vorschrift der amerikanischen Armee:

„The defense is the less decisive form of war. The defense may nonetheless be stronger than the offense, thus METT-T may necessitate defense in a campaign for a force-projection army prior to conducting offense operations. The advantage of cover and concealment, advance siting of weapons, shorter LOCs, and operations over familiar terrain among a friendly population generally favour the defender.“25

Auch die ehemals sowjetischen Auffassungen zum Verhältnis von Angriff und Verteidigung lassen sich nach Pellicia größtenteils auf die Vorstellungen von Clausewitz zurückführen.26

Die ausgehend von den USA und Großbritannien auch auf Deutschland übergreifende Renaissance Clausewitzscher Gedanken, bringt es mit sich, dass der Name des preußischen Kriegsphilosophen wieder in aller Munde ist, und häufig auf seine Werke Bezug genommen und aus ihnen zitiert wird. Clausewitz sei eine Autorität, die zur Legitimation politisch und militärisch relevanter Posi-tionen angeführt wird, betont Hartmann.27 So erfreulich diese Tatsache auf der einen Seite ist, so muss doch vor den Gefahren gewarnt werden, welche damit verbunden sein können.

Die erste besteht in einer leichtfertigen unkritischen Wiedergabe aus dem Zusammenhang gerissener Äußerungen von Clausewitz, womit sein Werk zu einem bloßen Zitatensteinbruch herabgewürdigt wird.28 Seinen Namen führten

24 Vgl. Malmsten Schering a.a.O., S. 15 25 U.S. Army Field Manual 100-5. Fighting future wars, published with the Institute of Land Warfare Association of the U.S. Army, Washington 1994, S. 6 - 19 (vgl. METT-T: mission, enemy, troops, terrain and weather, and time available; LOC: line of communication) 26 Vgl. W. Hahlweg: Nachrede zur 19. Auflage. Weiterentwicklung und Differenzierung des Clausewitzbildes seit 1972, Bonn 1980, S. 1278. Vgl. auch Alfred Ernst: Die Konzeption der schwei-zerischen Landesverteidigung 1815-1966, Bern 1972. Der schweizerische Oberstkorpskommandant betont dabei, dass für die Landesverteidigung der Schweiz der Satz von Clausewitz, die Verteidigung sei die stärkere Kampfform als der Angriff, auch heute noch gelte. 27 Vgl. Hartmann, Uwe: Carl von Clausewitz. Erkenntnis, Bildung, Generalstabsausbildung, Mün-chen 1998, S. 12 28 Vgl. dazu die Benutzung von Clausewitz durch Adolf Hitler verdeutlicht von W. Hahlweg: "Hitler arbeitete Clausewitz kaum systematisch-kritisch durch, sondern benutzte ihn nach der Art Halbgebil-deter eher als Zitatenschatz,..." Werner Hahlweg: Das Clausewitzbild einst und jetzt. Mit textkriti-schen Anmerkungen, Bonn 1980, S. 108

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5 Zweck: Praktische Relevanz und ein besseres Clausewitzverständnis 27 viele im Munde, seine Gedanken seien aber von zu wenigen verstanden worden, betont Ulrich Marwedel.29

Eine zweite noch weitaus größere Gefahr geht von einer allzu wörtlichen, rezepthaften Interpretation der Clausewitzschen Gedanken im Sinne einer positi-ven Lehre aus, mit der Neigung, seine Theorien zum unantastbaren Dogma zu erheben. Dies scheint überhaupt die schlimmste Art der Verunglimpfung Clausewitzscher Gedanken zu sein, widerspricht sie doch völlig seiner ureigens-ten Intention und Methode. Liddell Hart verdeutlicht dies folgendermaßen:

„Wie so oft in der Geschichte, haben auch die Schüler von Clausewitz dessen Leh-ren in ein Extrem gesteigert, wie es der Meister selbst nicht beabsichtigt hatte. Miß-verstanden zu werden, ist das übliche Schicksal der meisten Propheten gleich wel-chen Gebiets. Ergebene, aber nicht tiefschürfende Schüler haben der ursprünglichen Konzeption mehr Schaden zugefügt als von Vorurteilen und blinder Abneigung ge-triebene Gegner:“30

Es muss an dieser Stelle betont werden, dass eine Dogmatisierung der Clausewitzschen Gedanken eine kritische Analyse derselben verhindert, und damit ein Verständnis seines Werkes unmöglich macht. Konstruktive Kritik wird dabei häufig durch bloße Lobeshymnen ersetzt. Des weiteren wird eine gehalt-volle inhaltliche Auseinandersetzung mit seinen Werken, insbesondere auch mit spezifisch militärischen Fragen, zunehmend vernachlässigt, wodurch sich die Clausewitzforschung immer mehr auf eine bloße Beschäftigung mit dem Lebens-lauf und der Person des Kriegsphilosophen (so wichtig diese für das Verständnis seiner Werke natürlich sind) und ein dogmatisches Wiedergeben einzelner For-mulierungen des „Meisters“ reduziert. Der englische Gruppenkapitän der Luft-streitkräfte R. A. Mason verweist auf einen sehr wichtigen Punkt, wenn er be-tont, dass Clausewitz` Bedeutung für uns nicht daran gemessen werde, wie tief wir über ihn dächten, als vielmehr daran, wie tief er uns überhaupt selbst veran-lassen würde, über die Dinge nachzudenken.31 Hervorzuheben ist an dieser Stel-le, dass der tiefere Sinn der Clausewitzschen Theorien nur durch kritisches Lesen und Hinterfragen seiner Gedankengänge möglich ist.32 Immer wieder muss die 29 Vgl. Ulrich Marwedel: Carl von Clausewitz. Persönlichkeit und Wirkungsgeschichte seines Wer-kes bis 1918. Wehrwissenschaftliche Forschungen, Abt. Militärgeschichtliche Studien, Bd. 25 (1979), S. 230 30 B. H. Liddell Hart: Strategie. Wiesbaden 1935, S. 416 f 31 Vgl. R. A. Mason: The challenge of Clausewitz. In: Air University Review. March-April 1979, Vol. XXX, Nr. 3, S. 75 ff. Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1278 32 W. Hahlweg verdeutlicht die richtige Herangehensweise an das Werk "Vom Kriege" folgenderma-ßen: "Freilich dürfte die Kenntnis selbst des besten Fachschrifttums niemals ein planmäßiges eigenes, kritisches Durcharbeiten des Werkes "Vom Kriege" überflüssig machen. Grundsätzlich sollte man Genauigkeit und Sorgfalt beim Lesen walten lassen: über jede These des Autors meditieren, sich ganz in seine Ausführungen hineinversenken und sich jeweils der gesellschaftspolitischen Be-

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28 Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen Frage nach dem „Warum“ seiner Argumente gestellt werden.33 Ein bloßes Hin-nehmen seiner Behauptungen führt nicht weiter und wird zur Gefahr, wenn es sich mit Dogmatismus verbindet. Auch eine Weiterentwicklung der Clausewitzschen Gedanken in seinem eigenen Sinne, die wohl größte Herausfor-derung, welche sich der Clausewitzforschung heute stellt, würde durch ein sol-ches Herangehen an sein Werk unmöglich gemacht.

Mit der vorliegenden Arbeit soll daher auch ein Beitrag dazu geleistet wer-den, den aufgezeigten Fehlentwicklungen der Clausewitzrezension entgegenzu-steuern. Es kommt in diesem Zusammenhang darauf an, vor einseitigen Extrem-vorstellungen zu seinen Theorien, wie sie so häufig die Diskussion beherrschen, zu warnen. Weder eine völlige Nichtbeachtung (Eisenhower: „Ich habe niemals Clausewitz gelesen.“34) oder eine vorschnelle Verurteilung (Stalin: „Es ist gera-dezu lächerlich, heute bei Clausewitz in die Schule zu gehen.“35), noch ein ober-flächliches unkritisches Hinnehmen oder gar eine Dogmatisierung seiner Gedan-ken kann dem Werk des Kriegsphilosophen gerecht werden. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass mit der dieser Studie zugrunde liegenden kritisch-analytischen Be-trachtungsweise der Clausewitzschen Gedanken auch zu einem besseren Ver-ständnis seines Werkes insgesamt beigetragen werden kann. Der Schlüssel zu einem solchen Verständnis muss insbesondere in der Methode von Clausewitz gesehen werden. Es sei die von ihm entwickelte Denkmethode, welche den ei-gentlichen bleibenden Wert seiner Theorie und damit den des Werkes „Vom Kriege“ ausmache, betont Hahlweg.36 Das Wesen dieser Methode gründet im Verständnis der Theorie, nicht als einer „notwendig positiven Lehre, d.i. Anwei-sung zum Handeln“37, im Sinne von „Gesetzen“38, sondern im Verständnis der dingtheiten bewußt sein. Clausewitz` Werk "Vom Kriege" ist kein Zitatenschatz. Man muß vielmehr geradezu mit dem Stoff ringen, um den letzten Sinn der dort enthaltenen Gedanken in ihrer Realität zu erfassen." Werner Hahlweg: Schrifttum zur Geschichte und zum Studium des Werkes "Vom Kriege". Bonn 1980, S. 1359 f 33 Diese Forderung ergibt sich bereits aus der Methode, welche Clausewitz seinen theoretischen Betrachtungen zugrunde legt. Es kommt ihm darauf an, dass eine Theorie nicht in erster Linie angibt, wie man sich zu verhalten habe, sondern vielmehr ergründet, warum man sich so verhalten muss. In diesem Sinne will er auch sein Werk verstanden wissen. Es macht keinen Sinn, darin nach positiven Handlungsanweisungen zu suchen, ohne die Begründung derselben zu hinterfragen und sich kritisch mit seinen Argumenten auseinander zu setzen. Vgl. auch Malmsten Schering a.a.O., S. 39, 43 34 Vgl. Christ und Welt. 4. Jg. Nr. 15, v. 12. 4. 1951, "Eisenhower - ein seltsamer Mann". Vgl. W. Hahlweg: Das Clausewitzbild einst und jetzt. Mit textkritischen Anmerkungen, Bonn 1980, S. 104 35 Vgl. General A. Guillaume. Warum siegte die Rote Armee? (Baden-Baden 1950), S. 154. Vgl. W. Hahlweg: a.a.O., S. 100 36 Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 26 37 Vgl. Vom Kriege. II, 2, S. 290 38 Vgl. Vom Kriege. II, 4, S. 306 f. Der Begriff des Gesetzes könne in der Theorie der Kriegführung weder im Bezug auf das Erkennen, noch im Bezug auf das Handeln gebraucht werden, betont Clau-

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5 Zweck: Praktische Relevanz und ein besseres Clausewitzverständnis 29 Theorie als „Betrachtung“39, als „Anhalt für das Urteil“40 bzw. als Mittel zur Schulung desselben. Mit dem so geschulten Urteil aber begibt sich der Feldherr (unter Zurücklassung der Theorie) ins Gefecht. Somit wird das geschulte Urteil (als Ergebnis der Theorie) zum Bindeglied zwischen Theorie und Praxis, und verdeutlicht damit die praktische Relevanz der Theorie. Clausewitz selbst ver-deutlicht seine Methode folgendermaßen:

„Sie (die Theorie) soll den Geist des künftigen Führers im Kriege erziehen oder vielmehr ihn bei seiner Selbsterziehung leiten, nicht aber ihn auf das Schlachtfeld begleiten; so wie ein weiser Erzieher die Geistesentwicklung eines Jünglings lenkt und erleichtert, ohne ihn darum das ganze Leben hindurch am Gängelbande zu füh-ren.

Bilden sich aus den Betrachtungen, welche die Theorie anstellt, von selbst Grund-sätze und Regeln, schließt die Wahrheit selbst in dieser Kristallform zusammen, so wird die Theorie diesem Naturgesetz des Geistes nicht widerstreben, sie wird viel-mehr, wo sich der Bogen in einem solchen Schlußstein endigt, diesen noch hervor-heben. Aber sie tut dies nur, um dem philosophischen Gesetz des Denkens zu genü-gen, um den Punkt deutlich zu machen, nach welchem die Linien alle hinlaufen, nicht um daraus eine algebraische Formel für das Schlachtfeld zu bilden;“41

sewitz. Grundsätze, Regeln, Vorschriften und Methoden aber seien für die Theorie der Kriegführung unentbehrliche Begriffe, insoweit sie zu positiven Lehren führten,... An dieser Stelle muss vor einer weitverbreiteten Fehlinterpretation von Clausewitz gewarnt werden. Es wird ihm häufig, so auch von W. Hahlweg (vgl. Hahlweg a.a.O., S. 8), unterstellt, er habe im Hinblick auf die Theorie des Krieges eine positive Lehre für unmöglich gehalten. Zu beachten ist jedoch, dass er eine positive Lehre nur im Sinne von Gesetzen für unmöglich und unsinnig hielt, während er eine solche, gebildet durch Grundsätze, Regeln, Vorschriften und Methoden, als unentbehrlich bezeichnete. 39 Vgl. Vom Kriege. II, 2, S. 290 40 Vgl. Vom Kriege. II, 5, S. 315 41 Vom Kriege. II, 2, S. 291