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DEN HAAG 1978 MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIK BEITRÄGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT herausgegeben von HEINZ KIMMERLE Mitglieder der Bochumer Dialektik-Arbeitsgemeinschaft: Arndt, Andreas - Bock, Klaus - Brackmann, Theo - Buchholz. Ulrich - Clairmont, Heinrich - Dannemann, Rüdiger - Erdbrügge, Wolfgang - Großmaß, Ruth - Hüttel, Martin - Kimmerle, Heinz - Kratz, Steffen - Kuhlmann, Lothar - Reichenberg, Gerd - Schmidt, Giselher - Schweitzer, Dieter - Verhörst, Beate Inhaltsverzeichnis VORWORT (3) Lothar Kuhlmann I. VORAUSSETZUNGEN (7) Heinz Kimmerle A. Allgemeine Voraussetzungen: Voraussetzungen von Marx - Marx als Voraussetzung (7) B. Die „Quellen des Marxismus" als Vorgeschichte der materialistischen Dialektik (11) C. Revolutionäre Praxis als Voraussetzung dialektischer Theorie (14) D. Zwischenergebnis und schematische Zusammenfassung der Voraussetzungen (16) E. Grundlinien einer kritischen materialistischen Rezeption der Hegeischen Dialektik (18) 1. Die materialistischen Implikationen der „Jugendschriften" (1793-1800) und der „Jenaer Schriften" (1801-1807) G.W.F. Hegels (19) 2. Die mystifizierte Gestalt der Bewegungsformen des dialektischen Denkens in Hegels „Wissenschaft der Logik" (1812/16) (23) 3. Vergottung des Staats in Hegels „Rechtsphilosophie" (1821) und Mythos des Weltgeists in seinen „Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte" (1822/23 und öfter) im Kontext konkreter Analysen gesellschaftlich-geschichtlicher Verhältnisse (28) ANMERKUNGEN (30) II. KARL MARX (32) Gerd Reichenberg, Dieter Schweizer A. Intention des Kapitels: Grundlegende Aspekte der materialistischen Dialektik in ihrer methodologischen Bedeutung (32) B. Die erste Erscheinungsform der Dialektik als Ideologiekritik (1843-1846/47) (33) 1. Die Hegelkritik des jungen Marx (33) 2. Ansätze einer Kritik ökonomischer Theorie (39) 3. Die Theorie der Geschichte (39)

Modelle Der Dialektik

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Page 1: Modelle Der Dialektik

DEN HAAG 1978

MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIKBEITRÄGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von HEINZ KIMMERLE

Mitglieder der Bochumer Dialektik-Arbeitsgemeinschaft: Arndt, Andreas - Bock, Klaus - Brackmann, Theo - Buchholz. Ulrich - Clairmont, Heinrich - Dannemann, Rüdiger - Erdbrügge, Wolfgang - Großmaß, Ruth - Hüttel, Martin - Kimmerle, Heinz - Kratz, Steffen - Kuhlmann, Lothar - Reichenberg, Gerd - Schmidt, Giselher - Schweitzer, Dieter - Verhörst, Beate

Inhaltsverzeichnis

VORWORT (3) Lothar Kuhlmann

I. VORAUSSETZUNGEN (7) Heinz Kimmerle

A. Allgemeine Voraussetzungen: Voraussetzungen von Marx - Marx als Voraussetzung (7)B. Die „Quellen des Marxismus" als Vorgeschichte der materialistischen Dialektik (11)C. Revolutionäre Praxis als Voraussetzung dialektischer Theorie (14)D. Zwischenergebnis und schematische Zusammenfassung der Voraussetzungen (16)E. Grundlinien einer kritischen materialistischen Rezeption der Hegeischen Dialektik (18)

1. Die materialistischen Implikationen der „Jugendschriften" (1793-1800) und der „Jenaer Schriften" (1801-1807) G.W.F. Hegels (19)2. Die mystifizierte Gestalt der Bewegungsformen des dialektischen Denkens in Hegels „Wissenschaft der Logik" (1812/16) (23)3. Vergottung des Staats in Hegels „Rechtsphilosophie" (1821) und Mythos des Weltgeists in seinen „Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte" (1822/23 und öfter) im Kontext konkreter Analysen gesellschaftlich-geschichtlicher Verhältnisse (28)

ANMERKUNGEN (30)

II. KARL MARX (32) Gerd Reichenberg, Dieter Schweizer

A. Intention des Kapitels: Grundlegende Aspekte der materialistischen Dialektik in ihrer methodologischen Bedeutung (32)B. Die erste Erscheinungsform der Dialektik als Ideologiekritik (1843-1846/47) (33)

1. Die Hegelkritik des jungen Marx (33)2. Ansätze einer Kritik ökonomischer Theorie (39)3. Die Theorie der Geschichte (39)

Page 2: Modelle Der Dialektik

4. Die Kritik an Proudhons Methode der Ökonomie (42)

C. Die Ausbildung der Dialektik als Methode systematischer Kritik (1857/58) (45)

1. Die Kategorie Totalität (45)2. Analyse und Synthese (46)

3. Forschungs- und Darstellungsmethode als Einheit von Analyse und Synthese (47)4. Logische und historische Methode (48)D. Praktizierte Dialektik am Beispiel des „Warenkapitels" (1867) (49)

ANMERKUNGEN (53)

III. FRIEDRICH ENGELS (55)

Lothar Kuhlmann

A. Zum aktuellen Stand der Diskussion um Friedrich Engels: Rekonstruktion der Dialektik-Konzeption gegen vorherrschende klischeehafte Auffassungen (55)B. Die für Engels' Dialektik-Modell relevanten Schriften und ihr politischer Hintergrund (1859-1888) (59)C. Darstellung der Engelsschen Dialektik-Konzeption (62)

1. Methodisches (62)2. Engels' Pläne für eine Systematisierung der Dialektik (63)3. Der genetische Teil des Systematisierungsansatzes (64)

a. Naturwüchsig-dialektische Anschauungsweise der Antike: Erfassung (nur) des allgemeinen Charakters des Gesamtbildes der Erscheinungen (65)Exkurs: Versuch, Engels' allgemeines Verständnis von „Dialektik" zu bestimmen (65)b. Metaphysische Denkweise der Neuzeit: exakte Erfassung (nur) der Einzelheiten, aus denen sich das Gesamtbild der Erscheinungen zusammensetzt (68)c. Die neuere deutsche Philosophie: Übergang zur bewußten exakten Erfassung des Weltganzen (68)d. Dialektisch-materialistisches Vorgehen des Marxismus: Beginn der bewußten exakten Erfassung des Weltganzen (70)

4. Der systematische Teil des Systematisierungsansatzes (72)

a. Engels' Bestimmung „materialistischer Dialektik" (72)

b. Dialektik als Wissenschaft des - sich bewegenden - Gesamtzusammenhanges (75)c. Die Dialektik spezieller Wissenschaftszweige und der ihnen zugrundeliegenden Wirklichkeitsbereiche (78)

D. Schlußbemerkung zum Stellenwert des hier dargestellten Ausschnitts aus dem Engelsschen Dialektik-Modell (81)

Page 3: Modelle Der Dialektik

ANMERKUNGEN (82)

IV. VLADIMIR ILJIC LENIN (85)

Andreas Arndt

A. Hauptpunkte der Auseinandersetzung mit Lenins Konzeption materialistischer Dialektik: Streit um die „Leninsche Etappe" der marxistischen Philosophie und Beginn der Erfassung seiner Dialektik-Konzeption (85)B. Lenin und die Philosophie: Philosophische Theorie als „Hebel für die Veränderung der Welt" (86)C. Lenins Konzeption materialistischer Dialektik in den „Philosophischen Heften" (1914/15) (92)

1. Voraussetzungen von Lenins Auseinandersetzung mit der Philosophie (92)2. Der materialistische „Kern" der Hegelschen Dialektik (94)3. Der Rückbezug auf die „Logik des .Kapital'" (98)4. Elemente der Dialektik (100)

ANMERKUNGEN (104)

V. MAO TSETUNG (107)

Andreas Arndt, Giselher Schmidt

A. Zur Quellenlage und zur Situation der Auseinandersetzung mit Maos Modell materialistischer Dialektik: Die „Philosophischen Monographien" als Resultate kollektiver Praxis und Erkenntnis und der Streit um die wissenschaftliche Relevanz der Dialektik-Konzeption (107)B. Spezifische Voraussetzungen des Dialektik-Modells von Mao Tsetung (109)C. „Über die Praxis" (1937) (112)D. „Über den Widerspruch" (1937) (115)

1. Ziel der Argumentationsweise (115)2. Dialektik und Metaphysik als Grundformen der Weltanschauung (117)3. Die Lehre vom Widerspruch 118

a. Allgemeinheit und Besonderheit des Widerspruchs (118)b. Der Entwicklungsprozeß eines „komplexen Dinges": Grund-, Haupt- und Nebenwiderspruch (121)c. Identität und Kampf der gegensätzlichen Seiten des Widerspruchs (123)

d. Der Platz des Antagonismus in den Widersprüchen (124)

e. Der Geltungsbereich der Dialektik (125)

E. Die Dialektik der sozialistischen Gesellschaft (125)

1. „Über die richtige Behandlungsart der Widersprüche im Volk" (1957) (126)2. Die Kulturrevolution (127)3. Die Bedeutung der Theorie der Dialektik (129)

Page 4: Modelle Der Dialektik

ANMERKUNGEN (131)

VI. GEORG LUKACS UND KARL KORSCH (135)

Rüdiger Dannemann, Wolfgang Erdbrügge

A. Zum gegenwärtigen Diskussionsstand: Hegel-Epigonen oder Protagonisten einer Neuen Linken (135)B. Kurzer Hinweis zum praktisch-politischen Kontext (138)

C. G. Lukäcs' Dialektik-Konzeption (140)

1. Zur theoretischen Grundkonzeption von „Geschichte und Klassenbewußtsein" (1923) (140)2. Lukäcs' Interpretation der dialektischen Methode im „Kapital" (144)3. Kritik an Lukäcs als Aufweis der Bedingungen für eine positive Rezeption (149)

D. K. Korschs Dialektik-Konzeption (151)

1. Das Projekt von „Marxismus und Philosophie" (1923) (151)2. Korschs Bestimmung des „rationellen Kerns" der Hegeischen Dialektik (152)3. Korschs Versuch einer Bestimmung der Marxschen Dialektik (154)4. Kritik an Korsch: Fortdauernde Aktualität und problematische Entwicklung (156)

ANMERKUNGEN (157)

VII. ERNST BLOCH (161)

Ruth Großmaß

A. Zur Rezeption der Blochschen Dialektik-Konzeption (161)

1. Schwierigkeiten einer Auseinandersetzung mit den Texten Blochs (161)2. Die Beurteilung der Theorie Blochs in der Sekundärliteratur: Kaum Beiträge zur Dialektik-Konzeption (163)3. Textgrundlage für die Darstellung der Dialektik-Konzeption Blochs (1951 ff.) 164

B. Der Theoriestatus der Blochschen Analysen (165)

1. Zum Philosophiebegriff (165)2. Zur Sprach- und Argumentationsstruktur (167)

C. Blochs Dialektik-Konzeption (168)

1. Bezugspunkte der Dialektik-Konzeption (168)2. Zentrale Bestimmungen der Hegeischen Dialektik (169)3. Materialisierung der Dialektik durch Marx (172)4. Blochs Verfahren der dialektischen Akzentuierung (175)

D. Einordnung der Dialektik-Konzeption Blochs in seine Philosophie (182)

Page 5: Modelle Der Dialektik

ANMERKUNGEN (183)

VIII. FRANKFURTER SCHULE (ADORNO UND MARCUSE) (185)

Steffen Kratz, Beate Verhörst

A. Vorbemerkungen zum theoretischen Kontext der „Frankfurter Schule" (185)

B. Konturierung der Konzeption von Theodor Wiesengrund Adorno nach ihren Aspekten und Stadien (186)

1. Das Verhältnis von Adornos „Negativer Dialektik" zu seinen materialen Modellanalysen (186)2. Kritik am Identifikationsprinzip einer „prima philosophia" in der „Dialektik der Aufklärung" (1947) (187)3. „Hegel retten" und „Lossage von Hegel" (190)4. „Negative Dialektik" (1966) (193)

C. Entwicklungsgeschichtlicher Aufriß der Konzeption von Herbert Marcuse (197)

1. Historisch-materialistische Phänomenologie: Dialektik als Methode der Konkretion (1927-1932) (198)2. Kritische Theorie: Dialektik der Negativität (1933-1960) (200)3. Theorie des Spätkapitalismus: Die „Stillstellung" der Dialektik (1960 ff.) (203)

ANMERKUNGEN 206

IX. ANTONIO GRAMSCI (210)

Ulrich Buchholz

A. Probleme der Entwicklung einer Konzeption materialistischer Dialektik bei Gramsci (1914-1937) (210)

B. Die „Philosophie der Praxis" (211)

1. Die Tradition der .Philosophie der Praxis' in Italien (Labriola, Gentile, Mondolfo) (211)2. Die Philosophie der Praxis' als Wissenschaft der Dialektik bei Gramsci (214)

C. Dialektik-Konzeption (215)

1. Gramscis Auseinandersetzung mit dem Mechanismus und Ökonomismus der II. Internationale (215)

2. Subjektive und objektive Dialektik (217)

D. Theoriegeschichtlicher und politischer Kontext der Dialektik-Konzeption (218)

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1. Die Historizismusproblematik - der Versuch einer „Umkehrung" (218)2. Die Einheit von Philosophie, Ökonomie, Geschichte - Dialektik als nicht formalisierbare „Übersetzungstheorie" (223)3. Die dialektische Einheit von Theorie und Praxis als Reformulierung der materialistischen Überbautheorie (225)

ANMERKUNGEN (228)

X. KAREL KOSIK (230)

Martin Hüttel

A. Zur Standortbestimmung Kosiks als Repräsentanten der oppositionellen Philosophie in den sozialistischen Ländern Osteuropas (230)B. Der zentrale erkenntnistheoretische Aspekt der „Dialektik des Konkreten" (1967) (231)

1. Kritik an pseudokonkreten Konzeptionen (231)2. Die dialektisch-materialistische Betrachtung der Realität (236)3. Der Begriff der konkreten Totalität (238)

C. Kritik des Kosikschen Dialektik-Modells als abstrakt-allgemein, humanistisch-vage und eklektizistisch (239)

ANMERKUNGEN (241)

XI. GRUNDLAGEN MATERIALISTISCHER DIALEKTIK IN DER UdSSR UND DDR (242)

Klaus Bock, Heinrich Clairmont

A. Zum Forschungsstand: Summarische Auseinandersetzung mit kritischen Positionen und Aufweis der Aufgaben und Entwicklungen gegenwärtiger Forschung (ca 1967 ff.) (242)B. Objektive und subjektive Dialektik. Die Einheit von Dialektik, Logik und Erkenntnistheorie (245)C. Die Grundgesetze der Dialektik als theoretischer Ausdruck des dialektischen Determinismus (250)

1. Die Bedeutung der Grundgesetze der Dialektik (250)2. Das Gesetz der Einheit und des Kampfes der Gegensätze (252)3. Das Gesetz vom Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative (259)4. Das Gesetz der Negation der Negation (261)

D. Die Kategorien im System der materialistischen Dialektik (263)

E. Die Dialektik als Theorie, Methode und Methodologie der Einzelwissenschaften (265)

ANMERKUNGEN (269)

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XII. L OUIS ALTHUSSER (273)

Theo Brackmann, Steffen Kratz, Beate Verhörst

A. Althussers Problemstellung: Situierung seiner Schriften in ihrem politisch-theoretischen Kontext (1965ff) (273)

B. Konfrontation Hegel-Marx 276

1. Die Struktur der Hegelschen Dialektik 2762. Die Struktur der Marxschen Dialektik 280 C. Das Hegelsche Erbe - Rationeller Kern und Mystifikation 285

ANMERKUNGEN 288

NACHWORT: RÜCKBLICK UND AUSBLICK (291)

Heinz Kimmerle

A. Die didaktische Absicht und die Schwierigkeiten ihrer Verwirklichung (291)

B. Die Verschiedenartigkeit der Beiträge als Spiegel für den Entwicklungsstand des Problems (293)

C. Zur Vorbereitung einer Wissenschaft der Dialektik (296)

1. Die Geschichte der Dialektik in der Einheit von Kontinuität und Bruch (298)

2. Das System des dialektischen Denkens als Konstituierung eines dynamischen mehrschichtigen Systembegriffs (301)

ANMERKUNGEN (305)

BIBLIOGRAPHIE (307)

Ruth Großmaß, Lothar Kuhlmann

PERSONENREGISTER (327)

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MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIKBEITRÄGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von HEINZ KIMMERLE

10/06

trendonlinezeitung

VORWORT Lothar Kuhlmann

Zur Kapitelübersicht

Diskussionen über materialistische Dialektik stoßen immer wieder auf zwei Schwierigkeiten: Entweder wird (nach einiger Zeit) die Frage aufgeworfen, was das denn eigentlich sei, materialistische Dialektik, oder aber da, wo ein gewisser Informationsstand bereits vorhanden ist, kommt es auch bei nur wenigen Beteiligten schon binnen kurzer Zeit zu heftigen Kontroversen, die häufig darauf zurückzuführen sind, daß der Inhalt des Begriffs materialistische Dialektik jeweils unterschiedlich - ja sich ausschließend - bestimmt wird.

Die in dem vorliegenden Band enthaltenen Beiträge möchten in beide Richtungen klärend wirken. Zunächst wollen sie antworten auf die Frage nach dem Inhalt des Begriffs materialistische Dialektik und zwar ohne weitgehende Voraussetzungen zu machen. Die Präsentation mehrerer verschiedener „Modelle materialistischer Dialektik" als Antwort kann aber auch - so glauben zumindest die Verfasser - zur Klärung der erwähnten Kontroversen insofern beitragen, als dadurch die unterschiedlichen Bestimmungen materialistischer Dialektik herausgearbeitet und so deutlicher gemacht werden. Die Annahme, daß durch eine solche Explikation der unterschiedlichen Modelle die aktuelle Dialektik-Debatte zunächst an Transparenz gewinnen könnte, darüber hinaus aber sowohl erweitert als auch punktue!! vertieft und somit vorangetrieben werden könnte, war der Grund für die Veröffentlichung.

Um zu verdeutlichen, warum hier verschiedene Modelle vorgestellt werden und nicht eine Geschichte oder eine systematische Darstellung der materialistischen Dialektik geliefert wird, soll auf die „Vorgeschichte" des Bandes kurz eingegangen werden: Die „Modelle" sind die Arbeitsergebnisse der „Bochumer Dialektik-Arbeitsgemeinschaft," deren Mitglieder sich Anfang 1974 zusammenfanden, mit dem Ziel, gemeinsame mit der materialistischen Dialektik zusammenhängende Probleme aufzuarbeiten.

Die Arbeit wurde bei Marx und Engels, den Begründern materialistischer Dialektik, aufgenommen. Schon bald aber entstanden grundsätzliche Kontroversen über die Einschätzung der Position von Engels, die auf dem damaligen Stand der Gruppe nicht geklärt werden konnten. So blieb als gemeinsamer Ausgangspunkt der weiteren Arbeit die Analyse der Marxschen Schriften. Bei dem Versuch, die von Marx im „Kapital" gebrauchten dialektischen Kategorien in ihrem Ableitungszusammenhang zu verstehen, sah sich die Gruppe dann - für die meisten nicht überraschend - auf Hegel verwiesen. Nachdem dessen „Logik" und „Enzyklopädie" eine Zeitlang Djskussionsgrundlage gewesen waren, wurde insbesondere eine Analyse der dialektischen Strukturen des ersten Kapitels des „Kapital" versucht. Es wurde dabei ständig Bezug auf die Hegelsche Dialektik genommen bei gleichzeitigem Versuch, die Differenzen zu beachten, die sich aus materialistischem und idealistischem Ausgangspunkt ergeben.

Dieses Verfahren wurde von einigen Teilnehmern als „Hegelianisierung" und Vernachlässigung des Spezifikums materialistischer Dialektik zunehmend in Frage gestellt und daraufhin schließlich abgebrochen. Bis dahin war jeweils nur ein, allerdings wechselnder Teil der Gruppe mit den einzelnen Arbeitsschritten ganz oder ohne Vorbehalte einverstanden gewesen; nun wurde dies Problem selbst zum Thema der Arbeit. Spätestens jetzt wurde allen deutlich, daß auch schon die Rezeption der nicht in Frage stehenden Grundlagen materialistischer Dialektik bei Marx von den verschiedenen nach-marxschen Dialektik-Modellen bestimmt ist, deren Vertreter sich, wie nun eindeutig

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auszumachen war, auch in der Dialektik-Arbeitsgemeinschaft fanden. Als Diskussionsergebnis wurde für die Weiterarbeit ein Konzept aufgegriffen, das in der Explikation der Positionen materialistischer Dialektik bestand, die die aktuelle Auseinandersetzung bestimmen.

Der Umstand, daß auf diesem Wege das Einbringen aller vertretenen Positionen in die Debatte gewährleistet war, auf der einen Seite und die Aussicht auf Verminderung der inzwischen in der Diskussion deutlich gewordenen Defizite bei jedem der Teilnehmer auf der anderen Seite, führte zusammen mit der Einschätzung, daß auf diese Weise eine solidere Grundlage für die kritische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Positionen geschaffen würde, zu einer breiteren Zustimmung zur Arbeitsweise der Gruppe - und schließlich zu den in diesem Buch vereinigten „Modellen materialistischer Dialektik."

Der offensichtliche Preis dafür war der vorläufige Verzicht auf die Klärung der Frage, was die materialistische Dialektik, wie sie von Marx begründet und seitdem weiterentwickelt worden ist, eigentlich ausmache.

Nachdem so Einigkeit über das weitere Vorgehen hergestellt war, wurde mit der „Produktion" der einzelnen Beiträge begonnen. Es war ohne weiteres möglich, für jede relevante Dialektikkonzeption Bearbeiter zu finden, die dann überwiegend, jedoch nicht in allen Fällen den Standpunkt des zu bearbeitenden Autoren teilten. Bereits die Erarbeitung der „Modelle" erfolgte zusammen mit Studenten in Seminaren und Tutorien zu den verschiedenen Dialektik-Positionen. Die auf dieser Grundlage erstellten ersten Fassungen wurden dann in weiteren Veranstaltungen erneut zur Diskussion gestellt. Wichtige Problemstellungen, Präzisierungen und Akzentuierungen verdanken die „Modelle" diesen Diskussionen. Die Ergebnisse der verschiedenen Diskussionsgänge aufzunehmen oder beiseite zu lassen, blieb jedoch der Entscheidung der Verfasser überlassen, so daß diese für den Inhalt ihres Beitrages jeweils allein verantwortlich sind: in den Kapiteln dieses Buches wird also keine Gruppenmeinung wiedergegeben.

Auf diesem Hintergrund sind die vorliegenden „Modelle materialistischer Dialektik" zu sehen. Den Verfassern ist darüber hinaus der Hinweis wichtig, daß ihre Beiträge in mehrerer Hinsicht offen sind: Sie stellen zunächst nur einen - allerdings notwendigen - ersten Schritt dar, den der Aneignung der jeweiligen Position. Aussteht als zweiter notwendiger Schritt der einer expliziten kritischen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Modellen. Weiterhin werden einige Modelle hier überhaupt zum ersten Mal zu explizieren versucht. In den anderen Fällen werden den in der Sekundärliteratur bereits herausgearbeiteten Dialektikkonzeptionen grundsätzliche Alternativen gegenübergestellt bzw. neue Aspekte und Akzentuierungen hinzugefügt. Das bedeutet Offenheit auch auf der Ebene der Aneignung: Überall da, wo die Diskussion erst beginnt, ob insgesamt oder im einzelnen, ist Unabgeschlossenheit wohl unumgänglich.

Darüber hinaus bleibt die Offenheit insofern bestehen, als die Verfasser erwarten, daß bei der Überprüfung sich manches als korrekturbedürftig oder fehlend erweisen wird. Die weitere Diskussion wird dies zeigen.

Abschließend noch einige Bemerkungen zur Form und zur Benutzung des Buches. Da es um keine „Geschichte der materialistischen Dialektik seit Marx" ging, also keine lückenlose Vollständigkeit oder Kontinuität angestrebt war, sondern eine Auswahl der in der jetzigen Dialektik-Debatte relevanten Positionen, ist keine chronologische Anordnung gewählt worden. Stattdessen wurden die für die Gesamtdiskussion grundlegenden Konzeptionen von Marx, Engels, Lenin und Mao Tsetung an den Anfang gestellt. Ihnen folgen die in einem relativ engen inhaltlichen (wenn auch nicht immer zeitlich engen) Diskussionszusammenhang stehenden Positionen von Lukasc, Korsch, Bloch, Adorno und Marcuse. Schließlich wird diese Auswahl ergänzt durch vier weitere Konzeptionen, die eine besondere Rolle spielen sowohl in dem jeweiligen nationalen Zusammenhang, aus dem sie stammen, als auch durch ihre weitgehende Unabhängigkeit von dem Diskussionszusammenhang der zweiten Gruppe: Gramsci, Kosik, UdSSR/DDR und Althusser. Allen Modellen vorangestellt wird ein Beitrag, der versucht, ihre Voraussetzungen zu klären.

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Die einzelnen Positionen hängen - in allerdings unterschiedlichem Maße - voneinander ab; insofern ist es empfehlenswert (zumindest für „Anfänger") zunächst die ersten vier bzw. fünf Kapitel zu lesen, da in ihnen die Grundlagen für die weitere, sich verzweigende Entwicklung zu finden sind. Danach ist eine beliebige Fortführung der Lektüre möglich, da alle Kapitel prinzipiell in sich abgeschlossen sind.

In allen Kapiteln ist zu .finden:

• der Versuch der Darstellung einer spezifischen Dialektikposition mit dem daraus resultierenden Modell materialistischer Dialektik. (Dabei sind abhängig vom behandelten Autoren, der Sekundärliteratur und den Ergebnissen der Bochumer Diskussion unterschiedliche Schwerpunkte und entsprechende Formen der Darstellung gewählt worden.)

• die Quellenliteratur, auf die sich die Darstellung stützt und an der sich der Leser weiter - auch für die Überprüfung des hier Dargestellten - orientieren kann.

• eine Einbeziehung der Sekundärliteratur. Es werden in der Regel die für die Rezeption wesentlichen Autoren und Titel angegeben. Darüber hinaus wird versucht, den Tenor in knappster Form darzustellen.

Die Anmerkungen befinden sich hinter jedem Beitrag. Alle Literatur -Quellen- wie Sekundärliteratur -, die in den Texten zitiert wird, ist am Ende des Bandes in einer ausführlichen, alphabetisch nach Verfassern geordneten Gesamtbibliographie zusammengefaßt.

Über die Informationsmöglichkeiten über einzelne Modelle materialistischer Dialektik hinaus bietet der Band so insgesamt einen Überblick über das Spektrum der in der Diskussion befindlichen Positionen. Dieser Überblick wird ergänzt durch die umfangreiche Bibliographie am Ende des Bandes, die zwar als Auswahlbibliographie Akzente setzt, aber trotzdem bereits über eine erste Orientierung über die Literatur zum Komplex materialistischer Dialektik hinausgeht.

Das erste Kapitel leitet in die Modelle ein, indem die systematischen und methodologischen, insbesondere aber die historischen Voraussetzungen materialistischer Dialektik aufgezeigt werden, auf die die hier behandelten Autoren immer wieder rekurrieren. Es versucht von daher einen Rahmen für die folgenden „Modelle materialistischer Dialektik" abzustecken.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das Vorwort des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 3 - 6

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MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIKBEITRÄGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von HEINZ KIMMERLE

12/06

trendonlinezeitung

Karl MarxGerd Reichenberg, Dieter Schweizer Zur Kapitelübersicht

A. INTENTION DES KAPITELS: GRUNDLEGENDE ASPEKTE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIK IN IHRER METHODOLOGISCHEN BEDEUTUNG

Das von Karl Marx entwickelte Modell der Dialektik kann innerhalb dieses Beitrags nur in Form einer ersten Einführung vorgestellt werden. Es sollen nur die grundlegenden Aspekte materialistischer Dialektik bei Marx aufgegriffen werden. Von Kontroversen in der Diskussion um marxistische Theorie muß ganz abgesehen werden. Durch die z. T. stark verkürzte Darstellung komplexer Zusammenhänge materialistischer Dialektik soll erreicht werden, die zentralen Ansatzpunkte und Problemstellungen deutlich zu machen.

Die am Ende des Buches aufgeführte Sekundärliteratur, die wir unseren Erörterungen zugrunde gelegt haben, bietet verschiedene Wege des Zugangs zur materialistischen Dialektik. Am Leitfaden der Biographie suchen Rosental und vor allem Fleischer eine möglichst vollständige, durch alle Entwicklungsphasen verfolgte Rekonstruktion der Marxschen Theorie zu geben, während alle anderen Autoren von verschiedenen Positionen her problembezogene Einzeluntersuchungen zur methodischen Seite dialektischer Theorie bei Marx vorgenommen haben. Unter ihnen geht es Lefebvre und Rosdolsky mehr um die Genese der Dialektik, während die Studien zur Methode des „Kapital" (Zeleny, Bischoff, Bubner, Reichelt u.a.) die Theorie in ihrer entwickelten Gestallt betrachten.

Unser Beitrag richtet sich auf die methodische Seite der Dialektik. Ausgehend von einer frühen Phase, in der jedoch Elemente von Dialektik bereits vorhanden sind, bis zur entwickelten Methodologie, wie sie im „Kapital" vorliegt und am ersten Kapitel exemplarisch untersucht wird, soll die Genese der Dialektik, ohne einen kontinuierlichen Entwicklungszusammenhang unterstellen zu wollen, im Rekurs auf folgende wichtigen Frühschriften nachgezeichnet werden, durch die Dialektik schwerpunktmäßig als ideologiekritisches Verfahren gekennzeichnet ist: Die Auseinandersetzung mit der Philosophie in der „Kritik des Hegelschcn Staatsrechts" (1843), in den sogenannten Pariser Manuskripten (1844) und in „Das Elend der Philosophie" (i846/ 47), wo zunächst die eigene Position in einer Kritik der idealistischen Form der Dialektik gesucht wird. Die beiden letzten Schriften verweisen gleichzeitig auf den Inhalt materialistischer Theorie, die Ökonomie als zentralen Ausgangs- und Bezugspunkt einer umfassenden Darstellung der gesellschaftlichen Praxis. Bleibt hier die Kritik der bürgerlichen Ökonomie noch auf eine Kritik einzelner Theoreme beschränkt, so dokumentiert sich mit der Überwindung des Materialismus Feuerbachs in der „Deutschen Ideologie" (1845/46), in der der historische Materialismus als eine Theorie der Geschichte erstmals zusammenhängend dargestellt wird, die Vollendung des kritischen Verfahrens, die Standortbestimmung der eigenen Theorie.

Marx' Projekt, „in zwei oder drei Druckbogen das Rationelle an der Methode, die Hegel entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat, dem gemeinen Menschenverstand zugänglich zu machen,"()1 liegt in der Richtung unseres Versuchs, die methodologische Seite seiner dialektischen Theorie der Gesellschaft herauszuarbeiten. Zwar hat Marx sein Projekt einer Methodenkritik der Hegelschen Dialektik in komprimierter Fassung aus Zeitgründen nicht umsetzen können, doch liegt uns mit dem "Kapital" das Modell einer am konkreten Gegenstand praktizierten dialektischen Methode vor. Unserer Untersuchung des „Warenkapitels" schicken wir als Hilfe für die methodologische Aufschlüsselung eine Darstellung von Marx' eigenen Methodenbemerkungen zur „Kritik der politischen

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Ökonomie" (1857/58) voraus.

B. DIE ERSTE ERSCHEINUNGSFORM DER DIALEKTIK ALS IDEOLOG1EKRITI K (1843-1846/47)

1. Die Hegelkritik des jungen Marx

Der Gegenstand des Hegelschen Staatsrecht ist der Staat in seiner konkreten Existenz als ein Allgemeines gegenüber den besonderen Bereichen von Familie und bürgerlicher Gesellschaft. (Wir fassen unsere Erörterung vom Standpunkt der Kritik Marxens am „inneren Staatsrecht"(2) aus, das Marx herausgreift und besonders ausführlich behandelt).

Näher bestimmt Hegel dieses Verhältnis so, daß der SiaaLals „unendlicher für sich seiender Geist" die Sphären von Familie und bürgerlicher Gesellschaft in sich begreift und als allgemeiner Endzweck ihrer Partikularinteressen auftritt. Damit soll angezeigt sein, daß außerhalb des Staates keine besondere Existenz familiärer und gesellschaftlicher Verhältnisse möglich ist; diese sollten vielmehr in der Staats/c/w aufgehoben sein. So scheidet sich die wirkliche Idee des Staates „in die zwei ideellen Sphären seines Begriffs, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, als in seine Endlichkeit .... um aus ihrer Idealität für sich unendlicher, wirklicher Geist zu sein.,"(3) Die Staatsidee wird zum Subjekt einer Entwicklung, aus der das wirkliche Verhältnis des Staates zu Gesellschaft und Familie als eine Vermittlung der Idee mit sich hervorgeht.

Marx greift in seiner Kritik den Gedanken der Selbstbezüglichkeit der Idee auf: die Überführung der empirischen Geschichte in einen Prozeß der Vermittlung logisch-begrifflicher Konstruktionen.

Es wird zunächst nur der Sprachgebrauch moniert.(4) Die der „Wissenschaft der Logik" entlehnte Begrifflichkeit durchdringt die Darstellung konkreter, realer Sachverhalte und führt schließlich zu einem Zerrbild der konkreten, geschichtlichen Verhältnisse. Die StaatsiWee ist Ausgangs- und Endpunkt der gedanklichen Bewegung, durch die bürgerliche Gesellschaft und Familie sich zum Staatsganzen vermitteln. In ihr ist die Dialektik von Besonderen und Allgemeinem nicht als reales Widerspruchsverhältnis ausgedrückt, sondern als Beziehung von Akzidentien (besondere Interessen) auf eine zugrundeliegende Substanz (der Staat als „allgemeiner Endzweck") bestimmt. Der Aufweis, daß sich hinter dem „mystischen" Sprachgebrauch Hegels die alte Substanzmetaphysik verbirgt, ist mehr als formale und stilistische Kritik an philosophischer Abstraktion. Marx weist nach, daß die stets wiederkehrenden Kategorien der „Logik des Begriffs," durch die Hegel geschichtliche Verhältnisse abbilden will,5 in mehrfacher Hinsicht zu einer Verkehrung dieser Verhältnisse selbst führen. Das Verfahren, das Marx dabei anwendet, folgt einer immanenten Kritik, die Widersprüche als Scheinwidersprüche des Denkens oder als Tautologien aufdeckt. Die wichtigsten Gesichtspunkte sind zusammengefaßt folgende:

Hegel beweist nicht die Existenz von Familie und bürgerlicher Gesellschaft im Staat. Vielmehr entpuppt sich der Fortgang zur Staatsidee als innere, auf sich bezogene Bewegung des logischen Begriffs: vom Allgemeinen über das Besondere zur Einheit beider im Einzelnen. Die "Logik des Begriffs" bildet in dem Sinne ein unangemessenes Gerüst für die Erfassung des Staates in seiner konkreten Existenz, als der wahre Inhalt selbst nur stets die „Logik" ist, die Bewegung des Gedankens, während die wirkliche Bewegung, der geschichtliche Inhalt, unerklärt bleibt.(6)

"Die Hegelsche Dialektik erweckt bloß den Schein von Wirklichkeitsbezogenheit. Der konstruierte Parallelismus von „Logik" und „Rechtsphilosophie" (hier in den Teilbereichen von „Begriffslogik" und „innerem Staatsrecht") führt vielmehr zu einer Vertauschung von Subjekt und Objekt auf den verschiedenen Ebenen der Wirklichkeitserfassung, eine Vertauschung, durch die die empirischen Widersprüche getilgt sind. So kritisiert Marx, es sei bei Hegel „alles getan von der wirklichen Idee; es ist nicht ihr (gemeint sind Familie und bürgerliche Gesellschaft) eigener Lebenslauf, der sie zum Staat vereint, sondern es ist der Lebenslauf der Idee, der sie von sich diszerniert hat,"(7) während für Marx in der

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Wirklichkeit Familie und bürgerliche Gesellschaft „sich selbst" zum Staat machen, das „Treibende," das wirkliche Subjekt der geschichtlichen Bewegung bis zur institutionellen Ausbildung des Staates sind.

Das abstrakte, nach dem Koordinatensystem der „Wissenschaft der Logik" eingerichtete Denken ist der Wirklichkeit insofern äußerlich, als es mit verschiedenen Inhalten gefüllt werden kann.8 Die Spezifität realer, historischer Verhältnisse, die nur durch den Ik/.ug zum wirklichen Gegenstand, zur Empirie, faßbar wird, findet in der Hegelschen Dialektik keinen adäquaten Ausdruck, da das abstrakte philosophische Denken gebunden bleibt an die Negativität der bestehenden Verhältnisse.

Der Widerspruch, das bewegende Prinzip der Hegelschen Dialektik erweist sich als Moment des Denkens. Indem Hegel die reale Widersprüchlichkeit im Denken aufhebt, identifiziert er die widersprüchliche Bewegung, die die „Wissenschaft der Logik" vollzieht, mit der Wirklichkeit selbst und macht die konkreten, realen Widersprüche zu bloßen Erscheinungen des in sich widersprüchlichen Denkens. Die im Denken erreichte Einheit des Widerspruchs bildet so die Voraussetzung für einen Kompromiß mit der widersprüchlichen Wirklichkeit. Die Konzeption des Staates als einer Einheit sich widersprechender Momente ist eine im Denken vollzogene Harmonisierung „empirischer Kollisionen", die nur die Brüchigkeit und „Entfremdung innerhalb der Einheit" hervorbringt. Die behauptete Einheit von Staatszweck und Gesellschaftsinteressen existiert ebensowenig wie die vermeintliche Identität von Rechten und Pflichten in der Wechselbeziehung von Staat und Gesellschaft.(9)

Die Idee des Staates beruht in letzter Instanz bei Hegel auf einer falschen Abstraktion vom wirklichen Gegenstand des Denkens: „Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung, erscheint als formell; die ganz abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt. Das Wesen der staatlichen Bestimmungen ist nicht, daß sie staatliche Bestimmungen, sondern daß sie in ihrer abstraktesten Gestalt als logisch-metaphysische Bestimmungen betrachtet werden können. Nicht die Rechtsphilosophie, sondern die Logik ist das wahre Interesse. Nicht, daß das Denken sich in politischen Bestimmungen verkörpert, sondern daß die vorhandenen politischen Bestimmungen in abstrakte Gedanken verflüchtigt werden, ist die philosophische Arbeit. Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment. Die Logik dient nicht zum Beweis des Staats, der Staat dient zum Beweis der Logik."(10)

In dieser zusammenfassenden Kritik wird deutlich, daß Marx mit dieser Konfrontation von „Logik" und „Rechtsphilosophie" nicht nur eine Kritik des Verhältnisses dieser beiden Systemteile zueinander geleistet hat, sondern die Konzeption des Hegelschen Systems der Philosophie insgesamt in Frage gestellt hat. Es gibt eine Logik der Sache, Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit, die durch das Denken rekonstruierbar und darstellbar sein müssen. Hegel geht den falschen Weg, wenn er Dialektik als einen Zusammenhang von Denkbestimmungen konzipiert, die bereits vor der Wirklichkeit bestehen und sich als solche in einer Logik erfassen lassen sollen. Dieser „mystischen" Seite der Hegelschen Dialektik widerspricht Marx und legt sie in der Konfrontation von abstraktem Gedankenkonstrukt und konkreter Realität frei. Eine positive Bestimmung materialistischer Dialektik leistet Marx noch nicht, aber er macht deutlich, daß Dialektik als Ideologiekritik falsche Ansprüche des Denkens gegenüber seinem wirklichen Gegenstand (in der Empirie) zurückweist. Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Hegelschen Form der Dialektik entstehen bestimmte Grundannahmen einer materialistischen Dialektik:

Materialistisches Denken hat einer Konfrontation mit der Wirklichkeit standzuhalten und muß seinen Wahrheitsgehalt jederzeit an der Empirie messen lassen.

Die Notwendigkeit, mit der sich Hegels dialektisches Denken, wenn es in die Realität tritt, in Widersprüche verwickelt, hat sachliche Voraussetzungen in Staat und Gesellschaft als der Basis des Denkens. Die „Logik der Sache" kann nicht als „Sache der Logik" nach einem „in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordnen Denken"(11) entwickelt werden; an diese Stelle muß ein der widersprüchlichen Wirklichkeit angemessenes Denken gesetzt werden, das die „Logik der Sache" erfaßt und sich in

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stetem Bezug zum wirklichen Gegenstand, zur Empirie begründet.

Die Kritik der Hegelschen Dialektik, die Marx in den „ökonomischphilosophischen Manuskripten von 1844" vornimmt, ist mit „Kritik der . Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt" von ihm bezeichnet worden. Im Unterschied zu der Auseinandersetzung mit Hegels Staatsrechtstheorie wird hier näher der Zusammenhang der einzelnen Teile zum Systemganzen thematisiert. Wir begnügen uns auch hier damit, das Ergebnis vorzuweisen, weil das Verfahren, das Marx anwendet, (abgesehen von der auch in methodischer Hinsicht nicht uninteressanten anthropologischen Neufassung des Arbeitsbegriffs in den drei vorangestellten Manuskripten über Ökonomie) nicht von der Staatsrechtskritik abweicht, sondern bereits erarbeitete Positionen (z.B. die Subjekt-Objekt-Vorkehrung durch die Hegelsche Philosophie) weiter expliziert werden.

Zentraler Bezugspunkt ist wiederum die „Logik," jetzt in ihrem Verhältnis zu mehreren realphilosophischen Bereichen wie Recht, Religion, Natur, Kunst betrachtet.(12) Marx gibt einen kurzen Überblick über das System, intern er die Hauptkategorien der einzelnen Bereiche aufführt, die Gegenstand des philosophischen Wissens sind, und unterzieht den Parallelismus der „Wissenschaft der Logik" mit den realphilosophischen Teilen des Systemganzen einer abschließenden Kritik. Man kann seine Kritik an der Naturphilosophie(13) in folgendem Zitat etwa zusammengefaßt finden: „Bei seiner Naturanschauung erfährt der abstrakte Denker, daß die Wesen, welche er in der göttlichen Dialektik als reine Produkte der in sich webenden und nirgend in die Wirklichkeit hinausschauenden Arbeit des Denkens aus dem Nichts, aus der puren Abstraktion zu scharten meinte, nichts anderes sind als Abstraktionen von Naturbestimmungen." Soweit das Denken Produkte hervorbringt, kann es unter einen materialistischen Begriff von Arbeit subsumiert werden. Der Akt des Hervorbringens geistiger Produkte ist damit nicht prinzipiell vom materiellen Lebensprozeß der gesellschaftlichen Praxis unterschieden, sondern steht in bestimmter Relation zu ihm. Diese Relation gilt es zu bezeichnen. Da die gegenständlichen Formen des Seins in der Realphilosophie zu „Abstraktionen von Naturbestimmungen" verflüchtigt werden, muß der Ort, wo die Hegelsche Philosophie kohärente Gegenstandserkenntnis produziert, woanders gesucht werden.

Marx findet bei Hegel einen Arbeitsbegriff, den dieser nur teilweise explizit entwickelt, der aber für die methodische Seite seiner Philosophie zentrale Bedeutung besitzt. Die „Anstrengung des Begriffs" in der „Wissenschaft der Logik" ist eine „Arbeit des Denkens." Sie vollzieht sich als reines Denken, abgelöst von aller äußeren Wirklichkeit. Aber sie ist zugleich konstitutiv für diese Wirklichkeit. Wie ist dieses Selbstverständnis der „Arbeit des Denkens" aufzufassen? Nach Marx sind die Abstraktionen der „Logik," die in der Naturphilosophie zur Anwendung kommen, aus der Wirklichkeit der Natur gewonnen und werden zu abstrakten logischen Bestimmungen verallgemeinert.

Im Blick auf die „Phänomenologie des Geistes" wird der Arbeitsbegriff als Interpretationsbegriff des Hegelschen Denkens noch weiter konkretisiert. Den „Selbsterzeugungsakt des Wissens" in der „Phänomenologie" faßt Marx auf der Grundlage des anthropologisch bestimmten Naturalismus, wie er ihn zu dieser Zeit vertritt, als „Selbsterzeugungsakt des Menschen." Wird dieser Prozeß als Arbeit begriffen, so kommt darin der „positive Sinn der auf sich selbst bezognen Negation" zum Ausdruck. Die Vergegenständlichung vollzieht sich nicht nur als Entäußerung, sondern auch als Aufhebung der Entäußerung, wobei für Hegel freilich die Gegenstände immer nur Gegenstände einer bestimmten Form des Wissens, also keine „wirklichen" Objekte sind.(14)

Von hier aus lassen sich für das Hegelsche System im Ganzen positive und negative Momente der Dialektik unterscheiden. Marxens anthropologisch-materialistische Konzeption der Arbeit führt ihn zu einer eigenständigen Dialektikposition gegenüber Hegels „abstrakter Form" der Dialektik, durch die das Subjekt des realen Prozesses zu einem passiven, entfremdeten Objekt des Denkens gemacht wird. Das Subjekt der idealistischen Dialektik ist das „sich als Selbstbewußtsein wissende Subjekt, ... der absolute Geist, die sich wissende und bestätigende Idee. Der wirkliche Mensch und die wirkliche Natur werden bloß zu Prädikaten, zu Symbolen dieses verborgnen, unwirklichen Menschen und dieser unwirklichen Natur. Subjekt und Prädikat haben daher das

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Verhältnis einer absoluten Verkehrung zueinander, mystisches Subjekt-Objekt als ein Prozeß, als ein sich entäußerndes und aus der Entäußerung in sich zurückkehrendes, aber sie zugleich in sich zurücknehmendes Subjekt, und das Subjekt als dieser Prozeß; das reine, rastlose Kreisen in sich."(15)

Die Bestimmung des positiven Gehalts der idealistischen Dialektik geschieht explizit vor dem Hintergrund der materialistischen Geschichtspe-spektive, die in den vorangegangenen Manuskripten entstanden ist durch Reflexion auf den Bildungspozeß von Produkten der menschlichen Arbeit. Die Arbeit wird gefaßt als konstante, allen historischen Epochen gemeinsame menschliche Wesenstätigkeit, durch die das historische Subjekt, der konkrete, sinnliche Mensch sich im Produkt seiner Arbeit vergegenständlicht. Unter den historischen Bedingungen des Kapitalismus hat sich die Arbeit nicht einfach von ihren Gegenständen entfremdet; „in der Tätigkeit der Arbeit selbst,"(16) im Arbeitsprozeß, werden Entäußerung und Entfremdung stets neu hervorgebracht. In ideeller Form faßt die Hegelsche Dialektik diesen widersprüchlichen Prozeß mit der Kategorie der Negation auf, als „Aufheben" der Entäußerung im Denken. Diese „entfremdete Einsicht in die wirkliche Vergegenständlichung des Menschen" ist der theoretische Ausdruck der „wirkliche(n) Aneignung seines gegenständlichen Wesens durch die Vernichtung der entfremdeten Bestimmungen der gegenständlichen Welt, durch ihre Aufhebung, in ihrem entfremdeten Dasein."(17)

Geschieht diese Aufhebung der Entfremdung letztlich in der Hegelschen Dialektik in der „entfremdeten Weise" des auf Abstraktionen beruhenden, mystifizierten Denkens, so ist doch positiv der „spekulative Ausdruck" für die Auffassung der Wirklichkeit als einer widersprüchlichen Bewegung (die historisch der Gegensatz von Kapital und Arbeit(18) in der industriellen Produktionsweise ist) gefunden. Bleibt der Inhalt der idealistischen Dialektik "formell" so ist die Negation der Negation als das Formprinzip des Hegelschen Denkens verwertbar für die Erfassung der historischen Realität, soweit das Konkrete, der .wahre Inhalt materialistischen Denkens, zum Ausgangsund Bezugspunkt gemacht wird.

2. Ansätze einer Kritik ökonomischer Theorie

In den Manuskripten über Ökonomie werden mit dem Entwurf einer materialistischen Theorie der Arbeit und der Geschichte gleichzeitig die anthropologischen Voraussetzungen der bürgerlichen Ökonomie kritisiert. Da diese von einer fertigen, „abstrakten" Bestimmung des menschlichen Wesen ausgeht, kennt sie weder Geschichte noch die konstitutive Rolle der Arbeit im Geschichtsprozeß, durch die der Mensch sich und seine Produkte erzeugt. Aus dem Prozeß der entäußerten Arbeit resultiert das Privateigentum. Die Nationalökonomie, indem sie die Objektform der Produkte betrachtet, nimmt das Faktum des Privateigentums als gegeben hin und spricht alle Mechanismen des ökonomischen Prozesses als „Gesetze der entfremdeten Arbeit"19 aus. Die Untersuchung bloßer Objektbeziehungen (denn in die Gewinnkalkulation des Unternehmers geht die Arbeit nur als fixe Größe ein) negiert den Widerspruch der Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen, daß Subjekt und Objekt in einem Prozeß erzeugt werden. Indem die Nationalökonomie „nicht das unmittelbare Verhältnis zwischen dem Arbeiter (der Arbeit) und der Produktion betrachtet," kann sie die „Entfremdung in dem Wesen der Arbeit"(20) verbergen. In dieser Beziehung des Subjekts der Arbeit zum Prozeß der Produktion liegt der Schlüssel zum Verständnis konkreter Verhältnisse, deren Bedingungen die entfremdete Arbeit selbst produziert. Die Gesetzmäßigkeiten der Entfremdung sind die historisch bestimmte Gestalt, die die Arbeitsprodukte im „Selbsterzeugungsakt des Menschen" angenommen haben. Durch eine historische Anthropologie lassen sich die Objektivationen der Arbeit zurückführen auf das unmittelbare Verhalten der Subjekte zueinander. Auf diesem Wege wird die bürgerliche Ökonomie als eine Theorie kritisiert, die den Menschen überhaupt nicht ins Blickfeld bekommt.(21) Ihre abstrakte Bestimmung des Menschen(22) ist nicht bloß das Resultat einer ungeschichtlichen Betrachtungsweise; die Fixierung des Arbeitsprozesses auf das Individuum beseitigt die Geschichte, deren Produkte die Produkte des gesellschaftlichen Wesens sind, als das sich der „wirkliche," praktisch-tätige Mensch in der Gattung verwirklicht.

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3. Die Theorie der Geschichte

Die Auffassung des Menschen in seiner konkreten, materiellen Wirklichkeit wird weiterentwickelt in der Feuerbachkritik, die Marx in der "Deutschen Ideologie" leistet. In den „Thesen über Feuerbach" verbindet sich mit der Kritik, an Feuerbachs undialektischer Materialismuskonzeption das Postulat der Aufhebung der Philosophie(23) als ausschließlichem Instrument von Erkenntnis. Dem wird die Idee eines neuen Theorietyps zur Seite gestellt, der auf eine wirkliche Veränderung des gesellschaftlichen Lebens in ihren entfremdeten Bedingungen zielt. Philosophie in dieser Bedeutung soll zur praktischen Veränderung des Lebens beitragen, wenngleich Theorie allein eine solche Umwälzung nicht bewerkstelligen kann.

Die „Thesen über Feuerbach" kennzeichnen Marx' ambivalente Haltung zum deutschen Idealismus, bei dem die tätige Seite des Menschen zwar „abstrakt" vorhanden ist, der andererseits aber die Rolle der Sinnlichkeit, wie sie Feuerbachs anthropologischer Materialismus herausstellt, negiert. Marx kritisiert, daß Feuerbach die Sinnlichkeit passiv „unter der Form des Objekts" betrachtet,(24) die andere, wesentliche Seite, die der Tätigkeit des Subjekts, unterschlägt. Es fehlt die volle Entfaltung der Subjekt-Objekt-Beziehung, die für die „praktisch-kritische" Tätigkeit konstituierend ist.

Fcuerbachs Anliegen ist die Kritik der Religion. Die Kritik bleibt aber abstrakt, da das menschliche Individuum als ein Gattungswesen betrachtet wird, wogegen Marx die konkrete Polarität von Individuum und Gesellschaft akzentuiert und das Individuum als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse"(25) bestimmt. Wesentlich gegenüber Feuerbach und der gesamten traditionellen Philosophie ist die Feststellung, daß die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, nur im Begreifen der menschlichen Praxis (26) ihre Antwort findet.

Es wäre völlig verkehrt, aus dieser Feststellung eine Entwertung von Theorie ableiten zu wollen. Umgekehrt bekommt Theorie eine neue Funktion, indem sie als Moment der Praxis aufgefaßt wird. Aus dieser veränderten Bewertung von Theorie kommt Marx in der elften These zu dem Ergebnis, daß die Philosophen bisher „die Welt nur verschieden interpretiert" haben, die Aufgabe der Veränderung aber außerhalb ihrer Kompetenz bleiben mußte, weil gesellschaftliche Praxis kein Thema von Philosophie gewesen ist. Die dem Idealismus eigene Zurücknahme der Praxis in das subjektive Erkennen hat ihr Gegenstück im alten Materialismus, nur die Objektseite ohne die vermittelnde Tätigkeit des Subjekts anzuerkennen. Bleiben beide Denkrichtungen innerhalb des Bestehenden, der bürgerlichen Gesellschaft, so ist die Synthese der Standpunkt des neuen Materialismus, „die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit."(27) Die Gewinnung des Praxisstandpunkts ermöglicht die neue Sicht der Geschichte, wie sie in der „Deutschen Ideologie" im Anschluß an die Feuerbachthesen entwickelt wird.

Im Gegensatz zu den idealistischen Prämissen der Erklärung der Geschichte sind die Voraussetzungen, die Marx annimmt, keine „willkürlichen," sondern die Existenz der „wirklichen Individuen."(28) „Die Menschen haben Geschichte, weil sie ihr Leben produzieren müssen, und zwar müssen auf bestimmte Weise: dies ist durch ihre physische Organisation gegeben; ebenso wie ihr Bewußtsein."(29) Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, nicht warum die Menschen Geschichte, sondern wie sie Geschichte haben. Es soll die formale Grundstruktur angegeben werden:

a) Gegen das ideologische Modell der idealistischen Geschichtserklärung wird betont, daß die Geschichte sich nur vom materiellen Produktionszusammenhang, zu dem die einzelnen Generationen durch die Resultate der Arbeit verbunden sind, begreifen läßt. Geschichte ist demnach „nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von denen Jede die ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materiale, Kapitalien, Produktionskräfte exploitiert."(30)

b) Unter dem Aspekt einer möglichst umfassenden Darstellung geschichtlicher Verhältnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung bilden die verschiedenen Seiten des gesellschaftlichen Prozesses (Ökonomie, soziale Verhältnisse, Politik, Ideologie) ein Ganzes und werden als Unterschiede in einer Einheit, die durch den

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materiellen Produktionsprozeß gegeben ist, untersucht.

Wenn die Arbeit als konstituierende Bedingung von Geschichte angesehen wird, so ist die Entwicklung der materiellen Produktivkräfte der historische Fundamentalprozeß, durch den qualitative Veränderungen der historischen Gesellschaftsformationen Zustandekommen. Es wird hierbei von der Wechselbeziehung zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen ausgegangen. Hier nennt Marx diese noch „Verkehrsform." Der Motor, der geschichtlichen Entwicklung ist der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der Verkehrsform,(31) der historisch in verschiedenen Gestalten vorkommt: als Teilung der geistigen und der materiellen Arbeit, als Gegensatz von Stadt und Land, als Klassenantagonismus.(32)

Die verschiedenen Ebenen des Geschichtsprozesses, aus dessen widersprüchlicher Bewegung die Verselbständigung der Ideologie hervorgegangen ist, werden in der „Deutschen Ideologie" so reflektiert, daß einerseits die Genese des materiellen Prozesses faßbar wird. Andererseits werden die verschiedenen Ideologien als Erscheinungsformen kenntlich gemacht, die auf historisch bestimmte Basisbedingungen zurückweisen. Dadurch wird Ideologie zu einem wesentlichen Moment in der Praxis, Ideologiekritik zum zentralen Bezugspunkt einer materialistischen Theorie der Geschichte: Kommt den besonderen Ideologien die Funktion zu, die vom Klassenantagonismus bestimmten Verhältnisse in den Köpfen der Menschen zu befestigen, so macht Ideologiekritik durch den Rückbezug auf die Praxis, „die wirkliche Basis der Ideologie,"(33) deutlich, wie sich bestimmte, antagonistische Verhältnisse kritisieren und verändern lassen. Da sich die theoretische Erfassung der Praxis nur annähern, sie aber nicht ersetzen kann, können Veränderungen in der Praxis nur durch das geschichtliche Subjekt vollzogen werden, dem der historische Materialismus das theoretische Fundament dazu liefert.(34)

4. Die Kritik an Proudhons Methode der Ökonomie

Im „Elend der Philosophie," einer in weiten Teilen polemischen Schrift, nimmt Marx die theoretische Auseinandersetzung um ökonomisch-philosophische Grundfragen mit dem führenden Theoretiker der französischen Arbeiterbewegung auf und untersucht dessen „philosophie de la misere" hinsichtlich praktischer und methodischer Voraussetzungen. Proudhons Anspruch, als systematischer Theoretiker das methodische Gerüst der Hegelschen Dialektik in den Bereich der Ökonomie zu überführen, kritisiert Marx durch eine differenzierte Einschätzung der idealistischen Dialektik und zeigt, daß der ökonomische Gegenstand nicht nach einer vorgefertigten Methode untersucht werden kann, sondern daß die dialektische Methode aus_der Analyse des konkreten Gegenstands zuentwickeln ist.

Gegenüber den einzelnen ökonomischen Kategorien Proudhons (Gebrauchswert, Tauschwert, Preis, Geld usw.), die Marx im ersten Kapitel aufgreift(35) und für die gezeigt wird, daß sie nicht „wirkliche" Vorgänge in der Gesellschaft bezeichnen, wird im zweiten Kapitel an konkreten, ökonomischen Bestimmungen dialektische Verfahrensweise expliziert. So ist die realgeschichtliche Bewegung vom Monopol zur Konkurrenz in dialektischen Kategorien des Gegensatzes, des Widerspruchs, der Negation der Negation und der Einheit von Gegensätzen ausgedrückt.(36) Die partikulare Anwendung logisch-dialektischer Kategorien dient hier zwar nur der Vermittlung des historischen Materialismus, doch zeigt sich, daß die theoretische Aneignung ökonomischer Prozesse der Entwicklung spezifischer Kategorien bedarf.

Proudhon geht einen anderen Weg. Er will aus der Genese des Privateigentums die kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse herleiten und verändern. Als Modell für die Darstellung dieses geschichtlichen Prozesses benutzt er die spekulative Dialektik Hegels. Marx' Kritik an Proudhon setzt daher bei Hegel an, über dessen „absolute Methode" Marx bemerkt, daß sie keine hinreichende Grundlage zur Erfassung der wirklichen Bewegung der Geschichte bildet. Abgesehen davon, daß Proudhon zu keiner echten Adaption Hegelscher Methode gelangt,(37) besteht der Hauptmangel in Proudhons Absicht, die idealistische Form der Dialektik ungeprüft zu übernehmen. Da die idealistische Dialektik den Gegenstand vollständig aus dem Denken, aus der „reinen Vernunft," erzeugt, weil ausschließlich vom Denken ausgegangen wird, bleibt das Erkenntnispotential „auf die

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Methode reduziert": „Was ist somit die absolute Methode? Die Abstraktion der Bewegung. Was ist die Abstraktion der Bewegung? Die Bewegung im abstrakten Zustande. Was ist die Bewegung im abstrakten Zustande? Die rein logische Formel der Bewegung oder die Bewegung der reinen Vernunft."(38)

Der Prozeß der Abstraktion, durch den bestimmte Qualitäten in immer dünnere abstrakte Bestimmungen der Quantität aufgelöst werden, hat nichts mit der Analyse konkreter Dinge zu tun. Es ist eine Illusion, die konkreten Dinge theoretisch richtig zu erfassen, indem man von ihren verschiedenen Bewegungsformen abstrahiert, um die so übriggebliebene allgemeine abstrakte Form, die „jede unterschiedene Eigenschaft der Bewegung" eliminiert hat, als Grund für die Existenz aller Dinge und ihrer Bewegung zu setzen. Die „absolute Methode" ist bloß das Verfahren der Reduktion konkreter Erscheinungen auf abstrakte Formen, deren Zusammenhang als das logische Abbild der wirklichen, konkreten Verhältnisse interpretiert wird. Diese Methode, in der „jedes Ding» sich als logische Kategorie darstellt,"(39) ist den wirklichen Dingen nicht angemessen.

In weiteren Fortgang führt Marx aus, warum die absolute Methode Proudhons den ökonomischen Kategorien äußerlich bleibt. Diese sind nichts als die "Abstraktionen der gesellschaftlichen Verhältnisse." Proudhons Idealismus besteht in der Annahme, die Kategorien in ihrem Zusammenhang seien die wirkliche Bewegung selbst. Wie kommt es zu dieser Überschätzung des Denkens? Die wirklichen Produkte der menschlichen Arbeit bestehen außerhalb des Denkens, d.h. der theoretischen Erfassung. Das Denken geht sogar erst aus diesem Prozeß der Arbeit hervor. Indem Proudhon das Denken als das Primäre nimmt, verwandelt er die wirklichen, außerhalb des Bewußtseins bestellenden Arbeitsprodukte (Waren und die Verhältnisse, innerhalb derer sie produziert werden), in logische Bestimmungen des Denkens, die von den konkreten Bedingungen, den Produktionsverhältnissen, abgelöst sind.

Die Produktionsverhältnisse sind die materiellen Bedingungen, unter denen die Menschen (nach historisch jeweils verschiedenen Umständen) in ein System der Produktion treten. Proudhon will dieses System, „in dem alle Beziehungen gleichzeitig existieren," allein durch seine Genese erklären. Nach diesem Model! wird Geschichte zu einer einfachen Sukzession von Ideen in der Zeit, in der jede Periode die spätere vollständig aus sich erzeugt. Marx stelzt diesem Historismus entgegen, daß die Produktionsverhältnisse jeder historischen Gesellschaftsformation ein Ganzes bilden, deren Teile nicht durch ihre Genese, sondern vorwiegend durch ihren logisch-systematischen Zusammenhang zum Ganzen erklärt werden müssen.(40)

Proudhon kennt als Moralist nur den Gegensatz zwischen der schlechten Praxis und der guten Theorie, die eine gesellschaftliche Veränderung befördern soll.(41) Sein Denken verordnet (42) Widersprüche, um sie dann auf dem gleichen Wege praktisch zu lösen. Diese Widcrsprüche haben nichts mit Dialektik zu tun. Die Bildung von Widersprüchen in der Praxis ist ein von ihrer theoretischen Reflexion unterschiedener Prozeß. Daher muß die Qualität des Denkens, verschiedene Formen des Widerspruchs zu bilden, hinsichtlich der Praxis transparent gemacht werden.

Es gibt in der „wirklichen" Geschichte Widersprüche, die sich in der Theorie als logische darstellen lassen. Die Widersprüche in der Geschichte sind immer konkret, ihre theoretische Erfassung im Denken dagegen bleibt insofern abstrakt, als konkrete Formen in allgemeinere abstrakte Bestimmungen aufgelöst werden müssen. So tritt der logische Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften immer innerhalb bestimmter, historisch vorherrschender gesellschaftlicher Gegensätze und Widersprüche auf. Erst die Analyse der Verhältnisse, unter denen sich diese Gegensätze und Widersprüche zu Widersprüchen in konkreter Gestalt entwickeln, erfaßt die wirkliche Bewegung und zeigt, daß konkrete Widersprüche nicht in der Theorie, sondern auf praktischem Wege zu lösen sind.(43)

Aufgrund der Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Praxis bilden sich verschiedene ökonomische Schulen, die dem veränderten Charakter der gesellschaftlichen Organisation (im historischen Prozeß) Rechnung tragen. In den „Pariser Manuskripten" wird das Faktum der Vielheit, sich in ihren moralisch-praktischen Schlußfolgerungen(44) widersprechender

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Theorien auf die Fixierung am Privateigentum zurückgeführt, während Marx in der Proudhonschrift eine Zuordnung dieser Theorien zum praktischen Prozeß der Produktion vornimmt.(45) Die Grundlage hierzu ist bereits in den Manuskripten gelegt, wo Ökonomie in ihrer Bedeutung folgendermaßen bestimmt wird: nicht als Wissenschaft von der Produktion von Dingen, sondern als Wissenschaft von der Produktion der Verhältnisse selbst, innerhalb derer diese Dinge entstehen. Ökonomie wird so zur Wissenschaft vom Menschen und den Bedingungen, unter denen er sich und seine eigenen Verhältnisse (re-)produziert.

C. DIE AUSBILDUNG DER DIALEKTIK ALS METHODE SYSTEMATISCHER KRITIK (1857/58)

Während Marx in den frühen Jahren seine Dialektikkonzeption primär an ideologischen Phänomenen als Verfahren der Kritik erprobt, erfährt die Dialektik am polit-ökonomischen Gegenstand eine wesentliche Erweiterung. In die „Kritik der politischen Ökonomie" geht neben der Rezeption zeitgenössischer Ökonomie eine erneute, kritische Reflexion dialektischer Kategorien der Hegeischen „Logik" und die Problemstellung einer materialistischen „Umstülpung" ein. Da Marx eine systematische Methodologie materialistischer Dialektik nicht explizit entfaltete, ist zu überprüfen, welche Konzequenzen und welchen Stellenwert seine Bemerkungen zur Methode in der „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie" für die spätere „Anwendung" in der Argumentation des „Kapital" einnehmen.

1. Die Kategorie Totalität

Bei seinen Methodenüberlegungen kommt Marx schließlich zu dem Resultat: ,,Es scheint das Richtige zu sein, mit fern Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen."(46) Indes ist die „wirkliche Voraussetzung," das Konkrete, der wissenschaftlichen Anschauung nicht unmittelbar gegeben, sondern stellt sich immer als eine Komplexion von Beziehungen dar, deren richtige Erfassung im Denken von der Wahl des richtigen Ausgangspunkte abhängt. Wie ist dieser zu bestimmen?

„Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen, also Einheit des Mannigfaltigen" ist._Als eine solche Einheit mannigfaltiger Bestimmungen ist das Konkrete Totalität. Totalität bezeichnet nicht bloß eine Vielheit von Bestimmungen, die als Teile und Momente eines Ganzen auftreten, sondern ihren gesetzmäßigen Zusammenhang. Die Totalität als die Einheit gegensätzlicher und wechselseitig aufeinander bezogener Teile erscheint als zunächst unbegriffenes Ganzes in der Vorstellung.

Wissenschaftliches Denken, das Totalität erfassen will, muß daher vom Ganzen der Vorstellung ausgehen. Das Ganze ist Voraussetzung richtiger Erkenntnis, da in der Wirklichkeit die Momente nur innerhalb der Totalität sind, ihre qualitative Bestimmtheit und ihre gegenseitige Wechselbeziehung aber bedingt ist durch die allgemeinen und übergreifenden Gesetze der Totalität selbst.

Die Beziehungen der Momente einer Totalität bestimmt Marx ausdrücklich als gegensätzliche, als Verhältnisse einander widersprechender, sich gescheidenden Punkt des Argumentationsgangs von der dominierenden Stellung des Tauschwertes gegenüber dem Gebrauchswert bis zum Verhältnis des Werts näher zu beleuchten. Dabei zeigt sich: Der Gebrauchswert als der „stoffliche Inhalt des Reichtums" wird hervorgebracht durch konkrete Arbeit, der Tauschwert als die gesellschaftliche Form, die dieser Inhalt unter kapitalistischen Verhältnissen erhält, durch abstrakte Arbeit. Die Dominanz des Tauschwerts bzw. der Form über den Gebrauchswert, den spezifischen Inhalt des Reichtums beruht auf der Vorherrschaft der abstrakt-gleichen einfachen Arbeit über die konkrete Arbeit, die in der industriellen Produktionsweise entsteht. Die ausschließliche Relevanz des Tauschwertes im Tauschakt ist schließlich bedingt durch die Zurückführbarkeit jeder Arbeit auf die abstrakt-gleiche Durchschnittsarbeit, deren Maß allein das Quantum der aufgewendeten Arbeitszeit ist. Die Arbeit ist der Grund für den Gebrauchswert und den Tauschwert der Waren, sowie für die Zuordnung von

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Gebrauchswert und Tauschwert und für das Austauschverhältnis der Waren als ein Verhältnis des Werts. Somit ist sie der Grund einer gesamten Struktur im Sinne ihrer praktischen und theoretischen Konstitution.

Die Begründung der Warenstruktur führt so auf ein einfaches zugrundeliegendes Verhältnis, das Wertverhältnis, das rein abstrakt ist, weil es „kein Atom Naturstoff enthält," im Austauschverhältnis als seine „rein gesellschaftliche" Formbestimmung „versteckt" ist.54 Die Wertgleichheit zweier „sinnlich verschiedener Dinge" erweist sich als ihre „Wesensgleichheit"; sie konstituiert die Ebene des Wesens. Wird nun das „einfachste Wertverhältnis" einer Ware zu einer einzigen anderen thematisiert, so ist die einfachste abstrakte Bestimmung gewonnen, die das Ergebnis der dialektisch geleiteten Analyse bildet und zugleich den Ausgangspunkt für die daran anschließende dialektische Synthese abgibt, für den „Wiederaufstieg vom Abstrakten zum Konkreten" im Sinne eines geistigen Konkretums, das die vorgegebene Komplexität von Bestimmungen überführt und damit wissenschaftlich reproduziert. Von der Gleichheit einer Ware mit einer einzigen anderen in ihrem Wert führt der Wiederaufstieg zum Konkreten, zum Tauschwert oder dem Austauschverhältnis der Waren insgesamt als der „Erscheinungsform des Werts" zurück.

Als paradigmatisch im Sinne des Wiederaufstiegs vom Abstrakten zum Konkreten kann das im dritten Abschnitt behandelte gelten, der Wiederaufstieg im Wertverhältnis von seiner einfachen Form bis zur entwickelten allgemeinen Wertform. Einer Ware A, die in der relativen Wertform betrachtet wird, steht eine Ware B gegenüber, deren Form als Äquivalentform zu bestimmen ist. Auf der Seite der Ware A zeigt sich, daß die quantitativen Bestimmungen grundlegend sind. Von der einfachen Einheit der relativen Wertform wird über die Vielheit zur Allgemeinheit fortgeschritten. Eine, viele bzw. alle Waren bilden einen relativen Wert, der in anderen Waren ausgedrückt werden kann. Die Ware B, die als einzelne einer einfachen anderen als Äquivalent dient, wird zur besonderen Ware, die gegen viele andere getauscht werden kann: Ware B gegen Ware A oder gegen Ware C oder gegen Ware D usw. Schließlich zeigt sich, daß jede Ware die Qualität annehmen kann, für alle anderen als allgemeines Äquivalent zu dienen.

Welche Beschaffenheit liegt aber vor, wenn ein allgemeines Äquivalent für alle Waren gebildet wird. Der „qualitative Gehalt der relativen Wertform"(55) ist allein durch das darin steckende Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit, d.h. durch eine Quantität zu begründen. Die damit gegebene Qualitätslosigkeit der Ware A bewirkt auf der Seite der Äquivalentform, daß sich alle Qualitäten der Tauschobjekte in quantitative Verhältnisbestimmungen verkehren. So kann schließlich eine Allgemeinheit entstehen, die auf der universellen Teilbarkeit der Waren in einfache Quanta beruht. Der Übergang von der allgemeinen Wertform zur „Geldform" bringt dann logisch keinen Fortschritt mehr. Das Gold oder andere Edelmetalle sind lediglich deshalb besonders geeignet, die Rolle des allgemeinen Äquivalents zu übernehmen, weil sie durch ihre materielle Beschaffenheit dauerhaft in handliche größere oder kleinere Stücke geteilt werden können.

Das Entscheidende ist aber nun, wie auf jeder dieser Stufen das Verhältnis der Waren in der relativen Wertform zu den anderen Waren in der Äquivalentform bestimmt wird. Ware A und Ware B, damit sie gegeneinander getauscht werden können, müssen gleich und auch ungleich sein. Ihrer Identität im Wert steht ihre Nichtidentität in der Menge gegenüber: x Ware A = y Ware B. Sie sind, in der Formulierung von Marx, „sich wechselseitig bedingende unzertrennliche Momente, aber zugleich einander sich ausschließende oder entgegengesetzte Extreme ... desselben Wertausdrucks." Wenn viele Waren gegen besondere getauscht werden können, bringen sie das Verhältnis der Identität von Entgegengesetzten zur Entfaltung. In dieser Hinsicht bildet die entfaltete Wertform eine Negation der einfachen. Weil aber jede besondere Ware in der Äquivalentform gegen besondere andere getauscht werden kann, indem sie als eine der vielen Waren in relativer Wertform betrachtet wird, werden die qualitativen Unterschiede wieder gleichgültig. Die entfaltete Wertform hebt sich so in die höher entwickelte Form des Warentauschs auf. Die allgemeine Wertform, die alle besonderen Qualitäten in quantitativen Wertverhältnissen ausdrückt, läßt die Arbeitsprodukte erst als „bloße Gallerten unterschiedsloser menschlicher Arbeit"(56) erscheinen: alle Waren in der relativen Wertform setzen sich eine Ware gegenüber, die sie von sich ausschließen und als ihr allgemeines Äquivalent

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verselbständigen.

So besteht zwischen allen Waren und der einen von ihnen ausgeschlossenen das Verhältnis des Widerspruchs. Weil aber jede Ware die Funktion des allgemeinen Äquivalents übernehmen kann, enthält jede in sich den Widerspruch, von allen anderen als allgemeines Äquivalent ausgeschlossen zu sein.

Der Grundwiderspruch der gesellschaftlichen Verhältnisse einer warenproduzierenden Gesellschaft erweist sich so als der Widerspruch in den Waren, die als qualitativ besondere darauf reduziert werden, daß im quantitativen Verhältnis eine von allen ausgeschlossen und gegen alle tauschbar gemacht werden kann. Die Verkehrung, die dabei passiert, ist in logischer Hinsicht nicht als eine Verdinglichung menschlicher Verhältnisse, sondern als Entqualifizierung der Dinge selber zu bestimmen. Der „Fetischcharakter der Ware,"(57) der so entsteht, berührt darauf, daß die einzige Qualität der Ware im Tauschakt ihr quantitatives Verhältnis ist. Dies schließt eine Verkehrung der menschlichen Verhältnisse in Verhältnisse von Dingen zueinander ein, weil die konkret nützliche, auf die Produktion von qualitativ bestimmten Gebrauchsgütern gerichtete Arbeit keine gesellschaftlich relevante Rolle mehr spielt.

Mit der Erscheinung des „Fetischcharakters der Warenwelt" und seiner Aufdeckung schließt das erste Kapitel des „Kapital." Unsere Untersuchung des methodischen Gangs, in dem Marx über die Analyse zur theoretischen Reproduktion konkreter Verhältnisse gelangt, sollte einen ersten Einblick vermitteln, wie Marx logisch-dialektische Kategorien so einsetzt, daß ihr systematischer Zusammenhang vom Praxisprozeß selbst vorgegeben und bestimmt wird. Die wichtigsten Kategorien der dialektischen Untersuchung der Warenstruktur haben wir zur Veranschaulichung in einer Skizze zusammengefaßt. Auf der Grundlage dieses Schemas ist es auch möglich, sich die gesamte dialektische Struktur des „Kapital" anzueignen, wenn der innere Zusammenhang der einzelnen Kapitel des

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dreibändigen Werks analysiert wird.

ANMERKUNGEN

1) Marx, Briefe über das Kapital, S. 79.2 Hegel, Rechtsphilosophie (= Rph. § 261-271). Marx, „Hritik des Hegelschen Staatsrechts," MEW, vol. i, S. 203-217.3) Rph. § 262, zitiert nach Marx, „Kritik des Hegeischen Staatsrechts," S. 205.4) Marx, „Kritik des Hegelschen Staatsrechts," MEW, vol. l, S. 206.5) a.a.O., S. 211.6) a.a.O., S. 205-206.7) a.a.O., S. 207, Einfügung im Zitat von den Verfassern.8) a.a.O., S. 210, S. 212.9) a.a.O., S. 204-205.10) a.a.O., S. 216.11) a.a.O., S. 213.12) Marx, „ökonomisch-philosophische Manuskripte" (1844), MEW, Erg. Band I, 582 ff.13) a.a.O., S. 587.14) a.a.O., S. 582-584. 15) a.a.O., S. 584. 16) a.a.O., S. s 14. 17) a.a.O., S. 583. 18) a.a.O.,471 If. 19) a.a.O., S. 520. 20 a.a.O., S. 513.21) Marcuse, „Neue Quellen zur Grundlegung des historischen Materialismus," in: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, S. 10-13.22) Marx, „Manuskripte," S. 557.23) Marx, „Thesen über Feuerbach," MEW, vol. 3, S. 7 11.These).24) a.a.O.1.These, S.5.25) a.a.O., „6. These," S. 6.26) a.a.O., „8. These." S. 7.27) a.a.O., „10. These," S. 7-28) Marx/Engels, „Die deutsche Ideologie," MEW, vol. 3, S. 20.29) a.a.O.,S. 30(Fußnote).30) a.a.O., S. 4531) a.a.O., S. 7332) a.a.O., S. 74. S.5033) a.a.O., 50 ff34) a.a.O., S. 74-7735) Marx, „Das Elend der Philosophie," MEW, vol. 4.6? ff. 36) a.a.O., S. 163. 37) a.a.O., S. 129. 38) a.a.O., S. 128. 39) a.a.O., S. 127-128. 40) a.a.O., S. 130-13141) a.a.O.,S. 131-13342) a.a.O., S. 15943 a.a.O., S. 140-14144) Marx, „Manuskripte," 530 ff.45) Marx, „Das Eilend der Philosophie," 139 ff46 Ebenda47) Marx, „Einleitung in die Kritik der politischen Ökonomie," MEW, vol. 13, S. 631.48) a.a.O., S. 63249) Marx, „Nachwort zur zweiten Auflage des 'Kapital.'" MEW, vol. 23, S. 2750) Engels, „Karl Marx 'Zur Kritik der politischen Ökonomie.'" MEW, vol. 13, S. 469,47551) Marx, „Einleitung," S. 638.52) Engels, Karl Marx, „Zur Kritik .. .," MEW, vol. 23, S. 475.53) Marx, „Das Kapital," vol. i, MEW, vol. 23, S. 49-85- Die Ausführungen dieses Abschnitts stützen sich auf Kimmerle, Paradigma des Logik des revolutionären Denkens.54) a.a.O., S. 62. " a.a.O., S. 64. 54 a.a.O., S. 81. 57 a.a.O., S. 85-98-

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Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 2. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 33-54

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MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIKBEITRÄGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von HEINZ KIMMERLE

01/07

trendonlinezeitung

FRIEDRICH ENGELSLothar Kuhlmann Zur Kapitelübersicht

A. ZUM AKTUELLEN STAND DER DISKUSSION UM FRIEDRICH ENGELS:REKONSTRUKTION DER DIALEKTIK-KONZEPTION GEGENVORHERRSCHENDE KLISCHEEHAFTE AUFFASSUNGEN

In diesem Kapitel soll der Versuch gemacht werden, die Dialektik-Konzeption, die Engels in mehreren seiner Hauptschriften an zentraler Stelle entwickelt hat, in ihren Grundzügen zu rekonstruieren. Der Beschäftigung mit einer solchen nur rekonstruierenden Darstellung steht aber nun vor allem ein Hindernis im Wege: das in der Sekundärliteratur dominierende Urteil über diese Dialektikauffassung. Obwohl eine umfassende Arbeit zu Engels Dialektikkonzeption nach wie vor aussteht, gibt es z.B. in der westdeutschen Diskussion dennoch ein weitgehend festes Ergebnis und zwar eins, das von einer Auseinandersetzung mit dieser Position eher abschreckt.

Als Hauptbezugspunkte zur Stützung dieses Ergebnisses werden immer wieder genannt:Der Aufsatz „Was ist orthodoxer Marxismus?," den Georg Lukacs 1919 erstmals publizierte und den er dann in seine „Studien über marxistische Dialektik" aufnahm, die er 1923 unter dem Obertitel „Geschichte und Klassenbewußtsein" veröffentlichte.(1) Die in diesem Aufsatz an der Engelsschen Dialektik geübte Kritik hat bis heute Geltung für zahlreiche Engelskritiker. Lukacs selbst hat sie in dieser Form schon bald nicht mehr aufrechterhalten und der nur kurze Zeit spater verfaßte und noch in dieselbe Sammlung aufgenommene „Verdinglichungsaufsatz"(2) läßt ein solches Verständnis, wie es an „Was ist orthodoxer Marxismus?" bis heute festgemacht wird, nicht mehr zu. Alle späteren Äußerungen Lukacs' zum Thema Dialektik sind jedoch von der westdeutschen Engelskritik kaum noch beachtet worden.

In „Was ist orthodoxer Marxismus?" versucht Lukacs einen orthodoxen Marxismus herauszuarbeiten, dessen methodischen Kern seine damalige spezifische Dialektikvorstellung darstellt. Gegenüber Engels, der die Dialektik für die gesamte Wirklichkeit (Natur und Gesellschaft) als gültig zu erweisen sucht, stellt Lukacs fest, daß

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sie sich „auf die historisch-soziale Wirklichkeit," „die dialektische Beziehung des Subjekts und des Objekts im Geschichtsprozeß" mit der entscheidenden „Frage von Theorie und Praxis" beschränkt. Diese Bestimmungen, die „in der Naturerkenntnis nicht vorhanden sind," lassen auch die Ausdehnung der Dialektik auf diesen Bereich nicht zu. Nach Ansicht des Lukacs von 1919 hat Engels diesen Punkt „dem falschen Beispiel Hegels folgend," „übersehen" und dadurch „Mißverständnisse" und „viel Verworrenheit" in die Dialektikdiskussion gebracht.(3)

In ähnlicher Weise haben sich dann später Vertreter der Frankfurter Schule geäußert. 1933 stellt Max Horkheimer - noch als Akzentuierung -fest, daß die Theorie der Gesellschaft den Inhalt des heutigen Materialismus,(4) d.h. des Marxismus ausmache. Dieser Standpunkt wurde in der folgenden Entwicklung sogar noch mit weiteren Einschränkungstendenzen wie bei Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno verabsolutiert. Alfred Schmidt z. B. hat 1962 in seiner Arbeit „Der Begriff der Natur in der Lehre von Karl Marx"(5) herauszuarbeiten versucht, daß die Engelssche Matarialismusposition, und damit verbunden dessen Dialektikauffassung wesentlich von der Marxschen differiert. Engels fällt nach Schmidt in seiner Naturkonzeption, da wo er über Marx hinausgeht, teilweise in eine „dogmatische Metaphysik" bzw. in eine vormarxsche Ontologie zurück, indem er Marx' historisch-materialistische Konzeption um die Deutung einer „von aller menschlichen Praxis abgelösten Natur" und, damit verbunden, einer „rein objektiven Dialektik" zu ergänzen sucht. Bei Engels wird nach Schmidt die Dialektik zu dem, „was sie bei Marx am allerwenigsten ist": „Weltanschauung, positives Weltprinzip."(6)

Wenn man nun noch hinzunimmt, daß auch Philosophen der Praxisgruppe und auch Sartre wiederholt eine Dialektik der Natur - letzterer zumindest aktuell - abgelehnt haben, dann sind damit Positionen genannt, deren Gewicht für die Marxismusdiskussion nicht weiter hervorgehoben werden muß. Die in anderen Hinsichten ähnlich gewichtige Position der Sowjet-und DDR-Philosophie, der eine andere Einschätzung der Engelsschen Dialektik zugrundeliegt, hat das Fazit der Diskussion nicht merklich beeinflussen können.

Die Mehrzahl der neueren Stellungnahmen zur Engelsschen Dialektik, die in Westdeutschland erschienen sind, reproduziert - wenn auch mit Modifikationen im einzelnen - dies Fazit (Peter Dudek, 1976; Hartmut Mehringer, Gottfried Mergner, Rudi Netzsch, 1973; Jürgen Frese, 1972; Oskar Negt, 1969; u.a.),7 während nur ein kleiner Teil neben der bereits genannten Sowjet- und DDR-Philosophie zu (tendenziell) anderen Einschätzungen kommt.

Konfrontiert man das in der Kritik dominierende Bild der Engelsschen Dialektikposition mit den Quellen, so erweist es sich als Klischee, das dem dort tatsächlich Entwickelten nicht gerecht wird. Eine genauere Überprüfung macht in der Regel bald deutlich, daß die Kritiken in hohem Maße fragwürdig sind und zwar auf den verschiedensten Ebenen. Dieser Behauptung soll vorweg kurz nachgegangen werden. (Wo nötig, wird zur Illustration auf die für diese Richtung der Kritik maßgebliche und eben bereits ausführlicher zitierte Arbeit von Alfred Schmidt zurückgegriffen):

Wenn wir mit der Untersuchung des Standpunktes beginnen, so ist dieser in zahlreichen Fällen, in denen die Kritik an Engels von einer Marxschen Position aus versucht wird, in mehrfacher Hinsicht in Frage gestellt, zunächst dadurch, daß Marx mit Engels' Position vertraut war, bis dahin, daß sich selbst beim Marx des „Kapital" Äußerungen finden, die bei Engels als unmarxistisch kritisiert würden.(8)

Diese Fragwürdigkeit des Ausgangspunktes wird in der Regel durch ein zweifelhaftes methodisches Vorgehen ergänzt: Das beginnt schon auf der philologischen Ebene. Es ist z.B. immer wieder festzustellen, daß Vorarbeiten und Briefe von Engels ganz unangemessen bewertet und kritisiert werden, indem sie nämlich von Engels veröffentlichten Texten gleichgestellt werden. Ein schlagendes Beispiel solcher hermeneutischen Kunst gibt z.B. Alfred Schmidt an einer Stelle, wo er Engels der Unbekümmertheit gegenüber „idealistisch-spekulativen Voraussetzungen" Hegelscher Kategorien „besonders deutlich" überführen zu können glaubt.(9) Daß es sich dabei um eine Stelle in einem Brief von Engels an Marx handelt und daß Engels in diesem Fall

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vorausgesetzt haben könnte, daß Marx das Hegelzitat, das er, Engels hier zwar benutzt, aber nicht materialistisch wendet, auch ohne eine solche Hilfestellung richtig verstehen würde, das spielt in den Schmidtschen „Beweisgängen" keine Rolle!

Darüber hinaus wird die Engelssche Position in zentralen Fragen verkürzt oder sonstwie entstellt wiedergegeben: Entgegen z.B. der Schmidtschen Feststellung, daß alle Behauptungen „bezüglich der Natur ... isoliert von der lebendigen Praxis des Menschen"(10) in Engels' Altersphilosophie auftauchen, ist festzustellen, daß sich Engels durchgängig auf die naturwissenschaftliche Forschung und deren experimentelle Praxis stützt.(11) Darüber hinaus weist er wiederholt auf den Zusammenhang von Produktion und Naturforschung hin.(12) Weiter, so Schmidt, schwebt Engels die Dialektik in der Naturwissenschaft im Grunde nur als Instrument zur enzyklopädischen Verarbeitung des modernen naturwissenschaftlichen Materials vor,(13) eine Aussage, die die von Engels seit der Rezension herausgestellte Bedeutung der Dialektik auch als Forschungsmethode(14) faktisch ignoriert. Die Fragwürdigkeit der Kritik, die an einem so entstandenen Engelsbild ansetzt, liegt wohl auf der Hand. Durchweg aber wird Engels' Konzeption außerdem noch - und dies ist das Schwerwiegendste - an einem Dialektikbegriff gemessen, der nicht der seine ist.

Gehen wir schließlich über zu den Ergebnissen, die so gewonnen werden (wir greifen zurück auf das aus der Schmidtschen Schrift zu Beginn gezogene Resümee):

Der Behauptung, daß Engels mit seiner Naturkonzeption, da wo er über Marx hinausgeht, hinter ihn zurückfalle, ist zu entgegnen, daß Marx selbst dieser Ansicht nicht war. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Marx Engels' Dialektikkonzeption im wesentlichen noch zur Kenntnis nehmen konnte und billigte, ja von der Gültigkeit dialektischer Strukturen in der Natur selbst spricht. Der Dogmatismusvorwurf gegen Engels wird insbesondere nach Kenntnisnahme des Engelsschen Standpunktes zur Frage von absoluter und relativer Wahrheit und seines Wissenschaftskonzeptes von keinem Leser mehr ohne weiteres hingenommen werden können. Weiter ist es wohl als unbefriedigend zu bezeichnen, wenn statt die Aussagen zur Natur (und vor allem die Methode ihrer Gewinnung) auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen, sie schlicht mit den Etiketten „Metaphysik" und „Ontologie" versehen werden und Naturdialektik, so etikettiert, als indiskutabel abgetan wird. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Engelssche Theorie grundlegend von dem differiert, was traditionell als Metaphysik und Ontologie gilt; und es bleibt zu überprüfen, ob tatsächlich Abstinenz von Aussagen über Bereiche der Wirklichkeit in der Weise geübt werden kann, wie es diese Kritik suggeriert, oder ob so nicht umgekehrt in dogmatischer Weise ein unbequemer Bereich ausgeklammert wird - quasi als Umkehrung der von Zeit zu Zeit wiederkehrenden Infragestellung der Philosophie oder der Gesellschaftswissenschaften.

Gegenüber der Behauptung, daß Engels Marx' historisch-materialistische Konzeption um die Deutung einer „von aller menschlichen Praxis abgelösten Natur" und eine „rein objektive" Dialektik erweitert, ist festzustellen: Bei Engels gibt es weder das eine noch das andere; sondern: Aus den gesellschaftlichen Erfahrungen mit der Natur läßt sich kritisch extrapolieren, wie und nach welchen Gesetzmäßigkeiten sich die Natur entwickelt. Diese Kenntnisse sind die einzig möglichen, die wir über die Natur bekommen können. Sie sind notwendig z.B. auch für eine rationale Rekonstruktion der vormenschlichen Naturgeschichte, vor allem aber für den Kontakt der Gesellschaft mit der Natur, dessen wichtigste Form, der „Stoffwechsel" Mensch-Natur im Arbeitsprozeß nur durch sie vollzogen und optimiert werden kann. Die Extrapolationen müssen auf Erfahrungen beruhen, sie sind teilweise fehlerhaft und müssen deshalb insgesamt laufend überprüft und verändert werden. Das hat Engels nicht nur gewollt, sondern wie seine Wissenschaftskonzeption zeigen wird, deutlich festgelegt. Wenn sich somit Aussagen zur Natur wie zur Gesellschaft als notwendig erweisen, geht es um die gesamte Wirklichkeit oder „Welt" im Engelsschen Sinne, also um Weltanschauung. Diese Weltanschauung beinhaltet positive Prinzipien und muß sie beinhalten, will sie Anleitung zum Handeln sein. Daß und inwieweit „positiv" bei Engels nicht unveränderlich, abschlußhaft usw. heißt, wird im folgenden deutlich werden.

Wenn wir hier die Untersuchung der Stichhaltigkeit des gängigen Urteils über die Engelssche Dialektik abbrechen, dürfte aber wohl dennoch fraglich geworden sein, nicht

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nur ob dieses Urteil „das letzte Wort" zu diesem Thema darstellt, wie es z.Zt. scheint, sondern auch, ob es überhaupt ein wissenschaftlich haltbares ist. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dieser Richtung der Sekundärliteratur wird Genaueres festzustellen haben.

Zu einer anderen Auseinandersetzung mit dem Engelsschen Modell gibt es außerhalb der eben kritisierten, z.Zt. gängigen Richtung sehr wohl Positionen und Anregungen: Auszugehen ist zunächst einmal davon, daß Marx, Lenin und Mao Tsetung eindeutig eine Vereinbarkeit der Engelsschen Dialektik mit der Marxschen Theorie voraussetzen. Daneben ist Hinweisen nachzugehen wie denen von Lukacs, der selbstkritisch seine frühe Dialektikposition als teilweise „idealistisch" und „hegelisch" charakterisiert hat.(15) Heute geht neben einigen westdeutschen Autoren(16) vor allem die DDR-Wissenschaft im deutschsprachigen Raum durchgängig von einer prinzipiellen Vereinbarkeit der Engelsschen Dialektikposition mit der Marxschen aus. Die kritische Sichtung und Verarbeitung des gesamten auf dieser Seite erarbeiteten Materials stellt sicherlich ein Stück des Weges zu einem angemesseneren Bild des Engelsschen Dialektikmodells dar.

Abschließend sei noch besonders auf die Dialektik - auch die Naturdialektik - als „ein Produkt politischer Praxis" hingewiesen. Ganz anders als 1969 macht Oskar Negt 1976 auf eine positive politisch-strategische Funktion sogar der Engelsschen Naturdialektik aufmerksam.(17) Die Frage, inwiefern Engels' Beschäftigung mit Dialektik eine politische Funktion hatte, werden wir zu Beginn der nun folgenden Darstellung aufgreifen.

B. DIE FÜR ENGELS' DIALEKTIK-MODELL RELEVANTEN SCHRIFTEN UND IHR POLITISCHER HINTERGRUND (1859-1888)

Die Reihe der Schriften, aus denen sich das Engelssche Dialektik-Modell in seiner zuletzt entwickelten Form rekonstruieren läßt, beginnt mit der Rezension: „Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie" von 1859.(18) Sie wird fortgesetzt nach einem längeren Zeitraum durch die beiden Hauptschriften zur Frage der Dialektik, die in der Zeit von 1873-1886 entstehen: Die Fragment und bis 1925 größtenteils unveröffentlicht gebliebene „Dialektik der Natur"(19) und „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" (Kurztitel: „Anti-Dühring").(20) Bis zum Ende der fünfziger Jahre haben Marx und Engels sich bereits intensiv mit dem Bereich der Gesellschaft theoretisch und praktisch-politisch auseinandergesetzt, und Engels stellt als ein Ergebnis dieser Beschäftigung materialistische Dialektik als gültig für den gesamten Bereich der Gesellschaft dar; insofern ergänzt er Marx' grundlegende politisch-ökonomische Arbeiten. Mit dem Jahr 1873 beginnend, setzt sich Engels aber noch weitergehend mit Dialektik auseinander. Aufschluß darüber gibt ein Brief,(21) in dem zu einem Problem, das bisher im Hintergrund gestanden hat, Stellung genommen wird: zum Verhältnis von Dialektik und Natur. Engels äußert hier die Absicht, über dieses Thema in umfassender Weise zu arbeiten. Er beginnt eine intensive Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie und den Naturwissenschaften, die in dem Fragment „Dialektik der Natur"(22) posthum veröffentlicht worden ist. Die Arbeit daran findet - mit Unterbrechungen - in der Zeit von 1873-1886 statt.

Mit einer Bestätigung seiner Hypothese, daß Dialektik auch in dem von Marx und ihm bisher nicht genauer untersuchten Bereich der Natur Geltung hat - wenn auch in anderer Form als in der gesellschaftlichen Wirklichkeit -sieht Engels unter Einbeziehung der bisherigen Ergebnisse die Grundlage für eine Generalisierung der Dialektik gegeben. Die Hauptschrift von Engels, die in den Jahren 1876 bis 1878 ursprünglich in polemischer Absicht verfaßt worden ist, der „Anti-Dühring," ist in seinen positiven Aussagen der Versuch, aufbauend auf den Ergebnissen der gesamten, auch dieser letzten Arbeiten, „kompendienartig" eine Darstellung des Marxismus als „Weltanschauung" zu geben, in der die Dialektik die gesamte Wirklichkeit durchdringt. Ein Auszug aus dieser Schrift ist mit dem programmatischen Titel: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"(23) 1880 erschienen. Marx schreibt in einem Vorwort dazu: „Wir bringen in der vorliegenden Broschüre die treffendsten Auszüge aus dem theoretischen Teil dieses Buchs (gemeint ist der „Anti-Dühring"; d. V.), die gewissermaßen eine Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus bilden."(24)

1888 schließlich legt Engels in „Ludwig Feuerbach ,.."25 nochmals Rechenschaft darüber

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ab, wie aus den beiden unmittelbaren Anknüpfungspunkten, Hegel und Feuerbach, der neue dialektische Materialismus mit der materialistisch begründeten Dialektik entstanden ist, und er versucht dabei herauszuarbeiten, welches die jeweiligen Differenzen des Marxismus sowohl zur vorgefundenen Hegeischen Dialektik als auch zum Feuerbachschen Materialismus sind.

Damit sind die Schriften genannt, die hier zugrundeliegen. Es sind ausschließlich solche, die sich auf theoretischer Ebene ausführlicher mit Dialektik auseinandersetzen. Auf sie müssen wir uns hier beschränken.

Über den Stellenwert seiner Arbeiten unter dem Gesichtspunkt der Zusammenarbeit mit Marx schreibt Engels: "In Folge der Teilung der Arbeit, die zwischen Marx und mir bestand, fiel es mir zu, unsere Ansichten in der periodischen Presse, also namentlich im Kampf mit gegnerischen Ansichten, zu vertreten, damit Marx für die Ausarbeitung seines großen Hauptwerks Zeit behielt. Ich kam dadurch in die Lage, unsere Anschauungsweise meist in polemischer Form, im Gegensatz zu anderen Anschauungsweisen, darzustellen."(26) Obwohl dies von Engels hier nur für seine Pressebeiträge formuliert wird, gilt diese Aufgabenteilung auf entsprechender Ebene auch für die eben genannten größeren Arbeiten.

Trotz ihres allgemein-theoretischen Charakters wird in ihnen ein sozialer, i.e.S. politischer Bezug deutlich. Die gegnerischen Anschauungsweisen, denen Engels im ideologisch-theoretischen Kampf entgegentritt, sind zu dieser Zeit im wesentlichen kleinbürgerlich-vulgärsozialistische und mechanisch-materialistische Positionen, die auf dem Wege der Theorie Einfluß auf die Politik der Arbeiterbewegung nahmen bzw. nehmen wollten. Daß diese theoretisch ausgetragenen Kämpfe politische Auswirkungen hatten, bzw. politische Kämpfe waren, zeigt sich besonders augenfällig im Falle Dührings, gegen den sich der „Anti-Dühring" richtet. Dühring, einer der Führer der kleinbürgerlich-sozialistischen Bewegung, löste durch seine Angriffe weitreichende Auseinandersetzungen in der sozial-demokratischen Partei aus: Es bildete sich sogar eine antimarxistische Dühring-Fraktion. Inhaltlich wurde dieser theoretische Kampf maßgeblich auch um die Dialektik gefühlt. In deren Ablehnung waren sich die Dühring-Anhänger mit der soeben genannten zweiten wichtigen Strömung einig, den - meist naturwissenschaftlich orientierten - „mechanischen Materialisten," gegen die sich wohl die vollendete „Dialektik der Natur" gerichtet hätte. Dieser Politik mittels Theorie galt es auch theoretisch, und dies auch konkret im Fall der Dialektik, zu begegnen. Der Aufgabe stellt sich Engels in den angeführten Schriften.

In der Abwehr antimarxistischer und antidialektischer Positionen ist aber nur eine Aufgabe dieser Arbeiten zu sehen. Weitreichender ist die in die Zukunft weisende - wiederum politische - Absicht, die z.B. durch die späteren Auflagen des „Anti-Dühring" immer deutlicher wird: Festigung der weltanschaulichen Positionen der Arbeiterbewegung insbesondere ihrer Parteien im Sinne des dialektischen Materialismus, der für Engels die notwendige theoretische Grundlage für wissenschaftliche proletarische Politik darstellt. Die Verbindung von Theorie und Politik bestimmt Engels selbst folgendermaßen: Die proletarische Revolution „durchzuführen, ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats. Ihre geschichtlichen Bedingungen, und damit ihre Natur selbst, zu ergründen und so der zur Aktion berufnen, heute unterdrückten Klasse die Bedingungen und die Natur ihrer eignen Aktion zu Bewußtsein zu bringen, ist die Aufgabe des theoretischen Ausdrucks der proletarischen Bewegung, des wissenschaftlichen Sozialismus,"(27) d.h. hier des Marxismus. Dessen materialistische Geschichtsauffassung und deren „spezielle Anwendung auf den modernen Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie war nur möglich vermittelst der Dialektik."(28)

In diesen Zusammenhängen ist Engels' Beschäftigung mit Dialektik zu sehen, und hat er sie selbst gesehen.

C. DARSTELLUNG DER ENGELSSCHEN DIALEKTIK-KONZEPTION

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1. Methodisches

Das oberste Ziel dieses Kapitels ist es - zumal in Hinblick auf die anfangs geschilderte Diskussionssituation - ein den Intentionen Engels' möglichst angemessenes Bild seiner Dialektik-Konzeption zu geben. Methodisch werden wir uns dazu des Verfahrens einer möglichst textnahen Rekonstruktion bedienen. D.h. erstens, daß wir uns auf der Begriffsebene wie auf der Ebene einzelner Aussagen an die Bestimmungen halten, die Engels selbst gibt. So gilt z.B. Dialektik als dasjenige, als das Engels selbst sie bestimmt. Zweitens werden wir uns auf der Ebene der Strukturierung der Einzelaussagen und Aussagenzusammenhänge entsprechend an Engels' eigene Pläne und Gliederungen halten. Schließlich werden die Eingriffe, die nötig sind, z.B. um einen zusammenhängenden Text herzustellen, aber auch um auf Fragen und Zusammenhänge einzugehen, die so bei Engels nicht zugrundelagen, über einfache analytische Schritte nicht hinausgehen.

Aus dem Charakter dieses Beitrages ergibt sich, daß sich die folgende Systematisierung der Aussagen, die Engels zur materialistischen Dialektik macht, auf zweierlei beschränken muß:

- Es wird nur Engels' Standpunkt in der von ihm zuletzt entwickelten Form berücksichtigt.

- Es können nur die allgemeineren Aussagen zur Dialektik aufgenommen werden, in der Absicht, die Prinzipien der Engelsschen Auffassung deutlich zu machen. Besonders ausführlich werden wir versuchen, eine Bestimmung von' „materialistischer Dialektik" im Sinne einer Definition herauszuarbeiten.

2. Engels' Pläne für eine Systematisierung der Dialektik

Als Pläne für eine systematische Darstellung von Dialektik im soeben erläuterten Sinn können gelten:

die beiden sogenannten „Planskizzen" aus dem Fragment „Dialektik der Natur"(29) und die Gliederung des „Anti-Dühring."(30)

Für die zunächst notwendige Gesamtplanung kommen die sogenannte „Skizze des Gesamtplans" der „Dialektik der Natur"(31) und die Gliederung des „Anti-Dühring" in Betracht, wobei im Falle des „Anti-Dühring" vorausgesetzt ist, daß, obwohl dieser Text thematisch weiter gefaßt ist, Dialektik durchgängig eine zentrale Rolle spielt. Welche Orientierung können nun diese beiden Pläne geben?

In der sogenannten „Skizze des Gesamtplans" sieht Engels für den Anfang eine „Historische Einleitung" vor, in der gezeigt werden soll, daß „in der Naturwissenschaft durch ihre eigene Entwicklung die metaphysische Auffassung unmöglich geworden"(32) ist. Als zweiter Punkt ist vorgesehen, den „Gang der historischen Entwicklung seit Hegel" zu verfolgen. Es bilden also zwei genetische Teile den Anfang dieses Systematisierungsversuches. Daß es sich dabei nicht lediglich um einen Aspekt der Forschung handelt, der später in der Darstellung anders verarbeitet würde, und daß dieses Vorgehen für Engels über die Behandlung der Naturdialektik hinausgehende Bedeutung hat, dafür spricht, daß der „Anti-Dühring" in der „Einleitung"(33) ebenfalls mit einem historisch-genetischen Teil beginnt, der erstens diese beiden Punkte der „Skizze des Gesamtplans" enthält und zweitens umfassend, d.h. über den Bereich der Natur und der Naturwissenschaft hinaus ausgerichtet ist. In den vorliegenden Systematisierungen zur Dialektik steht also ein genetischer Teil am Anfang, der sich mit der theoretisch-wissenschaftlichen Entwicklung befaßt.

An die beiden historischen Teile der „Skizze des Gesamtplans" (Punkte i und 2 dieses Planes) schließt Engels den systematischen Teil i.e.S. an (Punkte 3-11). Im Punkt 3 beginnt Engels mit der Darstellung der Dialektik als „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs." Es werden die „Hauptgesetze" aufgeführt, und es scheint, daß im Sinne dieses Plans auch andere - alle allgemeinen - Momente der Dialektik hier zu

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entwickeln sind, denn im folgenden wird die Bekanntschaft mit ihnen vorausgesetzt. Der letzte Teil (Punkte 4-11), der umfangreichste dieser Engelsschen Planskizze, beschäftigt sich nämlich im wesentlichen mit den einzelnen Wissenschaften hinsichtlich ihres Zusammenhangs (Punkt 4) und „deren dialektischem Inhalt" (Punkt 5), also mit angewandter oder spezieller Dialektik. Nach einem systematischen Durchgang durch die Naturwissenschaften wendet sich Engels am Ende der Planskizze auf dem Hintergrund des bisher Behandelten speziellen Problemen der Naturerforschung im weitesten Sinne zu. Damit endet die „Skizze des Gesamtplans."

Wir werden dieser Engelsschen Gliederung folgen, jedoch mit Modifikationen:

1. Die „Skizze des Gesamtplans" der „Dialektik der Natur," die auf die Natur und die Naturerforschung zugeschnitten ist, soll um die Aspekte Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaften ergänzt werden. Eine solche Ergänzung kann sich auf Engels' Theorie der Bewegungsformen (s. dazu weiter unten) sowie auf den Argumentationsgang des „Anti-Dühring" stützen. Das bedeutet methodisch, daß wir sowohl die „Skizze des Gesamtplans" im Punkt 4 und 5 erweitern als auch über die Inhalte der „Dialektik der Natur" aufgrund ihrer engeren Themenstellung hinausgehen müssen.

2. Nach der Darstellung der allgemeinen Aussagen über Dialektik im Zusammenhang mit der Dialektik als Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang und der Darstellung des „Zusammenhangs der Wissenschaften" gehen wir nicht ins einzelne, wie in der Engelsschen Gliederung vorgesehen, sondern bleiben auf einer allgemeineren Ebene stehen und begnügen uns damit, die besondere Dialektik der drei Grundbereiche, Natur, Gesellschaft und Denken, und die entsprechenden Wissenschaftsbereiche kurz zu behandeln. Es werden also alle Wissenschaften zu drei Gruppen zusammengefaßt, wobei wir eine von Engels entwickelte Gruppierung der Wissenschaften übernehmen.

3. Wir erschöpfen weder extensional noch vor allem aber intensional den Inhalt der „Dialektik der Natur" oder des „Anti-Dühring," den beiden hauptsächlichen Quellen der weiteren Darstellung.

3. Der genetische Teil des Systematisierungsansatzes

Einen weit ausholenden Versuch, die Entwicklung hin zur Entstehung der materialistischen Dialektik darzustellen, unternimmt Engels im „Anti-Dühring." Dabei bereinigt er den historischen Verlauf, „aber ... nach Gesetzen, die der wirkliche geschichtliche Verlauf selbst an die Hand gibt, indem jedes Moment auf dem Entwicklungspunkt seiner vollen Reife, seiner Klassizität betrachtet"34) wird. Danach gibt es zwei Schwerpunkte in der Theoriegeschichte auf dem Wege zur materialistischen Dialektik:

- die „naturwüchsige" dialektische Anschauungsweise der Antike und

- die „metaphysische Denkweise" der Neuzeit, darauf aufbauend folgt dann:

- die materialistisch-dialektische Anschauung des Marxismus. Diese

Schritte sollen als Grundlage für die folgende genetische Darstellung dienen, jedoch folgendermaßen erweitert:

1. Zwischen der „metaphysischen Denkweise" und der „materialistischdialektischen Anschauung" des Marxismus behandelt Engels - als Übergang und damit als unmittelbare Voraussetzung für die materialistische Dialektik - die klassische deutsche Philosophie mit ihren Höhepunkt Hegel und dessen unmittelbarem Nachfolger Feuerbach. Dieser Punkt soll auch hier an entsprechender Stelle aufgenommen werden.

2. Auf Grund der inhaltlichen Nähe von historischem und systematischem Teil besonders beim ersten Schritt sollen in Form eines Exkurses Engels' allgemeine Bestimmungen von

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„Dialektik" herausgearbeitet werden.

a. Naturwüchsig-dialektische Anschauungsweise der Antike: Erfassung (nur) des allgemeinen Charakters des Gesamtbildes der Erscheinungen

Der erste für das dialektische Denken grundlegende Schritt wird nach Ansicht von Engels bereits in der griechischen Philosophie getan. Die antike Dialektik läßt, gleichgültig ob die Natur, die Menschengeschichte oder die menschliche geistige Tätigkeit denkend betrachtet wird, „das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen (entstehen; d.V.), in der nichts bleibt, was, wo und wie es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht. Wir sehen zunächst das Gesamtbild, in dem die Einzelheiten mehr oder weniger zurücktreten, wir achten mehr auf die Bewegung, die Übergänge."(35) Der historische Zeuge, den Engels für diese seine Position zitiert und der dies „zuerst klar ausgesprochen" hat, ist Heraklit: „Alles ist und ist auch nicht, denn alles fließt in steter Veränderung, in stetem Werden und Vergehen begriffen."(36) „Diese ursprüngliche, naive, aber der Sache nach richtige Anschauung von der Welt"(37) (des Gesamtzusammenhanges) weist folgenden Mangel auf: Sie kann keine Erklärung der Einzelheiten geben, denn: „Der Gesamtzusammenhang ... wird nicht im einzelnen nachgewiesen, er ist den Griechen Resultat der unmittelbaren Anschauung."(38)

Exkurs: Versuch, Engels' allgemeines Verständnis von Dialektik zu bestimmen

Hier soll auf einer ersten Stufe der Versuch unternommen werden, die Momente zu erfassen, deren Vorhandensein Engels von Dialektik sprechen läßt. Engels weist, wie wir soeben sahen, auf die partielle Richtigkeit auch schon der naturwüchsigen Dialektik hin. Was macht diese Dialektik aus? Welches sind vor allem ihre bleibenden Momente? Aspekte von Dialektik, denen wir der Sache nach ständig in den vorgetragenen Zusammenhängen begegnet sind, lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen:

(Selbst-)Bewegung, Prozeß: Alles ist in ständiger Bewegung (stellt einen Prozeß dar), und Bewegung ist nicht nur mechanische Bewegung der Dinge, sondern überhaupt jede Veränderung an den Dingen oder in ihnen. Diese Bewegung ist außerdem (da die ursprünglichen Dialektiker auch „naturwüchsige Materialisten" sind, bei ihnen nicht von außerhalb der Welt ausgelöst, sondern) eine inhärente Eigenschaft der Welt bzw. der Materie: Selbstbewegung. Mit der Einführung der Kategorie Bewegung sind Raum und Zeit (und auch Begriffe wie Dauer, Ausdehnung usw.) als Grundformen der Materie vorausgesetzt, denn die Bewegung oder Veränderung ist nur in Raum und Zeit möglich.

Zusammenhang, Einheit, Totalität: Alles ist nicht nur in ständiger Bewegung, sondern alles steht auch untereinander in einem Zusammenhang. Es gibt zwar einzelne „Dinge" bzw. Prozesse, diese sind aber immer in mannigfaltigen Beziehungen zu anderen und bilden insgesamt den jeweiligen Gesamtzusammenhang, die Welt, die also als Totalität oder Einheit gesehen wird. (Auch dies wurde von dem griechischen „dialektischen Materialismus" gesehen, „der ganz natürlich in seinem Anfang die Einheit in der unendlichen Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen als selbstverständlich ansieht."(39) Dieser jeweilige „räumliche" oder synchrone Weltzusammenhang bildet jedoch auch noch insgesamt (und in seinen einzelnen Bestandteilen) einen Zusammenhang mit Vorhergegangenem und Nachfolgendem, steht also auch in einem zeitlichen Kontinuum, ist historischer Entwicklungszusammenhang.

Wechselwirkung: Die beiden behandelten Aspekte lassen die Welt als einen bewegten (Gesamt-)Zusammenhang oder eine prozessierende Totalität erkennen. Die Kategorie der Wechselwirkung konkretisiert den Begriff des Zusammenhangs. Zusammenhang entsteht dadurch, daß jedes Moment dieser Einheit auf andere Momente wirkt und Einwirkung von anderen Momenten erfährt. In diesem Bewegungskomplex geschieht also nichts isoliert. „Jedes wirkt aufs andere und umgekehrt,"(40) es besteht also Wechselwirkung. Die jeweils konkrete Form des Wirkungszusammenhanges erkennen, heißt das jeweils konkrete „Ding" bzw. den jeweils konkreten Prozeß erkennen. "Weiter zurück als zur Erkenntnis dieser Wechselwirkung können wir nicht, weil eben dahinter nichts zu Erkennendes liegt."(41) Von der umfassenderen Kategorie der Wechselwirkung ausgehend, kann Engels auch den Begriff der Kausalität einordnen und näher bestimmen: „Erst von dieser

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universellen Wechselwirkung kommen wir zum wirklichen Kausalitätsverhältnis. Um die einzelnen Erscheinungen zu verstehen, müssen wir sie aus dem allgemeinen Zusammenhang reißen, sie isoliert betrachten, und da erscheinen die wechselnden Bewegungen, die eine als Ursache, die andere als Wirkung."(42)

Widerspruch, Einheit Entgegengesetzter: Daß alles voneinander unterschieden ist und somit Unterschiedenes untereinander im Zusammenhang steht, ist die gewöhnliche Ansicht. Bereits die antike Dialektik geht so weit. Widersprüchliches in Zusaminengang und in eine Einheit zu bringen. Alles oder jedes einzelne „ist und ist nicht" (Heraklit) und muß somit als Einheit von Entgegengesetztem gesehen werden.

Diese Widersprüchlichkeit folgt nach Engels aus dem Bewegungs- und Zusammenhangscharakter der Wirklichkeit: „Solange wir die Dinge als ruhende und leblose, jedes für sich neben- und nacheinander betrachten, stoßen wir allerdings auf keine Widersprüche an ihnen. Wir finden da gewisse Eigenschaften, die teils gemeinsam, teils verschieden, ja einander widersprechend, aber in diesem Fall auf verschiedene Dinge verteilt sind und also keinen Widersprach in sich enthalten. ... Aber ganz anders, sobald wir die Dinge in ihrer Bewegung, ihrer Veränderung, ihrem Leben, in ihrer wechselseitigen Einwirkung aufeinander betrachten. Da geraten wir sofort in Widersprüche."(43)

Zwei der beschriebenen Momente von Dialektik werden von Engels immer wieder benutzt, um „Dialektik" in Kurzform zu charakterisieren. In der „Dialektik der Natur" wird „Dialektik" bestimmt „als Wissenschaft von den Gesamtzusammenhängen,"(44) im „Anti-Dühring" wird dem inhaltlich hinzugefügt: „Die Dialektik ist ... die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens."(45) Diese beiden Momente, Bewegung und Zusammenhang, werden in einer weiteren Bestimmung zusammengefaßt, in der es heißt, daß die Dialektik die Dinge und ihre Begriffe „wesentlich in ihrem Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehen und Vergehen auffaßt."(46)

Aus dem Bisherigen ergibt sich, daß Bewegung und Zusammenhang in gewisser Weise als Grundkategorien der Dialektikauffassung von Engels anzusehen sind, aus deren Konkretisierung sich beispielsweise die Kategorien Widerspruch und Wechselwirkung ergeben.

Kehren wir mit diesen ersten Ergebnissen, die Dialektik nach Engels allgemein charakterisieren, zur Theoriegeschichte zurück: Die naturwüchsig dialektische Anschauungsweise der Antike erfaßte nur den allgemeinen Charakter der Wirklichkeit, aber nicht die Einzelheiten, aus denen sie sich zusammensetzt. Aber: „solange wir dies nicht können, sind wir auch über das Gesamtbild nicht klar."(47) Mit diesem Mangel ist gleichzeitig der nächste notwendige Entwicklungsschritt aufgezeigt, der getan werden muß, um der exakten Erfassung des Weltganzen näher zu kommen.

b. Metaphysische Denkweise der Neuzeit: exakte Erfassung (nur) der Einzelheiten, aus denen sich das Gesamtbild der Erscheinungen zusammensetzt

Historisch eingelöst sieht Engels diesen nächsten Schritt durch die exakte Natur- und Geschichtsforschung der Neuzeit. Die Einzelwissenschaften müssen zunächst, um „Einzelheiten zu erkennen ..., sie aus ihrem natürlichen oder geschichtlichen Zusammenhang herausnehmen und sie, jede für sich, nach ihrer Beschaffenheit, ihren besonderen Ursachen und Wirkungen usw. untersuchen."(48) Die daraus resultierende Betrachtung der Wirklichkeit, Isolierung der einzelnen Momente eines Zusammenhanges, nennt Engels die „metaphysische" Denk- oder Betrachtungsweise. Sie ist für ihn „aufweiten, je nach der Natur des Gegenstandes ausgedehnten," auf jeden Fall aber beschränkten „Gebieten berechtigt und sogar notwendig."(49) Sie ist die Grundbedingung der Fortschritte, die die moderne Forschung gemacht hat. Die erfolgreiche Vorgehensweise vor allem der Naturwissenschaften führte jedoch zur Verabsolutierung dieser „metaphysischen" Denkweise, die die „spezifische Borniertheit der letzten Jahrhunderte" hervorgebracht hat. In ihrer verabsolutierten Form sieht die metaphysische Denkweise ihre Untersuchungsgegenstände aber überhaupt nur noch „in ihrer Vereinzelung, außerhalb des großen Gesamtzusammenhanges ...; daher nicht in ihrer

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Bewegung, sondern in ihrem Stillstand, nicht als wesentlich veränderliche, sondern als feste Bestände, nicht in ihrem Leben, sondern in ihrem Tod."(50)

Dieser besondere Gebrauch von „metaphysisch" ist bei Engels durchgängig vorhanden und deshalb für die weitere Lektüre in Erinnerung zu behalten. Als - allerdings einseitige - historische Überwindung ersten dialektischen Denkens hat das metaphysische Denken einerseits komplementäre Erkenntnismöglichkeiten und -formen herausgebildet, aber andererseits -verabsolutiert - zu einer der Dialektik entgegengesetzten Gesamtanschauung geführt. So ist es zu erklären, daß Engels vor allem in der Polemik gegen zeitgenössische Theoretiker „metaphysisch" als Entgegensetzung zu „dialektisch" gebraucht und damit kritisch die verabsolutierte metaphysische Denkweise kennzeichnet.

c. Die neuere deutsche Philosophie: Übergang zur bewußten exakten Erfassung des Weltganzen

Die naive dialektische Anschauungsweise hatte nur das Weltganze im Allgemeinen erkennen können, die metaphysische nur die Einzelheiten ohne Gesamtzusammenhang. Ein wirklicher Fortschritt ist bei dieser Konstellation nur möglich in der Synthese der positiven Momente beider Anschauungsweisen. Mit dieser Synthese wäre die exakte Erfassung des Wehganzen möglich. Die neuere deutsche Philosophie seit Kant tut nun wesentliche Schritte hin zu einer solchen Synthese:

„Ihr größtes Verdienst war die Wiederaufnahme der Dialektik als der höchsten Form des Denkens"(51) in einer historischen Situation, die in weiten Bereichen durch metaphysisches Denken im eben erläuterten Engelsschen Sinne gekennzeichnet war. Ihren Höhepunkt und „Abschluß fand diese neuere deutsche Philosophie im Hegeischen System, worin zum erstenmal - und das ist sein großes Verdienst-die ganze natürliche und geistige Welt als ein Prozeß, d.h. als in steter Bewegung, Veränderung, Umbildung und Entwicklung begriffen dargestellt und der Versuch gemacht wurde, den inneren Zusammenhang in dieser Bewegung und Entwicklung nachzuweisen."(52) Dies war aber auch nur deshalb möglich, weil Hegel „nicht nur ein schöpferisches Genie war," vor allem auch als Dialektiker, „sondern auch ein Mann von enzyklopädischer Gelehrsamkeit,"(53) d.h. weil er über entsprechend umfangreiche positive Kenntnisse verfügte. Eine weitere wesentliche Besonderheit bestand darin, daß er nicht etwa genialisch-intuitiver Dialektiker war, sondern die „allgemeinen Bewegungsformen (der Dialektik; d.V.) zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat,"(54) wie Marx festgestellt hat.

Anhand dieses Hegeischen „Kompendiums" empfiehlt Engels Dialektik zu studieren, er hat sich dessen, wie seine Schriften zeigen, auch selbst fortlaufend bedient. Bei diesem Dialektikstudium mit Hilfe der Werke Hegels macht Engels jedoch wesentliche Vorbehalte, die gleichzeitig zeigen, daß der exakten Erfassung der Welt bei Hegel entscheidende Hindernisse im Wege standen:

Zunächst erscheint die Dialektik im Hegeischen System in mystifizierter Form, nicht als Bestimmung einer empirisch erfaßten Wirklichkeit, sondern als Ausdruck des Wirksamwerdens des Geistes in einer äußerlichen Wirklichkeit. Hegel geht nämlich davon aus, „daß der Geist, der Gedanke, die Idee das Ursprüngliche, und die wirkliche Welt nur der Abklatsch der Idee sei."(55) D.h. Hegel war Idealist. Sein „Kompendium der Dialektik" ist also ein „von ganz falschem Ausgangspunkt her entwickeltes." Dieser idealistische Ausgangspunkt bewirkt einerseits eine „Umkehrung alles wirklichen Zusammenhangs ... in allen Verzweigungen seines Systems"(56) und führt andererseits zu teilweise der Wirklichkeit gegenüber spekulativen, d.h. willkürlichen Konstruktionen, die wesentlich mit Hilfe der Dialektik bewerkstelligt werden und der Vervollkommung des Systems dienen. Folge dieses Idealismus ist also, daß sowohl die Tatsachen, die Empirie, mißachtet als auch daß die Dialektik dazu mißbraucht wird.

Was nun offensichtlich zu tun blieb, um die exakte Erkenntnis des Weltganzen zu ermöglichen, war die Überwindung des Hegeischen Idealismus mit seinen Folgen. Dieser Schritt, die Überwindung des Hegeischen Mystizismus, geschah bald nach seinem Tod im wesentlichen durch seine Anhänger und Schüler selbst. Feuerbach kritisierte den

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Hegeischen Idealismus durchschlagend und erhob „den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron."

d. Dialektisch-materialistisches Vorgehendes Marxismus: Beginn der bewußten exakten Erfassung des Wellganzen

„Feuerbach durchbrach das System" Hegels /.war, aber er „warf es einfach beiseite."

Damit war zwar der Materialismus wieder eingesetzt, aber um den Preis des Verlustes vor allem der Hegeischen Dialektik. Eine Weiterentwicklung konnte aber nur durch die Beibehaltung der Dialektik einerseits und des Materialismus andererseits Zustandekommen, und das bedeutete die Wiederaufnahme sowohl Hegels als auch Feuerbachs trotz ihrer konträren Positionen. Im Falle von Marx und Engels erfolgte zunächst „die Trennung von der Hegeischen Philosophie ... auch durch die Rückkehr zum materialistischen Standpunkt. Das heißt man entschloß sich, die wirkliche Welt - Natur und Geschichte - so aufzufassen, wie sie sich selbst einem jeden gibt, der ohne vorgefaßte idealistische Schrullen an sie herantritt; man entschloß sich, jede idealistische Schrulle unbarmherzig zum Opfer zu bringen, die sich mit den in ihrem eigenen Zusammenhang und in keinem phantastischen aufgefaßten Tatsachen nicht in Einklang bringen läßt."(57) Positiv formuliert, heißt Rückkehr zum materialistischen Standpunkt, hier gegen den Idealismus gewandt: Erklärung der Wirklichkeit aus sich selbst.

Auf der anderen Seite aber wird Hegel nicht einfach beiseite gelegt, wie bei Feuerbach, sondern man knüpfte im Gegenteil an seine revolutionäre Seite, an die dialektische Methode an.(58) Engels stellt an vielen Stellen heraus, daß Hegel für Marx und ihn ein ständiger Anknüpfungspunkt in der Frage der Dialektik geblieben sei. Von den allgemeinen Bewegungsformen der Dialektik, die er richtig entwickelt hatte, über zahlreiche Einzelerkenntnisse und richtige Anwendungen bis hin zur Terminologie hat Hegel Grundlegendes für das dialektische Denken geleistet. Daß und aus welchen Gründen die Dialektik „in ihrer Hegeischen Form unbrauchbar" war, wurde bereits dargelegt. Die Weiterentwicklung der Dialektik auf diesem Stand zu einem Instrument der exakten Erfassung des Weltganzen lag in einem grundlegenden Sinn in ihrer Materialisierung, denn aus beiden Fällen - antiker Dialektik und Hegelscher Dialektik - wird deutlich, daß trotz grundlegender richtiger Momente bzw. sogar trotz einer umfassenden Erkenntnis der dialektischen Bcwegungsformen, d.h. durch Dialektik allein in keiner Weise das angestrebte Erkenntnisziel garantiert ist. Es muß infolgedessen das materialistische Moment zunächst weiterverfolgt werden, um die neue Qualität der materialistischen Dialektik, die die alten Fehler vermeiden soll, zu erreichen. Von den Weiterentwicklungen, die Marx und Engels an dem Feuerbachschen Materialismus vorgenommen haben, sollen nur zwei aufgeführt werden, die für die dialektische Anschauungsweise von unmittelbarer Bedeutung sind: Es sind erstens die konsequente Durchführung des Materialismus auch in der Geschichte, die bei Feuerbach noch wesentlich idealistisch gefaßt wurde, und zweitens die festere Bindung des Materialismus an die positiven Wissenschaften und die Empirie: „Darüber sind wir alle einig, daß auf jedem wissenschaftlichen Gebiet, in der Natur wie in der Geschichte von den gegebenen Tatsachen auszugehen ist."(59)

Das Fazit der Betrachtungen über die Dialektik im deutschen Idealismus und in der folgenden Entwicklung bis zur materialistischen Dialektik macht auf ein - gegenüber der ersten Dialektikexplikation - neues und wichtiges Moment aufmerksam: die „Einbindung" der Dialektik. Dialektik scheint, so allgemein wie sie bisher bestimmt wurde, in gewissem Maße indifferent gegenüber dem Standpunkt, der Vorgehensweise oder der Methode oder dem System zu sein, als dessen Bestandteil sie füngiert. Dialektik wird von Hegel zuerst in ihren allgemeinen Bewegungsformen „in umfassender und bewußter Weise dargestellt." Das verhindert aber nicht, daß sie mystifiziert wurde, „sie steht bei ihm auf dem Kopf."(60) Sie wird - um im Bild zu bleiben - „umgestülpt," und der rationelle Kern, eben die „allgemeinen Bewegungsformen der Dialektik," fungiert in einer materialistischen Theorie. Aus dieser Indifferenz zentraler Bestimmungen der Dialektik muß, um das Ziel, die exakte Erfassung des Weltganzen, zu erreichen, die Konsequenz gezogen werden, daß die Dialektik notwendig der Materialisierung bedarf und erst dadurch „materialistische Dialektik" wird. Daß - und das ist auch für die Dialektik wichtig - der Materialismus sich nicht auf die materialistische Grundauffassung beschränken darf, sondern diese -

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antispekulativ - durch die positiven Ergebnisse der Einzelwissenschaften ergänzt werden muß, und zwar auf allen Gebieten in Natur und Geschichte, also konsequenter Materialismus sein muß, wurde bereits zu zeigen versucht.

Materialistische Dialektik ist also bei Engels zunächst historisch abgeleitet eine spezifische Dialektik, die zur exakten Erkenntnis des Weltganzen beitragen soll.

Gehen wir von diesem historischen Fazit über zur systematischen Betrachtung "materialistischer Dialektik" i.e.S.

4. Der systematische Teil des Systematisierungsansatzes

a. Engels' Bestimmung materialistischer Dialektik

Über die Versuche hinaus, Dialektik in einer Weise zu bestimmen, die alle Positionen von der Antike bis zu seiner eigenen Zeit umfaßt und die auf Grund dieser Allgemeinheit indifferent gegen die jeweilige Einbindung der Dialektik ist, scheint folgender Passus in Absetzung von, d.h. in Differenzierung dieser allgemeinen Bestimmung „materialistische Dialektik" zu explizieren:

Im „Ludwig Feuerbach" heißt es, daß die Dialektik „die Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußern Welt wie des menschlichen Denkens"(61) ist; und dann werden beide Bereiche über die Gesetze der Bewegung sowohl der äußeren Welt wie des Denkens in Beziehung gesetzt. Engels beschreibt sie als „zwei Reihen von Gesetzen, die der Sache nach identisch, dem Ausdruck nach aber insofern verschieden sind, als der menschliche Kopf sie mit Bewußtsein anwenden kann, während sie in der Natur und bis jetzt auch großenteils in der Menschengeschichte sich in unbewußter Weise, in der Form der äußern Notwendigkeit, inmitten einer endlosen Reihe scheinbarer Zufälligkeiten durchsetzen."(62)

Auf Grund dieses Zusammenhanges der beiden „Reihen" der Dialektik kommt Engels zu folgender Bestimmung von materialistischer Dialektik: „Damit aber wurde die Begriffsdialektik selbst nur der bewußte Reflex der dialektischen Bewegung der wirklichen (d.h. hier: materiellen; d.V.) Welt."(63) Aus dieser Bestimmung des Denkens als „Reflex" ist keineswegs auf eine Herabsetzung der Komplexität des Denkens zu schließen, auch die (Rück-) Wirkung des Denkens auf die Realität soll nicht geleugnet werden; sondern es geht Engels hier vielmehr darum, die Hegelsche Position zurückzuweisen, die das Denken, den „Produzenten" der Idee, zum „Demiurgen" der gesamten Wirklichkeit macht. Gegenüber dieser Hegeischen Verkehrung hebt Engels hervor, daß das Denken in mehrfacher Weise an die materielle Wirklichkeit gebunden ist. Damit „wurde die Hegelsche Dialektik auf den Kopf, oder vielmehr vom Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt."(64)

Zunächst einmal unabhängig vom Inhalt einzelner Gesetze und Bestimmungen ist Engels in der Lage, materialistische Dialektik beispielsweise von der Hegeischen idealistischen abzugrenzen und zwar als Konsequenz der materialistischen Einbindung. Aus der materialistischen Position, die voraussetzt, daß Geist oder Denken nur in Verbindung mit dem leiblichen Menschen zu finden ist und alles andere Hypostasierungen sind, ergibt sich mit Notwendigkeit, daß die Dialektik der äußeren Welt, die ja zum größeren Teil aus nicht-menschlicher Natur besteht, historisch und damit in diesem Zusammenhang auch logisch vorgängig ist. Weiterhin, daß der arbeitende und denkende gesellschaftliche Mensch nach Ansicht der Entwicklungstheorie ein Entwicklungsprodukt der Natur ist, aus der er sich herausgearbeitet" hat und mit der er in ständigem Stoffwechsel bleiben muß, um weiter leben, handeln und denken zu können. Das Denken, insoweit schon abhängig von der nicht-menschlichen Natur ist in mehrfacher Hinsicht „Reflex" der äußeren Welt. Im wesentlichen sowohl in seinem „formalen" Zustandekommen (letztlich als Aspekt der Produktionstätigkeit, dem Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur) als auch in seinen Inhalten (dem bewußten Sein, das zwar von Anfang an mehr zum Inhalt hat als die äußere Welt, diese aber zu seiner notwendigen Basis).

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Erkannt werden kann dies alles natürlich ohne Mystizismus erst dann, wenn die Menschen ihre eigene Geschichte und die Naturgeschichte zu erforschen beginnen. Daß diese Erkenntnisse wie das Denken überhaupt, unter anderen Aspekten gesehen, sehr wohl die materielle Wirklichkeit - Natur wie Geschichte - bestimmen, wird aus der hier vorliegenden gesamten Darstellung wohl deutlich.

„Hiermit," so faßt Engels die bis hierhin geleistete Bestimmung der „materialistischen Dialektik" zusammen, „war aber die revolutionäre Seite der Hegeischen Philosophie wieder aufgenommen und gleichzeitig von den idealistischen Verbrämungen befreit, die bei Hegel ihre konsequente Durchführung verhindert hatten. Der große Grundgedanke (ist), daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge nicht minder wie ihre Gedankenabbilder in unserem Kopf, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen." Aber, fährt Engels dann fort, diesen großen Grundgedanken „in der Phrase anerkennen und ihn in der Wirklichkeit im einzelnen auf jedem zur Untersuchung kommenden Gebiet durchführen, ist zweierlei."(65)

Engels kommt dann auf die konstitutive Rolle der modernen empirischen Natur- und Geschichtsforschung zu sprechen, also auf das dritte Moment unseres historischen Fazits. Er stellt dabei fest, und das ist gleichzeitig als paradigmatisch für die weitere Entwicklung zu sehen, daß wir jetzt so weit sind, ein übersichtliches Bild des Naturzusammenhangs in annähernd systematischer Form, nicht durch spekulative Ergänzungen, sondern „vermittelst der durch die empirische Naturwissenschaft selbst gelieferten Tatsachen" kritisch zu erarbeiten. Damit ist die sogenannte Naturphilosophie überholt. „Sie hat ... manche geniale Gedanken gehabt, ... aber auch beträchtlichen Unsinn zutage gefördert,"(66) wie das auf Grund ihres spekulativen Verfahrens nicht anders möglich war.

Entsprechendes stellt Engels für den Bereich der Geschichtsforschung fest: „Was aber von der Natur gilt, die . .. auch als ein geschichtlicher Entwicklungsprozeß erkannt ist, das gilt auch von der Geschichte der Gesellschaft in allen ihren Zweigen."(67) Die Spekulation der Philosophie der Geschichte, des Rechts, der Religion usw. ist durch den Aufweis des wirklichen Zusammenhangs zu ersetzen.

Als Ergebnis sowohl des historischen Teils als auch des zuletzt untersuchten systematischen Zusammenhanges läßt sich zusammenfassend festhalten: „materialistische Dialektik" ist ein terminus technicus, der rein analytisch aus seinen beiden Bestandteilen nicht hinreichend inhaltlich bestimmt werden kann. Neben den beiden sich analytisch ergebenden Momenten geht in den Begriff ein drittes ein. Somit ergeben sich für die Bestimmung materialistischer Dialektik:

Erstens das dialektische Moment, unmittelbar von Hegel her entwickelt, zweitens die materialistische Grundauffassung in konsequenterer Form als bei Feuerbach und drittens die Bindung beider an die empirische Natur- und Geschichtsforschung.

Dieser Definitionsversuch, der bei Engels nur implizit entwickelt ist, scheint seinen eigenen Intentionen zumindest nicht zu widersprechen. Dies zeigt seine Stellungnahme zum Problem der Definition, die er im Zusammenhang mit der Definition des „Lebens" abgibt und die unmittelbar auf die hier versuchte Bestimmung von „materialistischer Dialektik" übertragbar scheint: „Unsere Definition des Lebens ist natürlich ungenügend, indem sie, weit entfernt alle Lebenserscheinungen einzuschließen, sich vielmehr auf die aller allgemeinsten und einfachsten beschränken muß." Entsprechendes gilt für die Dialektik-Definition. „Alle Definitionen sind wissenschaftlich von geringem Wert. Um wirklich erschöpfend zu wissen, was das Leben (in unserem Falle, die Dialektik; d.V.) ist, müßten wir alle seine Erscheinungsformen (in unserem Falle, alle Erscheinungsformen der Dialektik; d.V.) durchgehen ... Für den Handgebrauch sind jedoch solche Definitionen sehr bequem und stellenweise nicht gut zu entbehren; sie können auch nicht schaden, solange man nur ihre unvermeidlichen Mängel nicht vergißt."(68)

Damit soll der - für diese Arbeit - zentrale Versuch, „materialistische Dialektik" im- Sinne einer Definition zu bestimmen, abgeschlossen werden. Wir wollen jetzt dazu übergehen,

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den gewonnenen Dialektikbegriff durch die Erläuterung einiger Prinzipien ansatzweise inhaltlich zu füllen, um wenigsten seinen Einblick in das Engelssche Dialektikmodell insgesamt zu vermitteln. Zu beginnen ist gemäß dem Plan der „Dialektik der Natur" mit:

b. Dialektik als Wissenschaft des - sich bewegenden - Gesamtzusammenhangs

Der Terminus „Dialektik als Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs," der in der „Skizze des Gesamtplans" auftaucht, wird in dem sogenannten Artikel „Dialektik" inhaltlich wieder aufgenommen und hier als sich bewegender Gesamtzusammenhang der „Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft" naher bestimmt. Damit ist sowohl als Gegenstand dieser Wissenschaft als auch als Geltungsbereich der Dialektik bestimmt: die gesamte sich verändernde Wirklichkeit bzw. Realität.

Mit welcher Methode werden nun die Inhalte über diesen Gegenstand gewonnen? Engels sagt dazu, daß sie aus der gesamten Wirklichkeit abstrahiert werden und zwar vermittelt durch die Ergebnisse der Wissenschaften, angefangen bei den empirischen Einzel Wissenschaften. Diese Ergebnisse werden so weit verallgemeinert, bis die allgemeinsten Gesetze (als Kern dieser Wissenschaft) „der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst" sich herausstellen. In dieser abstraktiven Vorgehensweise, mit Hilfe derer die Inhalte der Dialektik aus der Wirklichkeit abgeleitet werden (im Gegensatz zu Hegel, der „diese Gesetze als Denkgesetze der Natur und Geschichte aufoktroyiert"69) sieht Engels den Weg der „Entmystifizierung" und Materialisierung der Hegelschen Dialektik, die dadurch einfacher verständlich bzw. überhaupt erst verständlich wird.

Über die Bestimmung dieser beiden für die Entwicklung der Dialektik als Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang grundlegenden Momente, Gegenstand und Methode, hinaus führt Engels die Inhalte der daraus resultierenden allgemeinsten Theorie nirgendwo mit dem Ziel der Vollständigkeit aus. Es sind jedoch größere inhaltliche Zusammenhänge ausgearbeitet.

Zunächst zeigt Engels an einer Vielzahl von Kategorien bzw. Begriffen deren dialektischen Inhalt auf. Wir wollen das hier nur für die Begriffe Quantität, Qualität und Negation tun, deren spezifisch-dialektisches Verständnis zusammen mit dem des dialektischen Widerspruchs, den wir bereits in der Definition von Dialektik behandelt haben, für die angemessene Bestimmung der Hauptgesetze der Dialektik notwendig ist. Darüber hinaus müssen wir uns mit dem Verweis begnügen, daß wesentlich mehr Begriffe zum „Inventar" dieser Disziplin gehören (wie Zusammenhang, Bewegung, Wechselwirkung, Zufall, Notwendigkeit usw.). Engels methodisches Prinzip für deren Auswahl ist ja soeben dargestellt worden.

Quantität und Qualität, so macht Engels deutlich, existieren weder einzeln noch gemeinsam als solche - sind einzeln Abstraktionsprodukte - es gibt vielmehr nur Dinge mit Qualitäten in bestimmten Quantitäten.

Die dialektische Negation stellt wie der dialektische Widerspruch eine Erscheinung der gesamten Wirklichkeit dar. Jede Veränderung eines Zustandes ist die Vernichtung oder Negation des alten Zustandes. Entgegen aber der abstrakten, metaphysischen Anschauung bleibt die Dialektik bei diesem Ergebnis (Vernichtung des alten) nicht stehen, sondern sie weist darauf hin, daß jede Negation auch einen neuen Zustand, ein positives Ergebnis zur Folge hat.

Im Mittelpunkt der Dialektik als Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang stehen bei Engels die „Hauptgesetze" der Dialektik. „Sie sind ... nichts anderes als die allgemeinsten Gesetze,"(70) die sich aus der Wirklichkeit abstrahieren lassen. „Und zwar reduzieren sie sich der Hauptsache nach auf drei: das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt; das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze; das Gesetz von der Negation der Negation."(71)

Das erste Gesetz stellt bei Aufrechterhaltung der jeweils besonderen Bedeutung von Quantität und Qualität einen Zusammenhang zwischen beiden her. An jeder Qualitäts-

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Quantitäts-Einheit eines jeden Gegenstandes gehen zu jeder Zeit Veränderungen vor sich - nach Qualität des Gegenstandes und Umständen unterschiedlich. Diese Veränderungen geschehen auf zwei Wegen:

Es ändert sich die Quantität, dann kann der Gegenstand bis zu einer bestimmten Grenze derselbe bleiben; von dieser Grenze an verändert er aber seine Qualität, d.h. er wird ein Gegenstand mit neuen Eigenschaften. Weiter verändert sich mit jeder qualitativen Veränderuag eines Gegenstandes auch die Seite der Quantität. (Zahlreiche Beispiele für diese und die anderen dialektischen Gesetze gibt Engels im „Anti-Dühring" und in der „Dialektik der Natur".)

„Das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze" geht von der Existenz von in sich widersprüchlichen bzw. gegensätzlichen Einheiten aus, nicht nur im Denken, sondern in der gesamten Wirklichkeit: „dialektische Widersprüche." Wir sahen bereits in der Bestimmung der antiken Dialektik, daß Engels in der Bewegung und wechselseitigen Einwirkung (Zusammenhang) der „Dinge" aufeinander die Quelle der dialektischen Widersprüche sieht. D.h. einerseits: „Die abstrakte Identität (= ein Ding kann nicht gleichzeitig und in derselben Hinsicht es selbst und ein anderes sein; d.V.) wie alle metaphysischen Kategorien, reicht aus für den Hausgebrauch"'(72) d.h. für die Untersuchung isolierter Verhältnisse, in denen das Bewegungsmoment vernachlässigt werden kann. Wo andererseits Zusammenhang und Bewegung berücksichtigt werden müssen, wird konkrete Identität untersucht, die „den Unterschied, die Veränderung in sich schließt."(73) Hier sind Identität und Unterschied also nicht unversöhnliche Gegensätze, sondern „einseitige Pole, die nur in ihrer Wechselwirkung, in der Einfassung des Unterschieds in die Identität Wahrheit haben."(74)

„Das Gesetz der Negation der Negation" schließlich baut auf der eben besprochenen „dialektischen Negation" auf. Über diese Kategorie hinaus bringt das Gesetz zum Ausdruck: Die Ergänzung der einfachen Negation zur Negation der Negation, die sich wiederum (beliebig) weiter ergänzen läßt, also eine permanente dialektische Negation. In dieser Form macht sie eine rationale und konkrete Fassung jeder Entwicklung als Zusammenhang von Veränderungen möglich. Über diese dialektisch Negation in Permanenz hinaus ist das Gesetz ein Tendenzgesetz, das ein Fortschreiten vom Niederen zum Höheren zum Ausdruck bringt. In der dialektischen Negation wird das jeweils Entwicklungsfähige, Fortschreitende usw. aufgehoben, als Resultat der Negation erhalten. Dadurch wird „(in der Geschichte teilweise, im Denken ganz) ... der ursprüngliche Ausgangspunkt, aber auf höherer Stufe wieder erreicht,"(75) ein Vorgang, den Engels im Bild der Spiralform der Entwicklung zu veranschaulichen sucht. Tendenzgesetz bedeutet dabei auch, daß es sich bei diesen Entwicklungen um keine einlinigen Mechanismen handelt, sondern diese Höher oder Aufwärtsentwicklungen insgesamt mit partiellen Stillständen und Rückentwicklungen verbunden sind.

An Hand dieses letzten Gesetzes macht Engels deutlich, daß die Gesetze wie alle sehr allgemeinen Inhalte der Dialektik als Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang besondere Bestimmungen, Kategorien, Gesetze usw. nicht ersetzen können: Das Gesetz der Negation der Negation ist „... ein äußerst allgemeines und eben deswegen äußerst weitwirkendes und wichtiges Entwicklungsgesetz der Natur, der Geschichte und des Denkens"; aber, fährt Engels fort, „es versteht sich von selbst, daß ich über den besondern Entwicklungsprozeß, den z.B. das Gerstenkorn von der Keimung bis zum Absterben der fruchttragenden Pflanze durchmacht, gar nichts sage, wenn ich sage, es ist Negation der Negation. Denn da die Integralrechnung ebenfalls Negation der Negation ist, würde ich mit der entgegengesetzten Behauptung nur den Unsinn behaupten, der Lebensprozeß eines Gerstenhalms sei Integralrechnung oder meinetwegen auch Sozialismus. ... Wenn ich von all diesen Prozessen sage, sie sind Negation der Negation, so fasse ich sie allesamt unter dies eine Bewegungsgesetz zusammen, und lasse ebendeswegen die Besonderheiten jedes einzelnen Spezialprozesses unbeachtet."(76) Entsprechendes gilt von den anderen ebenso allgemeinen Inhalten dieser Wissenschaft.

Neben den Gesetzen der Dialektik soll abschließend auf Engels' „Theorie der Bewegungsformen" eingegangen werden. Denn sie macht sowohl die Radikalität seines Bewegungsbegriffes deutlich (und damit die Bedeutung der Dialektik als Wissenschaft der

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Bewegung), als sie auch die erste Konkretion der allgemeinsten dialektischen Inhalte, die für die gesamte Wirklichkeit Gültigkeit haben, zur besonderen Dialektik einzelner Wirklichkeitsbereiche darstellt: „Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie. Nie und nirgends hat es Materie ohne Bewegung gegeben und kann es sie geben. ... Alle Ruhe, alles Gleichgewicht ist nur relativ, hat nur Sinn in Beziehung auf diese oder jene Bewegungsform."(77) Dabei ist die Bewegung nicht eine Daseinsweise der Materie neben anderen, sondern „die verschiedenen Formen und Arten des Stoffs selbst (sind) . .. nur durch die Bewegung zu erkennen, nur in ihr zeigen sich die Eigenschaften der Körper; . .. ergibt sich die Beschaffenheit der sich bewegenden Körper."(78) So schließt sich die Wirklichkeit für Engels aus verschiedenen Formen der Bewegung „von der bloßen Ortsveränderung bis zum Denken" zu einem unendlichen Verwandlungsprozeß zusammen. Ihm liegen nach Engels ünf Grundformen der Bewegung zugrunde, die aufeinander aufbauen; d.h. die nächste enthält die vorherige in sich, geht aber über diese hinaus, ist komplexer als diese. Die einzelnen Grundformen sind: die mechanische Bewegung, die Bewegung der Moleküle, der Atome, die Bewegung der Organismen und schließlich der Gesellschaft. Wissenschaftlich konstatiert, haben sich zumindest die letzteren historisch auseinander entwickelt und sind auch jetzt in dauernder Umwandlung begriffen.

Für Engels sind diese Grundformen jedoch keine endgültigen Festlegungen, sondern „rationelle Gruppierungen" auf einem bestimmten, nämlich dem damaligen Stand der Forschung. Daß es ihm hier um das Prinzip einer solchen Gruppierung geht, wird in einer Hegelkritik deutlich. Hegel hatte nämlich ebenfalls eine solche Gruppierung versucht, die Engels zwar kritisiert, aber dennoch sehr hoch schätzt, denn er sieht sie natürlich in Abhängigkeit von Hegels Zeit und deren Erkenntnisstand.

Die einzelnen Grundformen der Bewegung und ihre spezielle Dialektik werden von den einzelnen Wissenschaften bzw. Wissenschaftszweigen untersucht.

c. Die Dialektik spezieller Wissenschaftszweige und der ihnen zugrunde liegenden Wirklichkeitsbereiche

Einige kurze und auch mehr formale Bemerkungen zur besonderen Dialektik einzelner Wirklichkeitsbereiche (bzw. Grundformen der Bewegung) und den entsprechenden Wissenschaften sollen den Abschluß unserer Rekonstruktion bilden. Wir gehen dabei aus von der schon desöfteren zitierten Dreiteilung der Realität in Natur, Gesellschaft und Denken. Diese Dreiteilung läßt sich durch die Zusammenfassung der ersten vier Grundformen der Bewegung zum Bereich Natur bilden, wobei dann innerhalb der Grundform Gesellschaft, auf Grund der - ideellen - Besonderheit, das Denken gegenüber den anderen - materiellen - gesellschaftlichen Verhältnissen gesondert behandelt wird, was an seiner Zugehörigkeit zu diesem Bereich allerdings nichts ändert. (Durch die Zusammenfassung aller materiellen Gegebenheiten gegenüber dem Denken entsteht schließlich das Verhältnis: objektive und subjektive Dialektik bei Engels.)

Wir wenden uns in verkürzter Form den einzelnen Bereichen Natur, Gesellschaft und Denken zu, die durch die entsprechenden Wissenschaftsbereiche untersucht werden, deren Gegenstand nun benannt ist und die im wesentlichen mit denselben Methoden (Abstraktion und Verallgemeinerung) die einzelwissenschaftlichen Ergebnisse verarbeiten wie die Dialektik als Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang.

Dialektische Naturforschung und Dialektik der Naturentwicklung. Engels macht deutlich, daß nachdem die Naturforschung des 18. und insbesondere des 19. Jahrhunderts die Historizität und den Zusammenhang der gesamten Naturerscheinungen nachgewiesen hat, eine dialektische Naturauffassung jedem, der sich mit der Natur auseinandersetzt, durch den dialektischen Charakter der Tatsachen geradezu aufgezwungen wird. Der weitere Erkenntnisfortschritt in der Naturforschung macht es erforderlich, daß „man dem dialektischen Charakter dieser Tatsachen das Bewußtsein der Gesetze des dialektischen Denkens entgegenbringt"(79) und ihre Inhalte von der Kosmogonie bis zum Leben und dem tierischen Zusammenleben unter dialektischen Gesichtspunkten wieder- und weiter untersucht. Der hauptsächliche Zweck dieser (theoretischen) Arbeit wurde bereits genannt:

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Optimierung des Stoffwechsels Mensch - Natur.

Dialektische Erforschung der Gesellschaft (Historischer Materialismus) und Dialektik der Geschichte der Menschheit. Ausgehend von der Untersuchung der Gesellschaft, deren dialektischer Charakter mit der fortschreitenden Entwicklung des Kapitalismus immer deutlicher wurde, wurde eine zunehmende Zahl von Gesellschaftstheoretikern, schließlich Marx und Engels zu einer dialektischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung geführt, die bei den letzteren allerdings auch konsequent materialistisch war.

Der marxistische „historische Materialismus" untersucht unter historischem und systematischem Aspekt die besondere Dialektik der gesellschaftlichen Erscheinungen: die Arbeit, die durch sie bedingten Produktionsverhältnisse und die anderen sich darauf gründenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Erkenntnisse über daraus ableitbare Entwicklungstendenzen dienen als Grundlage zur Erarbeitung von konkreten Veränderungskonzepten und deren praktischer - ökonomischer, politischer und ideologischer - Umsetzung. Damit wird die Dialektik des Handelns und der Praxis in den Vordergrund gerückt. Im historischen Materialismus ist die Praxis die zentrale Kategorie, die menschliche Erkenntnistätigkeit ist als ihr Bestandteil zu bestimmen.

Dialektische Erforschung des Denkens und die Dialektik der Geschichte des Denkens. Die Geschichte des Denkens als integraler Bestandteil der menschlichen Geschichte insgesamt führt an dem „Punkt," an dem die Geschichte von Natur und Gesellschaft als dialektische reflektierbar geworden ist, zu der neuen materialistisch und systematisch begründeten Einsicht in den dialektischen Charakter des Denkens selbst.

Damit ist zunächst für Engels die Überwindung der traditionellen Logik verbunden, die nun als Spezialfall (analog dem metaphysischen Denken, dessen Logik sie ja darstellt) einer sie umgreifenden dialektischen Logik begriffen wird.

Die gewonnene Dialektiktheorie bildet die Grundlage für eine dialektische Methodik der Erkenntnis, die die Methodik des Handelns ergänzt.

Schließlich macht die Integration des - gesellschaftlichen wie individuellen - Erkenntnisprozesses in den gesamtgesellschaftlichen Prozeß die vielfältige Verflochtenheit der Erkenntnis bzw. der Theorie mit der gesellschaftlichen Praxis deutlich (Praxis als Ausgangspunkt der Erkenntnis, als Wahrheitskriterium und Ziel der Erkenntnis).

Engels' Programm eines dialektischen Wisscnschaftssystems. Um den Engelsschen Systematisierungsansatz mindestens formal zu vervollständigen, bleiben auf einer weiteren Ebene der Konkretion die Einzelwissenschaften und ihre speziellen Gegenstände - Teile wiederum eines der drei Teilbereiche - kurz zu behandeln. Zu den zentralen Methoden der bisher geschilderten Wissenschaftsdisziplinen treten im wesentlichen die Methoden der empirischen Forschung hinzu.

Wir wollen hier nur das für die Dialektik des Engelsschen Wissenschaftssystems relevante Prinzip, das in dieser Wissenschaftsstruktur jetzt sichtbar gemacht werden kann, herausstellen: Einerseits ist durch den bisherigen Gang ein Zusammenhang zwischen der abstraktesten (Dialektik-)Theorie und der empirischen Forschung deutlich gemacht worden, der auf der theoretischen und methodischen Grundlegung der konkreteren Wissenschaftsteile durch die abstrakteren beruht. Andererseits sind die Inhalte dieser allgemeinen Disziplinen durch Abstraktion und Verallgemeinerung verarbeitete Ergebnisse der Empirie. D.h. neues empirisches Material und die Inhalte der allgemeinen Disziplinen sind wechselseitig Korrektiv füreinander. Dadurch wird eine kontrollierte Entwicklung in beiden Richtungen festgeschrieben, aus der auch die historische Stellung des Wissens bei Engels deutlich wird: „Man läßt die ... für jeden einzelnen unerreichbare .absolute

Wahrheit' laufen und jagt dafür den erreichbaren relativen Wahrheiten nach auf dem Weg der positiven Wissenschaften und der Zusammenfassung ihrer Resultate vermittelst des dialektischen Denkens."(80) Dies Prinzip eines dialektisch-materialistischen Wissenschaftssystems scheint also gleichzeitig eine nicht spekulative „Philosophie," die

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empirisch fundiert ist und permanent empirisch überprüft wird, und eine nicht empiristische Einzelwissenschaft, die durch eben diese „Philosophie" geleitet wird, zu ermöglichen. Das hier für die gesamte dialektisch-materialistische Wissenschaft Gesagte gilt für die dialektischen Inhalte im einzelnen gleichermaßen. In diesem Sinne sagt Engels, daß die Natur - und sinngemäß ist zu ergänzen: die Gesellschaft - die Probe auf die Dialektik darstellen.

Schließlich beinhaltet seine Wissenschaftskonzeption für Engels: Die dialektisch-materialistische Wissenschaft (wie ihre Dialektik) sind nicht Selbstzweck, sondern haben eine praktisch-gesellschaftliche Aufgabe, im Kapitalismus eine primär politische. Insofern wandte sie sich „von vornherein vorzugsweise an die Arbeiterklasse"(81) als das geschichtliche Subjekt, das auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung in der Lage ist, mit Hilfe des wissenschaftlichen Sozialismus den sozialen Fortschritt zu erkämpfen.

D. SCHLUSSBEMERKUNG ZUM STELLENWERT DES HIER DARGESTELLTEN AUSSCHNITTS AUS DEM ENGELSSCHEN DIALEKTIK-MODELL

Am Ende dieses Rekonstruktionsversuches und zum Abschluß des Kapitels soll nicht nochmals auf die zu Anfang dargestellte Diskussion in der Sekundärliteratur eingegangen werden. Der Leser kann sich nun selbst ein erstes Urteil über Aussagen bilden wie die, daß die Dialektik bei Engels auf drei Grundgesetze „zusammenschrumpft," die zudem noch „hypostasiert" werden, und ähnliche Behauptungen, wie sie aus der Sekundärliteratur zitiert wurden. Auch eine Kritik an Engels' Dialektik-Modell wird hier nicht mehr folgen - der Anspruch beschränkte sich von vornherein auf die Rekonstruktion der Engelsschen Dialektikkonzeption in ihren Grundzügen. Zwei Schlußbemerkungen scheinen aber nützlich:

Um zumindest einen Teil neuer Mißverständnisse - an denen die Diskussion um Engels ja ohnehin nicht arm ist - zu vermeiden, sei nochmals auf die Ausschnitthaftigkeit dieser Darstellung hingewiesen. Es sind in der Tat nur Prinzipien der Engelsschen Dialektik dargestellt und, sehr im Ansatz verbleibend, erläutert worden. Allein in den hier zugrunde gelegten Schriften ist noch sehr Vieles - auch von Bedeutung - zu seinem Dialektikmodell zu finden. Um zu einem Urteil über den Dialektiker Engels zu kommen, wären daher zunächst seine theoretischen Schriften vollständig zur Kenntnis zu nehmen. Dann aber müßten auch die übrigen, vor allem die praktischpolitischen Schriften, die Briefe und nicht zuletzt die Engelssche Praxis unter dem Gesichtspunkt materialistischer Dialektik analysiert werden.

Vergegenwärtigt man sich auf diese Weise den Gesamtrahmen, der bei einer umfassenden Analyse des Engelsschen Modells zu berücksichtigen wäre, stellt sich die Frage nach der Begründung der hier vorgenommenen Auswahl, also des Akzentes auf dem allgemeinsten und abstraktesten Teil des Modells. Der Verfasser sieht die Antwort darin, daß dieser Teil im Marx-Engelsschen Werk den einzigen systematischen Versuch einer theoretischen Grundlegung materialistischer Dialektik darstellt. Hier wird - zumindest im Selbstverständnis von Marx und Engels - der Versuch unternommen, die theoretische wie die die Methode betreffende Grundlage für alle ihre konkreteren Aussagen zu legen.

Darüber hinaus ist dieser Modellausschnitt für zahlreiche spätere Dialektiktheoretiker diese Grundlage geblieben. Deren spätere, hauptsächlich in die Richtung der Konkretisierung und Anwendung gehenden Weiterentwicklungsversuche sind Differenzierungen dieser Engelsschen Grundlegung und verstehen sich als solche. Dabei ist - wie wir teilweise sehen konnten - diese Richtung der Entwicklung von Engels durch seine praktische und theoretische Arbeit selbst gewiesen und vorbereitet worden

ANMERKUNGEN

1) Lukacs, „Was ist orthodoxer Marxismus?" in: Derselbe, Geschichte und Klassenbewußtsein.

2) Lukacs, „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats," in: Derselbe,

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Geschichte und Klassenbewußtsein.

3) Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 14-17.

4) Horkheimer, Materialismus und Metaphysik, S. 66.

5) Schmidt, Der Begriff dir Natur in der Lehre von Karl Marx.

6) a.a.O., S. 41-48.

7) Dudek, Engels und das Problem der Naturdialektik. Mchringer/Mergner, Debatte um Engels.

Netzsch, Dialektik und Naturwissenschaft: Friedrich Engels als naturwissenschaftlicher Erkenntnistheoretiker.Frese, Teil des Artikels „Dialektik" über Engels, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie.Negt, „Marxismus als Legitimationswissenschaft. Zur Genese der stalinistischen Philosophie," in: Ders. (Hrsg.), Bucharin/Deborin, Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus.

8) Marx, „Das Kapital," MEW, vol. 23, S. 327.

9) Schmidt, Der Begriff der Natur, S. 42.

10) a.a.O., S. 45

11) Engels, Vorworte und Umleitung zu „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" (= Anti-Dühring), MEW, vol. 20.

12) Engels, (Notizen und Fragmente) (Aus der Geschichte der Wissenschaft), in: „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20.

13) Schmidt, Der Begriff der Natur, S. 44.

14) Engels, Rezension zur „Kritik der politischen Ökonomie," MEW, vol. 13, S. 472-477. „Anti-Dühring," MEW, vol. 20, S. 125.

15) Lukacs, „Vorwort März 1967 zu Geschichte und Klassenbewußtsein," Lukacs Werke vol. 2, S. 11-41.

16) Als Vertreter unterschiedlicher Richtungen kommen zum Ergebnis einer Vereinbarkeit von Marxscher und Engelsscher Dialektik /..B.: E. Bloch, s. „Materialismusproblem." H. J. Sandkühler, s. „Praxis und Geschichtsbewußtsein." H. Fleischer, s. „Marx und Engels."

17) Negt, Überlegungen :u einer kritischen Lektüre der Schriften von Marx und Engels.

18) Engels, „Rezension," MEW, vol. 13, S. 472-477-

19) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 305-570.

20) Engels, „Anti-Dühring," MEW, vol. 20, S. 1-303.

21) Engels, „Brief an Marx vom 30.5.1873," MEW, vol. 33, S. 80-81.

22) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 305-570.

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23) Engels, „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft," MEW, vol. 19, S. 189-228.

24) Marx, (Vorbemerkung zur französischen Ausgabe (i 880)), der „Entwicklung," MEW, vol. 19,S. 181.

25) Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie," MEW, vol. 2i, S. 259-307.

26) Engels, „Vorwort" (zur zweiten, durchgesehenen Auflage „Zur Wohnungsfrage"), MEW, vol. 21,8.328.

27) Engels, „Die Entwicklung," MEW, vol. 19, S. 228.

28) Engels, „Vorwort" zur ersten Auflage (in deutscher Sprache (1882)) der „Entwicklung ..."MEW, vol. 19, S. 187-188.

29) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 307-308.

30) s. MEW, vol. 20, S. 764-765.

31) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 307.

32) Ebenda.

33) Engels, „Anti-Dühring," MEW, vol. 20, S. 16-26.

34) Engels, „Rezension," MEW, vol. 13,8.475.

35) Engels, „Die Entwicklung," MEW, vol. 19, S. 202.

36) a.a.O., S. 202-203.

37) a.a.O., S. 202.

38) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 333. .

39) a.a.O., S. 458-

40) a.a.O., S. 451.

41) a.a.O., S. 499-

42) a.a.O., S. 499.

43) Engels, „Anti-Dühring," MEW, vol. 20, S. 112.

44) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 348.

45) Engels, „Anti-Dühring," MEW, vol. 20,S. 131-132.

46) a.a.O.. S. 22.

47) a.a.O.. S. 20.

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48) Ebenda.

49) a.a.O., S. 21.

50) a.a.O., S. 20.

51) a.a.O., S. 19.

52) a.a.O., S. 21-23.

53)Engels, „ Ludwig Feuerbach," MEW, vol. 21, S. 269.

54) Marx, „Nachwort" zur zweiten Auflage des „Kapital," MEW, vol. 23, S. 27.

55) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 334.

56) a.a.O., S. 335.

57) Engels, „Ludwig Feuerbach," MEW, vol. 21, S. 292.

58) a.a.O., S. 293.

59) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 334.

60) a.a.O., S. 335.

61) Engels, „Ludwig Feuerbach," MEW, vol. 21, S. 293.

62) a.a.O., S. 293.

63) a.a.O., S. 293.

64) a.a.O., S. 293.

65) a.a.O., S. 293.

66) a.a.O., S. 295.

67) a.a.O., S. 295-296.

68) Engels, „Materialien zum Anti-Dühring," MEW, vol. 20, S. 578.

69) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 348.

70) a.a.O., S. 348.

71) Ebenda.

72) a.a.O., S. 485.

73) Ebenda.

74) Ebenda.

75) Engels, „Materalien zum Anti-Dühring," MEW, vol. 20, S. 583-584. 74 Engels, „Anti-

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Dühring," MEW, vol. 20, S. 131.

77) a.a.O., S. 55.

78) Engels, „Dialektik der Natur," MEW, vol. 20, S. 513.

79 Engels, „Vorwort" zu der Auflage von 1894 des Anti-Dühring, MEW, vol. 20, S. 14.

80) Engels, „Ludwig Feucrbach," MEW, vol. 21, S. 270.

81) a.a.O., S. 307.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 3. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 55-84

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MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIKBEITRÄGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von HEINZ KIMMERLE

02/07

trendonlinezeitung

KAPITEL IV

VLADIMlR ILJlC LENINAndreas Arndt Zur Kapitelübersicht

A. HAUPTPUNKTE DER AUSEINANDERSETZUNG MIT LENINS KONZEPTION MATERIALISTISCHER DIALEKTIK: STREIT UM DIE "LENINSCHE ETAPPE" DER MARXISTISTISCHEN PHILOSOPHIE UND BEGINN DER ERFASSUNG SEINER DIALEKTIK-KONZEPTION

Die Auseinandersetzungen mit Lenins Konzeption materialistischer Dialektik konzentrieren sich auf zwei Problemkreise, nämlich den nach Lenins Tod zuerst von Stalin erhobenen Anspruch, der Leninismus sei nicht nur die „Wiederherstellung, sondern auch die Konkretisierung und Weiterentwicklung der kritischen und revolutionären Methode von Marx, seiner revolutionären Dialektik,"(1) und den Inhalt und die systematische Bestimmung dieser „Leninschen Etappe" in der Entwicklung der marxistischen Philosophie.

Die Übereinstimmung der Positionen Lenins mit denen von Marx und Engels wurde zunächst von Pannekoek und Korsch bestritten.(2) Ihre Kritik zielt darauf, daß Lenin sich philosophisch auf dem Boden des bürgerlichen, vormarxistischen Materialismus angesiedelt habe. Zum Beleg dient vor allem die 1909 veröffentlichte Streitschrift „Materialismus und Empiriokritizismus." Die Kritik Korschs und Pannekoeks beeinflußt bis

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heute die Polemik gegen die sogenannte „Widerspiegelungstheorie" Lenins und wurde von der westlichen Lenin-Kritik weitgehend aufgegriffen.(3) Dieser Richtung der Auseinandersetzung ist gemeinsam, daß Lenins entwickelte Dialektik-Konzeption der Jahre 1914/15 entweder gar nicht berücksichtigt oder nur als unzureichende Korrektur der früheren Auffassungen gewertet wird.

Demgegenüber war in der III. Internationale lediglich der Anspruch, Lenin habe die materialistische Dialektik weiterentwickelt, ein Diskussionsgegenstand. Diese Diskussion wurde formell abgeschlossen, als Ende 1930 gegen die Gruppe um den sowjetischen Philosophen Deborin eine Resolution angenommen wurde, in der es hieß, Deborin habe die Bedeutung des „Leninismus in der Philosophie als einer neuen Entwicklungsstufe des dialektischen Materialismus"(4) verkannt. In der Kommunistischen Bewegung ist seitdem die Anerkennung einer „Leninschen Etappe" in der Entwicklung der marxistischen Philosophie unbestritten und Lenins Konzeption gehört von dorther wie die Modelle von Marx und Engels zu den Voraussetzungen jeder Bestimmung und Weiterentwicklung der materialistischen Dialektik. Dabei sind unterschiedliche und in entscheidenden Positionen auch in der politischen Konsequenz divergierende Dialektik-Modelle ausgearbeitet worden, die sich alle als „leninistisch" verstehen.(5) Obwohl im Rahmen der Diskussion über den Leninismus in der Philosophie 1929/30 die 1914/15 entstandenen „Philosophischen Hefte" Lenins erstmals vollständig veröffentlicht wurden, trat die systematische Aufarbeitung der darin enthaltenen Konzeption lange Zeit zugunsten der „Widerspiegclungstheorie" in „Materialismus und Empiriokritizismus" zurück, die als der entscheidende Beitrag Lenins akzentuiert wurde.(6) Erst seit Mitte der 50er Jahre zeichnet sich in der Sowjetunion und ihrem ideologischen Einflußbereich eine deutliche Akzentverschiebung zugunsten einer systematischen Erfassung und Ausarbeitung der Dialektik-Konzeption ab.(7) Die Diskussionen betreffen vor allem den Aufbau der materialistischen Dialektik als Logik, ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften und ihre Bedeutung für aktuelle Probleme gesellschaftlicher Entwicklung. In diesem Rahmen erhält die Kategorie des Widerspruchs besondere Bedeutung durch die Auseinandersetzung mit Mao Tsetungs Modell der Widerspruchsdialektik, das sich ausdrücklich auf Lenin bezieht und dessen politische Konsequenzen denen der sowjetischen Theorie direkt entgegenstehen.

B. LENIN UND DIE PHILOSOPHIE: PHILOSOPHISCHE THEORIE ALS ,HEBEL FÜR DIE VERÄNDERUNG DER WELT'

„Materialismus und Empiriokritizismus" und die „Philosophischen Hefte" bewegen sich scheinbar ganz im Rahmen einer philosophischen Argumentation; ihr Bezug auf die politische Theorie-Praxis Lenins ist sehr vermittelt. Es scheint daher möglich zu sein, sie als eine Darlegung der Leninschen Philosophie zu lesen, die aus sich selbst hinreichend interpretierbar ist. In dieser Weise haben Pannekoek und Korsch Lenins Text verstanden. Auch in der sowjetischen Diskussion steht, wie schon die Problemstellung „Lenin als Philosoph" zeigt, die immanente Interpretation der genannten Texte als Darlegung der Leninschen Philosophie weitgehend im Vordergrund.(8)

Dagegen läßt sich geltend machen, daß Lenin in erster Linie Revolutionär ist, für den sich theoretische Fragestellungen im Zusammenhang mit der politischen Praxis ergeben. Wenn er sich dabei auf die Diskussion über die Philosophie des Marxismus einläßt, wäre zunächst zu fragen, welche praktisch-politischen Notwendigkeiten er dafür sieht und welche Funktion er der Philosophie im revolutionären Prozeß zuweist. Geht man von Lenins eigenen Voraussetzungen aus, so gilt für die Philosophie als Bestandteil der Theorie des Marxismus, was er in einer seiner ersten Schriften programmatisch formulierte: an erster Stelle steht unbedingt die praktisch-politische Arbeit und die theoretische Arbeit antwortet auf die Fragen, die von ihr erhoben werden.(9) Umgekehrt hat freilich die Praxis, um nicht „blind" gegenüber ihren Bedingungen zu sein, sich notwendig auf die revolutionäre Theorie zu beziehen.(10) Diese Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis ist für die gesamte Tätigkeit Lenins als grundlegend zu unterstellen und kennzeichnet seine Parteikonzeption als Verbindung des wissenschaftlichen Sozialismus mit der spontanen Arbeiterbewegung ebenso wie die politökonomischen Analysen der gesellschaftlichen Entwicklung Rußlands oder die situationsbezogenen Analysen zur Begründung einer revolutionären Taktik.

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In der Beziehung aller theoretischen Arbeit auf die politische Praxis, die nicht pragmatisch mißzuverstehen ist, sondern Erfassung der Bedingungen und Möglichkeiten verändernden Handelns bedeutet, sowie in der Vielschichtigkeit der theoretischen Argumentationen in ihrer „Nähe" zur Praxis folgt Lenin Marx und Engels, auf deren Werke er sich als theoretische Voraussetzungen methodisch und inhaltlich bezieht. Charakteristisch für Lenin ist indessen, daß der größte Teil seiner Schriften auf unmittelbar praktisch-politische Konsequenzen ausgerichtet ist und sich in ihnen daher das Bezogensein auf die Praxis auf einer anderen Ebene darstellt als in den grundlegenden Werken von Marx und Engels, was damit zusammenhängt, daß Lenin als Parteiführer in die Tagesfragen des Klassenkampfes direkt involviert war. Diese Tatsache ist auch entscheidend für die Entwicklung der Leninschen Dialektik-Konzeption. Lenin mußte in ganz anderem Maße als Marx und Engels die Dialektik nicht nur als Methode der wissenschaftlichen Erfassung und Darstellung grundlegender gesellschaftlicher Zusammenhänge thematisieren, sondern als Methode der Analyse konkreter Situationen des Klassenkampfes, die sich unmittelbar praktisch herstellen und theoretisch nicht vorab durchkonstruiert werden können.

Für diesen neuen Schritt, die Bestimmung der Dialektik als Methode der konkreten Analyse einer konkreten Situation, fand Lenin einen theoretischen Bezugspunkt zunächst im Briefwechsel von Marx und Engels, in dem die Dialektik im Prozeß der unmittelbaren Entwicklung der revolutionären Politik und Theorie gleichsam „in Aktion" erscheint.(11) Die Bedeutung der materialistischen Dialektik als theoretische Voraussetzung revolutionärer Politik unterstreicht Lenin in seinem Aufsatz „Karl Marx," wo es heißt: „Die Hauptaufgabe der Taktik des Proletariats bestimmte Marx in strenger Übereinstimmung mit allen Leitsätzen seiner materialistisch-dialektischen Weltanschauung."(12)

Die Notwendigkeit der Reflexion auf die methodischen Grundlagen des Marxismus erklärt sich aus den spezifischen gesellschaftlichen Voraussetzungen marxistischer Theorie und Politik in Rußland. Der Übernahme der auf westeuropäisch-kapitalistische Verhältnisse bezogenen Untersuchungen von Sachzusammenhängen und einer ihnen entsprechenden Taktik waren dadurch Grenzen gesetzt, daß der Kapitalismus sich in Rußland erst inmitten vorkapitalistischer Strukturen zu entwickeln begann, wodurch das „Kapital" nur insoweit herangezogen werden konnte, wie es eine Darstellung der Notwendigkeit und der Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung in Rußland ermöglichte.(13) Von Anfang an verstand Lenin daher den Marxismus und besonders das „Kapital" im Sinne einer materialistischen Methode der Soziologie, der „Untersuchung und Erklärung der Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse bestimmter Länder,"(14) deren Anwendung auf Rußland nur darin bestehen kann, unter „Ausnutzung der erarbeiteten Mittel der materialistischen Methode und der theoretischen politischen Ökonomie die russischen Produktionsverhältnisse und ihre Entwicklung zu untersuchen."(15)

Bei der ökonomischen Analyse der Entwicklung des Kapitalismus in Rußland thematisiert Lenin die Methode allerdings nur am Rande. Die wenigen Bemerkungen in den frühen Schriften Lenins beziehen sich darauf, daß in der dialektischen Methode „die Gesellschaft als ein lebendiger, in ständiger Entwicklung begriffener Organismus betrachtet wird (und nicht als etwas mechanisch Verkettetes, das infolgedessen eine beliebige willkürliche Kombination der einzelnen gesellschaftlichen Elemente zuließe)."(16) Zugleich erklärt Lenin, daß „ein Bestehen auf Dialektik, ein Auswählen von Beispielen, die die Richtigkeit der Triade bestätigen sollen, nichts anderes sind als Überbleibsel jenes Hegelianertums, aus dem der wissenschaftliche Sozialismus hervorgegangen ist, Überbleibsel seiner Ausdrucksweise."(17) Der Bezug auf die Methode ist somit zunächst der Bezug auf den Geschichtsmaterialis-mus überhaupt und nicht auf die materialistische Dialektik als Philosophie. Das Vorbild Lenins ist dabei Plechanov, der führende Theoretiker des russischen Marxismus, der in ähnlicher Weise den Geschichtsmaterialismus akzentuiert und den historischen Prozeß als Entwicklung in dialektischen Sprüngen vom Feudalismus über den Kapitalismus zum Sozialismus dargestellt hatte, wobei diese Entwicklungsetappen als notwendig betrachtet wurden.(18)

Dieses Schema lag der Bestimmung der Aufgaben der russischen Revolution bei Plechanov und Lenin zugrunde. Der Inhalt der Revolution konnte zunächst nur bürgerlich-demokratisch sein, d.h. sie mußte dem Kapitalismus und der Entwicklung seiner Produktivkräfte erst zum Durchbruch verhelfen. Für Plechanov bedeutete dies politisch

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bürgerliche Demokratie nach westlichem Vorbild. Hier bezog Lenin in der ersten russischen Revolution 1905/06 aufgrund der Analyse vor allem der spontanen Bauernbewegung einen entgegengesetzten politischen Standpunkt, dessen Begründung weitreichende Konsequenzen auch für die Bestimmung der materialistischen Dialektik hatte. Lenin hielt die Errichtung einer „revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" für möglich, die die Bourgeoisie politisch entmachtet und die Agrarverhältnisse so umgestaltet, daß dieEnt-wicklung der Produktivkräfte zugleich den Übergang zu sozialistischen Maßnahmen und politisch zur Diktatur des Proletariats ermöglichte.(19) In der Begründung dieser taktischen und strategischen Festlegungen praktizierte Lenin ein Verfahren der konkreten Analyse, das als paradigmatisch für die Methode der konkreten Analyse der konkreten Situation betrachtet werden kann.

Die Erkenntnis des allgemeinen Ganges der gesellschaftlichen Entwicklung ermöglicht die Bestimmung des Grundwiderspruchs der russischen Revolution als Widerspruch zwischen kapitalistischen Produktivkräften und vorkapitalistischen Strukturen. Dieser Widerspruch bestimmt alle anderen Widersprüche der Gesellschaft. Soweit ist Lenin mit Plechanov einig, die Differenzen brechen erst an der Frage auf, wie diese Determination aufzufassen ist. Lenin wirft Plechanov vor, „einlinig" zu argumentieren,(20) indem er das Verhältnis der Klassen und die Aufgaben der Revolution aus dem Grundwiderspruch rein logisch ableite21 und damit gegen den von ihm selbst betonten Grundsatz verstoße, daß die Wahrheit immer konkret sei.(22) Lenins Kritik beruht darauf, daß er die Klassenwidersprüche zwar als durch den Grundwiderspruch bestimmt begreift, ihre Entwicklung jedoch auch von anderen Faktoren abhängig macht, d.h. sowohl ihre Determination als auch ihre relative Selbständigkeit berücksichtigt. Dabei zeigt sich, daß Proletariat und Bauernschaft das größte Interesse an der radikalsten Durchführung der demokratischen Revolution auch gegen die Bourgeoisie haben und den Grundwiderspruch lösen können, ohne die Bourgeoisie an die Macht zu bringen. Lenin geht also von der Existenz der Widersprüche in einem gesellschaftlichen Ganzen aus, die durch den Grundwiderspruch determiniert werden, sich aber nicht allein aus ihm herleiten lassen, sondern relativ selbständig entwickeln. Dadurch entstehen Situationen, die einen Klassenwiderspruch bestimmend werden lassen, der nicht aus dem Grundwiderspruch ausschließlich logisch ableitbar ist. Lenin nennt dies später den „Hauptwiderspruch" der Revolution, der sich in jeder Etappe ändern kann, ohne daß sich dadurch der Grundwiderspruch verändert hätte.(23) Diese nicht einlinig-mechanische, sondern dialektische Bestimmung der Determination führt zum Bruch Lenins mit Plechanov und anderen Theoretikern der II. Internationale, die davon ausgehen, daß die Produktivkräfte die allein entscheidende Determinante der gesellschaftlichen Entwicklung darstellen. In diesem Sinne spricht Lenin 1915 von zwei grundlegenden Triebkräften, der Entwicklung der Produktivkräfte und dem Klassenkampf.(24)

Die Praxis des Klassenkampfes ist für Lenin Grundlage, aber auch Moment der konkreten Analyse. Er identifiziert daher das Verfahren Plechanovs mit dem des mechanischen Materialismus, der die Welt interpretiert, es aber nicht versteht, die „richtige Interpretation zu einem Hebel für die Veränderung der Welt, zu einem Werkzeug für den weiteren Fortschritt zu machen."(25) Das heißt, eine gegebene Situation nicht objektivistisch, sondern im Hinblick auf die Möglichkeiten verändernden Handelns zu analysieren und darin die Einheit von Theorie und Praxis zu verwirklichen, die für Lenin die Grundlage des revolutionären Marxismus überhaupt ist.(26) Diesen Standpunkt, der die Parteilichkeit der Analyse fordert, hat Lenin in der Imperialismusanalyse gegen Kautskys „afe/ra^-theoretische"27 Fragestellung gewendet, die sich mit der Möglichkeit eines „Ultraimperialismus" und seiner Bedeutung für den Übergang zum Sozialismus befaßte, während es für Lenin darauf ankam, die „akuten Aufgaben der Gegenwart" zum Bezugspunkt der theoretischen Erfassung der Widersprüche des Imperalismus zu machen.(28) Diese Aufgaben sind durch die konkrete Situation ebenso bestimmt wie durch die revolutionäre Zielsetzung, die in jeder Situation angemessen zur Geltung gebracht werden muß. Solche ZielvorsteHungert sind, wie Lenin in „Staat und Revolution" zeigt, nicht aus der Annahme einer Teleolo-gie der gesellschaftlichen Entwicklung abgeleitet, sondern sind theoretische und praktische Antizipation einer objektiv möglichen Entwicklung, Verallgemeinerung der Erfahrungen der Klassenkämpfe auf der Grundlage der Erfassung der Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung.(29)

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Die von Lenin praktizierte Methode der konkreten Analyse läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß sie auf die Einheit von Theorie und Praxis abzielt, indem sie die Praxis zur Grundlage und zum Ziel der Analyse macht, die konkrete Situation als komplexes Ganzes in ihrer Entwicklung und ihren Beziehungen nicht einlinig determinierter Widersprüche begreift, in der der Klassenkampf selbst als Determinante erscheint und auf dieser Grundlage den jeweiligen Hauptwiderspruch bestimmt, dessen Lösung zur Verwirklichung der taktischen und strategischen Zielvorstellungen beiträgt.

Lenin praktiziert die Dialektik als Methode der konkreten Analyse und entwickelt einzelne ihrer Bestimmungen, ohne sie in einem systematischen hilosophische Zusammenhang darzustellen. Wenn daher von Lenins Beitrag zur Philosophie des Marxismus die Rede ist, so ist zunächst davon auszugehen, daß sie in seinem Werk implizit vorliegt und in ihrer Entwicklung und Systematik rekonstruiert werden muß.

Dasselbe gilt für das Verständnis von „Materialismus und Empiriokritizismus," der einzigen von Lenin publizierten Schrift, die sich ausdrücklich auf eine philosophische Kontroverse bezieht. Lenin argumentiert hier zwar ausdrücklich im Blick auf die in Frage stehenden philosophischen Positionen; wie er argumentiert und welche Fragen er in den Mittelpunkt rückt, wird jedoch von praktisch-politischen Interessen bestimmt. Die Schrift entstand in den Reaktionsjahren nach der ersten russischen Revolution, unter deren Druck sich die Ideologen der bürgerlich-demokratischen Bewegung von den demokratischen und materialistischen Traditionen der russische Aufklärer lossagten und auf idealistische und mystizistische Positionen übergingen; eine Entwicklung der herrschenden Ideologie, die auch Teile der Sozialdemokratie erfaßte.(30) In dieser Situation ging es Lenin darum, die gemeinsame ideologische Grundlage der Arbeiterbewegung und der kleinbürgerlich-demokratischen Bauernbewegung in den materialistischen Traditionen hervorzuheben, die Einheit der Partei bei Wahrung der politischen Differenzen zu erhalten und die Fraktionsauseinandersetzungen von der philosophischen Diskussion zu trennen.(31) Lenins Eingreifen in die Kontroverse ist daher bewußt auf eine philosophische Argumentation beschränkt und bringt die politischen Grundlagen dieses Eingriffs und seine Intentionen nur auf der philosophischen Abstraktionsebene zum Ausdruck; ebenso bewußt beschränkt ist der Bereich seiner philosophischen Argumentation: die Darstellung des allem Materialismus Gemeinsamen.(32)

Dieses Gemeinsame ist die Anerkennung des Primats der Materie und der Objektivität der Erkenntnis im Sinne der Erkennbarkeit der Welt und Bemessung der Erkenntnis an einer außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein existierenden Realität. Die Ausdrücke „Widerspiegelung," „Abbild" usw. verweisen auf dieses grundlegende Verhältnis von Sein und Bewußtsein. Wo Lenin über diese These hinausgeht, bezieht er sich auf die Praxis als Grundlage und Kriterium der Erkenntnis und grenzt die Dialektik des Erkenntnisprozesses vom Relativismus ab. Das geschieht jedoch nur soweit, wie es notwendig ist, das grundlegende Verhältnis von Sein und Bewußtsein in der Beschränkung dieser Gegenüberstellung einsehbar zu machen. Der Verweis auf die Praxis als Grundlage und Kriterium der Wahrheit der Erkenntnis begründet die materialistische Position außerhalb eines philosophischen Prinzips und erlaubt zugleich die Formulierung der philosophischen Kategorie „Materie" als einer außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein existierenden Realität. Die Abgrenzung vom Relativismus soll die These der Objektivität der Erkenntnis im Sinne einer „Widerspiegelung" dieser Realität auch im Prozeß der Relativierung alles Wissens im Erkenntnisfortschritt sichern. Lenin versteht den Erkenntnisprozeß im Rahmen dieser Problemstellung als Annäherung an die absolute Wahrheit durch die Summe der relativen Wahrheiten.(33) Diese Unterscheidung dient dazu, in der Philosophie eine Trennungslinie zu markieren: „Sie ist gerade .unbestimmt' genug, um die Verwandlung der Wissenschaft in ein Dogma ... zu verhindern, sie ist aber zugleich ,bestimmt' genug, um sich auf das entschiedenste und unwiderruflichste vom Fideismus und vom Agnostizismus, vom philosophischen Idealismus und von der Sophistik der Anhänger Humes und Kants abzugrenzen . . . Dies ist die Trennungslinie zwischen dialektischem Materialismus und Relativismus."(34)

Lenins Philosophie-Strategie ist von dorther mit Althusser als Eingriff in die Philosophie zu bestimmen,(35) der in einem unmittelbar praktisch-politischen Zusammenhang steht und nicht zu einer philosophischen Argumentation im Sinne einer Begründung und Darstellung

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für sich gestellter kategorialer Bestimmungen in ihrem Zusammenhang führt. Das schließt nicht aus, daß dabei philosophische Kategorien entwickelt werden („Materie," „Praxis," „absolute Wahrheit," „relative Wahrheit"), deren Funktion aber darin besteht, „Trennungslinien" zu markieren, die Anspruch und Konsequenzen jeder „rein logischen" Spekulation zurückweisen und auf die konkrete Erforschung des Gegenstandes außerhalb der Philosophie orientieren. In diesem Sinne sind auch die Zurückweisung der hegelianischen Konstruktion in Triaden in den frühesten Schriften Lenins und die Bestimmungen der Dialektik als Methode der konkreten Analyse zu verstehen.

Wenn Lenin 1914/15 einen entscheidenden Schritt weiter geht und die materialistische Dialektik als Philosophie ins Zentrum seiner Studien stellt, so ist zu fragen, ob in ihnen in gleicher Weise ein praktisch-politisches Interesse zugrunde gelegt ist und ob die in der konkreten Analyse praktizierte Dialektik auf der Ebene philosophischer Bestimmungen adäquat aufgenommen wird.

C. LENINS KONZEPTION MATERIALISTISCHER DIALEKTIK IN DEN „PHILOSOPHISCHEN HEFTEN" (1914/15)

1. Voraussetzungen von Lenins Auseinandersetzung mit der Philosophie

Lenins „Philosophische Hefte" sind keine systematische Darstellung seiner Dialektik-Konzeption, sondern zur Selbstverständigung verfaßte Exzerpte und Notizen zu Hegels „Logik," dessen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" und die „Philosophie der Weltgeschichte", zu Feuerbachs „Leibniz," Lassalles „Heraklit" und zur „Metaphysik" des Aristoteles. Daneben finden sich Notizen zur Literatur über Hegel, zu naturwissenschaftlichen Fragen und zwei eigenständige Entwürfe Lenins („Plan der Dialektik (Logik) Hegels," „Zur Frage der Dialektik").(36) Anlaß dieser philosophischen Studien war die Abfassung eines Lexikon-Artikels über Karl Marx,(37) in dem Lenin anhand aller ihm bekannten Äußerungen von Marx und Engels zu diesen Fragen den philosophischen Materialismus und die Dialektik darzustellen versuchte. Der kurz zuvor publizierte Briefwechsel zwischen Marx und Engels, in dem sich Bemerkungen über die Bedeutung aller von Lenin herangezogenen Positionen finden, war Grundlage des Programms seiner Lektüre.(38)

Lenins philosophische Studien scheinen auf den ersten Blick alles andere als praktisch-politisch bezogen zu sein und sich eher der durch Kriegsausbruch und Exil erzwungenen Isolation von der unmittelbaren Praxis zu verdanken, aber auch dies war nur ein äußerer Anlaß, denn, wie Krupskaja schreibt: „Das Ziel seiner philosophischen Studien war, sich eine Methode zu eigen zu machen, die die Philosophie in eine konkrete Anleitung zum Handeln umgestalten konnte."(39) Dies wird dadurch belegt, daß Lenins Studien unmittelbar in die Ausarbeitung der Imperialismusanalyse und die Vorarbeiten zu „Staat und Revolution" übergingen. Diesen Schritt hat Lenin freilich nicht in der Weise reflektiert, daß sich an die Erfassung der allgemeinsten Bestimmungen der materialistischen Dialektik eine Ausarbeitung der Methode der Gesellschaftsanalyse oder eine Theorie der Besonderheiten gesellschaftlicher Widersprüche anschließt.

Die Konzeption der „Philosophischen Hefte" erweist sich so als relativ abgehoben von der praktisch-politisch bezogenen Theoriebildung, aber ein solches Zurückgehen auf die abstraktesten Grundlagen des Marxismus war selbst Erfordernis einer politischen Situation. Angesichts des Zusammenbruchs der H. Internationale und der Notwendigkeit des vollständigen Bruchs mit ihren reformistischen Positionen kam es Lenin darauf an, den revolutionären Marxismus „wiederherzustellen" - und dies auf allen Ebenen der revolutionären Theorie.(40) Erst wenn gezeigt wird, daß sich alle philosophischen Bestimmungen auf die marxistische politische Theorie-Praxis beziehen lassen, was Lenin in „Karl Marx" voraussetzt, kann die materialistische Dialektik als Grundlage des revolutionären Marxismus aufgefaßt werden. Nur von dorther läßt sich auch Lenins Verfahren rechtfertigen, die dialektische Methode in einem für sich gestellten philosophischen Begründungszusammenhang darzustellen, der allerdings einen völlig neuen Typ der

Philosophie bezeichnet. Lenin setzt dabei schon immer voraus, daß die gesellschaftliche

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Praxis die Grundlage aller Theorie und daher auch der Philosophie ist; ebenso setzt er die Theorie Man;' und Engels' wie auch sein eigenes Verfahren der konkreten Analyse voraus. Von diesen in den „Philosophischen Heften" vielfach nicht mehr ausdrücklich thematisierten theoretischen Voraussetzungen ausgehend rekonstruiert Lenin den Bruch der materialistischen Dialektik mit der Hegeischen Dialektik und darin mit aller bisherigen Philosophie.

2. Der materialistische „Kern" der Hegeischen Dialektik

Lenin liest die Hegeische „Logik" nicht in der Absicht, ihre immanente Argumentationsstruktur im Ganzen zunächst rein zu erfassen. Gleich am Beginn der Lektüre notiert er: „Ich bemühe mich im allgemeinen, Hegel materialistisch zu lesen: Hegel ist auf den Kopf gestellter Materialismus (nach Engels)."(41) Das heißt aber zugleich, daß er in einzelnen Argumentationszusammenhängen Hegels Problemstellungen der materialistischen Dialektik aufweisen und Argumente für den Materialismus gewinnen kann. So ist der Leitfaden der materialistischen Lektüre die Kritik Hegels an der Kantischen Position, die darauf besteht, daß die Denkbestimmungen nicht ein subjektives Synthetisieren der Erscheinungen sind, die das Ding-an-sich als unerkennbar im Jenseits des Bewußtseins lassen. Die in dieser Kritik enthaltene These der Objektivität der Erkenntnis übernimmt Lenin auf materialistischer Grundlage, indem er den Anspruch Hegels zurückweist, die Wirklichkeit aus den Bestimmungen des reinen Denkens hervorgehen zu lassen. Die von Lenin gemeinte Objektivität der Erkenntnis ist daher nichts anderes als die These, daß das Bewußtsein das Sein widerspiegelt. Gleichzeitig haben für Lenin die Bestimmungen der Seinslogik und der Wesenslogik rationelle Inhalte, einen „Kern," den er „entdecken, begreifen, hinüberretten, herausschälen, reinigen" will: „Bewegung und 'Selbstbewegung' (dies NB! selbsttätige (selbständige), spontane, innerlich-notwendige Bewegung), .Veränderung,' .Bewegung und Lebendigkeit,' .Prinzip jeder Selbstbewegung,' .Trieb' zur .Bewegung' und zur .Tätigkeit' - Gegensatz zum ,toten Sein'"42 - in diesen Bestimmungen resümiert Lenin Hegels Entwicklung des Widerspruchs.

Der Vollzug des reinen Denkens kann überhaupt nur Bestimmungen aus sich hervorgehen lassen, weil Hegel die Unmittelbarkeit (das reine Sein, die absolute Identität) in die Vermittlung übergehen läßt, ein Verhältnis Entgegengesetzter in ihrer Einheit. Streicht man, wie Lenin, die Voraussetzung der Unmittelbarkeit, die nichts anderes ist als die vorausgesetzte Voraussetzungslosigkeit reinen Denkens, so bleibt die Bestimmung des Widerspruchs, der Einheit Entgegengesetzter, als Quelle der Selbstbewegung und Triebkraft jedes Prozesses. In diesem Sinne versteht Lenin den „Kern" der Hegeischen Dialektik, wobei die Form des Prozesses, der Umschlag von Quantität in Qualität, das Abbrechen der Allmählichkeit und der dialektische Sprung in Bestimmungen gedacht werden kann, die bereits bei Hegel ausgearbeitet sind und die Lenin, dem Vorbild Engels' folgend, aufnimmt. „Bedingung der Erkenntnis aller Vorgänge in der Welt in ihrer ,Selbstbewegung,' in ihrer spontanen Entwicklung, in ihrem lebendigen Leben ist die Erkenntnis derselben als Einheit von Gegensätzen."(43) Jeder Anstoß der Bewegung von außen, durch „Gott, Subjekt usw.,"(44) wird damit ausgeschlossen.

Lenin bricht mit den ideologischen und idealistischen Voraussetzungen der Hcgclschen Dialektik, indem er als materialistische Voraussetzung das Bezogensein allen Denkens und Handelns auf einen objektiven Prozeß formuliert. Dabei kann aber die Struktur der Hegeischen Dialektik nicht bestehen bleiben. An die Stelle des Unmittelbaren, das erst in die Vermittlung übergeht, tritt als Ausgangspunkt materialistischer Dialektik ein Verhältnis,(45) das nicht eine durch einen einfachen zugrundeliegenden Widerspruch bestimmte Totalität darstellt, sondern ein Ganzes von in ihren Beziehungen und Entwicklungen relativ selbständigen Widersprüchen: „Ein Fluß und die Tropfen in diesem Fluß. Die Lage jedes Tropfens, sein Verhältnis zu den anderen; sein Zusammenhang mit den anderen; die Richtung seiner Bewegung; die Geschwindigkeit; die Linie der Bewegung ... Die Summe der Bewegung. Die Begriffe als das Erfassen der einzelnen Seiten der Bewegung, der einzelnen Tropfen (= ,der Sachen'), der einzelnen ,Ströme' usw."(46) Hegels Totalitätsbegriff, der das Einzelne schon immer im Allgemeinen aufgehoben hat, indem das Einzelne erst aus dem Übergang der Unmittelbarkeit in die Vermittlung hervorgeht, wird in diesem „Weltbild nach Hegels .Logik' ... minus den lieben Gott und das Absolute"(47)

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aufgegeben: das Einzelne in seiner Besonderheit und relativen Selbständigkeit wird zum Ausgangspunkt der Erfassung des Ganzen gemacht. Diese materialistische Auffassung der Totalität entspricht auf der Ebene philosophischer Bestimmungen dem von Lenin praktizierten und in der Kritik an Plechanov theoretisch begründeten Verfahren der konkreten Analyse.

Entscheidende Konsequenzen seines hier erst bildhaft vorgestellten Totalitätsbegriffs entwickelt Lenin in der Auseinandersetzung mit dem Kapitel der „Logik" über die absolute Idee als absolute Methode, das für ihn, schon durch die Häufigkeit seiner Anmerkungen belegbar (sie umfassen etwa 1/4 der Notizen zur „Logik"), den entscheidenden „Kern" der Hegelschen Dialektik enthielt. Dieses Kapitel habe „fast gar nicht spezifisch den Idealismus zum Inhalt, sondern sein Hauptgegenstand ist die dialektische Methode. Fazit und Resümee, das letzte Wort und der Kern der Hegelschen Logik ist die dialektische Methode."(48) In den Anmerkungen zu diesem Kapitel thematisiert Lenin das Verhältnis der endlichen Subjekte zum objektiven Prozeß, ihre Stellung im Gesamtprozeß und damit den widersprüchlichen Prozeß der Erkenntnis und Umgestaltung der Welt: das Verhältnis von Theorie und Praxis.

Hegel hatte in der „Logik" auf idealistischer Grundlage den Riß im Kantischen System zwischen theoretischer, an das Gegebensein der Erscheinungen und damit die Notwendigkeit gebundener Vernunft und der Autonomie der Vernunft als praktischer dadurch aufgehoben, daß er theoretische und praktische Vernunft im reinen Denken als gleich ursprünglich annahm, wodurch die Notwendigkeit ebensosehr die Bestimmungen der Freiheit (des absoluten Geistes) in sich schließt, wie die Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit ist. Auf dieser Grundlage vollzieht sich der Übergang vom subjektiven Begriff zur absoluten Idee in der „Logik" schon in der Struktur des Praxis-Prozesses der Erkenntnis: Praxis -Theorie - Praxis, von der Idee des Lebens über die Idee des Erkennens und die Idee des Guten als praktischer Idee zur absoluten Idee. Lenin knüpft an diese Struktur der Darstellung an und hat durch die Kritik an der Voraussetzung reinen Denkens dabei schon mit der bei Hegel noch sichtbaren Dominanz der Theorie über die Praxis gebrochen: Praxis ist ihm nicht die Tätigkeit reinen Denkens, sondern endliche Praxis endlicher Subjekte als Grundlage und Kriterium der Wahrheit der Erkenntnis.

Lenin unterscheidet „2 Formen des objektiven Prozesses: die Natur ... und die zwecksetzende Tätigkeit des Menschen."(49) Die zwecksetzende Tätigkeit hat aber die Natur zur Grundlage und kann Zwecke nur nach deren immanenten Gesetzen verwirklichen, sie ist als Praxis zugleich Grundlage jeder Erkenntnis und auf diese Erkenntnis für das Setzen der Zwecke angewiesen. In dieser Rückkehr von der Erkenntnis zur Praxis wird die Natur selbst verändert und der gesellschaftliche Lebenszusammenhang hergestellt, der unter dem Titel eines objektiven Prozesses gedacht wird. Ist auch der Arbeitsprozeß teleologisch, als zwecksetzende Tätigkeit gefaßt, so ist jedoch sein Resultat als Resultante von endlichen Tätigkeiten und im Verhältnis zum Naturprozeß ein objektiver, nichtteleologischer Prozeß: „Die .objektive Welt' ,geht ihren eigenen Gang,' und die Praxis des Menschen, die diese objektive Welt vor sich hat, begegnet .Hindernissen bei der Ausführung' des Zwecks, sie stößt sogar auf die .Unmöglichkeit.'"(50)

Die Theorie ist so zunächst Widerspiegelung des objektiven Prozesses auf der Grundlage der Praxis, aber auch mehr als nur Widerspiegelung, indem sie die Setzung von Zwecken ermöglicht. Sie ist zugleich rezeptiv (Widerspiegelung) und Antizipation objektiv möglicher Veränderungen: „Das Bewußtsein des Menschen widerspiegelt nichl nur die objektive Welt, sondern schafft sie auch."(51) Jede Erkenntnis ist für Lenin ein Schluß auf den Zusammenhang des objektiven Prozesses und enthält darin potentiell die Voraussicht seiner Entwicklung und der Bedingungen seiner Veränderung.(52) Im Konspekt zur Metaphysik des Aristoteles schreibt Lenin: „auch in der einfachsten Verallgemeinerung, in der elementarsten allgemeinen Idee ... steckt ein gewisses Stückchen Phantasie. (Vice versa: es ist unsinnig, die Rolle der Phantasie auch in der strengsten Wissenschaft zu leugnen .. .)."(53) Lenin verweist in diesem Zusammenhang auf ein von ihm in „Was tun?" ange- : führtcs Zitat über die Nützlichkeit von Träumen. Die objektive Phantasie, die antizipierende, zwecksetzende Funktion des Bewußtseins ermöglicht erst eine revolutionäre, auf Veränderung zielende Theorie und begründet die Bedeutung dieser

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Theorie, ohne die die Praxis ziellos wäre. Die Partei organisiert in Lenins Konzeption auf der Grundlage der revolutionären Theorie die revolutionäre Klasse zur zwecksetzenden, d.h. revolutionär verändernden Tätigkeit. Ohne diese Theorie, ohne diese Organisation, ohne diese Praxis machen die Massen keine Geschichte nach ihren Interessen, sondern werden von den herrschenden Interessen getrieben. Lenins vielzitierter Aphorismus, man könne Marx' „Kapital" nicht begreifen, ohne die ganze „Logik" Hegels durchstudiert und begriffen zu haben („Folglich hat nach einem halben Jahrhundert nicht ein Marxist Marx begriffen!")54 steht im Kontext der Darlegung des Schlusses und der mit ihm verbundenen wissenschaftlichen Voraussicht. Er identifiziert nicht die materialistische mit der Hegeischen Dialektik, sondern erinnert gegen ökonomistische Politik und mechanistischen Subjektivismus der II. Internationale an den praktisch-revolutionären Gehalt der Marxschen Theorie.

Die antizipierende Funktion der Theorie in ihrem Bezug auf die zwecksetzende Tätigkeit läßt den Übergang von der Theorie zur Praxis als notwendigen Sprung erscheinen; erst die Praxis kann in der Realisierung oder Unmöglichkeit der Zielsetzung die Wahrheit der Erkenntnis erweisen. Die Praxis ist daher „höher als die (theoretische) Erkenntnis, denn sie hat nicht nur die Würde des Allgemeinen, sondern auch der unmittelbaren Wirklichkeit."855) Der Praxis-Prozeß der Erkenntnis (Praxis - Theorie - Praxis) ist für Lenin ebenso widersprüchlich strukturiert wie auch das Bewußtsein, das rezeptiv (Widerspiegelung) und konstitutiv (Zwecksetzung) zugleich ist. Die Verwirklichung der Zielsetzungen in der gesellschaftlichen Praxis schafft die „wahrhaft seiende Objektivität,"(56) den gesellschaftlichen Prozeß als widersprüchliche Einheit von Naturprozeß und Praxis-Prozessen.

3. Der Rückbezug auf die „Logik des ,Kapital'"

Im Anschluß an die Lektüre der „Logik" Hegels finden sich in den „Philosophischen Heften" zahlreiche Verweise auf die „Logik des .Kapital.'"(57) Die Erfassung des methodischen Gerüsts der Marxschen Darstellung durch Lenin läßt sich anhand des bisher publizierten Materials nicht nachvollziehen, obwohl kein Zweifel besteht, daß Lenin das „Kapital" immer wieder gründlich studiert hatte und deshalb ein differenziertes methodisches Verständnis in die Lektüre der „Logik" einbringen konnte.(58) Das „Kapital" muß als der nächste theoretische Bezugspunkt der Leninschen Konzeption materialistischer Dialektik betrachtet werden. „Im ,Kapital' werden auf eine Wissenschaft Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie (man braucht keine drei Worte: das ist ein und dasselbe) des Materialismus angewendet, der,alles Wertvolle von Hegel übernommen und dieses Wertvolle weiterentwickelt hat."(59) Die „Logik des .Kapital"' ist daher nicht einfach Resultat der materialistischen Lektüre Hegels, einer „Umkehrung," sondern das entscheidende Paradigma des Bruchs materialistischer Dialektik mit aller bisherigen Philosophie, auch mit der Hegelschen Dialektik, von dem aus sich ihr „Kern" erst aneignen läßt,

Im „Kapital" liegt für Lenin die „Methode der Darstellung (resp. Erforschung) der Dialektik überhaupt"(60) vor, wobei er zwei Punkte besonders betont: den Bezug auf ein schon immer vorausgesetztes Verhältnis als Ausgangspunkt und die Erfassung des Ganzen und seiner Entwicklung über die Widersprüche als Triebkraft der Selbstbewegung. „Marx analysiert im .Kapital' zunächst das einfachste ... Verhältnis der bürgerlichen (Waren-) Gesellschaft: den Warenaustausch. Die Analyse deckt in dieser einfachsten Erscheinung ... alle Widersprüche (resp. die Keime aller Widersprüche) der modernen Gesellschaft auf. Die weitere Darstellung zeigt uns die Entwicklung ( sowohl das Wachstum als auch die Bewegung) dieser Widersprüche und dieser Gesellschaft ... von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende."(61) Dieses methodische Gerüst des „Kapital" ist für Lenin über die Analyse des Kapitalverhältnisses hinaus verallgemeinerbar, „denn die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft bei Marx ist nur ein spezieller Fall der Dialektik."(62)

Entsprechende Schritte zeichnet Lenin in den systematisch ausgerichteten Entwürfen „Plan der Dialektik (Logik) Hegels" und „Zur Frage der Dialektik" vor. In dem ersten Entwurf interpretiert er den Aufbau der Hegeischen „Logik" als eine „Verallgemeinerung der Geschichte des Denkens," den allgemeinen „Gang aller menschlichen Erkenntnis (aller Wissenschaft) überhaupt."(63) Der Zusammenhang der Kategorien und Begriffe ist

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für Lenin dadurch bestimmt, daß sich alle „Momente (Schritte, Stufen, Prozesse) der Erkenntnis ... in der Richtung vom Subjekt zum Objekt" bewegen, „wobei sie anhand der Praxis überprüft werden und durch diese Überprüfung zur Wahrheit (= absolute Idee) gelangen."(64) Das „Kapital" folgt diesem Gang, indem es sich auf die „Geschichte des Kapitalismus und die Analyse der sie resümierenden Begriffe"65 bezieht. Es deckt in der Ware ein soziales Verhältnis auf und verfolgt diesen Widerspruch in seiner Entwicklung und seinen Beziehungen durch eine „zweifache Analyse, eine deduktive und eine induktive - eine logische und eine historische (die Wertformen)."(66) Das Primat der Praxis in der materialistischen Dialektik und die Notwendigkeit des Bezugs auf die konkrete Wirklichkeit bei jedem Schritt der Ableitung von theoretischen Bestimmungen bestimmen diese zweifache Analyse.: „Die Überprüfung durch die Tatsachen resp. durch die Praxis findet hier bei jedem Schritt der Analyse statt."(67) In diesem Zusammenhang verweist Lenin auf den Übergang vom absoluten zum relativen Mehrwert, der in der gesellschaftlichen Entwicklung entscheidend durch den Kampf der Arbeiterklasse gegen die Verlängerung des Arbeitstages bestimmt ist.(68)

Lenin nennt damit Voraussetzungen, die materialistische Dialektik auch in einem logisch-kategorialen Zusammenhang darzustellen. Wenn Lenin von der Bewegung vom Subjekt zum Objekt, dem Praxis-Prozeß der Erkenntnis und Umgestaltung der Welt, ausgeht, stellt er ein neues Problem, das über den Aufweis dialektischer Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft hinausweist. Lenin intendiert eine Logik, in der die Formen der Erkenntnis „gehaltvolle Formen, Formen lebendigen, realen Inhalts ..., mit dem Inhalt untrennbar verbunden"(69) sein sollen. Ein entsprechender Typ der Logik, in dem die Erkenntnistheorie als Problem der Logik und Ontologie begriffen wird, liegt im Prinzip in der Hegeischen „Logik" vor. Diese Problemstellung nimmt Lenin auf, indem er fordert, daß die Kategorien der materialistischen Dialektik, wie z.B. die grundlegende Kategorie der Einheit der Gegensätze, als „Gesetz der Erkenntnis (und Gesetz der objektiven Welt)"(70) entwickelt werden sollen.

Dabei setzt Lenin voraus, daß es eine objektive Dialektik in Natur und Gesellschaft gibt, die eine solche Logik überhaupt erst ermöglicht. Der objektive Prozeß wird aber nicht auf einmal, sondern schrittweise aufgedeckt und reproduziert. Dieser Vorgang der Erkenntnis ist für Lenin das eigentliche philosophische Problem, das einen spezifischen Standpunkt der Verallgemeinerung und Zusammenfassung der objektiven dialektischen Gesetze verlangt, der mit der Bewegung vom Subjekt zum Objekt angegeben ist.

Andernfalls werden die dialektischen Kategorien, Begriffe und Gesetzmäßigkeiten als „Summe von Beispielen" vorgestellt, aber nicht in einen notwendigen philosophischen Zusammenhang gebracht.(71)

Lenins These, daß Dialektik, Logik und Erkenntnistheorie ein und dasselbe sind, bezieht sich auf einen solchen neuen Typ der Logik, in der die Dialektik als Philosophie Theorie und Methode der Erkenntnis und Umgestaltung der Welt ist. Ihre Bestimmungen beziehen sich auf die Aufdeckung des Zusammenhangs objektiver Prozesse, ihre gedankliche Reproduktion und Veränderung, die in den Wissenschaften und der gesellschaftlichen Praxis konkret zu leisten ist, d.h. die Philosophie erfaßt sie nur in ihrer allgemeinsten logischen Form. Nur unter diesen Voraussetzungen sind Dialektik, Logik und Erkenntnistheorie dasselbe, d.h. weder ist die Dialektik als Logik mit der objektiven Dialektik gleichzusetzen, noch ist sie mit der formalen Logik deckungsgleich.

Die Position in der Diskussion über die „Einheit" (ein Terminus, den Lenin vermeidet) von Dialektik, Logik, Erkenntnistheorie, die sie als widersprüchliche Einheit verstehen und in philosophische Spezialdisziplinen wie objektive Dialektik (Naturdialektik, historischer Materialismus), subjektive Dialektik (Logik, Methode) und Erkenntnistheorie (Widerspicgelungstheo-rie) aufspalten will,(72) geht an der Intention Lenins und der bei ihm vorausgesetzten Eingrenzung der philosophischen Problemstellung vorbei. „Die Dialektik ist eben die Erkenntnistheorie (Hegels und) des Marxismus."(73) Sie ist dann aber nicht objektive Dialektik als Naturdialektik und Geschichtsdialektik, sondern logische Verallgemeinerung des Praxis-Prozesses der Erkenntnis, der die objektive Dialektik erforscht und verändert.

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4. Elemente der Dialektik

Lenin hat den systematischen Zusammenhang der materialistischen Dialektik selbst nicht umfassend dargestellt und begründet. Die wichtigsten Ansätze dazu finden sich in den „16 Elementen der Dialektik" im Kommentar zu Hegels Kapitel über die absolute Idee und in dem Fragment „Zur Frage der Dialektik." „Spaltung des Einheitlichen und Erkenntnis seiner widersprechenden Bestandteile ... ist das Wesen ... der Dialektik."(74) „Die Dialektik kann kurz als die Lehre von der Einheit der Gegensätze bestimmt werden. Damit wird der Kern der Dialektik erfaßt sein, aber das muß erläutert und weiterentwickelt werden."(75) Die Kategorie des Widerspruchs, der Einheit der Gegensätze, ist die grundlegende Kategorie materialistischer Dialektik. Der Widerspruch ist Triebkraft objektiver Prozesse und die Beziehungen der Widersprüche in ihrer Entwicklung bestimmen deren Struktur. Die Praxis als zwecksetzende Tätigkeit ist der Widerpruch zum Naturprozeß und bewegt sich im Widerspruch von Sein und Bewußtsein, Theorie und Praxis. Ebenso ist das Bewußtsein oder die Theorie widersprüchlich in ihrer Beziehung zur Praxis, nämlich zugleich rezeptiv und konsumtiv. Die Einheit der Gegensätze ist das grundlegendste und allgemeinste Gesetz der Erkenntnis und der objektiven Welt und in allen Natur- und Gesellschaftswissenschaften aufzuweisen, wie es Lenin an elementaren Beispielen deutlich macht.(76) Die Forderung, das Einheitliche zu spalten, ist nichts anderes als die Forderung, das schon immer gegebene Verhältnis als Ausgangspunkt der Erkenntnis und der Praxis zu erlassen.

Wie ist aber die Einheit der Gegensätze zu verstehen? Der Prototyp der Einheit der Gegensatz ist für Lenin das Verhältnis des Einzelnen zum Allgemeinen, das sich in jedem beliebigen, nicht tautologischen Satz aufzeigen läßt: „die Blätter des Baumes sind grün; Iwan ist ein Mensch; Shutschka ist ein Hund u. dgl. Schon hierin ist (wie Hegel genial bemerkt hat) Dialektik: Einzelnes ist Allgemeines."(77)' Tautologisch wären dagegen formallogisch nach dem Satz der Identität (A = A) aufgebaute Sätze: Iwan ist Iwan usw. Das Einzelne ist das real Existierende in seiner unaufhebbaren Besonderheit, das Allgemeine der Zusammenhang dieses Einzelnen in der Totalität seiner Beziehungen, in diesem Falle seine Zugehörigkeit zu einer Spezies (Mensch, Hund). Dieses Allgemeine existiert nicht als „Mensch" oder „Hund" schlechthin, sondern nur im Einzelnen und durch das Einzelne. „Somit sind die Gegensätze (das Einzelne ist dem Allgemeinen entgegengesetzt) identisch: das Einzelne existiert nicht anders als in dem Zusammenhang, der zum Allgemeinen führt. Das Allgemeine existiert nur im Einzelnen, durch das Einzelne. Jedes Einzelne ist (auf die eine oder andere Art) Allgemeines. Jedes Allgemeine ist (ein Teilchen oder eine Seite oder das Wesen) des Einzelnen. Jedes Allgemeine umfaßt nur annähernd alle einzelnen Gegenstände. Jedes Einzelne geht unvollständig in das Allgemeine ein usw. usw. Jedes Einzelne hängt durch Tausende von Übergängen mit einer anderen Art Einzelner (Dinge, Erscheinungen, Prozesse) zusammen usw."(78)

Schon aus diesen Ausführungen wird deutlich, daß für Lenin das Einzelne in seiner Besonderheit unaufliebbar ist und daher nicht vollständig in das Allgemeine eingeht, während das Allgemeine nur im Einzelnen existiert. Die Identität der Entgegensetzung ist daher partiell und relativ, die Nichtidentität absolut. „Die Einheit (Kongruenz, Identität, Wirkungsgleichheit) der Gegensätze ist bedingt, zeitweilig, vergänglich, relativ. Der Kampf der einander ausschließenden Gegensätze ist absolut, wie die Entwicklung, die Bewegung absolut ist."(79) Die Einheit der Gegensätze ist daher nichts anderes als der Zusammenhang der Entgegengesetzten in einer Totalität, als AIIgemeines die Determination des Einzelnen durch den Zusammenhang des Ganzen. Das heißt aber, daß das Einzelne in seiner Besonderheit nicht in der Vollständigkeit seiner Bestimmungen durch das Ganze determiniert wird, sondern seine Besonderheit erhält und sich auf der Grundlage seiner Determination relativ selbständig entwickelt. Eine solche Struktur der Totalität hatte Lenin in seiner konkreten Analyse vorausgesetzt.

Die Bedeutung dieser Bestimmungen für den materialistischen Charakter der Dialektik wird deutlich, wenn man sie auf die idealistische Dialektik Hegels zurückbezieht. Unter der Voraussetzung des reinen Denkens ist die Unmittelbarkeit oder die Identität der Ausgangspunkt; der Widerspruch geht zugrunde und das Einzelne oder Besondere wird in der Vollständigkeit seiner Bestimmungen aus dem Allgemeinen entwickelt. Der Bruch

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Lenins mit dieser Konzeption wird in der Beziehung der 16 Elemente der Dialektik auf Hegels Darstellung der absoluten Methode deutlich. Hegel geht aus von der Unmittelbarkeit des Allgemeinen, das sich als konkrete Totalität, d.h. Einheit ihrer Entgegengesetzten bestimmt. Lenin setzt an dem Punkt an, wo Hegel schreibt, daß das „anfängliche Allgemeine aus ihm selbst als das Andre seiner sich bestimmt,"(80) wodurch der Widerspruch der einfache Widerspruch der Totalität, des Allgemeinen mit sich ist. Lenin bezieht aber die Struktur des Widerspruchs wie selbstverständlich sofort auf das Einzelne als Element der Totalität, der Widerspruch ist „im Ding selbst"81 und die Totalität ist „die ganze Totalität der mannigfaltigen Beziehungen dieses Dinges zu den anderen."(82)

Die Reihenfolge der Elemente der Dialektik verdeutlicht Lenins Totali-tätsbegriff: i. Objektivität der Betrachtung des Dinges; 2. Die Totalität der Beziehungen dieses Dinges zu den anderen Dingen; 3. Die Entwicklung dieses Dinges; 4. Die innerlich widersprechenden Tendenzen in diesem Ding; 5. Das Ding als „Summe und Einheit der Gegensätze"(83); 6. Der Kampf dieser Gegensätze. Das Gegebensein eines Verhältnisses, einer konkreten Totalität, ist die Voraussetzung materialistischer Dialektik. Als Konkretes ist es die Einheit seiner widersprechenden Elemente, deren Beziehungen die Totalität bilden. Es ist daher ausgehend vom Einzelnen, dessen Widersprüchen und Beziehungen zu erkennen. Das Einzelne entwickelt sich auf der Grundlage seines inneren Widerspruchs und geht dabei Beziehungen zu allen anderen Dingen ein. Diese Beziehungen bilden die Struktur oder den Zusammenhang des Ganzen und determinieren ihrerseits das Einzelne, ohne es in seiner Besonderheit aufzuheben. Die Erkenntnisbewegung, die die Beziehungen der Elemente des Ganzen aufdeckt und als konkrete Totalität reproduziert, ist als „Vereinigung von Analyse und Synthese - das Zerlegen in einzelne Teile und die Gesamtheit, die Summierung dieser Teile"(84) zu bestimmen. Diese Bewegung vollzieht sich entsprechend der Entwicklung des objektiven Prozesses. Die Entwicklung des Widerspruchs in dem Ding kann seine Beziehungen zu den anderen Dingen verändern, wie umgekehrt seine Determination durch das Ganze das Ding verändern kann. Dieses dialektische Determinationsverhältnis bestimmt die Entwicklung des Ganzen und seiner Elemente als einen komplex strukturierten Prozeß des Ineinanderübergehens aller Bestimmungen, wie Quantität in Qualität usw. Dieses von Engels zu den drei Grundgesetzen der Dialektik gerechnete Gesetz erscheint hier in einem abgeleiteten Zusammenhang als Beispiel zum Ineinanderübergehen von Bestimmungen. Als ein zweites Beispiel nennt Lenin die Dialektik von Inhalt und Form, „Kampf des Inhalts mit der Form und umgekehrt. Abwerfen der Form, Umgestaltung des Inhalts."(85) Ebenso ist die Negation der Negation, von Lenin als „scheinbare Rückkehr zum Alten"(86) verstanden, in seiner Konzeption eine aus der grundlegenden Kategorie des Widerspruchs abgeleitete Bestimmung. In der Konsequenz ist damit der revolutionäre Gehalt der materialistischen Dialektik, die Erkenntnis der Möglichkeit und Notwendigkeit der Höherentwicklung und Veränderung der objektiven Welt zum Ausdruck gebracht.

Entscheidender als diese schon von Engels hervorgehobene Funktion einer Dialektik, die sich durch nichts imponieren läßt, ist jedoch Lenins Versuch, in einem philosophischen Zusammenhang das Verfahren der konkreten Analyse als Bestandteil des revolutionären Prozesses zu verallgemeinern. Als die zentralen Punkte, an denen in Lenins Konzeption die praktisch-politische Bedeutung der philosophische Bestimmungen hervortritt, sind der Totalitätsbegriff und die Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis anzusehen.

Die Konsequenzen der Leninschen Konzeption wären noch weiter zu entwickeln, indem man sie wiederum auf sein Verfahren der konkreten Analyse und die darin vorgenommenen Unterscheidungen qualitativ verschiedener Formen des Widerspruchs beziehen würde. Lenin weist später ausdrücklich darauf hin, daß „Antagonismus und Widerspruch ... durchaus nicht ein und dasselbe" sind,(87) also antagonistische und nichtantagonistische Widersprüche zu unterscheiden sind. Ebenso wäre die systematische Bedeutung des von Lenin eingeführten Begriffs „Hauptwiderspruch" zu klären. Lenin hat eine solche Theorie der Besonderheit des Widerspruchs nicht entwickelt, seine durchgearbeitete philosophische Konzeption bleibt dabei stehen, die Allgemeinheit des Widerspruchs als Besonderen zu bestimmen und er vollzieht von dort unmittelbar den „Sprung" in die konkrete historisch-gesellschaftliche Analyse der für die Praxis relevanten Widersprüche des Imperialismus. Die Konzeption materialistischer Dialektik gibt ihm dabei die Methode der praxisorientierten Analyse an die Handi sie entsprechend auf der Ebene

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der Philosophie thematisiert und in ihren Grundlagen entwickelt zu haben, ist Lenins Verdienst und das Entscheidende seines Beitrags zur Philosophie des Marxismus. Die Grenzen dieser Konzeption liegen darin, daß Lenin sie ausschließlich in der Auseinandersetzung mit der Philosophie entwickelte. Hätte er darüber hinaus seine eigene Theorie-Praxis im Hinblick auf die Theorie materialistischer Dialektik aufgearbeitet, wäre er zweifellos zu weitreichenderen Bestimmungen im Sinne einer Theorie der Besonderheit des Widerspruchs vorgestoßen. Darin und in der bei Lenin trotz vieler Hinweise noch ausstehenden Erfassung des kategorialen Zusammenhangs materialistischer Dialektik liegt die Notwendigkeit, im Anschluß an Lenin über Lenin hinauszugehen.

Anmerkungen

1) Stalin, Fragen des Leninismus, S. 23-24.

2) Pannekoek, Lenin als Philosoph; darin auch der Beitrag von Korsch, „Zur Philosophie Lenins."

3) Hier ist insbesondre auf die Lenin-Kritik der „Frankfurter Schule" zu verweisen.

4) Deborin/Bucharin, Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus, S. 321. Es handelt sich um eine Resolution der Parteizelle des Instituts der Roten Professur für Philosophie und Naturwissenschaft in Moskau vom 29.12.1930.

5) Das gilt sowohl für die entgegengesetzten Dialektik-Modelle in China und der UdSSR wie auch für die Vielfalt von Positionen im sowjetischen Diskussionszusammenhang. Dazu Kursanow (Red.), Geschichte der marxistischen Dialektik, Die Leninsche Etappe.

6) Pawlow, Die Widerspiegelungstheorie.

7) Kursanow (Red.), Geschichte der marxistischen Dialektik; Rosenta! (Red.), Lenin als Philosoph.

8) Das heißt nicht, daß Lenins Texte nicht auch auf ihre politische Bedeutung hin untersucht werden, ihre politische Funktion in der konkreten Situation ihrer Entstehung wird aber nicht zum Ausgangspunkt der Interpretation gemacht.

9) Lenin, „Was sind die,Volksfreunde,'" Werke, vol. i, S. 301.

10) Lenin, „Was tun?" Werke, vol. 5, S. 379.

11) Lenin, „Der Briefwechsel zwischen Kar! Marx und Friedrich Engels," Werke, vol. 19, S. 548-554.

12) Lenin, „Karl Marx," Werke, vol. 21, S. 64.

13) Lenin, „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland," Werke, vol. 3.

14) Lenin, „Was sind die .Volksfreunde,"' Werke,vq\. 1,8.267.

15) Ebenda. Die verschiedenen Arten der Hervorhebung in den Werken Lenins werden hier und im Folgenden durch Kursivdruck wiedergegeben.

16) a.a.O., S. 158.

17) a.a.O., S. 156-157.

18) Plechanov (Plechanow), Zur Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung; Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte; Beiträge zur Geschichte des

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Materialismus.

19) Diese Position Lenins findet sich in den Beiträgen zum III. Parteitag der SDAPR (Werke, vol. 8, S. 355-421) und folgenden Schriften: Lenin, „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution," Werke, vol. 9, S. 1-130; „Schlußwort zur Agrarfrage," Werke, vol. 10, S. 279-289; „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland," Vorwort zur zweiten Auflage, Werke, vol. 3, S. 17-21; „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution," Werke, vol. 13,8. 213-437.

20) Lenin, „Die revolutionäre demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft," Werke, vol. 8, S. 292.

21) Lenin, „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland," Vorwort zur zweiten Auflage, Werke, vol. 3, S. 18. 11 Lenin, „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück," Werke, vol. 7, S.416.

23) Lenin, „Über die Aufgaben der SDAPR in der russischen Revolution," Werke, vol. 23,S.369.

24) Lenin, „Der Zusammenbruch der II. Internationale," Werke, vol. 21, S. 211.

25) Lenin, „Bericht über den Vereinigungsparteitag der SDAPR," Werke, vol. 10, S. 346.

26) Lenin, „Vorwort zur russischen Übersetzung der Briefe von K. Marx an L. Kugelmann," Werke, vol. 12, S. 99.

27) Lenin, „Vorwort zu N. Bucharins Broschüre .Weltwirtschaft und Imperalsmus,'" Werke, vol. 22, S. 103.

28) "a.a.O., S. 106.

29) Lenin, „Staat und Revolution," Werke, vol. 25, S. 393-507; Marxismus und Staat.

30) Lenins Briefwechsel mit Gorkij (Briefe vol. 2) in den Jahren 1907-1909 zeigt die ideologischen und politischen Voraussetzungen und Intentionen von „Materialismus und Empiriokritizismus" am deutlichsten auf.

31) Lenin, Briefe, vol. 2, S. 135-144.

32) Lenin, „Materialismus und Empiriokritizismus," Werke, vol. 14,8.99.

33) a.a.O., p. 129; zum MateriebegrilF p. 127; zur Praxis S. 132-138.

34) Lenin, „Materialismus und Empiriokritizismus," Werke, vol. 14,8. 131.

35) Althusser, Lenin und die Philosophie; Lecourt, Lenins philosophische Strategie.

36) Lenin, „Philosophische Hefte," Werke, vol. 38.

37) Lenin,„Karl Marx," Werke,vol. 21,8. 31-80.

38) Lenin, Konspekt zum Briefwechsel zwischen Marx und Engels.

39) Krupskaja, Erinnerungen an Lenin, S. 333.

40) Lenin, „Staat und Revolution," Werke, vol. 25, S. 397.

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41) Lenin, „Philosophische Hefte", Werke, vol. 38, S. 94.

42) a.a.O., S. 131.

43) a.a.O., S. 339.

44) a.a.O., S. 339.

45) a.a.O., S. 340.

46) a.a.O., S. 137

47) Ebenda.

48) a.a.O., S. 226.

49) a.a.O., S. 178.

50 a.a.O., S. 205.

51) a.a.O., S. 203.

52) a.a.O., S. 170

53) a.a.O., S. 353

54) a.a.O., S. 170

55) a.a.O., S. 204

56) a.a.O., S. 210

57) a.a.O., S. 316

58) Biblioteka V. I. Lenina v Kremle, Katalog. Darin sind die verschiedenen, in Lenins Besitz befindlichen Ausgaben des „Kapital" verzeichnet, die durchweg Anstreichungen und Randbemerkungen aufweisen sollen.

59) Lenin, Philosophische Hefte, Werke, vol. 38, S. 316.

60) a.a.O., S. 340

61) Ebenda. ,

62) Ebenda

63) a.a.O., S. 315

64) a.a.O., S. 316.

65) a.a.O., S. 319.

66) Ebenda.

67) Ebenda.

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68) a.a.O., S. 316.

69) a.a.O., S. 84.

70) a.a.O., S. 338-

71) Ebenda.

72) Sandkühler, Praxis und Geschichtsbewußtsein; Kumpf, Probleme der Dialektik in Lenins Imperialismusanalyse; Kopnin, Dialektik, Logik, Erkenntnistheorie.

73) Lenin, „Philosophische Hefte," Werke, vol. 38, S. 343.

74) a.a.O., S. 338. 'a.a.O., S. 214.

76) a.a.O., S. 338. .

77) a.a.O., S. 340.

78) Ebenda.

79) a.a.O., S. 339.

80) Hegel, Logik, vol. i, S. 557.

81) Lenin, „Philosophische Hefte," Werke, vol. 38, S. 212.

82) a.a.O., S. 213.

83) Ebenda. ...-•. "* Ebenda. .

85) a.a.O., S. 214.

86) Ebenda.

87) Lenin, „Zamecanija na knigu N. I. Bucharina .Ekonomika perechodnogo perioda,'" Leninskij sbornik, vol. 11, S. 257.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 4. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 85-106

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MAO TSETUNGvon Andreas Arndt & Giselher Schmidt

09/06

trendonlinezeitung

A. ZUR QUELLENLAGE UND ZUR SITUATION DER AUSEINANDERSETZUNG MIT MAOS MODELL MATERIALISTISCHER DIALEKTIK: DIE „PHILOSOPHISCHEN MONOGRAPHIEN" ALS RESULTATE KOLLEKTIVER PRAXIS UND ERKENNTNIS UND DER STREIT UM DIE WISSENSCHAFTLICHE RELEVANZ DER DIALEKTIK-KONZEPTION

Mao Tsetungs Konzeption materialistischer Dialektik ist integraler Bestandteil seiner praktisch-politischen Konzeptionen und von ihnen nicht abzulösen. Nicht nur, daß die Bemerkungen zur Dialektik in die konkreten Analysen mit eingeschlossen sind, auch die explizit als philosophische Beiträge ausgewiesenen Texte sind auf konkrete politische Situationen bezogen. Bezeichnend ist die Zuordnung eines Textes wie „Rede auf der Landeskonferenz der KP Chinas über Propagandaarbeit" zu den „Philosophischen Monographien."

Bisher wurden fünf Texte Maos dieser Gruppe zugeordnet: „Über die Praxis" (1937); „Über den Wid e rspruch " (1937); „Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volke" (1957); „Rede auf der Landeskonferenz der KP Chinas über Propagandaarbeit" (1957) und „Woher kommen die richtigen Ideen der Menschen?" (1963)(1). Eine weitgehende Beschränkung auf diese Texte ist deshalb legitim, weil in ihnen die politische Funktion der Dialektik und die Situationsbezogenheit der Argumentation exemplarisch zum Ausdruck kommt.

Aber auch in dieser Beschränkung ergeben sich besondere Schwierigkeiten durch die chinesische Publikationspolitik. Die genannten Texte sind aller Wahrscheinlichkeit nach von der Redaktionskommision des ZK der KP Chinas überarbeitet worden. Wieweit dabei die ursprüngliche Fassung abgeändert wurde, läßt sich kaum feststellen. Sicher ist jedoch, daß die Texte in der vorliegenden Form historisch wirksam geworden sind und den philosophischen Kern der Maotsetungideen enthalten. Das zunächst befremdliche Verfahren der kollektiven Redaktion von Texten Maos erklärt sich aus seiner eigenen Auflassung, daß die revolutionäre Theorie nichts anderes ist als die Zusammenfassung der Erfahrungen der Klassenkämpfe; die Maotsetungideen sind daher, trotz des unbestrittenen persönlichen Beitrags Maos, der in ihnen zum Ausdruck kommt, Resultat kollektiver Praxis und Erkenntnis und werden als solche behandelt. Es wäre daher wenig angemessen, die „reine" Lehre Maos rekonstruieren zu wollen, weil er theoretische Festschreibungen losgelöst von der Praxis nicht akzeptieren kann, sondern darauf besteht, daß seine Theorie in der Praxis erprobt, verändert, weiterentwickelt wird. Sein Modell materialistischer Dialektik läßt sich aber, wie es im Folgenden versucht wird, in dem Maße auch für sich erfassen, wie darin diese enge Bezogenheit zur Praxis selbst thematisiert wird.

Neben den genannten offiziell edierten Texten sind eine Reihe anderer Texte bekannt, die größtenteils aus nicht autorisierten Sammlungen der Roten Garden während der Kulturrevolution stammen.(2) Daneben gibt es einen in seiner Echtheit auch in der Sinologie umstrittenen Aufsatz von 1936 „Über den dialektischen Materialismus," eine Zusammenstellung von Lehrsätzen aus sowjetischen Lehrbüchern, der Mao zugeschrieben wird, obwohl er selbst eindeutig erklärt hat, nicht der Verfasser zu sein.(3) Diese Texte werden hier nicht herangezogen, um die sonst unumgängliche Diskussion um die Echtheit einzelner Aussagen zu vermeiden und weil sie zu den entscheidenden Bestimmungen der Dialektik bei Mao keine wesentlich neuen Gesichtspunkte beitragen. Die geplante Gesamtausgabe der Werke Mao Tsetungs wird hier erst eine Klärung herbeiführen können.

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Die Diskussion über den Beitrag Maos zur Theorie der Dialektik ist dadurch gekennzeichnet, daß sie sich weitgehend auf die Frage konzentriert, ob Maos Modell denen von Marx, Engels, Lenin oder auch Stalin entspricht bzw. sie weiterentwickelt. In der westlichen Forschung gibt es dazu drei Positionen. Holubnychy sieht in Maos Schriften eine solche Weiterentwicklung, die er vor allem als Wiederherstellung der von Lenin und Stalin verzerrten Theorie Marx' begreifen will.(4) Dagegen vertritt Schräm die Auffassung, Mao sei als Philosoph weder originell noch kompetent; „wenn zwar Maos Beitrag zur Wissenschaft der Dialektik gering ist, sein Beitrag zur Dialektik der Revolution ist sehr groß."(5) Andere Autoren sprechen Mao auch diesen Beitrag ab6 und treffen sich dabei mit der pauschalen Abqualifizierung Mao Tsetungs durch die sowjetische Polemik, die behauptet, sein Modell stehe „zum Marxismus im gleichen Verhältnis wie Alchemie zur ' Chemie"(7) und sei schlicht „nicht wissenschaftlich."(8)

Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Diskussion sich zumeist auf Sinologen und die sogenannten Marxologen beschränkt.(9) Es gibt nur wenige Versuche, Maos Beitrag zur Dialektik in seiner systematischen Bedeutung für die materialistisch-dialektische Philosophie zu erfassen. Neben Schicke! und Holz wären hier vor allem Althussers knappe, aber theoretisch folgenreiche Bezugnahmen auf Mao Tsetung zu nennen.(10)

Die Ursachen dafür liegen zum Teil in den spezifischen Voraussetzungen des Dialektik-Modells Mao Tsetungs. Der Zugang zu seinen Schriften wird dadurch erschwert, daß er sich in ihnen positiv oder negativ auf chinesische Kulturzusammenhänge und Traditionen bezieht. Sie sind daher nicht ohne weiteres den Argumentationsweisen westlicher Philosophie, auch der Philosophie des Marxismus, gleichzusetzen. Wieweit das nur die Form der Argumentation Maos betrifft oder ob wesentliche inhaltliche Bezugnahmen vorliegen, ist in der bisherigen Literatur noch nicht hinreichend untersucht und geklärt worden. So kann auch im Folgenden nicht eine abschließende Einschätzung vorgenommen, sondern nur eine These der Autoren vorgelegt werden.

B. SPEZIFISCHE VORAUSSETZUNGEN DES DIALEKTIK-MODELLS VON MAO TSETUNG

Maos Theorie gilt allgemein zunächst als „Sinisierung" des Marxismus-Leninismus, als seine Verbindung mit der konkreten Praxis der chinesischen Revolution.(11) Die Übernahme der Theorie von Marx, Engels und Lenin erklärt sich aus dem Einfluß der Oktoberrevolution auf die antiimperialistische, revolutionär-demokratische Bewegung in China.(12) Dabei spielte der Leninismus eine entscheidende Rolle, weil Rußland und China im Überwiegen der Bauernschaft und dem Fortbestehen asiatischer bzw. halbasiatischer Strukturen wesentliche Gemeinsamkeiten aufwiesen. Die Leninsche Imperialismustheorie ermöglichte zudem eine Bestimmung der Rolle Chinas im weltrevolutionären Prozeß. Lenin und der sowjetische Marxismus waren daher die nächsten theoretischen Bezugspunkte der Entwicklung des chine-sichen Marxismus.(13) Auch die Theorie-Praxis der 1921 unter Assistenz der Komintern gegründeten KP Chinas richtete sich zunächst ganz am sowjetischen Vorbild aus.

Die Berufung auf Lenin und Stalin ist daher auch in den Schriften Maos vorherrschend. Sein Dialektik-Modell, wie es vor allem in „Über die Praxis" und „Über den Widerspruch" dargelegt ist, versteht sich vor allem als Konkretisierung der Leninschen Konzeption, wie die zahlreichen Verweise auf „Materialismus und Empiriokritizismus" und die „Philosophischen Hefte" belegen.(14) Unabhängig davon, ob diese Verweise erst später hinzugefügt wurden, zeigen sie doch, daß Mao sie als seiner Auffassung der Dialektik adäquat betrachtet.

Dieser Bezugnahme auf die westliche Tradition der Dialektik gehen jedoch ebensolche Verweise auf Traditionen chinesischen Denkens und eine spezifische Argumentationsweise einher, die es verbieten, Maos Texte ohne weiteres nach westlich-europäischen Maßstäben zu lesen. Die fehlende Auseinandersetzung mit Hegel, einem Bezugspunkt, der für Mao im Unterschied zu allen anderen Modellen materialistischer Dialektik entbehrlich ist, verweist auf spezifische theoretische Voraussetzungen seines Dialektik-Modells, deren Bedeutung zunächst zu klären ist.

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Abgesehen davon, ob es in China so etwas wie eine philosophische Tradition gibt, die dem westlichen Begriff von Philosophie und ihrer Tradition vergleichbar wäre, lassen sich in Anlehnung an den westlichen Marxismus Grundformen der Weltanschauung wie Idealismus/Materialismus und Dialektik/Metaphysik im chinesischen Denken aufweisen,(15) sofern berücksichtigt wird, daß es sich in China nicht um ein kategoriales Denken handelt und keine distinktive Logik vorliegt.

Diese nicht-kategoriale Argumentationsweise ist auch für Maos Schriften charakteristisch. Er greift häufig auf Mythen, Gleichnisse, Beispiele und Zitate zurück,(16) die ihre Funktion erst im theoretischen und politischen Kontext enthüllen und in einen logisch-kategorialen Zusammenhang nach den Maßstäben westlicher Tradition erst übersetzt werden müssen. Das heißt nicht, daß Mao keine Kategorien entwickeln und nicht logisch argumentieren würde. „Praxis," „Widerspruch," „Wesen," „Erscheinung" sind zentrale Kategorien seiner philosophischen Texte, deren Inhalt und Zusammenhang jedoch anders dargestellt ist, als durch eine Ableitung des logisch-kategorialen Zusammenhangs nach westlichem Muster.

Betrifft dies die Argumentationsweise, so ist weiter zu fragen, ob Mao sich inhaltlich auf eine Tradition dialektischen Denkens beziehen konnte. Eine solche Tradition wird vor allem im I Ching und im Taoismus gesehen.(17) Freiberg nennt sechs Elemente der taoistischen Weltanschauung, die einer dialektischen Logik kompatibel sind: Gegensatz (z.B. ying-yang, wobei es sich nicht um einen bloßen Dualismus, sondern um die Einheit Entgegengesetzter handelt), Einheit, Werden, nichtlineare (zyklische) Entwicklung, Verbindung von Empirie und Theorie, Relativität des Wissens.(18) Die zyklische Entwicklung schließt allerdings die für den Marxismus charakteristische Auffassung der qualitativen Höherentwicklung aus, ebenso bedeutet Einheit nicht Totalität als komplex gegliedertes Ganzes, sondern einfaches Grundprinzip, schließt also die Analyse der Besonderheiten im Sinne konkreter Situation weitgehend aus.(19) In diesen beiden Punkten grenzt sich Mao, der in seinen Schriften vielfältig auf dialektische Elemente der chinesischen Tradition verweist,(20) entschieden von dieser Tradition ab. Die Betonung der Bedeutung der Praxis, des verändernd eingreifenden und die Geschichte vorantreibenden Handelns für die Erkenntnis richtet sich gegen jede Stagnation und damit gegen einen möglichen Rückfall in das zyklische Denkmuster. Mao hielt diesen Punkt für so wichtig, daß er auch „Über die Praxis" für entscheidender erachtete als „Über den Widerspruch."(21) „Über den Widerspruch" schließlich geht von der Erwähnung der dem chinesischen Denken geläufigen These der Allgemeinheit des Widerspruchs direkt zur Besonderheit des Widerspruchs über und gibt ihr, in Abgrenzung von der Tradition, einen neuen Sinn: Die Allgemeinheit des Widerspruchs besteht eben darin, daß der Widerspruch als überall vorhandener je ein besonderer und konkret zu analysierender ist.

Diese Abgrenzung von entscheidenden Elementen der dialektischen Weltanschauung in China legt die These nahe, daß Mao sich zwar traditioneller Ausdrucksweisen und Verweise auf die Tradition bedient, damit aber keine wesentliche inhaltliche Bezugnahme vorliegt, sondern der Marxismus-Leninismus in eine dem chinesischen Kulturzusammenhang adäquate Ausdrucksweise gebracht wird. Die „Maotsetungideen" sind daher als radikaler Einschnitt in die chinesische Tradition zu verstehen, die vom Vergangenen nur aufnimmt, was den neuen Inhalten dienen kann.(22) Mao steht in erster Linie in der Tradition der „Bewegung des 4-Mai" von 1919, einer Kulturrevolution, die einen solchen Einschnitt bewußt vornehmen wollte und deren Zielsetzungen in der „Großen Proletarischen Kulturrevolution" aufgenommen wurden.(23)

Die Priorität praktisch-politischer Problemstellungen auch in den philosophischen Argumentationen Maos ist ein weiterer Beleg dafür, daß sie, ungeachtet aller spezifischen Voraussetzungen, die dabei zu berücksichtigen sind, nicht als Vermittlung chinesischer Traditionen in den Marxismus, sondern als Anwendung des Marxismus auf die chinesichen Verhältnisse zu verstehen sind und an den zugrunde gelegten Kriterien des Marxismus-Leninismus gemessen werden müssen.

Die Übernahme der russischen Strategie und Taktik, des Kampfes in den Industriezentren und der Vernachlässigung der Bauernbewegung als kleinbürgerlich-demokratisch, führte nach dem Bruch des Bündnisses zwischen Kuomintang und KP Chinas zum Fiasko der revolutionären Bewegung.(24) Mao zog daraus die weitestgehenden Konsequenzen und

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empfahl, ungeachtet der führenden Rolle des Industrieproletariats und seiner Partei, die Bauernbewegung, in der die so/ialrevolutionärcn Traditionen der Taiping-Revolutionäre noch lebendig waren, als Hauptkraft der demokratischen Revolution zu betrachten.(25) Die Durchsetzung dieser Linie war von heftigen Linienkämpfen und Rückschlägen begleitet, die Mao zwangen, immer wieder gegen den Dogmatismus in den Reihen der KP Chinas anzugehen. Die 1937 nach dem langen Marsch in Jenan geschriebenen Aufsätze „Über die Praxis" und „Über den Widerspruch" sind direkt gegen die Gruppe der an der Sowjetunion orientierten Kader um Wang Ming gerichtet, die Maos Bauernpolitik und Kriegsführung bekämpften.(26) Mao hielt entsprechende Vorträge vor den Kadern der Bauern- und Arbeiterarmee und erläuterte die Erkenntnistheorie und Dialektik des Marxismus anhand deren praktischen Erfahrungen. Sie sind so nicht nur aus der Situation ihrer Entstehung heraus, sondern auch in ihrer Argumentationsweise Dokumente der engen Verbindung von Theorie und Praxis.

C. „ÜBER DIE PRAXIS" (1937)

„Über die Praxis" reflektiert in der Form grundlegender Aussagen über den Erkenntnisprozeß den Bezug der Theorie-Praxis Maos zu den Erfahrungen der chinesischen Revolution. Dabei knüpft Mao an Lenins Hervorhebung der Bedeutung der Praxis als Grundlage der Erkenntnis und Kriterium der Wahrheit an. Praxis heißt materielle Produktion, Klassenkampf und wissenschaftliches Experiment,(27) wobei die materielle Produktion die „allerwesentlichste praktische Tätigkeit" darstellt, unter den Bedingungen der Klassenspaltung der Gesellschaft der Klassenkampf aber für die Erkenntnis von zentraler Bedeutung ist: „In der Klassengesellschaft lebt jeder Mensch in einer bestimmten Klassenlage, und es gibt keine Ideen, die nicht den Stempel einer Klasse trügen."28 Dies begründet er dadurch, „daß die Theorie von der Praxis abhängt, daß die Praxis die Grundlage der Theorie bildet und die Theorie ihrerseits der Praxis dient."(29)

Maos Darstellung des Erkenntnisprozesses als Bewegung von der Praxis über sinnliche und rationale Erkenntnis zur Praxis zurück entspricht in seiner Grundstruktur dem von Lenin vor allem in den „Philosophischen Heften" dargestellten Verhältnis von Theorie und Praxis. Wenn auch die Erfassung der inneren Widersprüche der Dinge und ihres Zusammenhangs der rationalen Stufe der Erkenntnis angehört und „Über den Widerspruch" daher im Praxisprozeß der Erkenntnis seinen systematischen Ort zugewiesen bekommt, so ist das Verhältnis „von Erkenntnis und Praxis, von Wissen und Handeln," so der Untertitel von „Über die Praxis,"(30) doch schon selbst als Widerspruch zu begreifen. Wenn im allgemeinen die Praxis oder das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt, so kann die Theorie oder das Bewußtsein in bestimmten Situationen dennoch die Hauptseite des Widerspruchs darstellen, eine Konstellation, für die sich Mao ebenfalls auf Lenin beruft(31) und deren Darstellung in „Woher kommen die richtigen Ideen der Menschen?" auch in der dort erfolgten Akzentuierung Lenins Konzeption entspricht.(32) Wenn Maos Darstellung des Erkenntnisprozesses dennoch als originäre Weiterentwicklung Lenins angesprochen werden kann, so deshalb, weil er nicht nur die bei Lenin weniger systematisch vorliegenden Hinweise und Bemerkungen zusammenfaßt, sondern die bei Lenin nur angedeutete Bedeutung der sinnlichen Stufe der Erkenntnis in den Mittelpunkt stellt.(33)

Dies ist die erste Stufe des Erkenntnisprozesses, die der unmittelbaren Erfahrung, der sinnlichen Erkenntnis der Erscheinungen der Dinge. Ohne diese unmittelbare sinnliche Erfahrung gibt es für Mao keine Erkenntnis, auch jede mittelbare Erfahrung, jede Abstraktion gründet auf unmittelbaren Erfahrungen. Die sinnliche Erkenntnis ist daher nicht bloße Vorstufe der Erkenntnis, sondern ihre wesentliche Grundlage, deshalb können rationale (logische) Erkenntnisse und Theoriebildungen keine absolute Geltung beanspruchen, sondern nur, sofern sie der sinnlichen Erfahrung entsprechen, d.h. mit der Praxis in Einklang zu bringen sind. Von dieser Position aus greift Mao den Dogmatismus an: „Wer die Empfindungen verneint, die unmittelbare Erfahrung leugnet und die persönliche Teilnahme an der die Wirklichkeit verändernden Praxis ablehnt, ist kein Materialist. Darum eben sind die ,AlIeswisser' so lächerlich."(34) Die Betonung der Priorität unmittelbarer sinnlicher Erfahrung für jede Erkenntnis richtet sich gegen jede Verselbständigung der Theorie, sowohl gegen das zyklische Denkmuster als auch gegen den Dogmatismus. Mao räumt ihr eine entscheidende Stellung ein, die die systematische

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Bedeutung dieser Erkenntnisstufe auch gegenüber den Äußerungen von Marx, Engels und Lenin neu akzentuiert. ''

Die sinnliche Erfahrung ist, wie der Verweis auf die Praxis deutlich macht, nicht als rezeptiv zu verstehen, sondern als aktives sinnliches Begreifen. Ebenso ist der Übergang von der sinnlichen zur rationalen Stufe der Erkenntnis nicht als rein theoretische Tätigkeit vorzustellen, die nur durch die Praxis empfangene Eindrücke weiterverarbeitet, sondern die Rückkehr -zur Praxis und das Wiederaufsteigen zur Theorie findet auf jeder Stufe der Erkenntnis statt. Auf der sinnlichen Stufe ist die Erkenntnis noch einseitig weil sie nur die Erscheinungen, aber nicht deren inneren Zusammenhang faßt. Durch wiederholte praktische Erfahrungen und die Hinzuziehung von mittelbaren Erfahrungen verwandeln sich die Empfindungen in Begriffe, wird die Totalität der Dinge, ihr Wesen, ihr innerer Zusammenhang aufgedeckt. Damit zeigt sich die „Dialektik der Erkenntnistheorie"(35) als Sprung von der sinnlichen zur rationalen Stufe der Erkenntnis; der Inhalt dieser neuen Stufe ist die Aufdeckung der inneren Widersprüche der Dinge.836) Der systematische Ort von „Über den Widerspruch" ist deshalb auf dieser Stufe der Erkenntnis, was heißt, daß Widersprüche, etwa in der Gesellschaft, nicht logisch abgeleitet und bestimmt werden können, sondern nur auf der Grundlage in der Praxis gewonnener reichhaltiger Erfahrungen; und' sie müssen im Hinblick auf die Praxis bestimmt werden.

Die Stufe der logischen Erkenntnis ist nämlich auch einseitig, nämlich bloß theoretisch und kann den Reichtum der Erscheinungen nicht vollständig erfassen. Dieser Mangel kann nicht theoretisch, sondern nur durch die Rückkehr zur Praxis aufgehoben werden. „Die aktive Rolle der Erkenntnis findet ihren Ausdruck nicht nur in dem aktiven Sprung von der sinnlichen Erkenntnis zur rationalen Erkenntnis, sondern, was noch wichtiger ist, sie muß auch in dem Sprung von der rationalen Erkenntnis zur revolutionären Praxis zum Ausdruck kommen."(37) Dies ist eine Notwendigkeit, sofern die Praxis die Grundlage der Erkenntnis ist und die Wahrheit einer Theorie letztlich auch nur praktisch und nicht in theoretischen Kriterien (einer Adäquation der Widerspiegelung an das Widergespiegelte) erwiesen werden kann.

Dieser Standpunkt schließt jede Anerkennung „ewiger" theoretischer Wahrheiten aus und ist die theoretische Grundlage der „Massenlinie" Mao Tsetungs. Wenn die Praxis der Massen die Grundlage der Theorie bildet und das Kriterium ihrer Wahrheit, sind die Theorien und auch die Führer der Massen als Avantgarde allemal einseitig und können borniert werden: „Die wahren Helden sind die Massen, wir selbst sind aber oft naiv bis zur Lächerlichkeit; wer das nicht begriffen hat, wird nicht einmal die minimalen Erkenntnisse erwerben können."(38) Das schließt nicht aus, daß die Theorie auch gegenüber der Praxis der Massen zur Hauptseite werden kann, heißt aber auf jeden Fall, daß diese Theorie in jeder Situation auf die der Situation entsprechende Praxis beziehbar, den Massen verständlich und von ihnen in der Praxis überprüfbar sein muß, um zur materiellen Gewalt werden zu können.

Mit der Rückkehr zur Praxis ist der Prozeß der Erkenntnis abgeschlossen und nicht abgeschlossen zugleich; abgeschlossen, sofern eine Erkenntnis gewonnen wurde, nicht abgeschlossen, sofern diese Teilerkenntnis durch den Prozeß der Praxis, der fortschreitenden Erkenntnis und Umgestaltung der Welt, relativiert wird. Mao knüpft hier an Lenins Abgrenzung der Dialektik vom Relativismus an, um die Bewegung der Erkenntnis als unendlichen Prozeß der Annäherung an die absolute Wahrheit durch die Summe der relativen Wahrheiten zu erläutern. „Durch die Praxis die Wahrheit entdecken und in der Praxis die Wahrheit bestätigen und weiterentwickeln; von der sinnlichen Erkenntnis ausgehen und diese aktiv zur rationalen Erkenntnis fortentwickeln, sodann wieder ausgehend von der rationalen Erkenntnis aktiv die revolutionäre Praxis anleiten, die subjektive und objektive Welt umzugestalten; Praxis, Erkenntnis, wieder Praxis und wieder Erkenntnis -diese zyklische Form wiederholt sich endlos und der Inhalt von Praxis und Erkenntnis wird bei jedem einzelnen Zyklus auf eine höhere Stufe gehoben."(39)

D) „ÜBER DEN WIDERSPRUCH" (1937)

1. Ziel der Argumentationsweise

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Mao Tsetungs Schrift „Über den Widerspruch" erläutert vor dem Hintergrund der in „Über die Praxis" dargelegten Bewegung des Erkenntnisprozesses die rationale Stufe der Erkenntnis, deren theoretische Leistung in der Aufdeckung der inneren Widersprüche der Dinge in ihrer Entwicklung und ihren Beziehungen liegt. Ebenso wenig wie in „Über die Praxis" der Erkenntnisprozeß in dem Sinne systematisch entfaltet wird, daß der Gang der Erkenntnisse von einer Stufe zur anderen und diese Stufen selbst in der Vollständigkeit ihrer Bestimmungen logisch-kategorial entwickelt werden, stellt „Über den Widerspruch" so etwas wie eine Logik des Widerspruchs dar. Maos Interesse ist auch hier praktisch-politisch bestimmt. Die Leistung der dialektischen Weltanschauung besteht für ihn darin, „die Bewegung der Widersprüche in den verschiedenen Dingen verständnisvoll zu beobachten und zu analysieren und auf der Grundlage dieser Analyse die Methoden für die Lösung der Widersprüche zu bestimmen. Daher ist das konkrete Verständnis des Gesetzes von dem Widerspruch, der den Dingen innewohnt, für uns äußerst wichtig."(40)

Dieses Interesse bestimmt den Argumentationsgang und die von Mao vorgenommenen Akzentuierungen. Mao greift auf eine Fülle von Beispielen aus der Entwicklung der chinesischen Revolution und besonders aus dem Bereich der Strategie und Taktik des Volkskrieges zurück, um die praktische Bedeutung der Erkenntnis und Behandlung der verschiedenen Widersprüche zu demonstrieren. Er zeigt verschiedenartige Formen des Widerspruchs in praktisch-politischen Zusammenhängen auf, d.h. in ihrer konkreten Existenzweise und nicht sosehr in einem kategorialen Zusammenhang. Es geht Mao darum, den Blick für die Besonderheiten konkreter Widersprüche zu schärfen, um den Dogmatismus zu bekämpfen, der diese Besonderheiten in einem schematischen Herangehen an die Wirklichkeit nicht zureichend zu erfassen vermag. In diesem Sinne sind die von Mao vorgenommenen Differenzierungen zunächst „Stützpunkte" der Erkenntnis konkreter Zusammenhänge unter dem Gesichtspunkt ihrer Veränderbarkeit.

Diese Stoßrichtung der Argumentation erklärt sich aus der besonderen Komplexität der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in China, nicht nur in den Beziehungen der Klassen und Schichten der chinesischen Gesellschaft zueinander, sondern auch in den durch imperialistischen Druck und japanische Intervention erzeugten Widersprüchen, die zu ständigen Umgruppierungen der politischen und sozialen Kräfte führten und den Kommunisten eine flexible Taktik abverlangten. Mao verweist wiederholt auf die komplizierte Lage in den Beziehungen der Klassen und Schichten und die Notwendigkeit wechselnder Bündnisse im Verlauf der chinesischen Revolution.(41) Seine Darlegung der Formen des Widerspruchs im Kontext praktisch-politischer Situationen will daher zu allererst die Notwendigkeit der konkreten Analyse jeder konkreten Situation als „innerstes Wesen und lebendige Seele des Marxismus" (Lenin) (42) erweisen und dafür Bestimmungen an die Hand geben, die es erlauben, die Besonderheit einer Situation zu erfassen.

Dabei gilt jedoch, was Mao in „Über die Praxis" darlegt: eine Situation kann nicht „empiristisch" allein durch konkrete sinnliche Erfahrung zureichend erfaßt werden. In diesem Sinne will „Über den Widerspruch" es „zugleich ... unseren erfahrenen Genossen ermöglichen, ihre Erfahrungen zu systematisieren und diese auf eine prinzipielle Höhe zu bringen, eine Wiederholung der Fehler des Empirismus zu vermeiden."(43) Die Beispiele, in denen die konkrete Existenzweise der verschiedenen Widersprüche aufgezeigt wird, sollen durch Anknüpfen an den Erfahrungen der Revolutionäre einer Systematisierung dieser Erfahrungen dienen. Von dorther folgt auch die Darlegung einer Systematik, die schon in der Gliederung des Aufsatzes deutlich wird: Allgemeinheit des Widerspruchs, Besonderheit des Widerspruchs, Hauptwiderspruch und hauptsächliche Seite des Widerspruchs, Identität und Kampf der gegensätzlichen Seiten des Widerspruchs, Platz des Antagonismus in den Widersprüchen. Gleichwohl ist diese Systematik nicht als logisch-deduktive Abfolge zu verstehen, sie liegt vielmehr, wie noch zu zeigen sein wird, in der verhandelten Sache begründet, der Erkenntnis eines „Dings"44 als Einheit qualitativ verschiedener Widersprüche, die seinen Charakter und seine Entwicklung bestimmen und Ansatzpunkte seiner Veränderung aufzeigen.

Diese Hinweise machen die Schwierigkeit einer Interpretation des Aufsatzes „Über den Widerspruch" deutlich. Das Aufzeigen der Widersprüche in ihrer konkreten Existenzweise und ihrer Bedeutung für die Praxis folgt, wie sehr es auch durch den politischen Kontext

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der Argumentation begründet ist, der nicht kategorial ausgerichteten Argumentationsweise chinesischer Tradition. Zugleich enthüllt sie eine in der Sache begründete Systematik, die aber von der „Oberfläche" des Textes nicht unmittelbar ablesbar ist. Im Folgenden soll daher unter weitgehendem Verzicht auf die von Mao gewählten Beispiele der Versuch unternommen werden, die in „Über den Widerspruch" entwickelten Bestimmungen in einen Zusammenhang zu „übersetzen," in dem sie nicht einfach nach westlichem Muster gelesen werden, sondern in dem zugleich die Besonderheit des von Mao gewählten Verfahrens hervortritt. Eine solche „Übersetzung" wird dadurch möglich, daß die von Mao verhandelte Sache kein exklusiver Gegenstand chinesischer Weltweisheit ist, sondern Gegenstand der materialistisch-dialektischen Weltanschauung. Von diesem Ansatz aus ist zunächst das Verhältnis Maos zur westeuropäischen und chinesischen Tradition anzugeben, wie er es in dem ersten Abschnitt seiner Schrift umreißt.

2. Dialektik und Metaphysik als Grundformen der Weltanschauung

Die „marxistische, dialektisch-materialistische Weltanschauung" ist für Mao Tsetung das Produkt des hochentwickelten europäischen Kapitalismus,(45) sie bedeutet eine „beispiellose Revolution in der Geschichte der menschlichen Erkenntnis."(46) Ihre Weiterentwicklung durch Lenin und Stalin und ihre Entwicklungsgeschichte (Mao nennt die Bedeutung Hegels und die kritische Übernahme der rationellen Elemente Hegelscher Dialektik durch Marx und Engels (47) skizziert Mao entsprechend der Konvention marxistischer Philosophiegeschichtsschreibung. Dies ist jedoch mehr als bloße Reminiszenz; Mao macht deutlich, daß die materialistisch-dialektische Weltanschauung kein originäres Produkt der chinesischen Entwicklung ist, sondern „von außen" übernommen wurde. Diese Übernahme bedeutet zunächst einen Einschnitt in die chinesische Tradition: „Sobald sie in China Eingang gefunden hatte, rief sie im geistigen Leben Chinas sofort die größten Veränderungen hervor."(48)

Mao sieht in der chinesischen Tradition die Existenz und den Kampf beider Grundformen der Weltanschauung, der Metaphysik (Hsüan-hsüeh, Hsing-erh-shang-hsüeh) und der Dialektik (Pien-chengfa)(49); die dialektische Weltanschauung in China bildet für ihn jedoch, ebenso wie die „spontane, primitive Dialektik" des Altertums in Europa,(50) eine Vorform materialistischer Dialektik. Deshalb bringt er ihr kein besonderes Interesse entgegen; der Bruch, den die marxistische Weltanschauung im chinesischen Traditionszusammenhang herbeiführt, überwiegt eindeutig alle möglichen Kontinuitäten. Dennoch ist die Übernahme des Marxismus kein einfacher Vorgang, denn die Veränderungen, die er in China hervorruft, hängen ab von der Geschichte und Situation des gesellschaftlichen, politischen, geistigen Lebens in China selbst. Ein solches Modell der Wirkung von außen vermittels der inneren Widersprüche entwirft Mao in seiner Charakterisierung der dialektischen Weltanschauung: Die Oktoberrevolution in Rußland „beeinflußte die inneren Veränderungen in anderen Ländern der Welt, so auch - und zwar mit besonderer Tiefenwirkung - die inneren Veränderungen in China. Diese Veränderungen erfolgten jedoch vermittels der inneren Gesetzmäßigkeiten dieser Länder beziehungsweise Chinas selbst."(51)

Die Konsequenz, daß nämlich die inneren Widersprüche entscheidend für die Entwicklung eines Dinges sind und äußere Ursachen nur vermittels der inneren wirken, enthält eine politische Pointe: Mao will zeigen, daß die Übernahme des Marxismus den chinesischen Kommunisten keine Rezepte liefert, sondern sie allererst vor die Aufgabe stellt, die besonderen Widersprüche der chinesischen Gesellschaft zu erfassen. Dies ist auch die theoretische Pointe der Schrift Maos: die Metaphysik ist für ihn eine Weltanschauung, die nicht in der Lage ist, die „qualitative Vielfalt der Dinge und das Umschlagen einer Qualität in eine andere zu erklären"52; ins Zentrum der dialektischen Weltanschauung rückt daher die Erfassung der Besonderheiten der Widersprüche in ihrer qualitativen Vielfalt. Als Beispiel für metaphysische Denkweise in China zitiert Mao den konfuzianischen Satz: „Der Himmel ist unveränderlich, und unveränderlich ist auch Tao."(53) In dieser Unveränderlichkeit der „Gesetze" oder der „Wahrheit" (um den Übersetzungsvorschlägen der chinesischen Herausgeber für „Tao" zu folgen), die zugleich als universell aufgefaßt werden und deren Erkenntnis das Ziel der Bemühungen ist, liegt der Ausschluß jeder qualitativen Höherentwicklung wie auch der qualitativen Vielfalt der Dinge als zentrales Anliegen der Erkenntnis. Indem Mao diese zwei Punkte hervorhebt und in den Mittelpunkt

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seiner Konzeption stellt, wird zugleich die theoretische Bedeutung des Einschnitts deutlich, den die marxistische Weltanschauung für den chinesischen Kulturzusammenhang darstellt.

3. Die Lehre von Widerspruch

a. Allgemeinheit und Besonderheit des Widerspruchs

Mao beginnt „um der bequemeren Darlegung willen"(54) mit der Allgemeinheit des Widerspruchs, wobei er sich auf die Autorität der Schriften von Marx, Engels, Lenin und Stalin beruft und zahlreiche Beispiele anführt, um deutlich zu machen, daß in den Entwicklungsprozessen aller Dinge Widersprüche existieren und in der Bewegung jedes Dings die Bewegung der Widersprüche von Anfang bis Ende existiert.(55) Der letzte Punkt meint, daß Widersprüche in jedem Ding die Triebkraft seiner Entwicklung sind und nicht äußere Ursachen, die in ihm erst Widersprüche hervorrufen. Jedes Ding enthält Widersprüche, jeder Unterschied ist schon ein Widerspruch.(56)

Der Hinweis Maos auf die „bequemere Darlegung" macht deutlich, daß er zunächst eher pädagogischen als sachlichen Erwägungen folgt. Die These von der Allgemeinheit des Widerspruchs konnte er, zumal vor dem Hintergrund der chinesischen Tradition, als bekannt voraussetzen. Man brauche, so Mao, „nicht lange bei der Klärung dieser Frage zu verweilen. Was jedoch die Besonderheit des Widerspruchs betrifft, so sehen hierin viele Genossen, vor allem die Dogmatiker, noch nicht klar. Sie verstehen nicht, daß die Allgemeinheit des Widerspruchs gerade in dessen Besonderheit existiert. Ebensowenig verstehen sie, welche große Bedeutung es für unsere Anleitung der revolutionären Praxis hat, die Besonderheit der den vorliegenden konkreten Dingen innewohnenden Widersprüche zu studieren."(57) Das heißt: wenn auch vorausgesetzt werden kann, daß überall Widersprüche existieren und kein Bereich denkbar ist, in dem sie sich nicht aufweisen lassen, so existieren diese Widersprüche jedoch nur als jeweils besondere. Die Allgemeinheit des Widerspruchs ist nicht loszulösen von dieser Besonderheit jedes Widerspruchs, sie läßt sich nicht für sich stellen und betrachten, sondern verlangt das Studium der konkreten Widersprüche in den Dingen.

Die qualitative Vielfalt der Dinge liegt darin begründet, daß jedes Ding seine eigenen, qualitativ besonderen Widersprüche enthält. „Diese besonderen Widersprüche bilden das besondere Wesen eines Dinges, das dies von anderen unterscheidet. Hierin besteht die innere Ursache oder, wie man es auch nennen kann, die Grundlage der unendlichen Vielfalt der Dinge in der Welt."(58) Die qualitative Vielheit der Dinge und damit der Widersprüche ist daher vorausgesetzt und der sachlich notwendige Ausgangspunkt der Erkenntnis, die von der Erkenntnis des Besonderen zur Erkenntnis des Allgemeinen übergeht. Im Prozeß der Verallgemeinerung lassen sich Widersprüche bestimmen, die „der Sphäre einer bestimmten Erscheinung eigentümlich sind,"(59) die Besonderheit dieser Widersprüche grenzt die verschiedenen Wissenschaften voneinander ab, sie sind aber zugleich allgemein für die konkreten Widersprüche in dieser Sphäre. Das Verhältnis von Allgemeinheit und Besonderheit des Widerspruchs ist daher als dialektische Einheit bestimmt: Besonderes ist Allgemeines und umgekehrt. Die Erkenntnis des Allgemeinen geht von der Erkenntnis des Besonderen aus und führt in doppeltem Sinne auf das Besondere zurück: sie erkennt die Besonderheit einer Sphäre des Allgemeinen und dient dazu, die Besonderheiten dieser Sphäre weiter zu erforschen. „Das sind die beiden Prozesse der Erkenntnis: der eine führt vom Besonderen zum Allgemeinen, der andere vom Allgemeinen zum Besonderen."(60)

Im Folgenden nennt Mao, ausgehend vom Allgemeinen, Schritte der Aufdeckung der Besonderheiten der Widersprüche. Er geht so vor, daß er vier Lehrsätze aufführt, denen jeweils Beispiele folgen.

1. In jedem durch einen besonderen Widerspruch bestimmten „großen System der Bewegungsformen der Materie" muß man „den besonderen Widerspruch und das Wesen jedes einzelnen Prozesses auf dem langen Entwicklungsweg jeder Bewegungsform der Materie untersuchen."(61) Beispiel: Qualitativ verschiedene Widersprüche in den Etappen der

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Revolution.

2. „Um die Besonderheiten der Widersprüche im Entwicklungsprozeß eines Dinges in ihrer Gesamtheit oder ihrer wechselseitigen Verbundenheit aufzudecken ... muß man die Besonderheiten aller Seiten der in diesem Prozeß enthaltenen Widersprüche aufdecken.'(62) Beispiel: Komplexität der Klassenverhältnisse in China.

3. „Auch die einzelnen Etappen" im gesamten Entwicklungsprozeß der Dinge „haben ihre eigenen Besonderheiten, die wir ebenfalls im Auge behalten müssen."(63) Beispiel: Entwicklung des Grundwiderspruchs Bourgeoisie-Proletariat; Etappen der chinesischen Revolution.

4. In jeder Entwicklungsetappe sind die Widersprüche nicht nur „in ihrer wechselseitigen Verbundenheit oder in ihrer Gesamtheit zu betrachten; man muß sich in jeder Entwicklungsetappe auch die beiden Seiten eines jeden Widerspruchs ansehen."64) Beispiel: das Verhältnis von Kuomintang und KP Chinas in den Etappen der chinesischen Revolution.

Mao Tsetung faßt diese Punkte noch einmal zusammen und folgert: „Ohne eine konkrete Analyse ist es unmöglich, die Besonderheiten irgendeines Widerspruchs zu erkennen. Wir müssen immer an die Worte Lenins denken: konkrete Analyse einer konkreten Situation."(65)

In dieser Schlußfolgerung läuft jeder der von Mao genannten Punkte zusammen; sie wird überdies durch die Beispiele anschaulich erläutert. Mao nennt hier Punkte, die „zu betrachten," „anzusehen," „im Auge zu behalten" sind, die Beispiele fordern auf, die praktische Bedeutung der Thesen einzusehen. Mao lehrt Dialektik, indem er zum Lernen anhand praktischer Erfahrungen auffordert, und nicht durch Entwicklung eines abstrakten logisch-kategorialen Zusammenhanges. Seine Darlegung folgt aber einer Systematik: jeder der vier Punkte zeigt auf, daß ein gegebenes „Allgemeines" (ein Gesamtzusammenhang) nur durch die Erkenntnis seiner Besonderheiten und der Besonderheiten seiner Teilprozesse und Elemente erfaßt werden kann. Die vier Punkte differenzieren zunächst die zu berücksichtigenden Besonderheiten bis hin zu den zwei Seiten eines einzelnen Widerspruchs.

Von hier aus faßt Mao das Verhältnis von Allgemeinheit und Besonderheit des Widerspruchs zusammen als „die Beziehung zwischen dem Gemeinsamen und dem Einzelnen im Widcrspruch."(66) Das Gemeinsame besteht zunächst darin, daß überall Widersprüche existieren, die Allgemeinheit des Widerspruchs ist absolut. ..Dieses Gemeinsame ist aber in allem Einzelnen enthalten, ohne das Einzelne kann es kein Gemeinsames geben. Kann das Gemeinsame bestehen, wenn alles Einzelne ausgeschlossen wird? Das Einzelne entsteht dadurch, daß jeder Widerspruch seine Besonderheit hat. Alles Einzelne ist bedingt, zeitweilig und daher relativ."(67) In dieser Pointierung tritt, in Abgrenzung von der chinesischen Tradition (das Tao ist unveränderlich), die revolutionäre Konsequenz der Dialektik hervor. Das Allgemeine existiert nur im zeitweiligen, relativen, sich stets verändernden Einzelnen, Besonderen und es verändert sich mit ihm. Es ist also nicht ewig, nicht allein der Kontemplation zugänglich, sondern es ist über das veränderbare Besondere selbst auch zu beherrschen und zu verändern.

b. Der Entwicklungsprozeß eines komplexen Dinges: Grund-, Haupt- und Nebenwiderspruch

Die Bestimmung des Verhältnisses von Allgemeinheit und Besonderheit des Widerspruchs stellt ein neues Problem: im welcher Weise strukturiert sich aus besonderen Widersprüchen, „Dingen," Teilprozessen ein Ganzes, d.h. wie ist die Struktur eines „komplexen Dinges" anzusetzen, damit sich die Besonderheit nicht in willkürlich kombinierbare Elemente verliert? Mao wirft diese Fragen nicht explizit auf, aber er formuliert eine These, die den Kern des Problems betrifft: „Im Entwicklungsprozeß eines

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komplexen Dinges gibt es eine ganze Reihe von Widersprüchen, unter denen stets einer der Hauptwiderspruch ist; seine Existenz und seine Entwicklung bestimmen oder beeinflussen die Existenz und die Entwicklung der anderen Widersprüche."(68) Mao Tsetung unterscheidet hier verschiedene Formen des Widerspruchs hinsichtlich ihrer dominierenden oder untergeordneten Stellung im Entwicklungsprozeß eines komplexen Ganzen. Zunächst ist kurz anzugeben, welche Widersprüche Mao unterscheidet, um dann nach der theoretischen und praktischen Bedeutung dieser Unterscheidungen zu fragen.

Bereits bei der Darlegung der Besonderheiten der einzelnen Etappen der Bewegung der Widersprüche im Gesamtprozeß erwähnt Mao den Grundwiderspruch. Der Grundwiderspruch bestimmt das Wesen eines bestimmten komplexen Dinges (des Kapitalismus z.B. oder der chinesischen Gesellschaft in der Periode der demokratischen Revolution), er bleibt bestehen, solange dieses Ding besteht und ist in Klassengesellschaften prinzipiell antagonistisch. Ändert sich der Grundwiderspruch, so ändert sich auch der Charakter des Ganzen. Hierbei sind aber zwei Punkte zu berücksichtigen: erstens entwickelt sich der Grundwiderspruch, er „verschärft" sich und treibt zur Auflösung des antagonistischen Ganzen; zweitens determiniert er die Entwicklung aller anderen Widersprüche des Ganzen nicht in gleichem Maße: „unter den »größeren und kleineren Widersprüchen, die durch den Grundwiderspruch bedingt sind oder sich unter seinem Einfluß befinden, verschärfen sich die einen, während andere zeitweilig oder teilweise gelöst oder gemildert werden und wieder andere, neue Widersprüche entstehen."(69)

Die relative Selbständigkeit der vom Grundwiderspruch beeinflußten Widersprüche im Entwicklungsprozeß eines komplexen Ganzen führt dazu, daß der Prozeß nicht geradlinig, gleichmäßig, sondern diskontinuierlich (in „Sprüngen") und ungleichmäßig verläuft. Er durchläuft Etappen, die jeweils ihre Besonderheit aufweisen, die durch den Hauptwiderspruch bestimmt werden, den Widerspruch, der in der gegebenen Etappe die anderen Widersprüche dominiert, zu Nebenwidersprüchen macht. Es gibt „in jeder Etappe eines Entwicklungsprozesses nur einen einzigen Hauptwiderspruch ..., der die führende Rolle spielt. Hieraus folgt: Wenn ein Prozeß mehrere Widersprüche enthält, muß einer von ihnen der Hauptwiderspruch sein, der die führende und entscheidende Rolle spielt, während die übrigen nur eine sekundäre, untergeordnete Stellung einnehmen."(70) Die absolute Ungleichmäßigkeit gilt ebenso für die beiden Seiten eines Widerspruchs: im Widerspruch ist zu unterscheiden zwischen der hauptsächlichen Seite des Widerspruchs oder seiner Hauptseite und seiner Nebenseite. Wie der Hauptwiderspruch den Charakter einer Entwicklungsetappe des komplexen Dinges bestimmt, so bestimmt die Hauptseite des Widcrspruchs den Charakter eines einzelnen Dinges. Hauptwiderspruch und Nebenwiderspruch bzw. Hauptseite und Nebenseite des Widerspruchs bezeichnen nicht ein statisches Gefüge. Sie können im Entwicklungsprozeß des Ganzen und seiner Elemente wechseln, ineinander übergehen usw., wodurch sich der Charakter des Dinges oder der Entwicklungsetappe eines komplexen Ganzen ändert. Sie sind daher jeweils konkret zu bestimmen.

Es zeigt sich, daß die Bestimmungen des Widerspruchs den vier Punkten der Erläuterung der Besonderheit des Widerspruchs folgen: vom Widerspruch, der den Charakter eines komplexen Ganzen in allen Phasen seiner Entwicklung bestimmt (Grundwiderspruch) über den in einzelnen Entwicklungsetappen dominierenden Widerspruch (Hauptwiderspruch) geht Mao bis zur ungleichen Struktur des Widerspruchs im einzelnen Ding. Die Darstellung erfolgt wiederum durch die Formulierung von Thesen, denen sich Beispiele anschließen, in denen die Existenzweise der Widersprüche und die praktisch-politische Bedeutung der Erkenntnis und richtigen Behandlung der verschiedenartigen Widerspräche aufgezeigt wird. Dabei geschieht aber etwas Neues gegenüber den Darlegungen zur Besonderheit des Widerspruchs: im Zusammenhang der Thesen wird die Gliederung eines sich entwickelnden komplexen Ganzen entworfen, das nicht in allen seinen Elementen einlinig durch einen Widerspruch (Grundwiderspruch) determiniert ist, sondern in dem sich die Widersprüche relativ selbständig und ungleichmäßig entwickeln, wodurch in einzelnen Etappen ein mit dem Grundwidcrspruch nicht identischer Widerspruch dominant sein kann, ohne damit am Charakter des Ganzen prinzipiell etwas zu ändern. Mao nennt als Beispiel die Determination „in letzter Instanz" des Überbaus durch die Basis, die nicht ausschließt, daß in konkreten Entwicklungsetappen der Überbau die entscheidende Rolle spielt und auf die Basis zurückwirkt.(71)

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Mao Tsetungs Darlegung hat das Ziel, die Bedeutung des Hauptwiderspruchs bzw. der Hauptseite des Widerspruchs für die politische Praxis herauszustellen; er erinnert dabei an Lenins Diktum, daß die Kunst des Politikers darin bestehe, das jeweilige Hauptkettenglied zu finden.(72) Mao stellt die Formen des Widerspruchs nicht so vor, daß sie in einem logisch-kategorialen Zusammenhang abgeleitet werden, sondern definiert sie durch ihre konkrete Existenzweise, ihren Ort im Entwicklungsprozeß eines komplexen Ganzen. Wenn die qualitative Vielheit der Dinge und damit der Widersprüche, die ihre Grundlage sind, unendlich ist, können in der Tat abstrakt keine logischen Distinktionen in der Struktur eines Widerspruchs angegeben werden, die ihn als Haupt- oder Nebenwiderspruch qualifizieren. So folgt Mao sachlichen Notwendigkeiten, wenn er das Beispiel in seiner Darstellung zum entscheidenden Argument macht. Die Notwendigkeit einer konkreten Analyse konkreter Situationen ist auch das letzte Wort dieser Darstellung; die Differenzierungen des Widerspruchs zeigen aber zugleich, worauf es dabei ankommt, indem sie die Struktur eines komplexen Ganzen in seiner Entwicklung entwerfen.(73)

c. Identität und Kampf der gegensätzlichen Seiten des Widerspruchs

Die Ausführungen, die Mao Tsetung zu Identität und Kampf der gegensätzlich Seiten des Widerspruchs gemacht hat, explizieren Lenins These von der Absolutheit des Kampfes und der Relativität der Einheit der Gegensätze.74 Sie sind in besonderem Maße Mißverständnissen ausgesetzt, da Mao sich hier einer stark an der chinesischen Tradition orientierten Ausdrucksweise bedient. Identität besagt zunächst, daß die gegensätzlichen Seiten des Widerspruchs real eine Einheit bilden, d.h. jede Seite des Widerspruchs die Existenz der anderen zur Voraussetzung hat. Mao erläutert diese Bedeutung von Identität „in Versen .... die an das Tao-te-ching erinnern"(75): „Ohne Leben kein Tod; ohne Tod kein Leben. Ohne Oben kein Unten; ohne Unten kein Oben .. . Ohne Bourgeoisie kein Proletariat; ohne Proletariat keine Bourgeoisie."(76) Mag diese Art der Darstellung dem westlichen Leser schon etwas ungewohnt sein, so ist die zweite Bestimmung der Identität für ihn mißverständlich: „Jede der beiden entgegen gesetzten Seiten verwandelt sich unter bestimmten Bedingungen in ihr Gegenteil."(77) Diese Verwandlung beschreibt Mao auch als Platzwechsel, z.B. nimmt das Proletariat nach der Revolution als herrschende Klasse den Platz ein, den die Bourgeoisie hatte.(78) Dieses Beispiel wird in der sowjetischen Polemik gern als Beispiel für die mechanistische Verflachung der Dialektik durch Mao zitiert.(79)

Wie schon aus dem Beispiel selbst deutlich wird, das sich auf den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus bezieht, ist jedoch der Platzwechsel in einem sich qualitativ weiterentwickelnden Ganzen gemeint, in dem sich die Gegensätze durchdringen d.h. das Neue aus dem Alten entsteht. „Vom Privateigentum führt eine Brücke zum gesellschaftlichen Eigentum; diese Brücke heißt in der Philosophie Identität oder Verwandlung des einen in das andere, gegenseitige Durchdringung."(80) Die zweite Bedeutung der Identität bezeichnet somit den Zusammenhang des Prozesses an einem Umschlagspunkt seiner Entwicklung. Hier ist das mitgedacht, was im westlichen Marxismus unter den Figuren des Umschlags von Quantität in Qualität und der Negation der Negation vorgestellt wird.

Von dorther existiert Zusammenhang nur im Wandel, Einheit nur im Kampf der Gegensätze. Die Einheit ist abhängig von konkreten Bedingungen, bedingt, zeitweilig und relativ, während der Kampf der Gegensätze als Triebkraft jeder Bewegung absolut ist: „Die Verbindung von bedingter, relativer Identität mit unbedingtem, absolutem Kampf ergibt die Bewegung der Widersprüche in allen Dingen."(81)

d. Der Platz des Antagonismus in den Widersprüchen

Wenn die Erkenntnis der Einheit der Gegensätze auf die Untersuchung der konkreten Bedingungen dieser Einheit verwiesen ist, so heißt Absolutheit des Kampfes der Gegensätze nicht, daß die Formen des Kampfes stets dieselben sind. „Die Widersprüche und der Kampf sind allgemein, absolut, doch die Methoden zur Lösung der Widersprüche, das heißt die Formen des Kampfes, sind je nach dem Charakter der Widersprüche verschieden. Manche Widersprüche weisen einen offen antagonistischen Charakter auf, andere nicht. Je nach der konkreten Entwicklung der Dinge werden manche ursprünglich

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nichtantagonistische Widersprüche zu antagonistischen, dagegen andere, ursprünglich antagonistische zu nichtantagonistischen Widersprüchen."(82) Analog der Bestimmung von Haupt- und Nebenwidersprüchen legt Mao keine Definition des Antagonismus vor, die ihn in der Struktur des Widerspruchs selbst festmacht; antagonistische und nichtantagonistische Widersprüche werden vielmehr durch die jeweilige Situation bestimmt. Entscheidend ist, daß antagonistische und nichtantagonistische Widersprüche mit verschiedenen Methoden gelöst werden müssen und die Entwicklung eines Widerspruchs dadurch beeinflußt werden kann, mit welchen Methoden man ihn löst. Dies gilt z.B. für Widersprüche in der Partei, wo sich Meinungsverschiedenheiten zu Linienkämpfen und Spaltungen ausweiten können oder auch für das Auflösen und Eingehen von Bündnissen im Verlauf der Revolution. Darauf beziehen sich die von Mao beigebrachten Beispiele zum Ineinanderübergehen von antagonistischen in nichtantagonistische Widersprüche und umgekehrt. Es handelt sich hier um Hinweise für die konkrete Analyse und nicht um den Voluntarismus, Widersprüche beliebig qualifizieren zu können. So folgt aus der Möglichkeit des Ineinanderübergehens auch nicht, daß antagonistische Widersprüche prinzipiell und überall in nichtantagonistische umschlagen können und umgekehrt.

e. Der Geltungsbereich der Dialektik

Wenn die praktisch-politische Bedeutung der Dialektik und damit die Dialektik der Revolution bei Mao Tsetung im Mittelpunkt steht, so heißt das nicht, daß er die Dialektik auf diesen Bereich beschränkt. Die Allgemeinheit des Widerspruchs gilt universell; „Widerspruch - das ist die Bewegung, das Ding, der Prozeß und auch das Denken. Den Widerspruch in den Dingen verneinen hieße alles verneinen."(83) Diese Widersprüche sind aber in ihrer Besonderheit zu erfassen, weil sie nur als besondere existieren. Wenn also auch die Bestimmungen Hauptwiderspruch, Nebenwiderspruch usw. als für den Entwicklungsprozess jedes komplexen Dinges gültig angesehen werden können, so wäre ihre spezifische Bedeutung und ihr spezifischer Zusammenhang für jede durch einen besonderen Widerspruch bestimmte Sphäre des Wissens gesondert zu erweisen. Diese Aufgabe leistet Mao nur für die Dialektik der Revolution.

E. DIE DIALEKTIK DER SOZIALISTISCHEN GESELLSCHAFT

Mao Tsetungs Beitrag zur materialistischen Dialektik erhält seine weitreichendste praktische Bedeutung durch die Untersuchung der Widersprüche der sozialistische Gesellschaft. In bewußter Abgrenzung von der sowjetischen Auffassung, die von der prinzipiellen Gemeinsamkeit des Interesses aller Klassen und Schichten der Gesellschaft nach der juristischen Vergesellschaftung der Produktionsmittel ausgeht und den Staat als „Staat des ganzen Volkes" betrachtet,(84) betrachtet Mao die sozialistische Gesellschaft als „eine ziemlich lange geschichtliche Periode. Während dieser Geschichtsperiode des Sozialismus sind Klassen, Klassenwidersprüche und Klassenkämpfe immer noch vorhanden; der Kampf zwischen den zwei Wegen, dem des Sozialismus und dem des Kapitalismus, geht weiter, und die Gefahr einer kapitalistischen Restauration bleibt bestehen."(85) Es würde zu weit führen, hier die ökonomische und politische Begründung dieser Thesen näher vorzustellen; stattdessen soll gefragt werden, welche theoretischen und praktischen Konsequenzen sich hinsichtlich der Widersprüche in der sozialistischen Gesellschaft daraus für Mao ergeben.

1. „Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk" (1957)

Im Zuge der durch die Vergenossenschaftlichung der Landwirtschaft und die Vorbereitung des „großen Sprungs" eingeleiteten Entwicklung der sozialistischen Industrialisierung Chinas, kam es seit Mitte der 50er Jahre zu Kontroversen über den Weg des sozialistischen Aufbaus. Eine Gruppe innerhalb der Partei sah im Widerspruch zwischen dem fortgeschrittenen sozialistischen System und den rückständigen Produktivkräften den Hauptwiderspruch der Gesellschaft; die Orientierung sollte daher auf der Entwicklung der Produktivkräfte liegen.(86) Mao ging auch von der Existenz dieses Widerspruchs aus, nur lag für ihn der Hauptwiderspruch im politischen Bereich als Widerspruch zwischen Volk (alle Kräfte, die den Aufbau des Sozialismus unterstützten) und Feind (alle Kräfte, die den Aufbau des Sozialismus zu verhindern suchten). Die Entwicklung der Produktivkräfte muß

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daher ausgehen von politisch-gesellschaftlichen Zielsetzungen, d.h. bewußt auf die Herstellung und Festigung sozialistischer Verhältnisse orientiert sein. Dazu bedarf es einer differenzierten Einschätzung der in der sozialistischen Gesellschaft vorhandenen Widersprüche, die Mao zusammenfassend erstmals in seiner Rede „Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk" (1957) darlegte; sie ist auch als die theoretische Grundlage der Praxis der Kulturrevolution zu betrachten.(87) Ihre Argumentation ist sowohl durch die eben genannte Kontroverse als auch durch die Konsequenzen der „Entstalinisierung" in der UdSSR bestimmt. Der letzte Punkt betrifft vor allem den Schwerpunkt der Behandlung der Widersprüche im Volke, wobei Mao sowohl die Lehren aus den Fehlern der Stalinschen Politik ziehen als auch die Bedingungen für eine Vermeidung der vorangegangenen Ereignisse in Osteuropa (Aufstand in Ungarn, 17. Juni in der DDR) erörtern will.

Mao unterscheidet zunächst zwischen Widersprüchen „zwischen uns und dem Feind" und Widersprüchen im Volke. Der Inhalt des Begriffs „Volk" ist klassenmäßig bestimmt und wechselt in jeder Periode der Revolution. In der Etappe der sozialistischen Revolution „gehören zum Volk alle Klassen, Schichten und gesellschaftlichen Gruppen, die den Aufbau des Sozialismus billigen, unterstützen und dafür arbeiten."(88) Widersprüche im Volk sind die Widersprüche innerhalb der einzelnen Klassen und Schichten des Volks und zwischen ihnen, ferner die Widersprüche zwischen Staat, Partei und diesen Klassen und Schichten. Es gibt also auch im Volk Klassen und Klassenkampf, zumal in China auch die nationale Bourgeoisie zum Volk gehörte. Entscheidend ist, daß Mao die Entwicklung dieser Widersprüche sehr stark von ihrer Behandlung abhängig macht: „Unter gewöhnlichen Umständen sind Widersprüche im Volk nicht antagonistisch. Aber wenn man sie nicht , richtig behandelt oder wenn man die Wachsamkeit verliert, sorglos und nachlässig wird, kann ein Antagonismus entstehen."(89) Die objektive Bedingung dafür ist, daß die prinzipiell antagonistischen Widersprüche im Volk, etwa die zwischen nationaler Bourgeoisie und Proletariat, „neben ihrem antagonistischen auch einen nichtantagonistischen Aspekt haben,"(90) der sich aus der besonderen Entwicklung in China ergibt. Eine falsche Behandlung kann den antagonistischen Aspekt stärken, während eine richtige Behandlung zwar nicht den Antagonismus beseitigt, aber spezifische Formen seiner Lösung ermöglicht, bei der die Einheit gegenüber den Feinden des Volkes gewahrt bleibt.

Mao Tsetungs Darlegungen sind nur vor diesem Hintergrund einer Taktik der maximalen Isolierung der Feinde des Volkes zu verstehen. Er weist darauf hin, daß die Einheit des „Volkes" in sich widersprüchlich ist und ihre Stabilisierung von der politischen Herangehensweise abhängt. „Viele wagen nicht, offen zuzugeben, daß bei uns Widersprüche im Volke noch weiter bestehen und daß gerade diese die Entwicklung unserer Gesellschaft vorantreiben. Viele Menschen geben nicht zu, daß es in der sozialistischen Gesellschaft noch Widersprüche gibt, was dazu führt, daß sie angesichts der Widersprüche in der Gesellschaft ängstlich und passiv werden; sie verstehen nicht, daß die Einheit und Geschlossenheit innerhalb der sozialistischen Gesellschaft gerade im Prozeß der ständigen und richtigen Behandlung und Lösung von Widersprüchen von Tag zu Tag fester wird."(91) An diesem Ziel und der Notwendigkeit der konkreten Analyse und Behandlung der Widersprüche im Volk hat Mao theoretisch und praktisch festgehalten, auch wenn für ihn in der weiteren Entwicklung antagonistische Widersprüche neuer Art auftauchten, die seine Einschätzung der Form des Klassenkampfes von 1957 hinfällig machten: „Die für die Periode der Revolution charakteristischen, umfassenden und stürmischen Klassenkämpfe der Massen sind im wesentlichen abgeschlossen, doch der Klassenkampf ist noch nicht ganz beendet."(92)

2. Die Kulturrevolution

Mit der Polemik über die Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung,(93) an deren Ende die Einschätzung stand, daß sich die Sowjetunion in ein kapitalistisches Land verwandelt habe, wurde in China nach den Ursachen einer solchen „revisionistischen Degeneration" und den Möglichkeiten ihrer Verhinderung gefragt, und die Widersprüche in der Gesellschaft wurden unter diesem Aspekt neu analysiert. Das Problem war, wie eine Schicht innerhalb der Gesellschaft sich trotz der Diktatur des Proletariats in eine neue Ausbeuterklasse verwandeln konnte. Entscheidend für Maos Analyse ist, daß er die

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Antwort nicht in subjektiven Faktoren (wie der Existenz von Agenten im Partei- und Staatsapparat) suchte, sondern in den objektiven Widersprüchen der sozialistischen Gesellschaft. Seine zumeist in aphoristischer Form publizierten Hinweise lassen sich, sehr summarisch, so zusammenfassen (94): Nicht unmittelbar zu beseitigende Lohnunterschiede, Unterschiede zwischen Stadt und Land, geistiger und körperlicher Arbeit, Privilegien für Spezialisten und höhere Kader schaffen immer wieder die Möglichkeiten für die Herausbildung einer privilegierten Schicht, die sich auf das noch vorhandene „bürgerliche Recht" und die kapitalistischen Tendenzen in der ökonomischen Basis (Kleinproduktion, Warenaustausch, Geltung des Wertgesetzes) stützen kann, um sich als neue Bourgeoisie zu etablieren. Diese Entwicklung ist objektiv bedingt, aber nicht zwangsläufig; sie wird vor allem genährt durch „feudalistische" und bürgerliche Erscheinungen und Traditionen im gesamten Bereich des Überbaus: Alltagsgewohnheiten, Kunst, Erziehung, Recht, Politik usw. Der Überbau wird daher zum entscheidenden Ansatzpunkt, zum Ort des Hauptwiderspruchs, durch dessen Lösung der Revisionismus verhindert und die gesellschaftliche Entwicklung vorangetrieben werden kann.

Die Kulturrevolution ist somit, einem umfassenden Kulturbegriff entsprechend, Revolution im Überbau unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats; ihr politisches Ziel ist die Isolierung und Entmachtung der „Parteimachthaber auf dem kapitalistischen Weg," ihr ideologisches Ziel die Etablierung einer sozialistischen Kultur, ihr ökonomisches Ziel die Beseitigung aller die sozialistische Umgestaltung hemmenden Faktoren im Überbau, um die Produktivkräfte auf sozialistischer Grundlage zu entwickeln. In dieser Zielsetzung wird, wie Mao sagt, der Klassenkampf zum „Hauptkettenglied, von dem alles andere abhängt,"(95) wie es in einer bekannten Losung Maos während der Kulturrevolution zum Ausdruck kommt: „Die Revolution anpacken, die Produktion fördern."(96)

Es scheint so, daß Mao den entscheidenden politischen Widerspruch mehr und mehr in der Partei selbst sah, die im Verlauf der Kulturrevolution durch ihn in Frage gestellt wurde: „Die sozialistische Revolution richtet sich nun gegen sie selbst ... Man macht die sozialistische Revolution und weiß nicht, wo die Bourgeoisie sitzt; sie sitzt mitten in der Kommunistischen Partei - es sind die Parteimachthaber, die den kapitalistischen Weg gehen."(97) Die möglichen Konsequenzen dieser in der Kritik an Deng Hsiao-ping 1976 veröffentlichten These lassen sich nur vermuten, denn von Mao wurden seit den 60er Jahren keine zusammenhängenden theoretischen Äußerungen mehr allgemein zugänglich gemacht. Es würde aber der Konsequenz seiner Auffassung der Dialektik entsprechen, die Struktur und Praxis der Partei selbst in Frage zu stellen und neue Formen des Zusammenspiels von Partei und Massen zu praktizieren, wenn die Partei in Widerspruch zu der gesellschaftlichen Entwicklung geriete. Die Partei war für Mao nie Selbstzweck, sondern Mittel der Unterdrückten zur Veränderung der Welt. Maos Konsequenz, daß Widersprüche und Revolutionen auch in Zukunft unvermeidlich sein werden, geht von der Parteinahme für die Interessen der Massen und gegen jede Form ihrer Unmündigkeit und Unterdrückung aus: „Wird in 100 Jahren Revolution nötig sein? Wird auch in 1000 Jahren Revolution notwendig sein? Revolution ist immer notwendig; kleine Beamte, Studenten, Arbeiter, Bauern und Soldaten wollen nicht von großen Tieren unterdrückt werden. Darum wollen sie die Revolution. Sollten in 10000 Jahren keine Widersprüche mehr zu sehen sein? Wieso nicht? Immer noch werden welche zu sehen sein."(98)

3. Die Bedeutung der Theorie der Dialektik

Mao Tsetungs Darlegung der Dialektik ist durchgängig eine Erläuterung ihrer praktischen Bedeutung für die konkrete Erkenntnis und Umgestaltung der Welt. Die Theorie der Dialektik ist bei ihm daher unmittelbar auf die Praxis bezogen und intendiert eine neue Praxis der Philosophie, in der die Massen als Schöpfer der Geschichte die Dialektik bewußt anwenden. „Die Philosophie soll aus der Haft der Hörsäle und der Bücher der Philosophen befreit und zu einer scharfen Waffe in den Händen der Volksmassen werden."(99) Dieses Praktischwerden der Dialektik schließt die weitere Ausarbeitung der Theorie nicht aus, auch wenn sich dieser Bereich philosophischer Forschung in chinesischen Publikationen seit 1966 nicht mehr dokumentiert.(100) Entscheidend ist, daß die Weiterentwicklung der Theorie nicht von ihrer Popularisierung getrennt wird,(101) sondern auch der akademische Unterricht, dem Prinzip des „Unterrichts bei offener Tür" folgend, an aktuellen Problemen in Fabriken, Volkskommunen usw. ausgerichtet wird. Die

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Popularisierung der Dialektik soll zugleich ein Umdenken bei den Intellektuellen bewirken, den Bezug der Theorie zur Praxis konkret zu begreifen und die Theorie entsprechend weiterzuentwickeln. wie umgekehrt die Hebung des Niveaus der bewußten Anwendung der Dialektik durch die Massen dazu beitragen soll, zunehmend den Unterschied zwischen geistiger und körperlicher Arbeit aufzuheben.

Es ist nicht erstaunlich, daß dieser Versuch, die Dialektik zur Sache mehrerer hundert Millionen Menschen zu machen, zunächst sehr elementar ansetzt. Dennoch sind auch die vielfach als Verflachung der materialistischen Dialektik zitierten „Hundert Beispiele zur Illustration des Gesetzes der Einheit der Gegensätze," die zu Beginn der Kulturrevolution veröffentlich wurden, von der Sache her alles andere als banal.(102) In ihnen schildern Arbeiter, Bauern und Soldaten ihre Versuche, Probleme der Produktion, Ausbildung usw. mit Hilfe der dialektischen Methode zu lösen. Materialistische Dialektik läßt sich darauf sicher nicht reduzieren, sie muß sich aber, wenn ihr Auspruch ernst genommen wird, gerade auch in diesen Fragen bewähren können.

Im Verlauf der Kampagne zur Popularisierung der Dialektik wurde die dialektisch-materialistische Weltanschauung mit der Formel Mao Tsetung „Eins teilt sich in zwei" vorgestellt. Diese Formel richtete sich zunächst gegen Thesen des Philosophen Yang Hsien-chen, der die theoretische Bedeutung des Aspektes der Einheit der Gegensätze akzentuiert hatte.(103) In der Situation zu Beginn der Kulturrevolution wurde die Akzentuierung der Einheit unmittelbar als politisch relevante Position verstanden, die die Existenz der Widersprüche und damit die Notwendigkeit des Klassenkampfes im Sozialismus nicht mehr in den Mittelpunkt der Überlegungen stellte. „Eins teilt sich in zwei" betont dagegen die „Spaltung des Einheitlichen" (Lenin), d.h. die Allgemeinheit des Widerspruchs und die Absolutheit des Kampfes der Gegensätze im Gegensatz zur Relativität der jeweiligen Einheit. Die Formel akzentuiert bewußt einseitig diesen Aspekt, was nur aus der konkreten Situation heraus zu verstehen ist.

Die Funktionsweise der Formel läßt sich anhand eines 1977 veröffentlichten Textes Mao Tsetungs von 1963 deutlich machen. Mao schreibt, „daß sich ein Kommunist die marxistische dialektische Auffassung Eins teilt sich in zwei in bezug auf Leistungen und Unzulänglichkeiten wie auf Wahrheit und Falschheit aneignen muß. Alle Dinge (Wirtschaft, Politik, Ideologie, Kultur, Militärwesen, Parteiarbeit usw.) entwickeln sich ausnahmslos in einem Prozeß. Und jeder Prozeß entwickelt sich durch wechselseitige Verbundenheit und gegenseitigen Kampf zwischen seinen beiden im Widerspruch stehenden Seiten. Das sollte das ABC jedes Marxisten sein." Metaphysisch dagegen ist es, „die Wahrheit zu leugnen, daß es in den Dingen sowohl Einheit als auch Kampf der Gegensätze gibt (die Methode Eins teilt sich in zwei) und daß unter bestimmten Bedingungen die im Gegensatz stehenden, widersprüchlichen Dinge ineinander übergehen und sich in ihr Gegenteil verkehren."(104)

„Eins teilt sich in zwei" ist somit keine Kurzformel der gesamten Dialektik-Konzeption Mao Tsetungs, sondern Chiffre für den Hauptaspekt der Lehre vom Widerspruch. Sie verweist darauf, die Komplexität jedes Dinges als Einheit von Widersprüchen zu analysieren, die konkrete Analyse der konkreten Situation zu praktizieren. Die in dieser Chiffre vorgenommene Akzentuierung spricht allerdings das Entscheidende an: es ist kein Punkt denkbar, an dem der Kampf der Gegensätze endgültig zur Ruhe kommt und sich die Entwicklung als ruhige Evolution eines einheitlichen Ganzen vollzieht.

Anmerkungen

1) Mao Tsetung, Fünf philosophische Monographien. Im Folgenden werden die genannten Texte nach dieser Ausgabe zitiert, wobei jeweils der Titel der jeweiligen Schrift angegeben wird. Die „Rede auf der Landeskonferenz" geht nicht über die Aussagen von „Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk" hinaus und kann daher weitgehend vernachlässigt werden. Der Text von 1963 ist ein von Mao verfaßter Absatz aus einem ZK-Beschluß.

2) Schram, Das Mao-System; Ch'en, Mao-Papers; Martin, Mao-intern; Martin, Das

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machen wir anders als Moskau; Schräm, Mao Tse-tung unrehearsed.

3) Snow, Die lange Revolution, S. 236. Der Text des angeblich von Mao verfaßten Aufsatzes bei Schräm, Das Mao-System, S. 157-166.

4) Holubnychy, Der dialektische Materialismus Mao Tse-tungs, S. 20-25; Weggel, Der ideologische Konflikt zwischen Moskau und Peking, übernimmt diese These.

5) Schram, „Mao Tse-tung und die Theorie der permanenten Revolution," in Opitz (Hrsg.), Maoismus, S. 138.

6) Cohen, The Communism ofMao Tse-tung.

7) Konstantinow u.a., Kritik der theoretischen Auffassungen Mao Tse-tungs, S. 45.

8) Ein gefährlicher Kurs, S. 140.

9) Opitz (Hrsg.), Maoismus. Ferner die Artikel von Grimm und Fetscher in China in the Seventies.

10) Schickel, Große Mauer, große Methode, beschäftigt sich vor allem mit dem Verhältnis Maos zur chinesischen Tradition; Holz, Widerspruch in China, versucht darüberhinaus, die prinzipielle Gemeinsamkeit der Positionen Maos und Lenins hervorzuheben. Althusser, Für Marx, S. 57, 66, 124, 137, knüpft an Maos Erläuterung des Entwicklungsprozesses eines „komplexen Dinges" an.

11) Mao Tsetung selbst stellt diese Aufgabe in dem Aufsatz „Der Platz der KP Chinas im Nationalen Krieg" (Mao Tsetung, Ausgewählte Werke, vol. 2, S. 246). „Sinisierung" ist eine Übersetzung Schrams (Schräm, Das Mao-System, S. 150); im offiziellen Text heißt es „konkrete Anwendung des Marxismus in China."

12) Mao selbst nennt den großen Eintluß der Oktoberrevolution auf China: Mao, über den Widerspruch, S. 33.

13) Die Entwicklung der marxistischen Philosophie in China, allerdings ohne Berücksichtigung Maos, stellt dar Briere, L'ejffbrt de laPhilosophie marxiste en Chine.

14) Mao Tsetung, Über die Praxis, S. 23-24; Über den Widerspruch, S. 81-86.

15) Zum Kampf zwischen Idealismus und Materialismus in der chinesischen Tradition vgl. Tschang En-tsd, Connaisance et verité, S. 19-24. Im allgemeinen wird diese Unterscheidung aber als für das chinesische Denken nicht zutreffend angesehen. Eine Konfrontation der „metaphysischen" Tradition des Konfuzianismus mit der „dialektischen" des Taoismus unternimmt Freiberg, The Dialectic in China.

16 Man denke an „Yü Gung versetzt Berge," ein von Maos aus taoistischen Schriften aufgenommenes Gleichnis. Ein Musterbeispiel für die Argumentationsweise Maos ist der Aufsatz „Strategische Probleme des revolutionären Krieges in China" (Ausgewählte Werke, vol. 1,8.209-298).

17) Eine recht einseitige Betonung des I Ching, eines ca. 4000 Jahre alten Textes, der später in den konfuzianischen Kanon aufgenommen wurde, nimmt Schickel und, unter seinem Einfluß, Holz vor. Dagegen rückt Freiberg den Taoismus, die Weltanschauung Lao-tses und seiner Nachfolger, in den Mittelpunkt.

18) Freiberg, The Dialectic in China, S. 7-9.

19) Der chinesische Zeitbegriff, Grundlage der zyklischen Konzeption des Werdens, ist

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dargestellt bei Bauer, China und die Hoffnung auf Glück. Der Ausschluß der Besonderheiten erklärt sich daraus, daß es das Ziel ist, in Übereinstimmung mit dem (immer gleichen) ewigen Gesetzen zu leben und sich auf deren Erkenntnis zu konzentrieren; allerdings mit der Absicht, das diesseitige Leben daran auszurichten.

20) Eine Zusammenstellung bei Holubnychy, Der dialektische Materialismus Mao Tsetungs, S. 57.

21) Snow, Die lange Revolution, S. 236.

22) In dieser Weise verlangt Mao auch die „Sinisierung" des Marxismus.

23) Die „Bewegung des 4.Mai" ließe sich als innerchinesischer Vorgang, als antikonfuzianische Revolution der Konfuzianer, deuten; sie schaffte die Voraussetzungen dafür, daß in der Folge eine Vielzahl von ausländischen Ideologien und Philosophien rezipiert werden konnte, von denen sich schließlich der Marxismus als beherrschende Strömung erwies. Vom Standpunkt der Kulturrevolution 1966 aus erscheint diese Bewegung als Vorspie! zu dem Versuch, den Schnitt zu allen feudalistischen und bourgeoisen Formen in der Kultur bewußt zu vollziehen.

24) Snow, Roter Stern über China.

25) Die Taiping-Revolution war geprägt von utopisch-sozialistischen Vorstellungen. Zu Maos Position siehe Mao Tsetung, „Analyse der Klassen in der chinesischen Gesellschaft," Ausgewählte Werke, vol. l, S. 9-19; „Untersuchungsbericht über die Bauernbewegung in Hunan," Ausgewählte Werke, vol. i, S. 21-63.

26) Mao Tsetung, Über die Praxis,?,, i; Überden Widerspruch, S. 27.

27) a.a.O., S. 3'

28) Ebenda.

29) a.a.O., S. 4

30) a.a.O., S.1

31) Mao Tsetung, Über den Widerspruch, S. 65-66.

32) In „Woher kommen die richtigen Ideen der Menschen?" (S. 174) spricht Mao von zwei Etappen der Erkenntnis: Von der Praxis zur Theorie oder vom Sein zum Bewußtsein und „vom Bewußtsein zur Materie, von der Idee zum Sein." Lenin, „Philosophische Hefte," Werke, vol. 38, S. 160, schreibt: „Der Gedanke von der Verwandlung des Ideellen in das Reale ist tief: sehr wichtig für die Geschichte ... Gegen den Vulgärmaterialismus."

33) Lenin, „Philosophische Hefte," Werke, vol. 38, S. 160.

34) Mao Tsetung, Über die Praxis S.10.

35) a.a.O., S. 14.

36) a.a.O., S. 7

37) a.a.O., S. 16

38) Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung, S. 190.

39) Mao Tsetung, Über die Praxis, S. 22-23.

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40) Mao Tsetung, Über den Widerspruch, S. 34. *'a.a.O.,S.45,51,53, 63.

42 a.a.O., S. 46.

43) a.a.O., S. 81.

44) a.a.O., S. 44-45. „Ding" ist bei Mao qualitativ zu verstehet» im Sinne von „Totalität, „Teiltotalität" oder auch „Einzelnes."

45) a.a.O., S. 29. Hervorhebung von den Verf.

46) a.a.O., S. 34.

47) a.a.O., S. 33-34. Mao orientierte sich bei diesen Darlegungen an sowjetischen Philosophielehrbüchern. Dazu Doolon/Golas, On Contradiction in the Light of Mao Tsetungs Essay on ,Dialectical Materialism.'

48) Mao Tsetung, Über den Widerspruch, S. 34.

49) Die erste Bedeutung von Metaphysik ist „Wissenschaft vom Dunklen," ein terminus technicus für Taoismus; die zweite (Hsing-erh-shang-hsüeh) entspricht etwa der aristotelischen: „Wissenschaft von demjenigen, was über die Formen hinausgeht." - „Pien-cheng-fa" heißt wörtlich „Methode des Diskulierens und Beweisens." Für diese und zahlreiche andere Hinweise, Kritiken und Vorschläge sind die Verfasser Herrn Dr. Wegmann vom Institut für Ostasienwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum zu Dank verpflichtet.

50) Mao Tsetung, Über den Widerspruch, S. 33.

51) Ebenda

52) a.a.O.,S.30

53) Ebenda

54) a.a.O., S. 34-

55) a.a.O., S. 35

56) a.a.O.,s.38

57) a.a.O., S. 34-35. Hervorhebung von den Verf.

58) a.a.O., S. 41

59) Ebenda.

60) a.a.O.,S.42.

61) a.a.O., S. 43

62) a.a.O.,S.44-45

63) a.a.O., S. 48

64) a.a.O., S. 51

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65) a.a.O., S. 54-

66) a.a.O., S. 57

67) Ebenda

68) a.a.O., S. 58

69) a.a.O., S. 49

70) a.a.O., S. 60

71) a.a.O., S. 65-66.

72) a.a.O., S. 60.

73) An diesem Punkt hat Althusser versucht, seine Vorstellung einer „Struktur mit Dominante" auf Mao zu beziehen.

74) Mao Tsetung, Über den Widerspruch, S. 68, 72, 74-75, 77-

75) Bauer, China und die Hoffnung auf Glück, S. 540-541. .

76) Mao Tsetung, über den Widerspruch, S. 69

77) a.a.O.,S. 68

78) a.a.O., S. 70

79) Rumjanzew, Quellen und Entwicklung der Ideen Mao Tse-tungs S.53

80) Mao Tsetung, Über den Widerspruch, S. 71

81) a.a.O., S. 76. ,

82) a.a.O., S. 78.

83) a.a.O., S. 57.

84) Die Polemik über die Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung entwickelt im Kern bereits diese Auffassungen.

85) Dokumente des IX. Parteitages der KP Chinas, S. 23-24.

86) Die Vorgeschichte und Bedeutung dieser Rede, von der nur eine stark redigierte Fassung veröffentlicht wurde, ist dargelegt bei Mac Farquahr, The Origins of The Cultural Revolution.

87) Das gilt jedoch nur mit Einschränkungen, weil die Formen des Klassenkampfes, die Mao 1957 für notwendig hielt, nicht mit den Praktiken Maos in der Kulturrevolution übereinstimmen.

88) MaoTsetung, Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volke, S. 90-9l.

89) a.a.O., S. 99.

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90 a.a.O., S. 91.

91) a.a.O., S. 102.

92) a.a.O., S. 106.

93) Polemik über die Generallinie der internationalen Kommunistischen Bewegung.

'* Hierzu sind, neben den in den Dokumenten des IX. Parteitags der KP Chinas publizierten Weisungen Maos ergänzend die in der Bibliographie genannten nichtautorisierten Ausgaben mit Texten Mao Tsetungs heranzuziehen (siehe Anmerkung 2). Zur ökonomischen Begründung der Politik Yu, Der Doppelcharakter des Sozialismus, 2 vol.; Dschang Tschun-tjiao, Zur allseitigen Diktatur über die Bourgeoisie.

95) Peking-Kundschau 10/1976, S. 5.

96) Dokumente des IX. Parteitages der KP Chinas, S. 69.

97) Peking-Rundschau 14/1976, S. 4.

98) Peking-Rundschau 21/1976, S. 10.

99) Peking-Rundschau 26/1974, S. 5.

100) Sowohl die Zeitschrift für philosophische Forschung als auch die Beilage zur Kuan-ming-jih-pao, in denen die philosophische Forschung und Diskussion sich dokumentierte, stellten mit Beginn der Kulturrevolution ihr Erscheinen ein.

101) Das Modell der Dialektik von Popularisierung und Hebung des Niveaus findet sich in Maos Rede bei der Aussprache über Literatur und Kunst in Ycnan, Ausgewählte Werke, vol. 3, S. 75-110.

102) Eins teilt sich in zwei; Philosophy is no Mystery; Serving the People with Dialectics.

103) Diese Kontroverse ist dargestellt in: Three Major Struggles on China's Philosophical Front.

104) Mao Tsetung, „Verstärkt voneinander lernen," „Nicht auf der Stelle treten," „Überheblichkeit und Selbstzufriedenheit überwinden," Peking-Rundschau 37/38/1977, S. 6.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 5. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 107-134

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Mao Tse-tung:

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ÜBER DIE PRAXIS*Über den Zusammenhang von Erkenntnis und Praxis,

von Wissen und Handeln

(Juli 1937)

Diese Version aus: Mao Tse-tung, Ausgewählte Werke Band I, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1968, S.347-364)

│347│Der vormarxsche Materialismus betrachtete das Problem der Erkenntnis losgelöst vom gesellschaftlichen Charakter des Menschen und von seiner geschichtlichen Entwicklung, darum konnte er die Abhängigkeit der Erkenntnis von der gesellschaftlichen Praxis, das heißt, die Abhängigkeit der Erkenntnis von der Produktion und vom Klassenkampf, nicht verstehen.

Vor allen Dingen sind die Marxisten der Meinung, daß die Produktionstätigkeit der Menschen die allerwesentlichste praktische Tätigkeit darstellt, die jede andere Tätigkeit bestimmt. Die Erkenntnis der Menschen hängt hauptsächlich von ihrer Tätigkeit in der materiellen Produktion ab, in deren Verlauf die Menschen allmählich die Erscheinungen, Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten der Natur und die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur begreifen; zugleich erkennen sie durch ihre Produktionstätigkeit auch allmählich in unterschiedlichem Maß bestimmte Beziehungen zwischen den Menschen. Alle diese Kenntnisse können nicht losgelöst von der Produktionstätigkeit erworben werden. In der klassenlosen Gesellschaft

│348│wirkt jeder einzelne Mensch als Mitglied dieser Gesellschaft mit den übrigen Gesellschaftsmitgliedern zusammen, geht mit ihnen bestimmte Produktionsverhältnisse ein und übt eine Produktionstätigkeit aus, trägt somit zur Lösung der Fragen der materiellen Existenz der Menschheit bei. In den Klassengesellschaften gehen die zu den verschiedenen Klassen gehörenden Mitglieder der Gesellschaft ebenfalls, und zwar in verschiedenen Formen, bestimmte Produktionsverhältnisse ein, üben eine Produktionstätigkeit aus und lösen so die Fragen der materiellen Existenz der Menschheit. Das ist die Hauptquelle für die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis.

Die gesellschaftliche Praxis der Menschen beschränkt sich nicht auf die Produktionstätigkeit, sondern hat noch viele andere Formen: den Klassenkampf, das politische Leben, die wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit; kurz gesagt, der gesellschaftliche Mensch nimmt an allen Bereichen des praktischen Lebens der Gesellschaft teil. Darum erfaßt der Mensch in seiner Erkenntnis in unterschiedlichem Maße die verschiedenartigen Beziehungen zwischen den Menschen nicht nur im materiellen, sondern auch im politischen und kulturellen Leben (das eng mit dem materiellen Leben verbunden ist). Unter diesen Formen der gesellschaftlichen Praxis übt vor allem der Klassenkampf in seinen verschiedensten Formen einen tiefwirkenden Einfluß auf die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis aus. In der Klassengesellschaft lebt jeder Mensch in einer bestimmten Klassenlage, und es gibt keine Ideen, die nicht den Stempel einer Klasse trügen.

Die Marxisten sind der Ansicht, daß sich die Produktionstätigkeit der menschlichen

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Gesellschaft Schritt für Schritt von niederen zu höheren Stufen entwickelt und sich deshalb auch die Erkenntnis sowohl der Natur als auch der Gesellschaft durch die Menschen Schritt für Schritt von niederen zu höheren Stufen, das heißt von der Ober fläche in die Tiefe, vom Einseitigen zum Vielseitigen entwickelt. Im

│349│Verlauf einer sehr langen historischen Periode konnten die Menschen die Geschichte der Gesellschaft notwendigerweise nur einseitig verstehen, weil einerseits die Voreingenommenheit der Ausbeuterklassen die Geschichte der Gesellschaft ständig verzerrte und andererseits der enge Umfang der Produktion den Gesichtskreis der Menschen beschränkte. Erst als zusammen mit den riesigen Produktivkräften - der Großindustrie - das moderne Proletariat auf den Plan trat, konnten die Menschen zum allseitigen geschichtlichen Verständnis der historischen Entwicklung der Gesellschaft gelangen und ihre Erkenntnis der Gesellschaft in eine Wissenschaft verwandeln. Diese Wissenschaft ist der Marxismus.

Die Marxisten sind der Ansicht, daß nur die gesellschaftliche Praxis der Menschen das Kriterium für den Wahrheitsgehalt ihrer Erkenntnis der Außenwelt ist. In der Tat wird ihre Erkenntnis erst dann als richtig bestätigt, wenn die Menschen im Prozeß der gesellschaftlichen Praxis (im Prozeß der materiellen Produktion, des Klassenkampfes und wissenschaftlicher Experimente) die von ihnen erwarteten Ergebnisse erzielt haben. Wenn die Menschen Erfolge in der Arbeit erzielen, das heißt die erwarteten Ergebnisse erhalten wollen, müssen sie unbedingt ihre Ideen in Übereinstimmung mit den Gesetzmäßigkeiten der objektiven Außenwelt bringen, anderenfalls erleiden sie in der Praxis Niederlagen. Wenn sie Niederlagen erleiden, ziehen sie daraus Lehren, berichtigen ihre Ideen, um sie in Übereinstimmung mit den Gesetzmäßigkeiten der Außenwelt zu bringen und können dann die Niederlagen in Siege verwandeln; diese Wahrheit findet ihren Ausdruck in den Sprichwörtern "Die Niederlage ist die Mutter des Erfolgs" und "Durch Schaden wird man klug". Die Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus stellt die Praxis an die erste Stelle; sie ist der Meinung, daß die menschliche Erkenntnis keineswegs von der Praxis losgelöst werden kann, und lehnt alle Theorien, die die Bedeutung der Praxis verneinen und die Erkenntnis von der Praxis lösen, als falsch ab. Lenin sagte: "Die Praxis ist höher als die (theoretische) Erkenntnis, denn sie hat nicht nur die Würde des Allgemeinen, sondern auch der unmittelbaren Wirklichkeit. [1] Die marxistische Philosophie, der dialektische Materialismus, weist zwei am meisten hervorstechende Merkmale auf: Zunächst ist sie durch ihren Klassencharakter gekennzeichnet. Sie erklärt offen, daß der dialektische Materialismus dem Proletariat dient. Weiter ist sie gekennzeichnet durch ihre Bezogenheit auf die Praxis. Sie betont, daß die Theorie von der Praxis abhängt, daß die Praxis die Grundlage

│350│der Theorie bildet und die Theorie ihrerseits der Praxis dient. Ob eine Erkenntnis oder eine Theorie der Wahrheit entspricht, wird nicht durch die subjektive Empfindung, sondern durch die objektiven Ergebnisse der gesellschaftlichen Praxis bestimmt. Das Kriterium der Wahrheit kann nur die gesellschaftliche Praxis sein. Der Gesichtspunkt der Praxis ist der erste und grundlegende Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus.[2]

Aber auf welche Weise entsteht nun aus der Praxis die menschliche Erkenntnis, und wie dient sie ihrerseits der Praxis? Um das zu verstehen, braucht man sich nur mit dem Entwicklungsprozeß der Erkenntnis zu befassen.

Die Menschen sehen nämlich im Prozeß ihrer praktischen Tätigkeit zuerst lediglich die Erscheinung der Dinge, ihre einzelnen Seiten und den äußerlichen Zusammenhang zwischen den Dingen. Hier ein Beispiel: Leute, die zu einer Studienreise von auswärts nach Yenan kommen, sehen hier in den ersten Tagen das Gelände, die Straßen und Häuser, kommen mit vielen Menschen in Berührung, nehmen an Empfängen,

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Abendveranstaltungen und Massenkundgebungen teil, hören allerlei Reden und lesen verschiedene Dokumente; alles das ist die Erscheinung der Dinge, sind ihre einzelnen Seiten und ihr äußerlicher Zusammenhang. Das nennt man die Stufe der sinnlichen Erkenntnis, die Stufe der Empfindungen und Eindrücke.

Das heißt, diese verschiedenen Dinge in Yenan wirken auf die Sinnesorgane der Mitglieder der Studiengruppe ein, rufen in ihnen Empfindungen hervor, und so entstehen in ihrem Gehirn zahlreiche Eindrücke und eine grobe äußerliche Verbindung zwischen diesen Eindrücken; das ist die erste Stufe der Erkenntnis. Auf dieser Stufe kann man noch keine tiefgehenden Begriffe bilden und keine folgerichtigen (d.h. der Logik entsprechenden) Schlüsse ziehen. Indem sich die gesellschaftliche Praxis fortsetzt, wiederholen sich mehrmals die Dinge, die bei den Menschen in ihrer praktischen Tätigkeit Empfindungen und Eindrücke hervorrufen; dann tritt im menschlichen Gehirn ein Umschlag (d.h. Sprung) im Erkenntnisprozeß ein, und es entstehen Begriffe. Der Begriff spiegelt schon nicht mehr die Erscheinung der Dinge, ihre einzelnen Seiten und den äußeren Zusammenhang zwischen ihnen wider; er erfaßt das Wesen der Dinge, ihre Totalität und ihren inneren Zusammenhang. Zwischen Begriff und Empfindung besteht nicht nur ein quantitativer, sondern auch ein qualitativer Unterschied. Wenn man in dieser Richtung weiterschreitet, die Methode des Urteilens und Ableitens anwendet, dann

│351│können folgerichtige Schlüsse gezogen werden. Wenn es in dem Roman San Guo Yän Yi {1} heißt: "Man zieht die Brauen zusammen und kommt auf eine Idee", oder wenn wir im Alltagsleben sagen: "Laß mich einmal nachdenken", so bedeutet das, daß der Mensch in seinem Gehirn mit Begriffen operiert, um Urteile zu fällen und Schlußfolgerungen zu ziehen. Das ist die zweite Stufe der Erkenntnis. Nachdem die Mitglieder der Studiengruppe allerhand Material gesammelt und obendrein darüber "nachgedacht" haben, können sie folgendes Urteil fällen: "Die von der Kommunistischen Partei betriebene Politik der antijapanischen nationalen Einheitsfront ist konsequent, aufrichtig und ehrlich." Nachdem sie dieses Urteil abgegeben haben, können sie, wenn sie ebenfalls ehrlich für die Einheit zur Rettung des Vaterlands eintreten, einen Schritt weitergehen und folgenden Schluß ziehen: "Die antijapanische nationale Einheitsfront kann zustande kommen." Im Gesamtprozeß der Erkenntnis eines Dinges durch die Menschen ist diese Stufe der Begriffe, Urteile und Schlußfolgerungen eine noch wichtigere Stufe, nämlich die Stufe der rationalen Erkenntnis. Die eigentliche Aufgabe der Erkenntnis besteht darin, vom Empfinden zum Denken und somit dahin zu gelangen, sich Schritt für Schritt über die inneren Widersprüche der objektiv existierenden Dinge, über ihre Gesetzmäßigkeiten, über den inneren Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen Prozeß klarzuwerden, das heißt, zur logischen Erkenntnis zu kommen. Wiederholen wir: Die logische Erkenntnis unterscheidet sich von der sinnlichen Erkenntnis dadurch, daß die sinnliche Erkenntnis die einzelnen Seiten der Dinge, ihre Erscheinung und den äußeren Zusammenhang zwischen ihnen betrifft, während die logische Erkenntnis einen gewaltigen Schritt vorwärts macht, zur Totalität der Dinge, zu ihrem Wesen und ihrem inneren Zusammenhang vorstößt, zur Aufdeckung der inneren Widersprüche der Umwelt gelangt. Dadurch ist die logische Erkenntnis imstande, die Entwicklung der Umwelt in ihrer Gesamtheit und im inneren Zusammenhang aller ihrer Seiten zu erfassen.

Diese auf der Praxis beruhende und von der Oberfläche in die Tiefe dringende dialektisch-materialistische Theorie des Entwicklungsprozesses der Erkenntnis ist in vormarxistischer Zeit von niemandem ausgearbeitet worden. Der marxistische Materialismus hat zum erstenmal diese Frage richtig gelöst: er hat materialistisch und dialektisch die sich vertiefende Bewegung der Erkenntnis dargestellt und gezeigt, wie sich der gesellschaftliche Mensch in seiner komplizierten und sich ständig wiederholenden Praxis der Produktion und des

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│352│Klassenkampfes von der sinnlichen zur logischen Erkenntnis fortbewegt. Lenin sagte: "Die Abstraktion der Materie, des Naturgesetzes,die Abstraktion des Wertes usw., mit einem Worte, alle wissenschaftlichen (richtigen, ernst zu nehmenden, nicht unsinnigen) Abstraktionen spiegeln die Natur tiefer, richtiger, vollständiger wider." [3] Nach marxistisch-leninistischer Auffassung bestehen die Unterscheidungsmerkmale der beiden Stufen des Erkenntnisprozesses darin, daß auf der niederen Stufe die Erkenntnis als sinnliche, auf der höheren Stufe aber als logische Erkenntnis auftritt; diese beiden Stufen sind jedoch Stufen im einheitlichen Erkenntnisprozeß. Das Sinnliche und das Rationale unterscheiden sich ihrem Charakter nach, doch sind sie voneinander nicht losgelöst, sondern sie vereinigen sich auf der Grundlage der Praxis. Unsere Praxis beweist: Wenn wir etwas wahrgenommen haben, können wir es nicht sofort begreifen; erst wenn wir begriffen haben, können wir es tiefer wahrnehmen. Die sinnliche Wahrnehmung löst nur das Problem der äußeren Erscheinung; das Problem des inneren Wesens wird erst durch die Theorie gelöst. Die Lösung dieser Probleme kann keinesfalls von der Praxis getrennt werden. Kein Mensch kann ein Ding erkennen, wenn er nicht mit ihm in Berührung kommt, das heißt, wenn sein eigenes Leben (seine Praxis) nicht in dem Milieu dieses Dinges verläuft. Es war in der Feudalgesellschaft unmöglich, schon im voraus die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft zu erkennen; denn damals war der Kapitalismus noch nicht aufgekommen, und es fehlte die entsprechende Praxis. Der Marxismus konnte erst als Produkt der kapitalistischen Gesellschaft entstehen. Marx konnte nicht in der Epoche des liberalen Kapitalismus im voraus gewisse besondere Gesetzmäßigkeiten der Epoche des Imperialismus konkret erkennen, da der Imperialismus als letztes Stadium des Kapitalismus noch nicht in Erscheinung getreten war und es noch keine entsprechende Praxis gab; erst Lenin und Stalin konnten diese Aufgabe auf sich nehmen. Abgesehen von ihrer Genialität, konnten Marx, Engels, Lenin und Stalin ihre Theorie hauptsächlich deswegen aufstellen, weil sie zu ihrer Zeit persönlich an der Praxis des Klassenkampfes und der wissenschaftlichen Experimente teilnahmen; ohne letztere Voraussetzung hätte keinerlei Genialität zum Erfolg führen können. Der Satz, daß "der Gelehrte, ohne seine Stube zu verlassen, alle Vorgänge in der Welt kennt", war in alten Zeiten, als sich die Technik noch nicht entwickelt hatte, bloß leeres Gerede. In der modernen Zeit der entwickelten Technik kann dieser Satz zwar einen realen Sinn haben, doch sind es die praktisch tätigen

│353│Menschen in aller Welt, die wirklich über ein persönlich erworbenes Wissen verfügen; diese Menschen erlangen im Verlauf ihrer praktischen Tätigkeit jene "Kenntnisse", die durch Vermittlung des geschriebenen Wortes und der Technik in die Hände des "Gelehrten" geraten, der so in die Lage kommt, indirekt die "Vorgänge in der Welt zu kennen". Wer ein bestimmtes Ding oder einen Komplex von Dingen direkt kennenlernen will, muß persönlich an dem praktischen Kampf zur Veränderung der Wirklichkeit, zur Veränderung des Dinges oder des Komplexes von Dingen teilnehmen; denn nur so kommt er mit den Erscheinungen der betreffenden Dinge in Berührung, und erst durch die persönliche Teilnahme am praktischen Kampf zur Veränderung der Wirklichkeit ist er imstande, das Wesen jenes Dinges bzw. jenes Komplexes von Dingen zu enthüllen und sie zu verstehen. Das ist der Weg der Erkenntnis, den in Wirklichkeit jeder Mensch geht, obwohl es Menschen gibt, die vorsätzlich die Wahrheit verdrehen und das Gegenteil behaupten. Die lächerlichsten Menschen in der Welt sind die "Alleswisser", die, nachdem sie irgendwo fragmentarische Kenntnisse aufgeschnappt haben, sich selbst zu einer "ersten Autorität in der Welt" ernennen, was lediglich von ihrer maßlosen Einbildung zeugt. Kenntnisse gehören zur Wissenschaft, und auf diesem Gebiet ist nicht die geringste Unehrlichkeit oder Überheblichkeit statthaft, da bedarf es entschieden gerade des Gegenteils - der Ehrlichkeit und Bescheidenheit. Willst du Kenntnisse erwerben, mußt du an der die Wirklichkeit verändernden Praxis teilnehmen. Willst du den Geschmack einer Birne kennenlernen, mußt du sie verändern, das heißt sie in deinem

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Mund zerkauen. Willst du Struktur und Eigenschaften des Atoms kennenlernen, mußt du physikalische und chemische Versuche durchführen, um den Zustand des Atoms zu verändern. Willst du die Theorie und die Methoden der Revolution kennenlernen, mußt du an der Revolution teilnehmen. Alle echten Kenntnisse stammen aus der unmittelbaren Erfahrung. Der Mensch kann jedoch nicht alles unmittelbar erfahren, und tatsächlich ist der größere Teil unserer Kenntnisse das Produkt mittelbarer Erfahrung, nämlich die in der Vergangenheit oder in fremden Ländern erworbenen Kenntnisse. Für unsere Vorfahren und für die Ausländer waren es Produkte der unmittelbaren Erfahrung, und wenn diese Kenntnisse zur Zeit ihrer Erwerbung als unmittelbare Erfahrung jener Bedingung entsprachen, die Lenin "wissenschaftliche Abstraktion" nannte, und die objektiv existierenden Dinge wissenschaftlich widerspiegelten, dann sind sie zuverlässig, sonst nicht. Darum setzen sich die Kenntnisse eines

│354│ Menschen aus zwei Bestandteilen zusammen: aus direkter Erfahrung und aus mittelbarer Erfahrung. Außerdem bleibt das, was für mich mittelbare Erfahrung ist, für andere unmittelbare Erfahrung. Nimmt man also die Kenntnisse in ihrer Gesamtheit, gibt es keine, die von der unmittelbaren Erfahrung losgelöst sein könnten. Der Ursprung aller Kenntnisse sind die Empfindungen, die die physischen Sinnesorgane des Menschen von der objektiven Außenwelt empfangen; wer die Empfindungen verneint, die unmittelbare Erfahrung leugnet und die persönliche Teilnahme an der die Wirklichkeit verändernden Praxis ablehnt, ist kein Materialist. Darum eben sind die "Alleswisser" so lächerlich. Es gibt ein altes chinesisches Sprichwort: "Wie kann man ein Tigerjunges fangen, wenn man nicht in die Höhle des Tigers geht?" Dieses Sprichwort drückt eine Wahrheit aus, die gleichermaßen für die menschliche Praxis wie für die Erkenntnistheorie gilt. Eine von der Praxis losgelöste Erkenntnis kann es nicht geben.

Um die dialektisch-materialistische Bewegung der Erkenntnis klarzumachen, die auf der Grundlage der die Wirklichkeit verändernden Praxis entsteht - eine Bewegung der allmählichen Vertiefung der Erkenntnis -, seien nachstehend noch einige konkrete Beispiele angeführt.

In der Anfangsperiode seiner Praxis - in der Periode der Maschinenstürmerei und des spontanen Kampfes -stand das Proletariat, was die Erkenntnis der kapitalistischen Gesellschaft betrifft, noch auf der Stufe der sinnlichen Erkenntnis; es erkannte nur die einzelnen Seiten und den äußeren Zusammenhang der Erscheinungen des Kapitalismus. Damals war das Proletariat noch eine sogenannte "Klasse an sich". Als es aber dann zur zweiten Periode seiner Praxis, zur Periode des bewußten und organisierten wirtschaftlichen und politischen Kampfes gelangte, war es imstande, auf Grund der Praxis, auf Grund der in langwierigen Kämpfen gesammelten vielfältigen Erfahrungen - die von Marx und Engels wissenschaftlich verallgemeinert wurden, wodurch die marxistische Theorie entstanden war, mit deren Hilfe das Proletariat geschult wurde - das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft, das zwischen den Gesellschaftsklassen bestehende Ausbeutungsverhältnis und die historische Aufgabe des Proletariats zu verstehen. So wurde das Proletariat zur "Klasse für sich".

Ebenso verhielt es sich mit der Erkenntnis des Imperialismus durch das chinesische Volk. Die erste Stufe war die Stufe der oberflächlichen sinnlichen Erkenntnis, wie sie in dem durch Fremdenfeindlichkeit schlechthin gekennzeichneten Kampf der Taiping-Tiänguo-,

│355│Yihotuan- und anderer Bewegungen ihren Ausdruck fand. Erst die zweite Stufe war für das chinesische Volk die Stufe der rationalen Erkenntnis, wo es hinter die verschiedenen inneren und äußeren Widersprüche des Imperialismus kam und den wahren Sachverhalt erkannte, nämlich daß der Imperialismus im Verein mit den Klassen der chinesischen Kompradoren und Feudalherren die Volksmassen Chinas unterdrückte und ausplünderte; diese Erkenntnis begann erst um die Zeit der Bewegung des 4. Mai im

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Jahre 1919.

Wenden wir uns nun dem Krieg zu. Wenn die Führung in einem Krieg in der Hand von militärisch unerfahrenen Menschen liegt, dann können diese im Anfangsstadium die tieferen Gesetzmäßigkeiten der Lenkung des gegebenen konkreten Krieges (zum Beispiel unseres Agratrevolutionären Krieges in den vergangenen zehn Jahren) nicht verstehen. Sie werden im Anfangsstadium lediglich viele persönliche Kampferfahrungen erwerben und dabei eine beträchtliche Anzahl von Niederlagen erleiden. Nichtsdestoweniger werden diese Erfahrungen (die Erfahrungen der Siege und besonders der Niederlagen) ihnen die Möglichkeit geben, das, was dem ganzen Krieg von Anfang bis Ende innewohnt, nämlich die Gesetzmäßigkeiten dieses konkreten Krieges, zu begreifen, die Strategie und Taktik zu verstehen und folglich den Krieg mit sicherem Griff zu leiten. Wenn zu diesem Zeitpunkt ein Mensch ohne Erfahrungen die Führung im Krieg übernähme, würde er seinerseits die wirklichen Gesetze des Krieges erst dann verstehen, nachdem er eine Reihe von Niederlagen erlitten (das heißt Erfahrungen erworben) hat.

Häufig hört man Genossen, die zögern, eine bestimmte Arbeit zu übernehmen, sagen, sie wären nicht sicher, ob sie mit dieser Arbeit fertig werden könnten. Warum fühlen sie sich nicht sicher? Da sie in bezug auf den Inhalt und die Umstände dieser Arbeit kein Verständnis für Gesetzmäßigkeiten haben oder mit einer derartigen Arbeit niemals oder nur selten zu tun hatten, kann auch keine Rede davon sein, daß sie die Gesetzmäßigkeiten dieser Arbeit kennen. Nachdem man ihnen jedoch den Charakter und die Umstände der Arbeit ausführlich analysiert hat, werden sie sich sicherer fühlen und sich bereit erklären, diese Arbeit zu übernehmen. Wenn sie diese Arbeit einige Zeit geleistet und Erfahrungen darin erworben haben, wenn sie zudem aufgeschlossen die Umstände erforschen wollen und die Dinge nicht subjektiv, einseitig und oberflächlich betrachten, werden sie selbst Schlußfolgerungen zu ziehen vermögen, wie die Arbeit zu verrichten ist, und sie werden mit viel mehr Mut an die

│356│Arbeit herangehen. Leute, die subjektiv, einseitig und oberflächlich an die Fragen herangehen, beginnen nach der Ankunft am neuen Ort sofort, selbstgefällig Anordnungen zu treffen und Befehle zu erlassen, ohne sich über die Lage zu informieren, ohne in die Sache als Ganzes (in ihre Geschichte und ihre gesamten gegenwärtigen Umstände) einzudringen und ohne bis zum Wesen der Sache (ihrem Charakter und ihrem inneren Zusammenhang mit anderen Sachen) vorzudringen - solche Leute werden unweigerlich straucheln.

Im Erkenntnisprozeß besteht also der erste Schritt darin, daß man zunächst mit den Erscheinungen der Außenwelt in Berührung kommt; das ist die Stufe der Empfindungen. Der zweite Schritt ist die Synthese des durch die Empfindungen erhaltenen Materials, seine Einordnung und Verarbeitung; das ist die Stufe der Begriffe, Urteile und Schlußfolgerungen. Nur wenn durch die Empfindungen sehr reichhaltige (nicht vereinzelte und unvollständige) Angaben erhalten wurden und diese der Wirklichkeit entsprechen (keine Sinnestäuschungen sind), kann man auf Grund dieser Angaben richtige Begriffe bilden und logische Schlüsse ziehen.

Hier müssen zwei wichtige Momente besonders hervorgehoben werden. Über das erste wurde schon oben gesprochen, doch muß es hier noch einmal wiederholt werden: die Abhängigkeit der rationalen Erkenntnis von der sinnlichen. Wer der Meinung ist, die rationale Erkenntnis brauche nicht aus der sinnlichen Erkenntnis zu entspringen, ist ein Idealist. In der Geschichte der Philosophie gab es die Richtung des sogenannten "Rationalismus", die nur die Realität der Vernunft anerkannte und die Realität der Erfahrung verneinte, da sie der Meinung war, nur die Vernunft sei zuverlässig, während die durch sinnliche Wahrnehmung gewonnene Erfahrung unzuverlässig sei. Der Fehler dieser Richtung bestand darin, daß sie die Tatsachen auf den Kopf stellte. Das Rationale ist ja

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gerade deshalb zuverlässig, weil es seinen Ursprung in der sinnlichen Wahrnehmung hat; andernfalls würde es zu einem Fluß ohne Quelle, zu einem Baum ohne Wurzeln, wäre es etwas nur subjektiv Erstandenes, Unzuverlässiges. Vom Standpunkt der Reihenfolge im Erkenntnisprozeß ist die sinnliche Erfahrung das Primäre, und wir unterstreichen deshalb die Bedeutung der gesellschaftlichen Praxis im Erkenntnisprozeß, weil nur die gesellschaftliche Praxis den Anstoß dazu geben kann, daß der Mensch zu erkennen beginnt, daß er beginnt, aus der objektiven Außenwelt sinnliche Erfahrung zu gewinnen. Wenn sich jemand die Augen verschlösse, die Ohren verstopfte und sich völlig von der objektiven

│357│Außenwelt absonderte, könnte für ihn von Erkenntnis keine Rede sein. Die Erkenntnis beginnt mit der Erfahrung - das ist der Materialismus der Erkenntnistheorie.

Das zweite Moment ist die Notwendigkeit, die Erkenntnis zu vertiefen, die Notwendigkeit, von der sinnlichen Stufe der Erkenntnis zu ihrer rationalen Stufe fortzuschreiten - das ist die Dialektik der Erkenntnistheorie. [4] Anzunehmen, die Erkenntnis könne auf der niederen Stufe, der Stufe der sinnlichen Erkenntnis, verharren, anzunehInen, nur die sinnliche Erkenntnis sei zuverlässig, die rationale Erkenntnis aber unzuverlässig - das hieße, den aus der Geschichte bekannten Fehler des "Empirismus" zu wiederholen. Der Fehler dieser Theorie liegt in der mangelnden Kenntnis dessen, daß die Sinnesangaben zwar eine Widerspiegelung gewisser Realitäten der objektiven Außenwelt (ich spreche hier nicht von dem idealistischen Empirismus, der die Erfahrung nur auf die sogenannte innere Selbstbetrachtung zurückführt), jedoch nur etwas Einseitiges und Oberflächliches sind; eine solche Widerspiegelung ist unvollständig, ist keine Widerspiegelung des Wesens der Dinge. Zur vollständigen Widerspiegelung des Dinges in seiner Totalität, zur Widerspiegelung seines Wesens und seiner inneren Gesetzmäßigkeiten muß man durch den Denkprozeß mannigfaltige Sinnesangaben verarbeiten, d.h. die Spreu vom Weizen sondern, das Falsche ausmerzen und das Wahre behalten, vom einen zum anderen fortschreiten, von der Oberfläche in den Kern eindringen und dadurch ein System von Begriffen und Theorien schaffen - muß man den Sprung von der sinnlichen Erkenntnis zur rationalen Erkenntnis tun. Die so bearbeitete Erkenntnis ist nicht ärmer, nicht unzuverlässiger. Im Gegenteil, alles, was im Erkenntnisprozeß auf der Grundlage der Praxis wissenschaftlich verarbeitet worden ist, spiegelt - wie Lenin sagt - die objektiven Dinge tiefer, richtiger und vollständiger wider. Gerade das verstehen die vulgären Praktizisten nicht: Sie schätzen die Erfahrung hoch, achten aber die Theorie gering, infolgedessen können sie keine Übersicht über den objektiven Prozeß in seiner Gesamtheit gewinnen, fehlt ihnen die klare Orientierung, haben sie keine weitreichende Perspektive, berauschen sie sich an zufälligen Erfolgen und an einem Schimmer von Wahrheit. Leiteten solche Menschen die Revolution an, würden sie diese in eine Sackgasse führen.

Die rationale Erkenntnis hängt von der sinnlichen Erkenntnis ab, die sinnliche Erkenntnis aber muß sich zur rationalen Erkenntnis entwickeln - das ist die Erkenntnistheorie des dialektischen Mate-

│358│rialismus. In der Philosophie versteht weder der "Rationalismus" noch der "Empirismus" den historischen oder dialektischen Charakter der Erkenntnis, und obwohl jede dieser Richtungen eine Seite der Wahrheit enthält (wir sprechen hier vom materialistischen und nicht vom idealistischen Rationalismus und Empirismus), sind sie, vom Standpunkt der Erkenntnistheorie in ihrer Gesamtheit betrachtet, beide falsch. Die dialektisch-materialistische Bewegung der Erkenntnis vom Sinnlichen zum Rationalen gilt sowohl für einen Erkenntnisprozeß kleineren Maßstabs (zum Beispiel die Erkenntnis eines Gegenstands oder einer Arbeit) als auch für einen Erkenntnisprozeß größeren Maßstabs (zum Beispiel die Erkenntnis einer Gesellschaft oder einer Revolution).

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Jedoch ist die Bewegung der Erkenntnis damit noch nicht vollendet. Bliebe die dialektisch-materialistische Bewegung der Erkenntnis lediglich bei der rationalen Erkenntnis stehen, so wäre damit nur die Hälfte des Problems bewältigt, und vom Standpunkt der marxistischen Philosophie betrachtet wäre das gar nicht das Wichtigste. Die marxistische Philosophie ist der Ansicht, daß die wichtigste Frage nicht darin besteht, die Gesetzmäßigkeiten der objektiven Welt zu verstehen, um die Welt interpretieren zu können, sondern darin, die Erkenntnis dieser objektiven Gesetzmäßigkeiten auszunutzen, um die Welt aktiv umzugestalten. Der Marxismus erkennt die große Bedeutung der Theorie an, und diese Bedeutung fand ihren vollkommenen Ausdruck in der Leninschen These: "Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben." [5] Aber der Marxismus legt der Theorie darum und nur darum ernste Bedeutung bei, weil sie die Anleitung zum Handeln sein kann. Wenn man über eine richtige Theorie verfügt, sie aber nur als etwas behandelt, worüber man einmal schwatzt, um es dann in die Schublade zu legen, was man jedoch keineswegs in die Praxis umsetzt, dann wird diese Theorie, so gut sie auch sein mag, bedeutungslos. Die Erkenntnis beginnt mit der Praxis, und die theoretischen Erkenntnisse, die man durch die Praxis erworben hat, müssen wiederum zur Praxis zurückkehren. Die aktive Rolle der Erkenntnis findet ihren Ausdruck nicht nur in dem aktiven Sprung von der sinnlichen Erkenntnis zur rationalen Erkenntnis, sondern, was noch wichtiger ist, sie muß auch in dem Sprung von der rationalen Erkenntnis zur revolutionären Praxis zum Ausdruck kommen. Nachdem man die Gesetzmäßigkeiten der Welt erkannt hat, muß diese Erkenntnis wiederum zur Praxis der Umgestaltung der Welt zurückkehren, wiederum auf die Praxis der

│359│Produktion, die Praxis des revolutionären Klassenkampfes und des revolutionären nationalen Kampfes sowie die Praxis wissenschaftlicher Experimente angewandt werden. Das ist ein Prozeß der Überprüfung und der Entwicklung der Theorie, eine Fortsetzung des gesamten Erkenntnisprozesses. Die Frage, ob ein theoretischer Leitsatz der objektiven Wahrheit entspricht, wird durch die Bewegung von der sinnlichen zur rationalen Erkenntnis - von der wir weiter oben gesprochen haben - nicht völlig entschieden und kann auch dadurch nicht völlig entschieden werden. Der einzige Weg zur gründlichen Lösung dieser Frage besteht darin, die rationale Erkenntnis wieder in die gesellschaftliche Praxis zurückzuführen, die Theorie auf die Praxis anzuwenden und zu prüfen, ob sie zu dem gesteckten Ziel zu führen vermag. Viele naturwissenschaftliche Theorien werden deshalb für wahr befunden, weil dies nicht nur zu der Zeit geschah, als die Naturforscher die betreffenden Lehren aufstellten, sondern auch später, als diese durch die wissenschaftliche Praxis bestätigt wurden. Genauso wird der Marxismus-Leninismus nicht nur deshalb als wahr anerkannt, weil er so galt, als ihn Marx, Engels, Lenin und Stalin wissenschaftlich ausgearbeitet hatten, sondern auch deshalb, weil er durch die spätere Praxis des revolutionären Klassenkampfes und des revolutionären nationalen Kampfes seine Bestätigung fand. Der dialektische Materialismus ist eine allgemeingültige Wahrheit, weil sich seinem Bereich die Praxis keines einzigen Menschen entziehen kann. Die Geschichte der menschlichen Erkenntnis sagt uns, daß der Wahrheitsgehalt vieler Theorien zunächst unvollkommen war, diese Unvollkommenheit aber durch ihre Erprobung in der Praxis beseitigt wurde. Viele Theorien sind irrig, aber durch die Erprobung in der Praxis werden ihre Fehler korrigiert. Darum eben ist die Praxis das Kriterium der Wahrheit, und darum "muß der Gesichtspunkt des Lebens, der Praxis der erste und grundlegende Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie sein" [6]. Stalin sagte sehr richtig:"... die Theorie wird gegenstandslos, wenn sie nicht mit der revolutionären Praxis verknüpft wird, genauso wie die Praxis blind wird, wenn sie ihren Weg nicht durch die revolutionäre Theorie beleuchtet."[7]

Kann man, hier angelangt, die Bewegung der Erkenntnis als abgeschlossen betrachten? Wir antworten: Sie ist abgeschlossen und auch nicht abgeschlossen. Wenn sich die in der

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Gesellschaft lebenden Menschen einer praktischen Tätigkeit widmen, um einen bestimmten objektiven Prozeß (sei es einen natürlichen, sei es einen gesellschaftlichen Prozeß) auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung zu

│360│verändern, bewirken die Widerspiegelung des objektiven Prozesses in ihrem Bewußtsein und ihre eigene subjektive Aktivität, daß sie von der sinnlichen Erkenntnis zur rationalen Erkenntnis weiterschreiten und Ideen, Theorien, Pläne oder Projekte ausarbeiten, die im großen und ganzen den Gesetzmäßigkeiten dieses objektiven Prozesses entsprechen. Sie wenden dann diese Ideen, Theorien, Pläne oder Projekte auf die Praxis der Veränderung desselben objektiven Prozesses an. Wenn sie dabei zum gesteckten Ziel gelangen, d. h. wenn die ausgearbeiteten Ideen, Theorien, Pläne oder Projekte in der Praxis der Veränderung desselben Prozesses in die Tat umgesetzt oder im großen und ganzen verwirklicht sind, dann kann man die Erkenntnisbewegung in bezug auf diesen konkreten Prozeß als abgeschlossen betrachten. So kann man beispielsweise, im Prozeß der Veränderung der Natur, die Realisierung eines Bauplans, die Bestätigung einer wissenschaftlichen Hypothese, die Schaffung eines Geräts, die Ernte einer landwirtschaftlichen Kultur und, im Prozeß der Veränderung der Gesellschaft, den Erfolg eines Streiks, den Sieg in einem Krieg, die Erfüllung eines Erziehungsprogramms als die Verwirklichung eines gesteckten Ziels betrachten. Im allgemeinen jedoch kommt es in der Praxis der Veränderung der Natur oder der Gesellschaft selten vor, daß die von den Menschen ursprünglich ausgearbeiteten Ideen, Theorien, Pläne oder Projekte ohne die geringsten Änderungen verwirklicht werden. Das rührt daher, daß die Menschen, die an der Veränderung der Wirklichkeit arbeiten, gewöhnlich zahlreichen Beschränkungen unterliegen, die nicht nur durch die wissenschaftlichen und technischen Bedingungen gegeben sind, sondern auch durch die Entwicklung des objektiven Prozesses selbst und den Grad seiner Äußerung (die verschiedenen Seiten und das Wesen des objektiven Prozesses sind noch nicht vollständig aufgedeckt). Unter diesen Umständen, da man in der Praxis von unvorhergesehenen Situationen überrascht wird, werden die Ideen, Theorien, Pläne oder Projekte nicht selten teilweise, ja, manchmal völlig geändert. Das heißt, es kommt vor, daß die ursprünglich ausgearbeiteten Ideen, Theorien, Pläne oder Projekte der Wirklichkeit teilweise oder insgesamt nicht entsprechen, daß sie zum Teil oder vollkommen falsch sind. In vielen Fällen gelingt es erst nach mehrmaligen Mißerfolgen, fehlerhafte Erkenntnisse richtigzustellen, die Übereinstimmung mit den Gesetzmäßigkeiten des objektiven Prozesses zu erreichen und auf diese Weise Subjektives in Objektives zu verwandeln, das heißt, in der Praxis die erwarteten Ergebnisse zu erzielen. Auf jeden Fall kann man aber zu

│361│diesem Zeitpunkt die Bewegung der Erkenntnis eines bestimmten objektiven Prozesses durch die Menschen auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung als abgeschlossen betrachten.

Betrachtet man jedoch den Prozeß in seinem Fortschreiten, so ist die Bewegung der menschlichen Erkenntnis nicht abgeschlossen. jeder Prozeß, ob in Natur oder Gesellschaft, schreitet infolge der inneren Widersprüche und des inneren Kampfes weiter fort und entwickelt sich, und die Bewegung der menschlichen Erkenntnis muß, ihm folgend, ebenfalls weiter fortschreiten und sich entwickeln. Was die Bewegung der Gesellschaft betrifft, so müssen es wahre revolutionäre Führer nicht nur verstehen, die etwaigen Fehler in ihren Ideen, Theorien, Plänen oder Projekten zu korrigieren, wie oben gesagt wurde, sondern sie müssen es auch verstehen, ihre eigene subjektive Erkenntnis sowie die subjektive Erkenntnis aller an der Revolution Beteiligten entsprechend vorwärtszubringen und umzustellen, wenn ein bestimmter objektiver Prozeß von einer bestimmten Entwicklungsstufe zu einer anderen fortgeschritten ist und sich umgewandelt hat; das heißt, sie müssen es erreichen, daß die gestellten neuen revolutionären Aufgaben und neuen Arbeitsprojekte mit der neuen Veränderung der Lage übereinstimmen. In einer

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revolutionären Periode ändert sich die Lage sehr schnell, und wenn die Erkenntnis der Revolutionäre mit diesen raschen Veränderungen nicht Schritt hält, werden sie die Revolution nicht zum Sieg führen können.

Es kommt jedoch häufig vor, daß das Denken hinter der Wirklichkeit zurückbleibt; das kommt daher, daß die menschliche Erkenntnis durch viele gesellschaftliche Bedingungen eingeschränkt ist. Wir kämpfen gegen Ultrakonservative in unseren revolutionären Reihen, deren Denken mit der sich ändernden objektiven Lage nicht Schritt hält, was in der Geschichte als Rechtsopportunismus in Erscheinung trat. Diese Menschen sehen nicht, daß der Kampf der Widersprüche den objektiven Prozeß schon vorangetrieben hat, während ihre Erkenntnis immer noch auf der früheren Stufe verharrt. Das ist für das Denken aller Ultrakonservativen charakteristisch. Ihr Denken ist von der gesellschaftlichen Praxis losgelöst, sie können die Aufgabe, dem Zug der menschlichen Gesellschaft voranzugehen und ihn vorwärtszuführen, nicht auf sich nehmen; sie traben bloß hinterher und klagen, daß er sich zu schnell bewegt, und versuchen, ihn zurückzuzerren und in die entgegengesetzte Richtung zu lenken.

Wir kämpfen auch gegen "linke" Phrasendrescherei. Das Denken dieser "Linken" überspringt bestimmte Entwicklungsstufen des ob-

│362│jektiven Prozesses; die einen halten ihre Illusionen für Wahrheit, die anderen versuchen, verfrüht in der Gegenwart Ideale zu verwirklichen, die erst in der Zukunft verwirklicht werden können. Sie haben sich von der jeweiligen Praxis der Mehrheit der Menschen, von der aktuellen Wirklichkeit losgelöst und erweisen sich in ihren Handlungen als Abenteurer.

Für den Idealismus und den mechanischen Materialismus, den Opportunismus und das Abenteurertum ist der Riß zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven, die Loslösung der Erkenntnis von der Praxis charakteristisch. Die marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie, die durch die wissenschaftliche Praxis in der Gesellschaft gekennzeichnet ist, kann nicht umhin, entschieden gegen diese falschen Anschauungen zu kämpfen. Die Marxisten erkennen an, daß im absoluten und gesamten Entwicklungsprozeß des Universums die Entwicklung der einzelnen konkreten Prozesse relativ ist und daß daher im unendlichen Strom der absoluten Wahrheit die menschliche Erkenntnis eines einzelnen konkreten Prozesses auf jeder gegebenen Stufe seiner Entwicklung nur den Charakter einer relativen Wahrheit besitzt. Aus der Summe der unzähligen relativen Wahrheiten ergibt sich die absolute Wahrheit. [8] Die Entwicklung eines objektiven Prozesses ist voller Widersprüche und Kämpfe; und ebenso voller Widersprüche und Kämpfe ist die Entwicklung der menschlichen Erkenntnisbewegung. jede dialektische Bewegung in der objektiven Welt kann früher oder später ihre Widerspiegelung in der menschlichen Erkenntnis finden. Der Prozeß des Entstehens, der Entwicklung und des Untergangs in der gesellschaftlichen Praxis ist unendlich, und ebenso unendlich ist der Prozeß des Entstehens, der Entwicklung und des Untergangs in der menschlichen Erkenntnis. Da die Praxis, die sich auf Grund bestimmter Ideen, Theorien, Pläne oder Projekte mit der Veränderung der objektiven Wirklichkeit befaßt, immer wieder vorwärtsschreitet, vertieft sich auch die Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit durch den Menschen immer mehr. Der Prozeß der Veränderung der objektiven realen Welt hat nie ein Ende, und ebenso unendlich ist die Erkenntnis der Wahrheit durch die Menschen im Verlauf ihrer Praxis. Der Marxismus-Leninismus hat die Wahrheit keineswegs ausgeschöpft, sondern bahnt der Erkenntnis der Wahrheit in der Praxis ununterbrochen neue Wege. Unsere Schlußfolgerung ist die konkrete geschichtliche Einheit des Subjektiven und Objektiven, der Theorie und Praxis, des Wissens und Handelns sowie die Bekämp

│363│fung aller falschen, von der konkreten Geschichte losgelösten "linken" oder rechten

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Anschauungen.

In der gegenwärtigen Epoche der gesellschaftlichen Entwicklung hat die Geschichte die Verantwortung für die richtige Erkenntnis der Welt und deren Umgestaltung dem Proletariat und seiner Partei auferlegt. Dieser Prozeß, die Praxis der Umgestaltung der Welt, ein Prozeß, der durch die wissenschaftliche Erkenntnis determiniert ist - hat bereits in der Welt und in China einen historischen Augenblick erreicht, einen Augenblick von großer Bedeutung, wie ihn die Geschichte noch nicht gekannt hat: die vollständige Beseitigung der Finsternis in der Welt und in China und die Umwandlung in eine noch nie dagewesene lichtvolle Welt. Der Kampf des Proletariats und der revolutionären Völker für die Umgestaltung der Welt schließt die Verwirklichung folgender Aufgaben ein: die Umgestaltung der objektiven Welt sowie die Umgestaltung der eigenen subjektiven Welt - des eigenen Erkenntnisvermögens und der Beziehungen zwischen subjektiver und objektiver Welt. Auf einem Teil des Erdballs - in der Sowjetunion - ist diese Umgestaltung schon im Gange. Dort ist man dabei, den Umgestaltungsprozeß zu beschleunigen. Das chinesische Volk und die Völker der ganzen Welt durchlaufen gegenwärtig ebenfalls diesen Prozeß oder werden ihn durchlaufen. Die umzugestaltende objektive Welt, von der hier die Rede ist, schließt auch alle Gegner der Umgestaltung ein; sie müssen zunächst die Etappe einer zwangsweisen Umformung durchlaufen, bevor sie in die Etappe der bewußten Umerziehung eintreten können. Wenn es so weit ist, daß die ganze Menschheit sich selbst und die Welt bewußt umgestaltet, dann wird die Epoche des Kommunismus in der ganzen Welt erreicht sein.

Durch die Praxis die Wahrheit entdecken und in der Praxis die Wahrheit bestätigen und weiterentwickeln; von der sinnlichen Erkenntnis ausgehen und diese aktiv zur rationalen Erkenntnis fortentwickeln, sodann wieder, ausgehend von der rationalen Erkenntnis, aktiv die revolutionäre Praxis anleiten, die subjektive und objektive Welt umzugestalten; Praxis, Erkenntnis, wieder Praxis und wieder Erkenntnis - diese zyklische Form wiederholt sich endlos, und der Inhalt von Praxis und Erkenntnis wird bei jedem einzelnen Zyklus auf eine höhere Stufe gehoben. Das ist die ganze Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus, das ist die dialektisch-materialistische Theorie der Einheit von Wissen und Handeln.

│364│

ANMERKUNGEN

* In unserer Partei gab es eine Gruppe von Genossen, Vertreter des Dogmatismus, die lange Zeit die Erfahrungen der chinesischen Revolution verwarfen, die Wahrheit leugneten, daß "der Marxismus kein Dogma ist, sondern eine Anleitung zum Handeln", und die Menschen mit einzelnen, verständnislos aus dem Zusammenhang gerissenen Worten und Sätzen aus marxistischen Werken einschüchtern wollten. Es gab außerdem eine andere Gruppe von Genossen, Vertreter des Empirismus, die sich lange Zeit an ihre eigenen, fragmentarischen Erfahrungen klammerten, die Bedeutung der Theorie für die revolutionäre Praxis nicht verstanden und die Lage der Revolution nicht in ihrer Gesamtheit erkannten; sie gaben sich zwar auch viel Mühe, arbeiteten aber ins Blinde hinein. Die falschen Anschauungen dieser beiden Gruppen von Genossen, insbesondere der Dogmatiker, fügten der chinesischen Revolution in den Jahren 1931-1934 gewaltigen Schaden zu, und dennoch ließen sich viele Genossen von den Dogmatikern verwirren, die sich ein marxistisches Mäntelchen umgebängt hatten. Genosse Mao Tse-tung schrieb die Arbeit "Über die Praxis", um vom Standpunkt der marxistischen Erkenntnistheorie die subjektivistischen Fehler des Dogmatismus und des Empirismus in der Partei - insbesondere erstere - zu entlarven. Da in dieser Arbeit das Schwergewicht auf der Entlarvung des Dogmatismus liegt, also jener Art de Subjektivismus, bei der die Praxis geringgeschätzt wird, trägt sie den Titel "Über die Praxis". Die in dieser Arbeit enthaltenen Anschauungen des Genossen Mao Tse-tung wurden von ihm in einer Vorlesung an der Antijapanischen Militärisch-Politischen Akademie in Yenan dargelegt.

[1] Lenin, "Konspekt zu Hegels Wissenschaft der Logik".

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[2] Vgl. Karl Marx, Thesen über Feuerbach, und W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Kapitel II, Abschnitt 6.

[3] Lenin, "Konspekt zu Hegels Wissenschaft der Logik".

[4] Vgl. Lenin, -Konspekt zu Hegels Wissenschaft der Logik". Lenin sagt dort: "Um zu begreifen, muß man mit dem Begreifen, dem Studieren empirisch anfangen und von der Empirie zum Allgemeinen aufsteigen."

[5] Lenin, Was tun?, Kapitel I, Abschnitt 4.

[6] Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Kapitel II, Abschnitt 6,

[7] Stalin, Über die Grundlagen des Leninismus, Teil III.

[8] Vgl. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Kapitel II, Abschnitt 5.

ANMERKUNGEN DES ÜBERSETZERS

{1} San Guo Yän Yi (Die drei Reiche) ist ein bekannter chinesischer historischer Roman, der von Luo Guan-dschung (etwa 1330-1400) verfaßt wurde

Mao Tse-Tung:

Über den Widerspruch(August 1937)

Ursprünglich eine Vorlesungsserie, die im August 1937 bei der Antijapanischen Militärisch-Politischen Akademie in Yenan gehalten wurde.Für die Ausgewählten Werke Mao Tsetungs revidiert.

Diese Version aus: Mao Tse-Tung, Ausgewählte Werke Band I, Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking 1968, S.365-408)

Die vorliegende philosophische Arbeit von Genossen Mao Tsetung nach der Schrift "Über die Praxis" zu dem gleichen Zweck geschrieben, nämlich zur Überwindung ernster Fehler einer dogmatischen Denkweise, die es damals in der Kommunistischen Partei Chinas gab. Über dieses Thema hielt Genosse Mao Tsetung Vorlesungen an der Antijapanischen Militärisch-Politischen Akademie in Yenan. Bei der Aufnahme dieser Arbeit in die Ausgewählten Werke Mao Tsetungs wurden vom Autor einzelne Ergänzungen, Kürzungen und Verbesserungen vorgenommen.

Einleitung

I. Die zwei Arten der Weltanschauung

II. Die Allgemeinheit des Widerspruchs

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III. Die Besonderheit des Widerspruchs

IV. Der Hauptwiderspruch und die hauptsächliche Seite des Widerspruchs

V. Identität und Kampf der gegensätzlichen Seiten des Widerspruchs

VI. Der Platz des Antagonismus in den Widersprüchen

VII. Schlußfolgerung

Mao Tse-Tung:

Über den Widerspruch*

(August 1937)

|365| Das Gesetz des Widerspruchs, der den Dingen innewohnt, oder das Gesetz der Einheit der Gegensätze, ist das fundamentalste Gesetz der materialistischen Dialektik. Lenin sagt: "Im eigentlichen Sinne ist die Dialektik die Erforschung des Widerspruchs im Wesen der Gegenstände selbst." [1] Dieses Gesetz nennt Lenin häufig das Wesen der Dialektik, auch den Kern der Dialektik. [2] Deshalb können wir beim Studium dieses Gesetzes nicht umhin, einen weiten Kreis von Problemen, zahlreiche philosophische Fragen zu berühren. Wenn wir in diesen Fragen Klarheit gewinnen, werden wir die materialistische Dialektik von Grund auf verstehen. Es sind dies folgende Fragen: die zwei Arten der Weltanschauung, die Allgemeinheit des Widerspruchs, die Besonderheit des Widerspruchs, der Hauptwiderspruch und die hauptsächliche Seite des Widerspruchs, Identität und Kampf der gegensätzlichen Seiten des Widerspruchs, der Platz des Antagonismus in den Widersprüchen.

Die in den Kreisen der sowjetischen Philosophen in den letzten Jahren geübte Kritik am Idealismus der Schule Deborins hat bei uns größtes Interesse erregt. Der Idealismus Deborins hat einen äußerst schädlichen Einfluß innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas ausgeübt, und man kann nicht sagen, daß die dogmatischen Ansichten in unserer Partei mit der Methodologie dieser Schule nicht zusammenhängen. Daher muß das Hauptziel unserer gegenwärtigen philosophischen Forschungsarbeit die Ausmerzung der dogmatischen Ansichten sein.

Mao Tse-Tung:

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Über den Widerspruch

|366|

I. Die zwei Arten der Weltanschauung

In der Geschichte der menschlichen Erkenntnis existieren seit jeher zwei Auffassungen von den Entwicklungsgesetzen der Welt: die eine ist die metaphysische, die andere die dialektische; sie bilden zwei entgegengesetzte Arten der Weltanschauung.

Lenin sagt:

Die beiden grundlegenden (oder die beiden möglichen? oder die beiden in der Geschichte zu beobachtenden?) Konzeptionen der Entwicklung (Evolution) sind: Entwicklung als Abnahme und Zunahme, als Wiederholung, und Entwicklung als Einheit der Gegensätze (Spaltung des Einheitlichen in einander ausschließende Gegensätze und das Wechselverhältnis zwischen ihnen). [3]

Lenin spricht gerade von diesen zwei verschiedenen Weltanschauungen.

Die Metaphysik nennt man in China auch Hsüanhsuä. Sowohl in China wie in Europa gehörte diese Denkweise im Laufe einer sehr langen historischen Periode zur idealistischen Weltanschauung, und sie beherrschte die Köpfe der Menschen. In Europa war in der Frühzeit der Bourgeoisie auch der Materialismus metaphysisch. Da eine Reihe europäischer Länder im Laufe ihrer sozial-ökonomischen Entwicklung in das Stadium des hochentwickelten Kapitalismus eingetreten war, die Produktivkräfte, der Klassenkampf und die Wissenschaft ein in der Geschichte nie dagewesenes Niveau erreicht hatten und das Industrieproletariat zur mächtigsten Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung geworden war, entstand infolgedessen die marxistische, dialektisch-materialistische Weltanschauung. Als dann kam in der Bourgeoisie, nebst dem offenen, völlig unverhüllten reaktionären Idealismus, ein vulgärer Evolutionismus als Widerpart der materialistischen Dialektik auf.

Die Weltanschauung der Metaphysik oder des vulgären Evolutionismus betrachtet alle Dinge in der Welt isoliert, statisch und einseitig. Alle Dinge in der Welt, ihre Formen und ihre Gattungen wären demnach ewig voneinander isoliert, ewig unveränderlich. Insofern von Veränderungen die Rede ist, dann nur von quantitativer Zunahme oder Abnahme und von Ortsveränderung. Dabei sollen die Ursachen einer solchen Zunahme oder Abnahme beziehungsweise einer solchen Ortsveränderung nicht in den Dingen selbst liegen, sondern außerhalb ihrer, das heißt in der Einwirkung äußerer Kräfte. |367|Die Metaphysiker vertreten die Auffassung, daß die verschiedenen Dinge in der Welt sowie ihre Eigenschaften vom Beginn ihres Seins an unverändert blieben, ihre späteren Veränderungen bloß quantitative Vergrößerungen oder Verkleinerungen seien. Die Metaphysiker sind der Ansicht, daß ein Ding nur ewig sich selbst reproduzieren, sich aber nicht in ein anderes, von ihm unterschiedliches Ding verwandeln könne. Die Metaphysiker glauben, daß die kapitalistische Ausbeutung, die kapitalistische Konkurrenz, die individualistische Ideologie der kapitalistischen Gesellschaft usw. – daß das alles auch in der antiken Sklavenhaltergesellschaft, ja sogar in der Urgesellschaft anzutreffen sei, daß es ewig und unverändert existieren werde. Was die Ursachen der gesellschaftlichen Entwicklung betrifft, so erklären die Metaphysiker sie aus Bedingungen, die außerhalb der Gesellschaft liegen – aus dem geographischen Milieu, dem Klima usw. Die Metaphysiker

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versuchen einfach, außerhalb der Dinge die Ursachen ihrer Entwicklung zu finden, und bestreiten die These der materialistischen Dialektik, wonach die Entwicklung der Dinge durch die ihnen innewohnenden Widersprüche hervorgerufen wird. Daher sind sie nicht in der Lage, die qualitative Vielfalt der Dinge und das Umschlagen einer Qualität in eine andere zu erklären. In Europa trat diese Denkweise im 17. und 18. Jahrhundert als mechanischer Materialismus sowie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als vulgärer Evolutionismus in Erscheinung. In China wurde die metaphysische Denkweise, die in den Worten "Der Himmel ist unveränderlich, und unveränderlich ist auch Tao" [4] zum Ausdruck kommt, im Laufe einer sehr langen Zeit von den verfaulten herrschenden Feudalklassen unterstützt. Den mechanischen Materialismus und den vulgären Evolutionismus dagegen, die in den letzten hundert Jahren aus Europa importiert wurden, unterstützt die Bourgeoisie.

Im Gegensatz zur metaphysischen Weltanschauung vertritt die dialektisch-materialistische Weltanschauung die Meinung, daß wir beim Studium der Entwicklung der Dinge von ihrem inneren Gehalt, von dem Zusammenhang des einen Dinges mit anderen ausgehen sollen, das heißt, daß wir die Entwicklung der Dinge als ihre innere, notwendige Selbstbewegung betrachten, wobei sich jedes Ding in seiner Bewegung mit den anderen, es umgebenden Dingen in Zusammenhang und Wechselwirkung befindet. Die Grundursache der Entwicklung eines Dinges liegt nicht außerhalb, sondern innerhalb desselben; sie liegt in seiner inneren Widersprüchlichkeit. Allen Dingen wohnt diese Widersprüchlichkeit inne, und sie ist es, die die |368|Bewegung und Entwicklung dieser Dinge verursacht. Diese innere Widersprüchlichkeit der Dinge ist die Grundursache ihrer Entwicklung, während der Zusammenhang und die Wechselwirkung eines Dinges mit anderen Dingen sekundäre Ursachen darstellen. Somit tritt die materialistische Dialektik der Theorie von der äußeren Ursache, vom äußeren Anstoß, die dem metaphysischen mechanischen Materialismus und dem metaphysischen vulgären Evolutionismus eigen ist, entschieden entgegen. Es ist klar, daß rein äußere Ursachen nur eine mechanische Bewegung der Dinge hervorzurufen vermögen, das heißt eine Vergrößerung oder Verkleinerung des Umfangs, Vermehrung oder Verminderung der Menge; es läßt sich aber aus ihnen nicht erklären, warum den Dingen eine unendliche qualitative Mannigfaltigkeit und ihre wechselseitige Verwandlung ineinander eigentümlich sind. In Wirklichkeit wird selbst die durch einen äußeren Anstoß ausgelöste mechanische Bewegung ebenfalls mittels der inneren Widersprüchlichkeit der Dinge bewerkstelligt. Auch das einfache Wachstum, die quantitative Entwicklung in der Pflanzen- und Tierwelt wird hauptsächlich durch innere Widersprüche bewirkt. Ebenso ist die Entwicklung der Gesellschaft in der Hauptsache nicht durch äußere, sondern durch innere Ursachen bedingt. Viele Länder mit fast den gleichen geographischen und klimatischen Bedingungen unterscheiden sich dem Stand ihrer Entwicklung nach sehr stark voneinander und entwickeln sich äußerst ungleichmäßig. Sogar in ein und demselben Land gehen gewaltige soziale Wandlungen vor sich, ohne daß sich das geographische Milieu und das Klima geändert hätten. Das imperialistische Rußland verwandelte sich in die sozialistische Sowjetunion, und das abgekapselte feudale Japan wurde zum imperialistischen Japan, obwohl diese Länder keine geographischen und klimatischen Veränderungen erfahren haben. China, wo lange Zeit der Feudalismus herrschte, hat in den letzten hundert Jahren große Wandlungen durchgemacht und verändert sich jetzt in der Richtung eines emanzipierten, neuen China; doch die geographischen und klimatischen Verhältnisse in China sind gleichgeblieben. Zwar ändern sich auch die geographischen Bedingungen und das Klima der Erde als Ganzes wie ihrer einzelnen Teile, aber im Vergleich zu den gesellschaftlichen Wandlungen sind diese Veränderungen völlig belanglos: während die einen Zehntausende, Hunderttausende und Millionen von Jahren brauchen, um sich bemerkbar zu machen, genügen für die anderen Jahrtausende, Jahrhunderte, Jahrzehnte, ja sogar bloß einige Jahre oder Monate (in

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Zeiten der Revolution). Vom |369|Gesichtspunkt der materialistischen Dialektik sind die Veränderungen in der Natur hauptsächlich durch die Entwicklung der Widersprüche innerhalb dieser selbst bedingt. Die gesellschaftlichen Veränderungen hängen in der Hauptsache von der Entwicklung der Widersprüche innerhalb der Gesellschaft ab, also der Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, zwischen den Klassen, zwischen dem Neuen und dem Alten; die Entwicklung dieser Widersprüche treibt die Gesellschaft vorwärts und gibt den Impuls für die Ablösung der alten Gesellschaft durch eine neue. Schließt die materialistische Dialektik äußere Ursachen aus? Keineswegs. Sie betrachtet die äußeren Ursachen als Bedingungen der Veränderung und die inneren Ursachen als deren Grundlage, wobei die äußeren Ursachen vermittels der inneren wirken. Bei einer entsprechenden Temperatur wird ein Ei zu einem Küken, aber keine Wärme kann einen Stein in ein Küken verwandeln; denn die Grundlage der Veränderung ist bei den beiden verschieden. Die verschiedenen Völker wirken beständig aufeinander ein. In der Epoche des Kapitalismus, insbesondere in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution, sind der wechselseitige Einfluß und Anstoß der verschiedenen Länder auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet sehr beträchtlich. Die Sozialistische Oktoberrevolution leitete eine neue Ära nicht nur in der Geschichte Rußlands, sondern auch in der Weltgeschichte ein. Sie beeinflußte die inneren Veränderungen in anderen Ländern der Welt, so auch – und zwar mit besonderer Tiefenwirkung – die inneren Veränderungen in China. Diese Veränderungen erfolgten jedoch vermittels der inneren Gesetzmäßigkeiten dieser Länder beziehungsweise Chinas selbst. Wenn in einer Schlacht das eine Heer siegt und das andere unterliegt, so werden Sieg und Niederlage durch innere Ursachen bestimmt. Der Sieg ist das Ergebnis der Stärke des Heeres oder seiner richtigen Führung, die Niederlage ist durch die Schwäche des Heeres oder durch Fehler der Führung bedingt; die äußeren Ursachen wirken vermittels der inneren. Die Niederlage, die in China im Jahre 1927 die Großbourgeoisie dem Proletariat zufügte, war durch den Opportunismus bewirkt worden, der in den Reihen des chinesischen Proletariats selbst (innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas) geherrscht hatte. Nachdem wir mit dem Opportunismus Schluß gemacht hatten, nahm die chinesische Revolution erneut einen Aufschwung. Später litt die chinesische Revolution wiederum ernstlich unter den Schlägen des Feindes: diesmal infolge des Abenteurertums, das innerhalb unserer Partei aufgetreten war. Und als wir dann mit |370|dem Abenteurertum aufgeräumt hatten, erfuhr unsere Sache abermals einen Aufschwung. Folglich muß sich eine Partei, um die Revolution zum Sieg zu führen, auf die Richtigkeit ihrer politischen Linie und auf die Festigkeit ihrer Organisation stützen.

Die dialektische Weltanschauung ist sowohl in China als auch in Europa bereits im Altertum aufgekommen. Doch trug die Dialektik des Altertums einen spontanen, primitiven Charakter, konnte gemäß den sozialen und historischen Bedingungen jener Zeit noch nicht die Gestalt einer abgeschlossenen Theorie annehmen, daher auch keine umfassende Interpretation der Welt geben; sie wurde in der Folge durch die Metaphysik ersetzt. Der berühmte deutsche Philosoph Hegel, der Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts lebte, hat einen sehr bedeutsamen Beitrag zur Dialektik geleistet, aber seine Dialektik war idealistisch. Erst als die großen Vorkämpfer der proletarischen Bewegung Marx und Engels die in der Geschichte der menschlichen Erkenntnis erzielten positiven Ergebnisse verallgemeinerten und insbesondere die rationellen Elemente der Hegelschen Dialektik kritisch übernahmen und die großartige Theorie des dialektischen und historischen Materialismus schufen, ging eine beispiellose Revolution in der Geschichte der menschlichen Erkenntnis vor sich. Diese großartige Theorie wurde in der Folge von Lenin und Stalin weiterentwickelt. Sobald sie in China Eingang gefunden hatte, rief sie im geistigen Leben Chinas sofort die größten Veränderungen hervor.

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Diese dialektische Weltanschauung lehrt uns vor allem, die Bewegung der Widersprüche in den verschiedenen Dingen verständnisvoll zu beobachten und zu analysieren und auf der Grundlage dieser Analyse die Methoden für die Lösung der Widersprüche zu bestimmen. Daher ist das konkrete Verständnis des Gesetzes von dem Widerspruch, der den Dingen innewohnt, für uns äußerst wichtig.

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Mao Tse-Tung: Über den Widerspruch

II. Die Allgemeinheit des Widerspruchs

Um der bequemeren Darlegung willen werde ich zunächst die Allgemeinheit des Widerspruchs und dann seine Besonderheit behandeln. Es handelt sich darum, daß die Allgemeinheit des Widerspruchs bereits von vielen anerkannt worden ist, nachdem die Begründer und Fortsetzer des Marxismus – Marx, Engels, Lenin und |371| Stalin – die dialektisch-materialistische Weltanschauung ausgearbeitet und die materialistische Dialektik mit allergrößtem Erfolg auf zahlreiche Gebiete der historischen und naturgeschichtlichen Forschung, bzw. auf viele Gebiete der Umgestaltung der Gesellschaft und der Natur (zum Beispiel in der Sowjetunion) angewandt haben; deshalb braucht man nicht lange bei der Klärung dieser Frage zu verweilen. Was jedoch die Besonderheit des Widerspruchs betrifft, so sehen hierin viele Genossen, vor allem die Dogmatiker, noch nicht klar. Sie verstehen nicht, daß die Allgemeinheit des Widerspruchs gerade in dessen Besonderheit existiert. Ebensowenig verstehen sie, welch große Bedeutung es für unsere Anleitung der revolutionären Praxis hat, die Besonderheit der den vorliegenden konkreten Dingen innewohnenden Widersprüche zu studieren. Deshalb müssen wir auf das Studium der Besonderheit des Widerspruchs Nachdruck legen und der Klärung dieses Problems hinreichenden Raum widmen. Wir beginnen deswegen die Analyse des Gesetzes von dem den Dingen innewohnenden Widerspruch mit der Behandlung der Allgemeinheit des Widerspruchs, dann analysieren wir eingehend die Besonderheit des Widerspruchs und kehren schließlich zum Problem seiner Allgemeinheit zurück.

Der allgemeine oder absolute Charakter des Widerspruchs ist in einem doppelten Sinn zu verstehen: Erstens existieren Widersprüche in den Entwicklungsprozessen aller Dinge, zweitens existiert im Entwicklungsprozeß jedes Dinges die Bewegung der Widersprüche von Anfang bis Ende.

Engels sagt: "Die Bewegung selbst ist ein Widerspruch ..." [5]

Die Leninsche Definition des Gesetzes von der Einheit der Gegensätze lautet, daß es die "Anerkennung (Aufdeckung) widersprechender, einander ausschließender, gegensätzlicher Tendenzen in allen Erscheinungen und Vorgängen der Natur (darunter auch des Geistes und der Gesellschaft)" [6] ist. Sind diese Thesen richtig? Ja, sie sind richtig. Die wechselseitige Abhängigkeit und der Kampf der Gegensätze, die jedem Ding

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innewohnen, bestimmen das Leben aller Dinge, treiben die Entwicklung aller Dinge vorwärts. Es gibt keine Dinge, die nicht Widersprüche in sich trügen; ohne Widersprüche gäbe es kein Weltall.

Der Widerspruch ist die Grundlage einfacher Bewegungsformen (zum Beispiel der mechanischen Bewegung) und um so mehr die Grundlage komplizierter Bewegungsformen.

Engels erläutert die Allgemeinheit des Widerspruchs folgendermaßen:|372|

Wenn schon die einfache mechanische Ortsbewegung einen Widerspruch in sich enthält, so noch mehr die höhern Bewegungsformen der Materie und ganz besonders das organische Leben und seine Entwicklung ... das Leben [besteht] grade vor allem darin, daß ein Wesen in jedem Augenblick dasselbe und doch ein andres ist. Das Leben ist also ebenfalls ein in den Dingen und Vorgängen selbst vorhandner, sich stets setzender und lösender Widerspruch; und sobald der Widerspruch aufhört, hört auch das Leben auf, der Tod tritt ein. Ebenso sahen wir, wie auch auf dem Gebiete des Denkens wir den Widersprüchen nicht entgehen können und wie z. B. der Widerspruch zwischen dem innerlich unbegrenzten menschlichen Erkenntnisvermögen und seinem wirklichen Dasein in lauter äußerlich beschränkten und beschränkt erkennenden Menschen sich löst in der für uns wenigstens praktisch endlosen Aufeinanderfolge der Geschlechter, im unendlichen Progreß.

... die höhere Mathematik [hat] den Widerspruch ... zu einer ihrer Hauptgrundlagen ... Aber auch schon in [der niederen Mathematik] wimmelt es von Widersprüchen. [7]

Lenin erläutert die Allgemeinheit des Widerspruchs auf die gleiche Weise:

In der Mathematik + und -. Differential und Integral.In der Mechanik Wirkung und Gegenwirkung.In der Physik positive und negative Elektrizität.In der Chemie Verbindung und Dissoziation der Atome.In der Gesellschaftswissenschaft Klassenkampf. [8]

Offensive und Defensive, Vormarsch und Rückzug, Sieg und Niederlage im Krieg – das alles sind einander widersprechende Erscheinungen. Die eine Seite kann ohne die andere nicht existieren. Der Kampf der beiden Seiten und ihre Verbundenheit bilden zusammen das einheitliche Ganze des Krieges, treiben die Entwicklung des Krieges an und lösen die Probleme des Krieges.

Jeder Unterschied in den menschlichen Begriffen ist als die Widerspiegelung eines objektiven Widerspruchs zu betrachten. Die Widerspiegelung der objektiven Widersprüche im subjektiven Denken bildet die widersprüchliche Bewegung der Begriffe; diese Bewegung treibt die Entwicklung des menschlichen Denkens vorwärts und löst in einem fort die Fragen, die sich dem menschlichen Denken stellen.

|373|Ständig kommt es innerhalb der Partei zur Gegenüberstellung und zum Kampf verschiedener Ansichten, und das ist eine Widerspiegelung der in der Gesellschaft vorhandenen Widersprüche zwischen den Klassen, zwischen dem Alten und dem Neuen in der Partei. Gäbe es in der Partei keine Widersprüche und keinen ideologischen Kampf zur Lösung dieser Widersprüche, dann würde das Leben der Partei aufhören.

Somit haben wir es klargemacht, daß es überall, in allen Prozessen Widersprüche gibt, in den einfachen Bewegungsformen wie in den komplizierten, in den Erscheinungen der

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objektiven Welt wie in denen des menschlichen Denkens. Existiert jedoch der Widerspruch auch im Anfangsstadium eines jeden Prozesses? Ist dem Entwicklungsprozeß eines jeden Dinges eine Bewegung der Widersprüche von Anfang bis Ende eigen?

Wie aus den Artikeln hervorgeht, in denen sowjetische Philosophen die Schule Deborins kritisieren, vertritt diese Schule den Standpunkt, daß der Widerspruch nicht gleich zu Beginn eines Prozesses auftritt, sondern erst wenn dieser ein bestimmtes Entwicklungsstadium erreicht hat. Daraus würde folgen, daß bis dahin die Entwicklung des Prozesses unter der Einwirkung äußerer und nicht innerer Ursachen vor sich ginge. Deborin kehrt so zur metaphysischen Theorie der äußeren Ursache und des Mechanismus zurück. Von diesem Standpunkt ausgehend, gelangte die Schule Deborins bei der Analyse konkreter Probleme zum Schluß, daß es unter den sowjetischen Verhältnissen zwischen den Kulaken und der Masse der Bauernschaft keine Widersprüche, sondern nur Unterschiede gäbe, und stimmte so mit der Ansicht Bucharins vollkommen überein. Bei der Analyse der Französischen Revolution war sie der Meinung, daß es vor der Revolution im Dritten Stand, der sich aus den Arbeitern, den Bauern und der Bourgeoisie zusammensetzte, ebenfalls nur Unterschiede, aber keine Widersprüche gegeben hätte. Diese Ansichten der Schule Deborins sind antimarxistisch. Sie begriff nicht, daß in jedem Unterschied, den es auf der Welt gibt, schon ein Widerspruch enthalten ist, daß Unterschied eben Widerspruch ist. In demselben Augenblick, da das Proletariat und die Bourgeoisie aufkamen, wurde der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital geboren; er hatte sich nur noch nicht verschärft. Auch zwischen den Arbeitern und den Bauern gibt es selbst unter den gesellschaftlichen Verhältnissen der Sowjetunion einen Unterschied. Dieser Unterschied ist eben ein Widerspruch, allein dieser Widerspruch wird sich, im Unterschied zum Widerspruch |374| zwischen Arbeit und Kapital, zu keinem Antagonismus zuspitzen und nicht die Form des Klassenkampfs annehmen; die Arbeiter und Bauern haben im Laufe des sozialistischen Aufbaus ein festes Bündnis geschlossen, und der Widerspruch zwischen ihnen wird im Prozeß der Entwicklung vom Sozialismus zum Kommunismus allmählich gelöst. Hier geht es um den unterschiedlichen Charakter der Widersprüche, nicht aber um das Vorhandensein oder Fehlen von Widersprüchen. Der Widerspruch ist allgemein, absolut; er existiert in allen Entwicklungsprozessen der Dinge und durchdringt alle Prozesse von Anfang bis Ende.

Was bedeutet die Entstehung eines neuen Prozesses? Es bedeutet, daß eine alte Einheit und die sie bildenden Gegensätze einer neuen Einheit und den sie bildenden Gegensätzen Platz machen, dann entsteht ein neuer Prozeß, der den alten ablöst. Der alte Prozeß ist zu Ende, ein neuer entsteht. Der neue Prozeß enthält wiederum neue Widersprüche und beginnt nunmehr seine eigene Entwicklungsgeschichte der Widersprüche.

Eine derartige Analyse dieser Bewegung der Widersprüche, die sich durch den Entwicklungsprozeß eines Dinges von Anfang bis Ende hinzieht, hat Marx, wie Lenin bemerkt, im Kapital in mustergültiger Weise vorgenommen. Das ist die Methode, die beim Studium des Entwicklungsprozesses jedes Dinges angewendet werden muß. Auch Lenin selbst wandte sie richtig an und hielt sich an sie in allen seinen Werken.

Marx analysiert im Kapital zunächst das einfachste, gewöhnlichste, grundlegendste, massenhafteste, alltäglichste, milliardenfach zu beobachtende Verhältnis der bürgerlichen (Waren-) Gesellschaft: den Warenaustausch. Die Analyse deckt in dieser einfachsten Erscheinung (in dieser "Zelle" der bürgerlichen Gesellschaft) alle Widersprüche (resp. die Keime aller Widersprüche) der modernen Gesellschaft auf. Die weitere Darstellung zeigt uns die Entwicklung (sowohl das Wachstum als auch die Bewegung) dieser Widersprüche und dieser Gesellschaft in ihrer einzelnen Teile, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende.

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Gleich dahinter bemerkt Lenin: "Dieser Art muß auch die Methode der Darstellung (resp. Erforschung) der Dialektik überhaupt sein." [9]

Die chinesischen Kommunisten müssen diese Methode beherrschen lernen; nur dann werden sie die Geschichte und die gegenwärtige |375| Lage der chinesischen Revolution richtig analysieren und deren Perspektiven davon ableiten können.

Mao Tse-Tung: Über den Widerspruch

III. Die Besonderheit des Widerspruchs

Wie schon oben gesagt, besteht der allgemeine und absolute Charakter des Widerspruchs darin, daß in den Entwicklungsprozessen aller Dinge Widersprüche existieren und die Widersprüche den Entwicklungsprozeß jedes Dinges von Anfang bis Ende durchdringen. Betrachten wir jetzt die Besonderheit und Relativität des Widerspruchs.

Diese Frage muß auf verschiedenen Ebenen untersucht werden.

Vor allem haben die Widersprüche in all den verschiedenen Bewegungsformen der Materie jeweils einen besonderen Charakter. Die Erkenntnis der Materie durch den Menschen ist die Erkenntnis der Bewegungsformen der Materie; denn in der Welt existiert nichts außer der sich bewegenden Materie, und die Bewegung der Materie muß bestimmte Formen annehmen. Bei der Betrachtung jeder Bewegungsform der Materie muß das im Auge behalten werden, was sie mit den anderen Bewegungsformen gemeinsam hat. Noch wichtiger aber ist es – und das bildet die Grundlage unserer Erkenntnis der Dinge –, das Besondere in Betracht zu ziehen, das jeder Bewegungsform eigentümlich ist, das heißt, die qualitativen Unterschiede zwischen dieser und den anderen Bewegungsformen zu beachten. Nur auf diese Weise kann man ein Ding von dem anderen unterscheiden. Jede Bewegungsform enthält ihre eigenen besonderen Widersprüche. Diese besonderen Widersprüche bilden das besondere Wesen eines Dinges, das dieses von anderen Dingen unterscheidet. Hierin besteht die innere Ursache oder, wie man es auch nennen kann, die Grundlage der unendlichen Vielfalt der Dinge in der Welt. In der Natur gibt es viele Bewegungsformen: mechanische Bewegung, Schall, Licht, Wärme, Elektrizität, Dissoziation, Verbindung usw. Alle diese Bewegungsformen der Materie befinden sich in wechselseitiger Abhängigkeit, doch sind sie ihrem Wesen nach voneinander verschieden. Das besondere Wesen jeder Bewegungsform der Materie wird durch die besonderen Widersprüche bestimmt, die dieser Form innewohnen. So verhält es sich nicht bloß in der Natur, sondern gleichermaßen auch in den Erscheinungen der Gesellschaft und des Denkens. Jede Form |376| der Gesellschaft und jede Form des Denkens hat ihre besonderen Widersprüche und ihr besonderes Wesen.

Die Abgrenzung der verschiedenen Wissenschaften voneinander beruht gerade auf den besonderen Widersprüchen, die ihren Forschungsobjekten innewohnen. Daher bildet ein

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bestimmter Widerspruch, der nur der Sphäre einer bestimmten Erscheinung eigentümlich ist, das Forschungsobjekt einer bestimmten Wissenschaft. Zum Beispiel Plus und Minus in der Mathematik, Wirkung und Gegenwirkung in der Mechanik, negative und positive Elektrizität in der Physik, Dissoziation und Verbindung in der Chemie, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Klassen und Klassenkampf in den Gesellschaftswissenschaften, Angriff und Verteidigung in der Militärwissenschaft, Idealismus und Materialismus, metaphysische und dialektische Anschauung in der Philosophie usw. – das alles hat jeweils seinen besonderen Widerspruch und sein besonderes Wesen und bildet deshalb auch Forschungsobjekte verschiedener Wissenschaften. Gewiß ist es ohne Erkenntnis der Allgemeinheit des Widerspruchs unmöglich, die allgemeinen Ursachen oder die allgemeinen Grundlagen der Bewegung oder Entwicklung der Dinge aufzudecken. Doch ohne Untersuchung des Besonderen im Widerspruch ist es unmöglich, das besondere Wesen, das ein Ding von den anderen unterscheidet, zu bestimmen, ist es unmöglich, die besonderen Ursachen oder besonderen Grundlagen der Bewegung oder Entwicklung der Dinge aufzudecken, ist es auch unmöglich, die Dinge voneinander zu unterscheiden und die wissenschaftlichen Forschungsgebiete voneinander abzugrenzen.

Was die Reihenfolge der Bewegung der menschlichen Erkenntnis betrifft, so erweitert sich diese stets allmählich von der Erkenntnis des Einzelnen und Besonderen zur Erkenntnis des Allgemeinen. Die Menschen beginnen immer zuerst mit der Erkenntnis des besonderen Wesens der vielen verschiedenen Dinge; erst dann können sie zur Verallgemeinerung übergehen und das gemeinsame Wesen der Dinge erkennen. Nachdem die Menschen dieses gemeinsame Wesen erkannt haben, gehen sie weiter und studieren, geleitet von dieser Erkenntnis des Gemeinsamen, die verschiedenen konkreten Dinge, die noch nicht oder nicht gründlich erforscht sind, und finden das besondere Wesen jedes Dinges heraus. Nur auf diese Weise können sie die Erkenntnis des gemeinsamen Wesens vervollständigen, bereichern und entwickeln, so daß diese Erkenntnis nicht welk und leblos wird. Das sind die beiden Prozesse der Erkenntnis: der eine führt vom Besonderen zum Allgemeinen, der andere vom Allgemeinen zum Besonderen. Die |377| Entwicklung der menschlichen Erkenntnis stellt stets eine solche spiralförmige Bewegung dar, wobei jede Windung die menschliche Erkenntnis auf eine höhere Stufe hebt und sie beständig vertieft (jedoch nur dann, wenn dabei die wissenschaftliche Methode streng eingehalten wird). Der Fehler unserer Dogmatiker in dieser Frage besteht in folgendem: Einerseits verstehen sie nicht, daß man die Allgemeinheit des Widerspruchs und das gemeinsame Wesen der Dinge nur dann in vollem Maße erkennen kann, wenn man zuvor die Besonderheit des Widerspruchs erforscht und das besondere Wesen der einzelnen Dinge erkannt hat; andererseits verstehen sie nicht, daß wir, sobald das gemeinsame Wesen der Dinge erkannt ist, unbedingt weitergehen und jene konkreten Dinge studieren müssen, die noch nicht gründlich erforscht sind oder zum erstenmal in Erscheinung treten. Unsere Dogmatiker sind faule Kerle, die jede mühselige Forschungsarbeit an konkreten Dingen ablehnen; sie betrachten die allgemeinen Wahrheiten als etwas vom Himmel Gefallenes, verwandeln sie in unfaßbare, rein abstrakte Formeln, negieren total die normale Reihenfolge der Erkenntnis der Wahrheit durch den Menschen und stellen sie auf den Kopf. Ebensowenig verstehen sie die wechselseitige Verbundenheit zwischen den beiden Prozessen der menschlichen Erkenntnis: vom Besonderen zum Allgemeinen und vom Allgemeinen zum Besonderen. Sie verstehen überhaupt nicht die marxistische Erkenntnistheorie.

Es ist nicht nur notwendig, die besondere Widersprüchlichkeit und das durch sie bestimmte Wesen jedes großen Systems der Bewegungsformen der Materie zu studieren, sondern man muß auch den besonderen Widerspruch und das Wesen jedes einzelnen Prozesses auf dem langen Entwicklungsweg jeder Bewegungsform der Materie untersuchen. In allen Bewegungsformen ist jeder wirkliche und nicht eingebildete

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Entwicklungsprozeß qualitativ unterschiedlich. In unserer Forschungsarbeit müssen wir diesem Punkt größte Aufmerksamkeit zuwenden, ja, wir müssen von ihm ausgehen.

Qualitativ verschiedene Widersprüche können nur mit qualitativ verschiedenen Methoden gelöst werden. So ist zum Beispiel der Widerspruch zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie mit der Methode der sozialistischen Revolution zu lösen. Der Widerspruch zwischen den Volksmassen und dem Feudalsystem ist mit der Methode der demokratischen Revolution zu lösen. Der Widerspruch zwischen den Kolonien und dem Imperialismus ist mit der Methode des revolutionären nationalen Krieges zu lösen. Der Widerspruch zwischen der |378| Arbeiterklasse und der Bauernschaft in der sozialistischen Gesellschaft ist mit der Methode der Kollektivierung und Mechanisierung der Landwirtschaft zu lösen. Die Widersprüche innerhalb der Kommunistischen Partei sind mit der Methode der Kritik und Selbstkritik zu lösen. Die Widersprüche zwischen Gesellschaft und Natur sind mit der Methode der Entwicklung der Produktivkräfte zu lösen. Die Prozesse verändern sich, alte Prozesse und alte Widersprüche verschwinden, neue Prozesse und neue Widersprüche entstehen, und dementsprechend verändern sich auch die Methoden zur Lösung der Widersprüche. Die Widersprüche, die in der Februar- und in der Oktoberrevolution in Rußland gelöst wurden, und die zu ihrer Lösung angewandten Methoden sind voneinander grundverschieden. Die Lösung verschiedener Widersprüche mit Hilfe verschiedener Methoden – das ist ein Prinzip, das die Marxisten-Leninisten streng einhalten müssen. Die Dogmatiker halten dieses Prinzip nicht ein, sie verstehen nicht die Verschiedenheit der Bedingungen, unter denen die verschiedenen Revolutionen vor sich gehen, folglich verstehen sie auch nicht, daß die verschiedenen Widersprüche mit Hilfe verschiedener Methoden gelöst werden müssen; sie wenden überall willkürlich dieselbe Schablone an, die sie für unabänderlich halten, was nur dazu führen kann, daß die Revolution Rückschläge erleidet oder daß eine aussichtsreiche Sache zu Schanden gemacht wird.

Um die Besonderheiten der Widersprüche im Entwicklungsprozeß eines Dinges in ihrer Gesamtheit oder ihrer wechselseitigen Verbundenheit aufzudecken, das heißt, um das Wesen dieses Prozesses bloßzulegen, muß man die Besonderheiten aller Seiten der in diesem Prozeß enthaltenen Widersprüche aufdecken; anderenfalls wird es unmöglich sein, das Wesen des Prozesses zu enthüllen. Auch darauf müssen wir bei unserer Forschungsarbeit besonderes Augenmerk richten.

Ein Ding von größerer Dimension enthält im Prozeß seiner Entwicklung eine Anzahl von Widersprüchen. So existieren beispielsweise im Prozeß der bürgerlich-demokratischen Revolution in China der Widerspruch zwischen den verschiedenen unterdrückten Klassen der chinesischen Gesellschaft und dem Imperialismus, der Widerspruch zwischen den Volksmassen und dem Feudalsystem, der Widerspruch zwischen Proletariat und Bourgeoisie, der Widerspruch zwischen der Bauernschaft und dem städtischen Kleinbürgertum einerseits und der Bourgeoisie andererseits, die Widersprüche zwischen den verschiedenen reaktionären herrschenden Cliquen usw.; die Lage ist hier außer-|379| ordentlich kompliziert. Nun hat nicht nur jeder dieser Widersprüche seine Besonderheit und es können nicht alle auf ein und dieselbe Weise behandelt werden, sondern die beiden Seiten eines jeden Widerspruchs haben wiederum jede ihre eigenen Besonderheiten, und man darf an sie ebenfalls nicht in gleicher Weise herangehen. Wir, die wir für die Sache der chinesischen Revolution tätig sind, müssen die Besonderheit der Widersprüche nicht nur in ihrer Gesamtheit, das heißt in ihrer wechselseitigen Verbundenheit begreifen, sondern wir können die Gesamtheit der Widersprüche nur dann verstehen, wenn wir beide Seiten eines jeden Widerspruchs studieren. Beide Seiten eines jeden Widerspruchs verstehen heißt verstehen, welche spezifische Position jede Seite einnimmt, heißt verstehen, in welchen konkreten Formen die beiden Seiten voneinander

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abhängen und zueinander im Gegensatz stehen und mit welchen konkreten Methoden sie während ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und Gegensätzlichkeit und nach dem Bruch des Abhängigkeitsverhältnisses miteinander kämpfen. Das Studium dieser Fragen ist äußerst wichtig. Das gerade hatte Lenin im Auge, als er sagte, daß das innerste Wesen, die lebendige Seele des Marxismus in der konkreten Analyse einer konkreten Situation besteht. [10] Unsere Dogmatiker verstoßen gegen diesen Hinweis Lenins, sie strengen niemals den Kopf an, um irgendetwas konkret zu analysieren, sondern käuen in ihren Artikeln und Reden beständig ein und dieselben hohlen Phrasen nach einer Schablone wieder und schaffen damit in unserer Partei einen äußerst schlechten Arbeitsstil.

Beim Studium irgendeiner Frage muß man sich vor Subjektivismus, Einseitigkeit und Oberflächlichkeit hüten. Subjektivismus – das ist das Unvermögen, an eine Sache objektiv, das heißt materialistisch heranzugehen, worüber ich schon in der Arbeit "Über die Praxis" gesprochen habe. Einseitigkeit besteht darin, daß man nicht versteht, eine Frage von jeder Seite zu betrachten. Man begreift zum Beispiel nur China, aber nicht Japan, nur die Kommunistische Partei, aber nicht die Kuomintang, nur das Proletariat, aber nicht die Bourgeoisie, nur die Bauernschaft, aber nicht die Grundherren, nur die günstigen Bedingungen, aber nicht die schwierigen, nur die Vergangenheit, aber nicht die Zukunft, nur das Einzelne, aber nicht die Gesamtheit, nur die Mängel, aber nicht die Erfolge, nur den Kläger, aber nicht den Angeklagten, nur die illegale revolutionäre Arbeit, aber nicht die offene revolutionäre Arbeit usw. – kurz gesagt: man versteht nicht die Besonderheiten der beiden Seiten des Widerspruchs. Das bedeutet eben, eine Frage einseitig zu betrachten oder mit anderen Worten, |380| nur den Teil, aber nicht das Ganze, nur die einzelnen Bäume, aber nicht den Wald zu sehen. Bei solcher Art des Vorgehens ist es unmöglich, die Methoden zur Lösung der Widersprüche zu finden, ist es unmöglich, die Aufgaben der Revolution zu erfüllen, ist es unmöglich, die einem aufgetragene Arbeit gut zu verrichten, ist es unmöglich, den ideologischen Kampf innerhalb der Partei richtig zu entwickeln. Über die Kriegskunst sagte Sun Dsi: "Kennst du den Feind und kennst du dich selbst – hundert Schlachten ohne Schlappe". [11] Er sprach von zwei kriegführenden Seiten. We Dscheng, der zur Zeit der Tang-Dynastie lebte, tat den Ausspruch: "Hörst du alle an, dann bist du dir im klaren, schenkst du nur einem Glauben, wirst du im dunkeln tappen." [12] Auch er verstand, daß Einseitigkeit falsch ist. Unsere Genossen gehen jedoch oft einseitig an die Fragen heran und holen sich dabei immer wieder Beulen. Im Roman Die Helden vom Liangschan-Moor griff Sung Djiang dreimal das Dorf Dschu an [13], erlitt jedoch die beiden ersten Male eine Niederlage, weil er die lokalen Verhältnisse nicht kannte und nach einer falschen Methode vorging. Danach änderte er seine Methode; als erstes erkundete er die Lage, so fand er sich in dem Labyrinth von Wegen zurecht, sprengte das Bündnis zwischen den Dörfern Li, Hu und Dschu, legte einen Hinterhalt in das Lager des Feindes, indem er eine ähnliche Methode anwendete, wie sie in der ausländischen Sage vom Trojanischen Pferd berichtet wird, und sein dritter Angriff war von Erfolg gekrönt. In diesem Roman gibt es eine ganze Reihe von Beispielen für die Anwendung der materialistischen Dialektik, unter denen der dreimalige Angriff auf das Dorf Dschu wohl das beste ist. Lenin sagt:

"Um einen Gegenstand wirklich zu kennen, muß man alle seine Seiten, alle Zusammenhänge und "Vermittelungen" erfassen und erforschen. Wir werden das niemals vollständig erreichen, die Forderung der Allseitigkeit wird uns aber vor Fehlern und vor Erstarrung bewahren." [14]

Wir müssen uns diese Worte Lenins merken. Die Oberflächlichkeit besteht darin, daß man weder die Besonderheiten des Widerspruchs als Ganzes noch die Besonderheiten seiner Seiten in Betracht zieht, daß man die Notwendigkeit leugnet, tief in das Wesen der Dinge einzudringen und die Besonderheiten des Widerspruchs sorgfältig zu studieren, daß man sich mit einer Beobachtung aus der Ferne begnügt, den Widerspruch in groben Umrissen

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nach der Methode des Über-den-Daumen-Peilens bestimmt und ihn hierauf sofort zu lösen versucht (Fragen zu |381| beantworten, Meinungsstreitigkeiten zu entscheiden, Arbeiten zu verrichten, militärische Operationen zu leiten). Ein solches Vorgehen kann nur üble Folgen nach sich ziehen. Jene chinesischen Genossen, die an Dogmatismus und Empirismus kranken, begehen deshalb Fehler, weil sie subjektiv, einseitig und oberflächlich die Dinge betrachten. Einseitigkeit ist ebenso wie Oberflächlichkeit zugleich auch Subjektivismus. Da alle objektiv existierenden Dinge miteinander zusammenhängen und ihre inneren Gesetzmäßigkeiten haben, so ist die Methode derjenigen, die diese Tatsache nicht wahrheitsgetreu widerspiegeln, sondern die Dinge nur einseitig oder oberflächlich betrachten und deren wechselseitigen Zusammenhang und innere Gesetzmäßigkeiten nicht kennen, notwendigerweise subjektivistisch.

Nicht nur die Besonderheiten der Bewegung der Widersprüche im gesamten Entwicklungsprozeß der Dinge – sowohl hinsichtlich ihrer wechselseitigen Verbundenheit als auch des Zustands jeder ihrer Seiten – müssen wir beachten; auch die einzelnen Etappen dieses Prozesses haben ihre eigenen Besonderheiten, die wir ebenfalls im Auge behalten müssen.

Der Grundwiderspruch im Entwicklungsprozeß eines Dinges und das durch diesen Grundwiderspruch bedingte Wesen des Prozesses verschwinden nicht, solange der Prozeß nicht abgeschlossen ist; doch weisen die Umstände in den einzelnen Etappen dieses langen Entwicklungsprozesses oft Unterschiede auf. Das ergibt sich daraus, daß der Grundwiderspruch im Entwicklungsprozeß des betreffenden Dinges, obgleich sich sein Charakter und das Wesen dieses Prozesses nicht ändern, in den einzelnen Entwicklungsetappen des langen Prozesses immer schärfere Formen annimmt. Mehr noch, unter den größeren und kleineren Widersprüchen, die durch den Grundwiderspruch bedingt sind oder sich unter seinem Einfluß befinden, verschärfen sich die einen, während andere zeitweilig oder teilweise gelöst oder gemildert werden und wieder andere, neue Widersprüche entstehen. Daher tritt ja der Prozeß etappenweise in Erscheinung. Wer auf die Etappen des Entwicklungsprozesses eines Dinges nicht achtet, ist nicht imstande, die dem Ding innewohnenden Widersprüche in angemessener Weise zu behandeln.

Als beispielsweise der Kapitalismus der Epoche der freien Konkurrenz in den Imperialismus überging, erfuhren weder der Charakter der beiden Klassen, die im antagonistischen Widerspruch zueinander stehen – Proletariat und Bourgeoisie –, noch das kapitalistische Wesen der bestehenden Gesellschaft irgendeine Änderung; es verschärf-|382| ten sich aber die Widersprüche zwischen diesen beiden Klassen, es entstanden Widersprüche zwischen dem monopolistischen und dem nichtmonopolistischen Kapital, die Widersprüche zwischen den Metropolen und den Kolonien verschärften sich, und besonders scharf kamen die Widersprüche unter den kapitalistischen Ländern zum Ausdruck, Widersprüche, die durch die ungleichmäßige Entwicklung der verschiedenen Länder hervorgerufen wurden. So entstand ein besonderes Stadium des Kapitalismus: das Stadium des Imperialismus. Der Leninismus wurde gerade deshalb der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution, weil Lenin und Stalin diese Widersprüche richtig erklärt und die richtige Theorie und Taktik der zur Lösung dieser Widersprüche berufenen proletarischen Revolution ausgearbeitet haben.

Nimmt man den Prozeß der bürgerlich-demokratischen Revolution in China, der mit der Revolution von 1911 begann, so findet man hier gleichfalls mehrere spezifische Etappen. Insbesondere stellen die Periode, da die Bourgeoisie die Revolution führte, und die Periode der Führung der Revolution durch das Proletariat zwei historische Etappen dar, die sich voneinander in sehr hohem Maße unterscheiden. Mit anderen Worten, die Führung durch das Proletariat änderte das Antlitz der Revolution von Grund auf, führte zu

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einer Umgruppierung der Klassenkräfte, zur breiten Entfaltung der bäuerlichen Revolution, verlieh der antiimperialistischen und antifeudalistischen Revolution einen konsequenten Charakter, schuf die Möglichkeit des Hinüberwachsens der demokratischen Revolution in die sozialistische Revolution usw. Das alles war in der Periode, da die Bourgeoisie die Revolution führte, unmöglich. Obwohl sich der Charakter des Grundwiderspruchs im Gesamtprozeß – das heißt der Charakter dieses Prozesses als der einer antiimperialistischen und antifeudalistischen demokratischen Revolution (die andere Seite dieses Widerspruchs ist der halbkoloniale und halbfeudale Charakter) – in keiner Weise änderte, durchlief der Prozeß dennoch im Verlauf dieser langen Periode von mehr als 20 Jahren mehrere Entwicklungsetappen, wo so bedeutsame Ereignisse vor sich gingen wie die Niederlage der Revolution von 1911, die Errichtung der Herrschaft der Militärmachthaber des Nordens, die Herstellung der ersten nationalen Einheitsfront und die Revolution von 1924-1927, der Bruch der Einheitsfront und der Obergang der Bourgeoisie ins Lager der Konterrevolution, die Kriege der neuen Militärmachthaber untereinander, der Agrarrevolutionäre Krieg, die Bildung der zweiten nationalen Einheitsfront |383| und der Widerstandskrieg gegen die japanische Aggression. Diese Entwicklungsetappen waren durch besondere Umstände gekennzeichnet, wie dadurch, daß sich gewisse Widersprüche verschärften (z. B. der Agrarrevolutionäre Krieg und der Einfall Japans in die vier nordöstlichen Provinzen), andere teilweise oder zeitweilig gelöst wurden (z.B. die Liquidierung der Militärmachthaber des Nordens und die von uns durchgeführte Beschlagnahme des Bodens der Grundherren), wieder andere neu entstanden (z.B. der Kampf zwischen den neuen Militärmachthabern, die Rücknahme des enteigneten Bodens durch die Grundherren, nachdem wir die revolutionären Stützpunktgebiete in Südchina verloren hatten), usw.

Beim Studium der Besonderheiten der Widersprüche in den einzelnen Etappen des Entwicklungsprozesses eines Dinges genügt es nicht, die Widersprüche in ihrer wechselseitigen Verbundenheit oder in ihrer Gesamtheit zu betrachten; man muß sich in jeder Entwicklungsetappe auch die beiden Seiten eines jeden Widerspruchs ansehen.

Nehmen wir beispielsweise die Kuomintang und die Kommunistische Partei. Zunächst die Kuomintang als die eine Seite. In der Periode der ersten Einheitsfront war die Kuomintang, da sie die drei politischen Hauptrichtlinien Sun Yat-sens – Bündnis mit Rußland, Bündnis mit der Kommunistischen Partei und Unterstützung der Arbeiter und Bauern – durchführte, revolutionär, hatte sie Lebenskraft und verkörperte sie das Bündnis verschiedener Klassen für die demokratische Revolution. Nach 1927 verwandelte sich die Kuomintang in ihr Gegenteil, sie wurde zu einem reaktionären Block der Grundherren und der Großbourgeoisie. Nach den Sian-Ereignissen im Dezember 1936 setzte in der Kuomintang abermals eine Wendung ein, und zwar in der Richtung auf Beendigung des Bürgerkriegs und auf ein Bündnis mit der Kommunistischen Partei für den gemeinsamen Kampf gegen den japanischen Imperialismus. Das sind die Besonderheiten der Kuomintang in diesen drei Stadien. Das Auftreten dieser Besonderheiten wurde selbstverständlich durch eine Reihe von Ursachen bewirkt. Nun die andere Seite: die Kommunistische Partei Chinas. In der Periode der ersten Einheitsfront steckte sie noch in den Kinderschuhen und bekundete, obwohl sie die Revolution von 1924-1927 heldenhaft leitete, ihre Unreife in bezug auf das Verständnis des Charakters, der Aufgaben und der Methoden der Revolution. Infolgedessen konnte der Tschenduhsiuismus, der in der letzten Periode dieser Revolution aufkam, seine Rolle spielen, und dadurch wurde die Niederlage der Revolution herbeigeführt. Seit 1927 leitete |384| die Partei heroisch den Agrarrevolutionären Krieg und schuf eine revolutionäre Armee und revolutionäre Stützpunktgebiete; sie beging aber auch Fehler, die den Charakter des Abenteurertums trugen und zur Folge hatten, daß der Armee und den

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Stützpunktgebieten sehr schwere Verluste zugefügt wurden. 1935 begann die Kommunistische Partei diese Fehler zu überwinden, nahm die Führung der neuen, antijapanischen Einheitsfront in die Hand, und dieser große Kampf ist derzeit gerade in der Entwicklung begriffen. Im gegenwärtigen Stadium ist die Kommunistische Partei eine Partei, die bereits die Prüfungen zweier Revolutionen hinter sich hat und über reiche Erfahrungen verfügt. Das sind die Besonderheiten der Kommunistischen Partei Chinas in diesen drei Stadien. Das Auftreten dieser Besonderheiten wurde gleichfalls durch eine Reihe von Ursachen bewirkt. Ohne diese Besonderheiten der beiden Seiten zu studieren, ist es unmöglich, die besonderen Wechselbeziehungen zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Partei in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung zu verstehen: Bildung der Einheitsfront, Bruch der Einheitsfront, Herstellung der neuen Einheitsfront. Um aber die einzelnen Besonderheiten dieser beiden Parteien zu studieren, muß man, was noch fundamentaler ist, ihre Klassenbasis sowie die in den verschiedenen Zeitperioden auf dieser Grundlage entstandenen Widersprüche zwischen jeder dieser Parteien und anderen Faktoren studieren. So stand zum Beispiel die Kuomintang in der Periode ihres ersten Bündnisses mit der Kommunistischen Partei einerseits im Widerspruch zu den ausländischen Imperialisten, weshalb sie auch gegen den Imperialismus auftrat, und andererseits im Widerspruch zu den Volksmassen im eigenen Land: Obwohl sie mit Worten den Werktätigen sehr viel Gutes versprach, gab sie ihnen jedoch tatsächlich nur sehr wenig oder buchstäblich nichts. In der Periode des Krieges, den sie gegen die Kommunisten führte, kämpfte sie im Bunde mit dem Imperialismus und dem Feudalismus gegen die Volksmassen, hob mit einem Federstrich alle Rechte auf, die sich die Volksmassen in der Revolution erobert hatten, und verschärfte so ihren Widerspruch zu ihnen. Jetzt, in der Periode des Widerstandskriegs gegen die japanische Aggression, steht die Kuomintang im Widerspruch zum japanischen Imperialismus und will mit der Kommunistischen Partei zusammenarbeiten; zugleich läßt sie aber nicht nach, die Kommunistische Partei und das Volk zu bekämpfen und zu unterdrücken. Die Kommunistische Partei hingegen steht in jeder Periode immer an der Seite der Volksmassen im Kampf gegen|385| Imperialismus und Feudalismus; in der gegenwärtigen Periode des Widerstandskriegs hat sie jedoch eine gemäßigte Politik gegenüber der Kuomintang und den einheimischen Feudalkräften eingeleitet, da sich die Kuomintang für den Widerstand gegen die japanische Aggression ausgesprochen hat. Alle diese Umstände ergeben, daß zwischen diesen beiden Parteien einmal ein Bündnis geschlossen wird, ein andermal der Kampf entbrennt, wobei sich selbst in den Perioden des Bündnisses eine komplizierte Situation herausbildet, da Bündnis und Kampf gleichzeitig existieren. Ohne die Besonderheiten der beiden Seiten des Widerspruchs zu studieren, können wir weder die Beziehungen jeder dieser Parteien mit anderen Faktoren noch die Wechselbeziehungen zwischen den beiden Parteien selbst verstehen.

Daraus folgt, daß bei dem Studium der Besonderheiten beliebiger Widersprüche – der Widersprüche in jeder Bewegungsform der Materie, der Widersprüche in jedem Entwicklungsprozeß einer jeden Bewegungsforrn, der beiden Seiten eines jeden Widerspruchs in diesen oder jenen Entwicklungsprozessen, der Widersprüche in den verschiedenen Etappen jedes Entwicklungsprozesses und der beiden Seiten jedes der Widersprüche in den einzelnen Etappen-, daß beim Studium aller dieser Besonderheiten der Widersprüche subjektive Willkür unzulässig ist und eine konkrete Analyse vorgenommen werden muß. Ohne eine konkrete Analyse ist es unmöglich, die Besonderheiten irgendeines Widerspruchs zu erkennen. Wir müssen immer an die Worte Lenins denken: konkrete Analyse einer konkreten Situation.

Marx und Engels waren die ersten, die uns ausgezeichnete Beispiele einer solchen konkreten Analyse gaben.

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Als Marx und Engels das Gesetz des den Dingen innewohnenden Widerspruchs auf das Studium des gesellschaftlich-historischen Prozesses anwandten, erkannten sie den Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, den Widerspruch zwischen den Ausbeuterklassen und den Klassen der Ausgebeuteten sowie den dadurch hervorgerufenen Widerspruch zwischen der ökonomischen Basis und ihrem Überbau (Politik, Ideologie usw.). Und sie fanden heraus, daß diese Widersprüche in den verschiedenen Klassengesellschaften unvermeidlich zu sozialen Revolutionen verschiedener Art führen.

Als Marx dieses Gesetz auf das Studium der ökonomischen Struktur der kapitalistischen Gesellschaft anwandte, entdeckte er, daß der grundlegende Widerspruch dieser Gesellschaft der Widerspruch |386| zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem privaten Charakter der Aneignung ist. Dieser Widerspruch tritt im Widerspruch zwischen dem organisierten Charakter der Produktion in den einzelnen Betrieben und dem unorganisierten Charakter der Produktion in der Gesellschaft als Ganzem zutage. In den Beziehungen der Klassen bekundet sich dieser Widerspruch als Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Infolge der außerordentlichen Vielfalt der Dinge und der Unbegrenztheit ihrer Entwicklung verwandelt sich das, was in einem bestimmten Fall das Allgemeine ist, in einem anderen bestimmten Fall in das Besondere. Umgekehrt: was in einem bestimmten Fall das Besondere ist, wird in einem anderen bestimmten Fall zum Allgemeinen. Der dem kapitalistischen System innewohnende Widerspruch zwischen der Vergesellschaftung der Produktion und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln ist allen Ländern gemeinsam, in denen der Kapitalismus existiert und sich entwickelt; für den Kapitalismus ist das der allgemeine Charakter des Widerspruchs. Doch stellt der erwähnte Widerspruch des Kapitalismus eine Erscheinung dar, die nur einer bestimmten historischen Periode der Entwicklung der Klassengesellschaft überhaupt eigen ist, und vom Gesichtspunkt des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in der Klassengesellschaft überhaupt offenbart sich hierin die Besonderheit des Widerspruchs. Aber dadurch, daß Marx die Besonderheit aller Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft herausarbeitete, hat er noch weitgehender, noch umfassender, noch vollständiger den allgemeinen Charakter des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in der Klassengesellschaft überhaupt klargestellt.

Infolge der Tatsache, daß das Besondere mit dem Allgemeinen verbunden ist, daß jedem Ding nicht nur der besondere, sondern auch der allgemeine Charakter des Widerspruchs innewohnt, und daß die Allgemeinheit in der Besonderheit existiert, muß man beim Studium eines bestimmten Dinges diese beiden Aspekte und ihre wechselseitige Verbundenheit aufdecken, muß man das Besondere und das Allgemeine im Innern eines Dinges und die wechselseitige Verbundenheit dieser beiden Aspekte sowie den Zusammenhang zwischen dem betreffenden Ding und den zahlreichen anderen Dingen außerhalb seiner selbst aufdecken. In seinem berühmten Werk Über die Grundlagen des Leninismus analysiert Stalin bei der Darlegung der historischen Wurzeln des Leninismus die internationale Situation, in der der |387| Leninismus entstanden ist, sowie die Widersprüche des Kapitalismus, die unter den Bedingungen des Imperialismus ihren Kulminationspunkt erreicht haben; er zeigt gleichzeitig, wie diese Widersprüche dazu geführt haben, daß die proletarische Revolution zu einer Frage der unmittelbaren Praxis geworden ist und daß günstige Bedingungen für einen direkten Sturm auf den Kapitalismus geschaffen worden sind. Mehr noch, er zeigt durch seine Analyse, warum Rußland zur Wiege des Leninismus wurde, warum das zaristische Rußland damals der Konzentrationspunkt aller Widersprüche des Imperialismus war und warum gerade das russische Proletariat zur Avantgarde des

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internationalen revolutionären Proletariats werden konnte. Indem Stalin also das Allgemeine der Widersprüche analysiert, die dem Imperialismus innewohnen, zeigt er, daß der Leninismus der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution ist; indem er gleichzeitig die Besonderheit dieser allgemeinen Widersprüche, die dem Imperialismus des zaristischen Rußland eigentümlich war, analysiert, macht er klar, daß Rußland die Heimat der Theorie und Taktik der proletarischen Revolution wurde und daß die Allgemeinheit der Widersprüche gerade in dieser Besonderheit enthalten ist. Diese Stalinsche Analyse ist für uns ein Musterbeispiel der Erkenntnis der Besonderheit und der Allgemeinheit in den Widersprüchen und ihrer wechselseitigen Verbundenheit.

Marx und Engels sowie auch Lenin und Stalin haben in der Frage, wie die Dialektik auf das Studium objektiver Erscheinungen angewandt werden sollte, stets darauf hingewiesen, daß jede subjektive Willkür unzulässig ist, daß man von den konkreten Bedingungen, die der realen objektiven Bewegung innewohnen, ausgehen muß, um in diesen Erscheinungen die konkreten Widersprüche, die konkrete Stellung der beiden Seiten jedes Widerspruchs und die konkreten Wechselbeziehungen zwischen den Widersprüchen aufzufinden. Gerade weil unseren Dogmatikern ein solches Herangehen fremd ist, erleiden sie ständig Schiffbruch. Wir müssen aus der Niederlage der Dogmatiker die Lehren ziehen und diese Methode des wissenschaftlichen Herangehens an die Dinge meistern, denn dies ist die einzig richtige Forschungsmethode.

Die Beziehung zwischen der Allgemeinheit und der Besonderheit des Widerspruchs ist die Beziehung zwischen dem Gemeinsamen und dem Einzelnen im Widerspruch. Das Gemeinsame besteht darin, daß Widersprüche in allen Prozessen existieren, daß sie alle Prozesse von Anfang bis Ende durchdringen: Widerspruch – das ist die Bewe-|388| gung, das Ding, der Prozeß und auch das Denken. Den Widerspruch in den Dingen verneinen hieße alles verneinen. Das ist eine allgemeine Wahrheit, gültig für alle Zeiten und alle Länder ohne Ausnahme. Hieraus entsteht der Charakter des Gemeinsamen, des Absoluten. Dieses Gemeinsame ist aber in allem Einzelnen enthalten, ohne das Einzelne kann es kein Gemeinsames geben. Kann das Gemeinsame bestehen, wenn alles Einzelne ausgeschlossen wird? Das Einzelne entsteht dadurch, daß jeder Widerspruch seine Besonderheit hat. Alles Einzelne ist bedingt, zeitweilig und daher relativ.

Diese Wahrheit vom Gemeinsamen und Einzelnen, Absoluten und Relativen ist die Quintessenz des Problems der den Dingen innewohnenden Widersprüche; diese Wahrheit nicht verstehen heißt die Dialektik ablehnen.

Mao Tse-Tung: Über den Widerspruch

IV. Der Hauptwiderspruch und die hauptsächliche Seite des Widerspruchs

Hinsichtlich des Problems der Besonderheit des Widerspruchs gibt es noch zwei Punkte, die einer speziellen Analyse bedürfen: den Hauptwiderspruch und die hauptsächliche

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Seite des Widerspruchs.

Im Entwicklungsprozeß eines komplexen Dinges gibt es eine ganze Reihe von Widersprüchen, unter denen stets einer der Hauptwiderspruch ist; seine Existenz und seine Entwicklung bestimmen oder beeinflussen die Existenz und die Entwicklung der anderen Widersprüche.

So bilden zum Beispiel in der kapitalistischen Gesellschaft die beiden gegensätzlichen Kräfte, Proletariat und Bourgeoisie, den Hauptwiderspruch. Die anderen Widersprüche wie zum Beispiel der Widerspruch zwischen den Überresten der Feudalklasse und der Bourgeoisie, der Widerspruch zwischen den bäuerlichen Kleineigentümern und der Bourgeoisie, der Widerspruch zwischen dem Proletariat und den bäuerlichen Kleineigentümern, der Widerspruch zwischen der nichtmonopolistischen und der monopolistischen Bourgeoisie, der Widerspruch zwischen der bürgerlichen Demokratie und dem Faschismus der Bourgeoisie, die Widersprüche unter den kapitalistischen Ländern, die Widersprüche zwischen dem Imperialismus und den Kolonien sowie alle übrigen Widersprüche – sie alle werden vom Hauptwiderspruch bestimmt, stehen unter seinem Einfluß.

|389| In einem halbkolonialen Land wie China bieten die Beziehungen zwischen dem Hauptwiderspruch und den Nebenwidersprüchen ein kompliziertes Bild.

Im Falle eines Aggressionskriegs der Imperialisten gegen ein solches Land können sich seine verschiedenen Klassen – mit Ausnahme einer Handvoll Verräter an der Nation – zeitweilig zu einem nationalen Krieg gegen den Imperialismus zusammenschließen. Dann wird der Widerspruch zwischen dem Imperialismus und dem betreffenden Land zum Hauptwiderspruch, während alle Widersprüche zwischen den verschiedenen Klassen innerhalb dieses Landes (einschließlich des Hauptwiderspruchs unter ihnen, nämlich des Widerspruchs zwischen dem Feudalsystem und den Volksmassen) vorübergehend auf den zweiten Platz verwiesen sind und eine untergeordnete Stellung einnehmen. Das war in China der Fall während des Opiumkriegs von 1840, des Chinesisch-Japanischen Krieges von 1894 sowie des Yihotuan-Krieges von 1900 und ist auch während des gegenwärtigen Chinesisch-Japanischen Krieges der Fall.

In einer anderen Situation vertauschen jedoch die Widersprüche ihren Platz. Wenn der Imperialismus zur Unterdrückung des halbkolonialen Landes nicht zu den Mitteln des Krieges greift, sondern sich milderer Formen – wie politischer, wirtschaftlicher und kultureller – bedient, werden die herrschenden Klassen dieses Landes vor dem Imperialismus kapitulieren, und es kommt zwischen ihnen zu einem Bündnis für die gemeinsame Unterdrückung der Volksmassen. In diesem Fall nehmen die Volksmassen häufig Zuflucht zum Bürgerkrieg als Form des Kampfes gegen das Bündnis zwischen dem Imperialismus und der Feudalklasse, während der Imperialismus, statt zu einer direkten Aktion zu greifen, sich oft indirekter Mittel bedient, um die reaktionären Kräfte in diesem halbkolonialen Land bei der Unterdrückung des Volkes zu unterstützen, was eine besondere Verschärfung der inneren Widersprüche an den Tag legt. Eine solche Situation war in China kennzeichnend für den Revolutionskrieg von 1911, für den revolutionären Krieg von 1924-1927 und den folgenden zehnjährigen Agrarrevolutionären Krieg. Eine analoge Lage ist auch bei den internen Kriegen zwischen den verschiedenen reaktionären herrschenden Cliquen in halbkolonialen Ländern zu beobachten, zum Beispiel bei den Fehden zwischen den Militärmachthabern in China.

Wenn sich der revolutionäre Bürgerkrieg derart entwickelt, daß er die Existenz des Imperialismus und seiner Lakaien, der einheimischen Reaktion, in ihren Grundlagen bedroht, dann greift der|390| Imperialismus oft zu anderen Mitteln, um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten: entweder sucht er die revolutionäre Front zu spalten, oder er interveniert unmittelbar mit

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seinen eigenen Streitkräften, um der einheimischen Reaktion zu helfen. In diesem Fall entsteht zwischen dem Imperialismus und der einheimischen Reaktion, die sich offen zusammentun, auf dem einen Pol und den Volksmassen auf dem anderen Pol der Hauptwiderspruch, der die Entwicklung der anderen Widersprüche bestimmt oder beeinflußt. Ein Beispiel für eine solche bewaffnete Intervention ist die Hilfe, die verschiedene kapitalistische Länder den Reaktionären Rußlands nach der Oktoberrevolution erwiesen haben. Ein Beispiel für die Spaltung der revolutionären Front ist der Verrat Tschiang Kai-scheks im Jahre 1927.

Jedenfalls steht es ganz außer Zweifel, daß es in jeder Etappe eines Entwicklungsprozesses nur einen einzigen Hauptwiderspruch gibt, der die führende Rolle spielt.

Hieraus folgt: Wenn ein Prozeß mehrere Widersprüche enthält, muß einer von ihnen der Hauptwiderspruch sein, der die führende und entscheidende Rolle spielt, während die übrigen nur eine sekundäre, untergeordnete Stellung einnehmen. Infolgedessen muß man sich beim Studium eines komplizierten Prozesses, der zwei oder noch mehr Widersprüche enthält, die größte Mühe geben, den Hauptwiderspruch herauszufinden. Sobald dieser festgestellt ist, kann man alle Probleme leicht lösen. Das ist die Methode, die uns Marx in seiner Untersuchung der kapitalistischen Gesellschaft vordemonstriert hat. Lenin und Stalin zeigten uns die Anwendung eben dieser Methode, als sie den Imperialismus und die allgemeine Krise des Kapitalismus sowie die Wirtschaft der Sowjetunion untersuchten. Tausende und aber Tausende Gelehrte und Praktiker verstehen diese Methode nicht; das Ergebnis ist, daß sie in einem dichten Nebel umherirren, vergeblich nach dem Hauptkettenglied suchen und daher auch die Methode zur Lösung der Widersprüche nicht finden können.

Es wurde schon oben gesagt, daß man nicht auf die gleiche Weise an alle in einem Prozeß vorhandenen Widersprüche herangehen darf, daß man den Hauptwiderspruch von den Nebenwidersprüchen unterscheiden muß, wobei das wichtigste ist, den Hauptwiderspruch zu erfassen. Kann man aber in gleicher Weise an die beiden gegensätzlichen Seiten eines Widerspruchs, sei es nun der Hauptwiderspruch, sei es ein Nebenwiderspruch, herangehen? Nein, das kann man auch nicht. Die Seiten eines jeden Widerspruchs entwickeln sich ungleichmäßig. Zuweilen scheint es, daß zwischen ihnen ein Gleichgewicht |391| besteht; doch dieses ist nur vorübergehend und relativ, während die ungleichmäßige Entwicklung das Grundlegende bleibt. Von den beiden Seiten des Widerspruchs ist die eine unweigerlich die hauptsächliche, die andere die sekundäre Seite. Die hauptsächliche Seite ist jene, die im Widerspruch die führende Rolle spielt. Der Charakter eines Dinges wird im wesentlichen durch die Hauptseite des Widerspruchs bestimmt, die eine dominierende Stellung einnimmt.

Diese Lage ist aber nicht unveränderlich: die hauptsächliche Seite und die sekundäre Seite des Widerspruchs gehen ineinander über, worauf sich auch der Charakter des Dinges entsprechend ändert. Wenn in einem bestimmten Entwicklungsprozeß oder in einer bestimmten Entwicklungsetappe eines Widerspruchs dessen hauptsächliche Seite A ist und seine sekundäre B, so vertauschen die beiden Seiten in einer anderen Entwicklungsetappe oder in einem anderen Entwicklungsprozeß ihre Stellung zueinander, was durch den Grad der Vermehrung bzw. Verminderung der Kräfte der beiden widerstreitenden Seiten des Widerspruchs im Verlauf der Entwicklung des Dinges bestimmt ist.

Wir sagen oft: "Das Neue löst das Alte ab." Das ist ein allgemeines und ewig unumstößliches Gesetz des Weltalls. Der Prozeß der Ablösung des Alten durch das Neue vollzieht sich so, daß ein Ding in ein anderes durch einen Sprung übergeht, der je nach

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dem Charakter des Dinges selbst und den Bedingungen, unter denen es sich befindet, verschiedene Formen hat. jedes Ding birgt in sich den Widerspruch zwischen seinen zwei Seiten – dem Neuen und dem Alten –, der eine Reihe von Kämpfen mit vielen Windungen und Wendungen hervorbringt. Im Verlauf dieser Kämpfe wächst das Neue vom Kleinen zum Großen und gewinnt schließlich die beherrschende Position, während das Alte vom Großen zum Kleinen schrumpft und seinem Untergang entgegengeht. Sobald das Neue die Oberhand über das Alte erhält, wandelt sich das alte Ding qualitativ in das neue Ding um. Daraus folgt, daß der Charakter eines Dinges im wesentlichen durch die hauptsächliche Seite des Widerspruchs bestimmt wird, die die dominierende Stellung einnimmt. Tritt in der die beherrschende Position einnehmenden hauptsächlichen Seite des Widerspruchs ein Wechsel ein, so ändert sich dementsprechend der Charakter des Dinges.

Der Kapitalismus, der in der alten, feudalen Gesellschaft eine untergeordnete Stellung eingenommen hatte, wurde in der kapitalistischen Gesellschaft zur dominierenden Kraft, dementsprechend |392| veränderte sich auch der Charakter der Gesellschaft: Die Feudalgesellschaft verwandelte sich in die kapitalistische Gesellschaft. Die Feudalkräfte hingegen, die in der Vergangenheit die vorherrschenden gewesen waren, wurden in der Epoche der neuen, kapitalistischen Gesellschaft zu untergeordneten Kräften, die allmählich ihrem Ende entgegengehen. So geschah es zum Beispiel in England und Frankreich. Mit der Entwicklung der Produktivkräfte verwandelt sich die Bourgeoisie aus einer neuen Klasse, die eine fortschrittliche Rolle gespielt hat, in eine alte Klasse, die eine reaktionäre Rolle spielt, bis sie schließlich vom Proletariat gestürzt und in eine entmachtete Klasse, deren private Produktionsmittel enteignet sind, verwandelt wird; sie geht dann ebenfalls mit der Zeit zugrunde. Das Proletariat, das der Bourgeoisie zahlenmäßig weit überlegen ist und zugleich mit ihr wächst, aber unter ihrer Herrschaft steht, bildet eine neue Kraft, die in der Anfangsperiode von der Bourgeoisie abhängig ist, dann jedoch allmählich erstarkt, bis es sich zu einer unabhängigen, die führende Rolle in der Geschichte spielenden Klasse erhebt, die schließlich die Macht ergreift und zur herrschenden Klasse wird. Dementsprechend ändert sich der Charakter der Gesellschaft: Die alte, kapitalistische verwandelt sich in die neue, sozialistische Gesellschaft. Das ist der Weg, den die Sowjetunion schon gegangen ist und den unweigerlich alle anderen Länder gehen werden.

Wenn wir z.B. China betrachten, so nimmt der Imperialismus in dem Widerspruch, durch welchen China in eine Halbkolonie verwandelt wurde, die Hauptposition ein; der Imperialismus unterdrückt das chinesische Volk, und China ist aus einem unabhängigen zu einem halbkolonialen Land geworden. Doch wird sich die Lage unvermeidlich ändern: Im Zuge des Kampfes werden die Kräfte des chinesischen Volkes, die unter der Führung des Proletariats wachsen, unweigerlich das halbkoloniale China zu einem unabhängigen Staat machen und den Imperialismus besiegen, das alte China wird sich unausbleiblich in ein neues China verwandeln.

Die Verwandlung des alten China in ein neues China schließt auch einen Wandel im Verhältnis zwischen den alten Kräften des Feudalismus und den neuen Kräften des Volkes im Land ein. Die alte feudale Grundherrenklasse wird gestürzt werden, sich aus der herrschenden in eine beherrschte Klasse verwandeln und ebenfalls allmählich untergehen. Die Volksmassen aber werden unter der Führung des Proletariats von Beherrschten zu Herrschenden werden. Dementsprechend wird sich der Charakter der chinesischen Gesellschaft |393| ändern. Die alte, halbkoloniale und halbfeudale Gesellschaft wird sich in eine neue, demokratische Gesellschaft verwandeln.

Derart gegenseitige Umwandlungen haben sich schon in der Vergangenheit vollzogen. Die

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Tjing-Dynastie, die fast dreihundert Jahre China regiert hatte, wurde in der Revolution von 1911 gestürzt, und die von Sun Yat-sen geleitete Revolutionäre Liga errang einen zeitweiligen Sieg. Im revolutionären Krieg von 1924-1927 wurden die vereinigten revolutionären Kräfte der Kommunistischen Partei und der Kuomintang im Süden Chinas aus schwachen zu mächtigen Kräften und siegten im Nordfeldzug, während die Militärmachthaber des Nordens, die eine Zeitlang hatten schalten und walten können, gestürzt wurden. 1927 wurden die von der Kommunistischen Partei geführten Volkskräfte unter den Schlägen der reaktionären Kräfte der Kuomintang zahlenmäßig sehr geschwächt; nachdem sie aber ihre Reihen vom Opportunismus gesäubert hatten, begannen sie wieder nach und nach zu wachsen und zu erstarken. In den von der Kommunistischen Partei geleiteten revolutionären Stützpunktgebieten wurden die Bauern aus Beherrschten zu Herrschenden, während die Grundherren eine umgekehrte Wandlung durchmachten. So geht es stets in der Welt vor sich: Das Neue ersetzt das Alte, das Neue löst das Alte ab, das Alte wird vom Neuen verdrängt oder das Neue wächst aus dem Alten heraus.

Im revolutionären Kampf gewinnen manchmal die ungünstigen Bedingungen die Oberhand über die günstigen Bedingungen; dann sind die Schwierigkeiten die Hauptseite des Widerspruchs, und die günstigen Bedingungen rücken auf den zweiten Platz. Dank ihren Anstrengungen gelingt es jedoch den Revolutionären, Schritt für Schritt der Schwierigkeiten Herr zu werden und eine neue, günstige Situation zu schaffen; an die Stelle der ungünstigen Situation tritt also eine günstige Situation. So war es in China nach der Niederlage der Revolution im Jahre 1927, so war es auch mit der Roten Armee Chinas während des Langen Marsches. Im gegenwärtigen Chinesisch-Japanischen Krieg befindet sich China abermals in einer schwierigen Lage; aber wir können das ändern, wir können eine radikale Änderung der Lage der chinesischen und der japanischen Seite herbeiführen. Umgekehrt kann sich eine günstige Lage in eine ungünstige verwandeln, wenn die Revolutionäre Fehler machen. So verwandelte sich der in der Revolution von 1924-1927 errungene Sieg in eine Niederlage. 1934 erfuhren alle in mehreren Provinzen Südchinas nach 1927 errichteten revolutionären Stützpunktgebiete Niederlagen.

|394| Dasselbe gilt für den Widerspruch, der sich beim Studium in der Bewegung vom Nichtwissen zum Wissen kundtut. Wenn wir erst beginnen, den Marxismus zu studieren, dann besteht ein Widerspruch zwischen unserer Unkenntnis oder lediglich beschränkten Kenntnis des Marxismus und der Kenntnis des Marxismus. Durch eifriges Studium kann man aber erreichen, daß sich Nichtwissen in Wissen, geringe Kenntnisse in reiche Kenntnisse, Hilflosigkeit bei der Anwendung des Marxismus in Meisterung seiner Anwendung verwandeln.

Manche Leute denken, es gäbe Widersprüche, auf die das nicht zuträfe. Wenn zum Beispiel in dem Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen die hauptsächliche Seite die Produktivkräfte sind, in dem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis – die Praxis, in dem Widerspruch zwischen der ökonomischen Basis und dem Überbau – die ökonomische Basis, so fände hier angeblich kein Platzwechsel zwischen den beiden Seiten des Widerspruchs statt. Diese Auffassung ist kennzeichnend für den mechanischen Materialismus und nicht für den dialektischen Materialismus. Selbstverständlich spielen die Produktivkräfte, die Praxis und die ökonomische Basis im allgemeinen die hauptsächliche, entscheidende Rolle, und wer das leugnet, ist kein Materialist. Man muß jedoch auch anerkennen, daß unter bestimmten Bedingungen die Produktionsverhältnisse, die Theorie und der Überbau an die Reihe kommen können, die entscheidende, die Hauptrolle zu spielen. Wenn sich ohne eine Änderung der Produktionsverhältnisse die Produktivkräfte nicht weiter entwickeln können, dann spielt die Änderung der Produktionsverhältnisse die hauptsächliche, entscheidende Rolle. Wenn Lenins Worte "Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung

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geben" [15] unmittelbare Aktualität erlangen, dann spielt die Schaffung und Verbreitung der revolutionären Theorie die hauptsächliche, die entscheidende Rolle. Wenn irgendeine Aufgabe zu lösen ist (gleichgültig welche), diesbezüglich aber noch kein politischer Kurs, keine Methode, kein Plan, keine Richtlinie vorhanden ist, dann wird die Ausarbeitung des entsprechenden politischen Kurses, der Methode, des Planes oder der Richtlinie zum Hauptsächlichen, Entscheidenden. Wenn der Überbau (Politik, Kultur usw.) die Entwicklung der ökonomischen Basis behindert, dann werden politische und kulturelle Umgestaltungen zum Hauptsächlichen, Entscheidenden. Verstoßen wir mit diesen Feststellungen gegen den Materialismus? Keineswegs, denn wir erkennen an, daß im Gesamtverlauf der historischen Entwicklung das Geistige vom Materiellen, das gesellschaftliche Bewußt-|395| sein vom gesellschaftlichen Sein bestimmt wird; doch gleichzeitig erkennen wir an und müssen wir anerkennen, daß das Geistige auf das Materielle, das gesellschaftliche Bewußtsein auf das gesellschaftliche Sein, der Überbau auf die ökonomische Basis zurückwirkt. Damit verstoßen wir nicht gegen den Materialismus, sondern wir lehnen den mechanischen Materialismus ab und verteidigen den dialektischen Materialismus.

Wenn man beim Studium der Besonderheit des Widerspruchs darauf verzichtet, diese beiden Verhältnisse – Hauptwiderspruch und Nebenwidersprüche in einem Prozeß bzw. hauptsächliche und sekundäre Seite eines Widerspruchs – zu untersuchen, das heißt, wenn man es unterläßt, den unterschiedlichen Charakter der beiden Widerspruchsverhältnisse zu studieren, dann verliert man sich in Abstraktionen und ist außerstande, konkret zu begreifen, was mit den Widersprüchen vor sich geht; folglich ist man auch nicht in der Lage, die richtige Methode zur Lösung der Widersprüche zu finden. Dieser unterschiedliche oder besondere Charakter der beiden Widerspruchsverhältnisse erklärt sich aus der Ungleichmäßigkeit der Widerspruchskräfte. Es gibt nichts in der Welt, das sich in absoluter Gleichmäßigkeit entwickeln würde, und wir müssen die Theorie der gleichmäßigen Entwicklung oder die Gleichgewichtstheorie bekämpfen. Zugleich tritt gerade in diesen konkreten Verhältnissen der Widersprüche sowie in den Veränderungen der hauptsächlichen und der sekundären Seite des Widerspruchs im Laufe des Entwicklungsprozesses die Kraft des Neuen zutage, das Alte abzulösen. Das Studium der verschiedenen Zustände der Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung der Widersprüche, das Studium des Hauptwiderspruchs und der Nebenwidersprüche sowie der hauptsächlichen und der sekundären Seite im Widerspruch ist eine wichtige Methode, mit deren Hilfe eine revolutionäre Partei ihre politische und militärische Strategie und Taktik richtig festlegt; diesem Studium müssen alle Kommunisten ihre Aufmerksamkeit zuwenden.

Mao Tse-Tung: Über den Widerspruch

V. Identität und Kampf der gegensätzlichen Seiten des Widerspruchs

Nachdem wir die Fragen der Allgemeinheit und der Besonderheit des Widerspruchs geklärt haben, müssen wir dazu übergehen, das|396| Problem der Identität und des Kampfes der gegensätzlichen Seiten im Widerspruch

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zu untersuchen.

Identität, Einheit, Übereinstimmung, gegenseitige Infiltration, gegenseitige Durchdringung, wechselseitige Abhängigkeit (oder wechselseitige Bedingtheit), wechselseitige Verbundenheit oder wechselseitiges Zusammenwirken – all das sind verschiedene Ausdrücke für ein und denselben Begriff, der sich auf folgende zwei Umstände bezieht: 1. Im Entwicklungsprozeß der Dinge setzt jede der beiden Seiten des jeweiligen Widerspruchs die Existenz der anderen, ihr entgegengesetzten Seite als Bedingung ihrer eigenen Existenz voraus, wobei beide Seiten in einer Einheit koexistieren. 2. Jede der beiden entgegengesetzten Seiten verwandelt sich unter bestimmten Bedingungen in ihr Gegenteil. Eben das heißt Identität.

Lenin sagt:

"Dialektik ist die Lehre, wie die Gegensätze identisch sein können und es sind (wie sie es werden) – unter welchen Bedingungen sie identisch sind, indem sie sich ineinander verwandeln –, warum der menschliche Verstand diese Gegensätze nicht als tote, erstarrte, sondern als lebendige, bedingte, bewegliche, sich ineinander verwandelnde auffassen soll." [16]

Was ist der Sinn dieser Worte Lenins?

In allen Prozessen schließen die gegensätzlichen Seiten an und für sich einander aus, liegen im Kampf miteinander, stehen einander entgegen. Sowohl in den Entwicklungsprozessen aller Dinge als auch im menschlichen Denken sind solche gegensätzlichen Seiten vorhanden; hiervon gibt es keine Ausnahmen. In einem einfachen Prozeß gibt es nur ein Gegensatzpaar, in einem komplizierten Prozeß gibt es mehrere. Diese Gegensatzpaare geraten ihrerseits in Widerspruch zueinander. So sind alle Dinge in der objektiven Welt und das Denken des Menschen beschaffen, und so wird ihre Bewegung bewirkt.

Wenn dem so ist, dann sind die gegensätzlichen Seiten in höchstem Maße unidentisch, weit davon entfernt, eine Einheit zu bilden. Warum sprechen wir dann von ihrer Identität oder Einheit?

Die Sache ist die, daß die gegensätzlichen Seiten isoliert, ohneeinander nicht existieren können. Wenn eine der beiden entgegengesetzten Seiten fehlt, verschwinden zugleich die Existenzbedingungen der anderen Seite. Man überlege: Kann denn eine der gegensätzlichen Seiten eines Widerspruchs in den Dingen beziehungsweise in den Begriffen des menschlichen Bewußtseins für sich allein existieren? |397| Ohne Leben kein Tod; ohne Tod kein Leben. Ohne Oben kein Unten; ohne Unten kein Oben. Ohne Unglück kein Glück; ohne Glück kein Unglück. Ohne Leichtes nichts Schwieriges; ohne Schwieriges nichts Leichtes. Ohne Grundherrn kein Pächter; ohne Pächter kein Grundherr. Ohne Bourgeoisie kein Proletariat; ohne Proletariat keine Bourgeoisie. Ohne nationale Unterdrückung durch die Imperialisten keine Kolonien und Halbkolonien; ohne Kolonien und Halbkolonien keine nationale Unterdrückung durch die Imperialisten. Und so verhält es sich mit allen Gegensätzen. Unter bestimmten Bedingungen sind sie einerseits einander entgegengesetzt; andererseits sind sie wiederum miteinander verbunden, voneinander durchdrungen, ineinander infiltriert, wechselseitig abhängig, und diesen Charakter nennt man Identität. Allen gegensätzlichen Seiten ist unter bestimmten Bedingungen eine Nicht-Identität eigentümlich, und darum nennt man sie Gegensätze. Gleichzeitig aber besteht zwischen ihnen eine Identität, und darum sind sie miteinander verbunden. Gerade darauf beziehen sich die Worte Lenins, daß die Dialektik erforscht, "wie die Gegensätze identisch sein können". Wie können sie identisch sein? Eben durch die Tatsache, daß ihre Existenz wechselseitig bedingt ist. Das ist die erste Bedeutung von Identität.

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Genügt es aber bloß zu sagen, daß die Existenz der beiden Seiten des Widerspruchs wechselseitig bedingt ist, daß zwischen ihnen eine Identität besteht und daß sie deshalb in einer Einheit koexistieren können? Nein, das genügt nicht. Damit, daß die beiden Seiten des Widerspruchs wechselseitig bedingt sind, hat es nicht sein Bewenden; noch wichtiger ist die Verwandlung der Gegensätze ineinander. Das bedeutet, daß sich jede der beiden einem Ding innewohnenden gegensätzlichen Seiten unter bestimmten Bedingungen in ihr Gegenteil verwandelt, daß sie die Position der ihr entgegengesetzten Seite einnimmt. Das ist die zweite Bedeutung des Begriffs Identität der Gegensätze.

Warum besteht denn hier auch eine Identität? Man beachte: Durch die Revolution wird das Proletariat von einer unterjochten Klasse zur herrschenden Klasse, während sich die Bourgeoisie, die bis dahin geherrscht hat, in eine Klasse verwandelt, die beherrscht wird und den Platz einnimmt, den ursprünglich ihr Widerpart innehatte. Solches hat sich bereits in der Sowjetunion vollzogen, und das gleiche wird in der ganzen Welt der Fall sein. Es fragt sich nun: Wie könnte denn ein solcher Wechsel vor sich gehen, wenn nicht zwischen diesen Gegensätzen unter bestimmten Bedingungen ein Zusammenhang und eine Identität bestünde?

|398| Die Kuomintang, die in einem bestimmten Abschnitt der modernen Geschichte Chinas eine gewisse positive Rolle gespielt hatte, verwandelte sich dann infolge des ihr eigenen Klassencharakters und der Verlockungen des Imperialismus (das sind die Bedingungen) nach 1927 in eine konterrevolutionäre Partei, wurde aber durch die Verschärfung des chinesisch-japanischen Widerspruchs und durch die Einheitsfrontpolitik der Kommunistischen Partei (das sind die Bedingungen) gezwungen, sich für den Widerstand gegen Japan auszusprechen. Zwischen Gegensätzen, die sich ineinander verwandeln, besteht eine bestimmte Identität.

Unsere Agrarrevolution hatte folgenden Verlauf und wird ihn auch in Zukunft haben: die Grundherrenklasse, die den Boden besitzt, wird zu einer Klasse, die den Boden verloren hat, und die Bauern, die ihren Boden verloren hatten, werden zu Kleineigentümern, nachdem sie Grund und Boden erhalten haben. Haben und Nicht-Haben, Erwerb und Verlust sind unter bestimmten Bedingungen miteinander verbunden, zwischen ihnen besteht eine Identität. Unter den Bedingungen des Sozialismus wird sich wiederum das Privateigentum der Bauern in gesellschaftliches Eigentum der sozialistischen Landwirtschaft verwandeln; das ist in der Sowjetunion bereits geschehen und wird in der ganzen Welt geschehen. Vom Privateigentum führt eine Brücke zum gesellschaftlichen Eigentum; diese Brücke heißt in der Philosophie Identität oder Verwandlung des einen in das andere, gegenseitige Durchdringung.

Die Diktatur des Proletariats oder die Diktatur des Volkes festigen heißt eben die Voraussetzungen vorbereiten für die Liquidierung dieser Diktatur und für den Übergang auf eine höhere Stufe, wo jegliches Staatssystem abgeschafft wird. Die kommunistische Partei gründen und entwickeln heißt eben die Voraussetzungen für das Verschwinden der kommunistischen Partei wie aller politischen Parteien überhaupt vorbereiten. Eine von der kommunistischen Partei geleitete revolutionäre Armee schaffen und einen revolutionären Krieg führen heißt die Voraussetzungen für die endgültige Beseitigung aller Kriege vorbereiten. Das ist eine ganze Reihe von Gegensätzen, die gleichzeitig einander ergänzen.

Bekanntlich verwandeln sich Krieg und Frieden ineinander. Der Krieg verwandelt sich in den Frieden; so ging zum Beispiel der erste Weltkrieg in den Nachkriegsfrieden über; der Bürgerkrieg in China hat jetzt aufgehört, und an seine Stelle tritt der innere Frieden. Der Frieden verwandelt sich in den Krieg; 1927 verwandelte sich beispiels-|399| weise die Zusammenarbeit zwischen der Kuomintang und der Kommunistischen Partei in den Krieg; möglicherweise wird sich der heutige Friedenszustand in der Welt in

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einen zweiten Weltkrieg verwandeln. Warum geschieht das? Weil in der Klassengesellschaft zwischen solch gegensätzlichen Dingen wie Krieg und Frieden unter bestimmten Bedingungen eine Identität besteht.

Alle Gegensätze sind miteinander verbunden und koexistieren nicht nur unter bestimmten Bedingungen in einer Einheit, sondern gehen unter anderen bestimmten Bedingungen ineinander über; das ist eben die volle Bedeutung des Begriffs Identität der Gegensätze. Das ist es, was Lenin meint, wenn er davon spricht, "... wie die Gegensätze identisch sind (wie sie es werden) – unter welchen Bedingungen sie identisch sind, indem sie sich ineinander verwandeln ..."

Warum soll "der menschliche Verstand diese Gegensätze nicht als tote, erstarrte, sondern als lebendige, bedingte, bewegliche, sich ineinander verwandelnde auffassen"? Weil die objektiv existierenden Dinge tatsächlich so beschaffen sind. Die Einheit oder Identität der gegensätzlichen Seiten in einem objektiv existierenden Ding ist niemals tot, erstarrt, sondern lebendig, bedingt, beweglich, zeitweilig, relativ; alle Gegensätze verwandeln sich unter bestimmten Bedingungen in ihr Gegenteil; und die Widerspiegelung dieser Sachlage im menschlichen Denken stellt die marxistische dialektisch-materialistische Weltanschauung dar. Nur die reaktionären herrschenden Klassen der Gegenwart und Vergangenheit sowie die ihnen dienstbare Metaphysik betrachten die Gegensätze nicht als lebendig, bedingt, beweglich, sich ineinander verwandelnd, sondern als tot, erstarrt; sie propagieren allenthalben diese falsche Auffassung, um die Volksmassen irrezuführen und die eigene Herrschaft weiter aufrechtzuerhalten. Die Aufgabe der Kommunisten besteht darin, die falschen Auffassungen der Reaktionäre und Metaphysiker zu entlarven, die den Dingen innewohnende Dialektik zu propagieren, die Verwandlung der Dinge zu fördern und so die Ziele der Revolution zu erreichen.

Wenn wir sagen, daß die Gegensätze unter bestimmten Bedingungen identisch sind, so sprechen wir von den Gegensätzen, die real, konkret sind, und auch von ihrer realen, konkreten Verwandlung ineinander. Nehmen wir die zahllosen Verwandlungen, von denen die Mythen berichten – z. B. wie Kua Fu aus dem Buch Schanhaidjing der Sonne nachjagte [17] , oder wie der Held Yi aus dem Buch Huainandsi mit seinem Bogen neun Sonnen abschoß [18] , oder die 72 Verwandlungen |400| des Affenkönigs Sun Wu-kung in dem Buch Die Pilgerfahrt nach dem Westen [19] , oder die Verwandlung von Geistern und Füchsen in Menschen in vielen Erzählungen des Buches Liaodschaidschiyi [20] usw. –, so sind die wechselseitigen Verwandlungen der Gegensätze in diesen Mythen naiv und phantastisch, eine subjektive Einbildung der Menschen, Verwandlungen, die durch unzählige und komplizierte wechselseitige Verwandlungen von realen Gegensätzen angeregt wurden, jedoch keine konkreten Verwandlungen, in denen konkrete Widersprüche zum Ausdruck kommen. Marx sagt: "Alle Mythologie überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung: verschwindet also mit der wirklichen Herrschaft über dieselben." [21] Obwohl die Erzählungen der Mythologie (und auch der Märchen) von unzähligen Metamorphosen den Menschen Vergnügen bereiten können, weil sie die Beherrschung der Naturkräfte durch den Menschen usw. in der Einbildung zum Ausdruck bringen, wobei die besten unter ihnen, wie Marx sagt, "ewigen Reiz" besitzen, entstanden die Mythen dennoch nicht auf Grund bestimmter Bedingungen konkreter Widersprüche und sind daher keine wissenschaftliche Widerspiegelung der Wirklichkeit. Das bedeutet, daß die gegensätzlichen Seiten, die in den Mythen und Märchen den Widerspruch bilden, keine konkrete Identität besitzen; ihre Identität besteht lediglich in der Einbildung. Die wissenschaftliche Widerspiegelung der Identität in den realen Verwandlungen – das ist die marxistische Dialektik.

Warum kann das Ei sich in ein Küken verwandeln, nicht aber ,ein Stein? Warum besteht zwischen Krieg und Frieden eine Identität, nicht aber zwischen Krieg und Stein? Warum

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kann ein Mensch nur Menschen zur Welt bringen und nichts anderes? Der Grund liegt einzig und allein darin, daß die Identität der Gegensätze nur unter bestimmten, unerläßlichen Bedingungen existiert. Ohne diese bestimmten, unerläßlichen Bedingungen kann es keine Identität geben.

Warum war die bürgerlich-demokratische Februarrevolution von 1917 in Rußland mit der proletarisch-sozialistischen Oktoberrevolution in demselben Jahr direkt verbunden, während die französische bürgerliche Revolution nicht direkt mit einer sozialistischen Revolution verbunden war und die Pariser Kommune von 1871 mit einer Niederlage endete? Warum ist ihrerseits die Nomadenordnung in der Mongolei und in Mittelasien direkt mit dem Sozialismus verbunden? Warum kann die chinesische Revolution eine kapitalistische Perspek-|401| tive vermeiden und direkt zum Sozialismus führen, ohne den alten historischen Weg der westlichen Länder zurückzulegen, ohne die Etappe der bürgerlichen Diktatur durchzumachen? Das alles erklärt sich einzig und allein aus den konkreten Bedingungen der jeweiligen Zeitperiode. Wenn die bestimmten notwendigen Bedingungen schon vorhanden sind, dann treten im Entwicklungsprozeß eines Dinges bestimmte Widersprüche auf, wobei die in diesen Widersprüchen enthaltenen Gegensätze (ein Paar oder mehrere) einander bedingen und sich ineinander verwandeln. Andernfalls wäre all das unmöglich.

So steht es mit der Frage der Identität. Was ist nun Kampf? In welcher Beziehung stehen Identität und Kampf?

Lenin sagt:

Die Einheit (Kongruenz, Identität, Wirkungsgleichheit) der Gegensätze ist bedingt, zeitweilig, vergänglich, relativ. Der Kampf der einander ausschließenden Gegensätze ist absolut, wie die Entwicklung, die Bewegung absolut ist. [22]

Was meint Lenin damit?

Daß alle Prozesse einen Anfang und ein Ende haben, daß sie sich alle in ihr Gegenteil verwandeln. Die Beständigkeit aller Prozesse ist relativ, während ihre Veränderlichkeit, die sich in der Verwandlung eines Prozesses in einen anderen kundtut, absolut ist.

Die Bewegung eines jeden Dinges äußert sich in zwei Zuständen: im Zustand relativer Ruhe und im Zustand offensichtlicher Veränderung. Diese sich in den beiden Zuständen äußernde Bewegung wird durch den Kampf verursacht, den die beiden im Ding enthaltenen gegensätzlichen Faktoren miteinander führen. Wenn die Bewegung des Dinges den ersten Zustand zeigt, dann macht das Ding nur quantitative Veränderungen durch und keine qualitativen; deshalb äußert sie sich in scheinbarer Ruhe. Nimmt aber die Bewegung den zweiten Zustand an, so haben die im ersten Zustand vor sich gegangenen quantitativen Veränderungen bereits einen bestimmten Kulminationspunkt erreicht, das Einheitliche hat sich daher aufgelöst, und es erfolgt eine qualitative Veränderung, deshalb äußert sich die Bewegung des Dinges in einer offensichtlichen Veränderung. Solche im Alltagsleben zu beobachtenden Erscheinungen wie Einheit, Geschlossenheit, Verbundenheit, Harmonie, Gleichgewicht, Stabilität, Stagnation, Stillstand, Beständigkeit, Gleichmäßigkeit, Kondensation, Anziehung usw. sind Erscheinungen von Dingen, die sich im Zustand |402| quantitativer Veränderungen befinden. Auflösung des Einheitlichen, das heißt, die Störung des Zustands der Geschlossenheit, der Verbundenheit, der Harmonie, des Gleichgewichts, der Stabilität, der Stagnation, des Stillstands, der Beständigkeit, der Gleichmäßigkeit, der Kondensation, der Anziehung usw. und seine Verwandlung in den entgegengesetzten Zustand stellen dagegen Erscheinungen von Dingen dar, die sich im

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Zustand qualitativer Veränderungen befinden, Veränderungen, die beim Übergang eines Prozesses in einen anderen vor sich gehen. Die Dinge gehen unausgesetzt vom ersten in den zweiten Zustand über, wobei der Kampf der Gegensätze, der in beiden Zuständen vor sich geht, durch den zweiten Zustand zur Lösung des Widerspruchs führt. Deshalb sagt man, daß die Einheit der Gegensätze bedingt, zeitweilig, relativ ist, der Kampf der einander ausschließenden Gegensätze hingegen absolut.

Oben haben wir gesagt daß zwischen zwei gegensätzlichen Dingen eine Identität besteht und sie deshalb in einer Einheit miteinander koexistieren und sich auch ineinander verwandeln können; damit war die Bedingtheit gemeint, das heißt, unter bestimmten Bedingungen können die einen Widerspruch bildenden Dinge zu einer Einheit gelangen und sich ineinander verwandeln; ohne diese bestimmten Bedingungen können sie keinen Widerspruch bilden, ist ihre Koexistenz und auch ihre Verwandlung ineinander unmöglich. Die Identität der Gegensätze bildet sich nur unter bestimmten Bedingungen, deswegen haben wir gesagt, daß die Identität bedingt, relativ ist. Hier möchten wir hinzufügen, daß der Kampf der Gegensätze den ganzen Prozeß von Anfang bis Ende durchdringt und zur Verwandlung des einen Prozesses in den anderen führt; der Kampf der Gegensätze ist ausnahmslos überall im Gange, und darum ist er unbedingt, absolut.

Die Verbindung von bedingter, relativer Identität mit unbedingtem, absolutem Kampf ergibt die Bewegung der Widersprüche in allen Dingen.

Wir Chinesen sagen häufig: "Einander entgegengesetzt, einander ergänzend." [23] Das bedeutet, daß zwischen den Gegensätzen eine Identität besteht. Diese Worte sind dialektisch und antimetaphysisch. "Einander entgegengesetzt" bedeutet, daß die beiden entgegengesetzten Seiten einander ausschließen oder bekämpfen; "einander ergänzend" bedeutet, daß sie unter bestimmten Bedingungen miteinander verbunden sind und zur Identität gelangen. Doch gerade der Identität wohnt der Kampf inne, ohne Kampf gibt es keine Identität.

|403| In der Identität ist Kampf, im Besonderen ist das Allgemeine, im Einzelnen ist das Gemeinsame; um mit Lenin zu sprechen: "im Relativen ist Absolutes enthalten." [24]

Mao Tse-Tung: Über den Widerspruch

VI. Der Platz des Antagonismus in den Widersprüchen

Das Problem des Kampfes der Gegensätze schließt die Frage ein: Was ist Antagonismus? Auf diese Frage antworten wir: Der Antagonismus ist eine der Formen des Kampfes der Gegensätze, aber nicht die einzige Form.

In der Menschheitsgeschichte existiert der Antagonismus zwischen den Klassen als ein spezifischer Ausdruck des Kampfes der Gegensätze. Betrachten wir den Widerspruch zwischen der Klasse der Ausbeuter und der Klasse der Ausgebeuteten, so bestehen sowohl in der Sklavenhaltergesellschaft als auch in der feudalen und der kapitalistischen Gesellschaft diese beiden im Widerspruch stehenden Klassen lange Zeit hindurch in ein

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und derselben Gesellschaft nebeneinander. Sie kämpfen gegeneinander, doch erst nachdem sich der Widerspruch der beiden Klassen bis zu einem bestimmten Stadium entwickelt hat, nimmt der Kampf der beiden Seiten die Form eines offenen Antagonismus an, der sich zur Revolution entwickelt. Auf ähnliche Weise verwandelt sich in der Klassengesellschaft der Frieden in den Krieg.

Bevor eine Bombe explodiert, stellt sie eine Einheit dar, worin die Gegensätze infolge bestimmter Bedingungen nebeneinander existieren. Erst nach dem Eintreten einer neuen Bedingung (der Zündung) erfolgt die Explosion. Analog verhält es sich mit allen Naturerscheinungen, bei denen die Lösung des alten Widerspruchs und die Entstehung des neuen Dinges schließlich in der Form eines offenen Zusammenpralls erfolgt.

Es ist ungemein wichtig, diese Tatsache zu erkennen. Das hilft uns verstehen, daß in der Klassengesellschaft Revolutionen und revolutionäre Kriege unvermeidlich sind, daß es sonst unmöglich ist, in der Entwicklung der Gesellschaft einen Sprung zu vollziehen und die reaktionäre herrschende Klasse zu stürzen, damit das Volk die Macht ergreifen kann. Die Kommunisten müssen die betrügerische Propaganda der Reaktionäre entlarven, die zum Beispiel behaupten, daß die soziale Revolution unnötig und unmöglich wäre; siemüssen |404| unerschütterlich an der marxistisch-leninistischen Lehre von der sozialen Revolution festhalten und dem Volk zum Verständnis dessen verhelfen, daß die soziale Revolution nicht nur unbedingt notwendig, sondern auch durchaus möglich ist und daß diese wissenschaftliche Wahrheit durch die ganze Menschheitsgeschichte und durch den Sieg der Sowjetunion bestätigt worden ist.

Wir müssen jedoch den Kampf der verschiedenen Gegensätze konkret untersuchen und dürfen keine unangebrachte Anwendung der obenerwähnten Formel auf alle Dinge zulassen. Die Widersprüche und der Kampf sind allgemein, absolut, doch die Methoden zur Lösung der Widersprüche, das heißt die Formen des Kampfes, sind je nach dem Charakter der Widersprüche verschieden. Manche Widersprüche weisen einen offen antagonistischen Charakter auf, andere nicht. Je nach der konkreten Entwicklung der Dinge werden manche ursprünglich nichtantagonistische Widersprüche zu antagonistischen, dagegen andere, ursprünglich antagonistische, zu nichtantagonistischen Widersprüchen.

Solange Klassen bestehen, sind die Widersprüche zwischen richtigen und falschen Ansichten in den Reihen der Kommunistischen Partei, wie oben festgestellt wurde, eine Widerspiegelung der Klassenwidersprüche innerhalb der Partei. In der Anfangsperiode oder in einzelnen Fragen treten diese Widersprüche nicht unbedingt sofort als antagonistische zutage. Doch mit der Entwicklung des Klassenkampfes können auch sie sich zu antagonistischen Widersprüchen entwickeln. Die Geschichte der KPdSU zeigt uns, daß sich die Widersprüche zwischen den richtigen Ansichten Lenins und Stalins und den falschen Ansichten Trotzkis, Bucharins und anderer anfangs nicht in antagonistischer Form kundtaten, in der Folge aber zu einem Antagonismus entwickelten. Auch in der Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas gab es solche Fälle. Die Widersprüche zwischen den richtigen Ansichten vieler Genossen in unserer Partei und den falschen Ansichten von Tschen Du-hsiu, Dschang Guo-tao und anderen traten anfangs auch nicht in antagonistischer Form zutage, entwickelten sich aber in der Folge zu antagonistischen. Derzeit weisen die Widersprüche zwischen richtigen und falschen Ansichten innerhalb unserer Partei keine antagonistische Form auf, und wenn die Genossen, die Fehler begangen haben, diese zu korrigieren verstehen, werden sich diese Widersprüche nicht zu antagonistischen entwickeln. Darum muß die Partei einerseits einen ernsten Kampf gegen falsche Ansichten führen, andererseits aber jenen Genossen, die Fehler gemacht haben, |405| die volle Möglichkeit geben, diese einzusehen. Unter diesen Umständen ist eine

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Überspitzung des Kampfes offensichtlich unzweckmäßig. Wenn jedoch jene, die Fehler begangen haben, auf diesen beharren und sie vertiefen, dann besteht die Möglichkeit, daß sich diese Widersprüche zu antagonistischen entwickeln.

Die ökonomischen Widersprüche zwischen Stadt und Land in der kapitalistischen Gesellschaft (wo die von der Bourgeoisie kontrollierte Stadt das Dorf schonungslos ausplündert) und in den von der Kuomintang beherrschten Gebieten Chinas (wo die vom ausländischen Imperialismus und von der Kompradoren – Großbourgeoisie Chinas kontrollierte Stadt das Dorf aufs brutalste ausplündert) sind extrem antagonistisch. Doch im Lande des Sozialismus und in unseren revolutionären Stützpunktgebieten sind diese antagonistischen Widersprüche zu nichtantagonistischen geworden, und in der kommunistischen Gesellschaft werden sie verschwinden.

Lenin sagt: "Antagonismus und Widerspruch sind durchaus nicht dasselbe. Das erstere verschwindet, das zweite bleibt im Sozialismus." [25] Das bedeutet, daß der Antagonismus nur eine der Formen des Kampfes der Gegensätze ist, nicht aber die einzige Form; deshalb kann man diese Formel nicht überall wahllos anwenden.

Mao Tse-Tung: Über den Widerspruch

VII. Schlußfolgerung

Wir können jetzt kurz zusammenfassen. Das Gesetz des den Dingen innewohnenden Widerspruchs oder das Gesetz der Einheit der Gegensätze ist das Grundgesetz der Natur und der Gesellschaft und folglich auch des Denkens. Es ist der metaphysischen Weltanschauung direkt entgegengesetzt. Seine Entdeckung bedeutete eine große Revolution in der Geschichte der menschlichen Erkenntnis. Vom Gesichtspunkt des dialektischen Materialismus existiert der Widerspruch in allen Prozessen, die sich an objektiv existierenden Dingen sowie im subjektiven Denken abspielen, und durchläuft alle Prozesse von Anfang bis Ende. Darin besteht die Allgemeinheit und Absolutheit des Widerspruchs. Die widersprüchlichen Dinge und jede Seite des Widerspruchs haben ihre Besonderheiten. Darin besteht die Besonderheit und Relativität des Widerspruchs. Die Gegensätze in den widersprüchlichen Dingen sind unter bestimmten Bedingungen identisch, können daher in einer Einheit nebeneinander existieren und sich ineinander verwandeln. Auch darin liegt die Besonderheit und Relativität des Widerspruchs. Doch der Kampf der Gegensätze geht ununterbrochen vor sich, sowohl während ihrer Koexistenz als auch während ihrer wechselseitigen Verwandlung, wobei in letzterem Fall der Kampf besonders deutlich zutage tritt. Darin liegt wiederum die Allgemeinheit und Absolutheit des Widerspruchs. Beim Studium der Besonderheit und Relativität der Widersprüche müssen wir den Unterschied zwischen dem Hauptwiderspruch und den Nebenwidersprüchen sowie zwischen der hauptsächlichen und der sekundären Seite des Widerspruchs beachten; beim Studium der Allgemeinheit des Widerspruchs und des Kampfes der Gegensätze müssen wir den Unterschied zwischen den mannigfaltigen Formen des Kampfes der Gegensätze beachten; andernfalls werden wir Fehler begehen. Wenn wir

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uns nach erfolgtem Studium wirklich über die oben dargelegten Grundthesen klar geworden sind, dann werden wir imstande sein, die den Grundprinzipien des Marxismus-Leninismus zuwiderlaufenden und unsere revolutionäre Sache schädigenden dogmatischen Ansichten zu zerschlagen; zugleich wird es unseren erfahrenen Genossen ermöglichen, ihre Erfahrungen zu systematisieren und diese auf eine prinzipielle Höhe zu bringen, eine Wiederholung der Fehler des Empirismus zu vermeiden. Das ist die kurze Schlußfolgerung, die sich aus der von uns vorgenommenen Untersuchung des Gesetzes vom Widerspruch ergibt.

Mao Tse-tung:Woher kommen die richtigen

Ideen der Menschen?*(Quelle: Mao Tse-tung, Fünf philosophische Monographien, Verlag für fremdsprachige Literatur Peking 1976, Seiten 173-175)

(Mai 1963)

|S 173| Woher kommen die richtigen Ideen der Menschen? Fallen sie vom Himmel? Nein. Sind sie dem eigenen Gehirn angeboren? Nein. Die richtigen Ideen der Menschen können nur aus der gesellschaftlichen Praxis herrühren, nur aus dem Produktionskampf, dem Klassenkampf und dem wissenschaftlichen Experiment – diesen drei Arten der gesellschaftlichen Praxis. Das gesellschaftliche Sein der Menschen bestimmt ihr Denken. Sobald die richtigen Ideen, die die fortschrittliche Klasse repräsentieren, von den Massen beherrscht werden, werden sie zur materiellen Gewalt, welche die Gesellschaft und die Welt umgestaltet. In ihrer gesellschaftlichen Praxis führen die Menschen verschiedenerlei Kämpfe durch, sammeln sie reiche Erfahrungen, solche von Erfolgen und solche von Mißerfolgen. Die unzähligen Erscheinungen der objektiven Außenwelt finden mittels der fünf Sinnesorgane – Organe des Gesichts-, Gehör-, Geruchs-, Geschmacks-, und Tastsinnes – ihre Widerspiegelung im menschlichen Gehirn, und das ist zunächst eine sinnliche Erkenntnis. Hat sich das Material angehäuft, so tritt ein Sprung ein, und die sinnliche Erkennt-

|S 174| nis verwandelt sich in eine rationale Erkenntnis, d.h. in die Idee. Das ist ein Erkenntnisprozeß. Es ist die erste Etappe des Gesamtprozesses der Erkenntnis, nämlich die Etappe des Übergangs von der objektiven Materie zum subjektiven Bewußtsein, vom Sein zur Idee. Zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht bewiesen, ob das Bewußtsein und die Ideen (einschließlich der Theorien, politischen Richtlinien, Pläne, Methoden) die Gesetze der objektiven Außenwelt richtig widergespiegelt haben, es kann noch nicht festgestellt werden, ob sie richtig sind. Darauf folgt eine zweite Etappe des Erkenntnisprozesses, nämlich die Etappe des Übergangs vom Bewußtsein zur Materie, von der Idee zum Sein, wo man die in der ersten Etappe gewonnenen Erkenntnisse auf die gesellschaftliche Praxis anwendet, um zu sehen, ob diese Theorien, politischen Richtlinien, Pläne, Methoden usw. zu dem gewünschten Erfolg führen können. Allgemein gesagt, ist das richtig, was Erfolg bringt, und falsch. Was mißlingt; das trifft besonders auf den Kampf der Menschheit mit der Natur zu. Im gesellschaftlichen Kampf haben die Kräfte , die die

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fortschrittliche Klasse repräsentieren, manchmal Mißerfolg, und zwar nicht etwa, weil ihre Ideen unrichtig wären, sondern weil sie, wenn man die im Kampf stehenden Kräfte miteinander vergleicht, zeitweilig noch nicht so stark sind, wie die reaktionären Kräfte; daher erleiden die vorläufig Niederlagen, doch werden sie früher oder später siegen. Mit der Überprüfung der menschlichen Erkenntnis durch die Praxis tritt wiederum ein Sprung ein. Dieser ist von weit größerer Bedeutung als der frühere Sprung. Denn nur der zweite Sprung kann beweisen, daß der erste Sprung in der Erkenntnis, d.h. die Ideen, Theorien, politischen Richtlinien, Pläne; Methoden usw., auf die man im Prozeß der Widerspiegelung der objektiven Außenwelt gekommen ist, richtig oder falsch war; es gibt keine andere Methode, die Wahrheit nachzuprüfen. Das Proletariat verfolgt

|S 175| mit der Erkenntnis der Welt einzig und allein den Zweck, die Welt umzugestalten; es hat dabei kein anderes Ziel. Zu einer richtigen Erkenntnis gelangt man oft erst nach einer vielfachen Wiederholung der Übergänge von der Materie zum Bewußtsein und vom Bewußtsein zur Materie, das heißt von der Praxis zur Erkenntnis und von der Erkenntnis zur Praxis. Das ist die Erkenntnistheorie des Marxismus, die Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus. Unter unseren Genossen gibt es viele, die dieses erkenntnistheoretische Prinzip noch nicht verstehen. Fragt man sie, woher ihre Gedanken und Meinungen, ihre politischen Richtlinien, ihre Methoden, Pläne und Schlußfolgerungen, ihre endlos dahinplätschernden Reden und ellenlangen Artikel kommen, tun die ganz erstaunt und finden keine Antwort. Für sie ist auch eine solche, im alltäglichen Leben oft zu beobachtende Erscheinung des Sprungs, wie sich die Materie in Geist und der Geist sich in Materie verwandeln kann etwas Unbegreifliches. Es ist daher notwendig, unsere Genossen in der Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus zu schulen, damit die ihr Denken richtig ausrichten, verdrehen, Untersuchungen und Forschungen vorzunehmen und Erfahrungen zusammenzufassen, und Schwierigkeiten überwinden, weniger Fehler begehen, ihre Arbeit gut verrichten sowie im Kampf alle Kräfte einsetzen, um ein großes und starkes sozialistisches Land aufzubauen und die unterdrückten und ausgebeuteten breiten Volksmassen der ganzen Welt zu unterstützen, also die uns obliegende große internationalistische Pflicht zu erfüllen.

* Ein Absatz aus dem "Beschluß des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas über gewisse Fragen in der gegenwärtigen Arbeit auf dem Lande (Entwurf)". Dieser Entwurf wurde unter der Leitung von Genossen Mao Tsetung ausgearbeitet und der erwähnte Absatz von ihm selbst verfaßt.

MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIKBEITRÁGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von HEINZ KIMMERLE

03/07

trendonlinezeitung

KAPITEL VI

G. LUKACS UND K. KORSCHHeinrich Dannemann, Rüdiger Erdbrügge

Zur Kapitelübersicht

A. ZUM GEGENWÄRTIGEN DISKUSSIONSSTAND: HEGEL-EPIGONEN ODER PROTAGONISTEN EINER NEUEN LINKEN

Von Anbeginn waren Lukacs' „Geschichte und Klassenbewußtsein" (= „GuK") und Korschs

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„Marxismus und Philosophie" (= „MuPh") umstrittene Bücher. Als Lukács sein Buch 1923 veröffentlichte, sahen die einen (z.B. Ernst Bloch, J. Revai und K. Korsch) darin das Symptom einer umfassenden Renaissance der marxistischen Dialektik. Andere, die außerordentlich einflußreiche Positionen innerhalb der kommunistischen Bewegung einnahmen, erhoben zunächst ebenso energisch wie pauschal den Vorwurf des „Revisionismus" oder „Idealismus." Sinovjev, Deborin, Rudas, die „Pravda" und die „Rote Fahne" reagierten auf Lukács' Kritik der Abbildtheorie und seine Polemik gegen Engels allergisch: „Wie das alles freilich noch orthodoxer Marxismus sein soll, ist uns, gelinde gesagt, schleierhaft!"(1) Nach der Phase scharfen Polemisierens übte man sich in der Kunst des Totschweigens. - Ganz ähnlich erging es Korsch, dessen Buch man der Einfachheit halber mit „GuK" identifizierte. Korsch wurde von den Lukács-Kritikern ohne viel Federlesens als dessen „Schüler" apostrophiert.

Seit etwa 1930 wurde es außerordentlich still um „GuK" und „MuPh" - eine Folge von Stalinismus und Faschismus. Korsch, der 1926 aus der KPD ausgeschlossen wurde, gelang es in seinen späteren Schriften nicht, die fruchtbaren Ansätze von „MuPh" zu einer umfassenden Theorie über das Verhältnis von Theorie und Praxis weiterzuentwickeln. In den letzten Jahren seines Lebens distanzierte sich Korsch weitgehend von der Marxschen Theorie. Lukács übte Selbstkritik in Sachen „GuK" und wandte sich der Ausarbeitung seiner Realismus-Konzeption bzw. ideologiekritischen Studien über die theoretischen Vorläufer des Faschismus zu.

Hatten sich jahrzehntelang nur einige wenige mit „GuK" und „MuPh" beschäftigt - hier wären vor allem L. Goldmann, L. Kofler, M. Merleau-Ponty und I. Fetscher zu nennen -, so änderte sich dies radikal mit dem Aufkommen der „Neuen Linken" in den 6oer Jahren. Lukács' und Korschs Schriften aus den Jahren 1920-1930 wurden in der westlichen Welt „massenhaft" rezipiert und für die Legitimationsbedürfnisse der Neuen Linken umfunktionalisiert.(2) Im SDS wurden Lukács' Thesen zur Organisationsfrage diskutiert; sein frühes Verdikt gegen den Parlamentarismus(3) wurde zur theoretischen Fundamentierung der APO verwandt. Kritisiert wurde die Parteikonzeption von „GuK" als Legitimation des Leninschen Organisationsmodells.(4)

Die Verdinglichungstheorie von Georg Lukács hat das Bewußtsein nicht weniger Anhänger der Neuen Linken mitgeprägt. Dieser Einfluß ist spürbar von H. J. Krahl bis hin zu den Studien des Berliner „Projekts Klassenanalyse" bzw. der „Projektgruppe: Entwicklung des Marxschen Systems" um J. Bischoff.(5) Meist wurde Lukács' Verdinglichungstheorie freilich in modifizierter und verwässerter Form rezipiert: die „Frankfurter Schule" übernahm viele Grundzüge der Lukácsschen Theorie und benutzte sie bei ihren sehr wirksam gewordenen Analysen der spätkapitalistischen „eindimensionalen Gesellschaft."(6)

Die Dialektik-Konzeptionen von Lukács und Korsch wurden und werden sehr unterschiedlich beurteilt. Vereinfachend lassen sich zwei Interpretationsrichtungen ausmachen:

(1) Korsch und Lukács - vor allem der letztere -werden als Hegel-Epigonen aufgefaßt, was ihnen natürlich sofort den Vorwurf des Idealismus einträgt.(7) Besonders einflußreich ist z.Zt Althussers These, Lukács, Korsch und Gramsci seien prominente Vertreter einer ideologischen Verzerrung des Marxismus, die als „humanistisch" oder „historizistisch" zu charakterisieren ist.(8)

(2) Im Umkreis der „Frankfurter Schule" findet eine positive Rezeption von Lukács' Modell einer historischen Dialektik statt - meist implizit (Adorno, Marcuse), selten explizit (A. Schmidt, J. Ritsert). Diese Autoren charakterisieren die dialektische Methode in Lukácsscher Manier vom Begriff der Totalität her und teilen grundsätzlich Lukács' Kritik an Engels' Dialektik-Verständnis, zumal an dessen Modell der Naturdialektik. Daß diese Schule die strukturalistische Kritik an Lukács nicht akzeptiert, wird niemanden verwundern. Ihre Kritik setzt an einer anderen Stelle an: sie verwerfen Lukács' Vorstellung einer möglichen Einheit von Subjekt und Objekt und betonen - meist außerordentlich emphatisch - die letztendliche Äußerlichkeit

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von Subjekt und Objekt bzw. die Notwendigkeit einer „negativen" Dialektik.

Korsch stand lange Zeit im Schatten von Lukács, und das hat sich bis heute nicht grundlegend geändert. Immerhin ist zu notieren, daß Korsch - von O. Negt u.a. - Lukács präferiert wird, weil er bestimmte idealistische Mytheme Lukács' vermieden habe.(9) Vor allem wird Korschs Kritik der Widerspiegelungstheorie und sein Versuch einer dialektischen Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis gewürdigt. Es ist aber auffällig, daß Korschs anregendes, doch wenig expliziertes Dialektik-Konzept zur Grundlage einer umfassenden und kohärenten Theorie theoretischer Praxis nicht recht geeignet erscheint.(10)

Noch ein Wort zu den Autoren von „GuK" bzw. „MuPh" und zum Stellenwert der hier von uns berücksichtigten Schriften im Gesamtwerk von Lukács und Korsch. Bei Korsch liegen die Dinge eher einfach. Wir berücksichtigen primär Korschs Schriften aus den Jahren 1920-1930 und darüber hinaus noch seine Marx-Monographie und die kurze Studie über „Die dialektische Methode im .Kapital'."(11) Somit können wir die relevanten Schriften von Korsch zu unserem Thema erfassen.

Dies ist im Falle von Georg Lukács nicht möglich. Die Schriften, die wir hier berücksichtigen können, stellen nur einen Ausschnitt aus Lukács' Gesamtwerk dar.(12) Die vormarxistische Schriften Lukács', in denen er lebensphilosophische, neukantianische, neuhegelianische und Max Webersche Positionen zu eigenwilligen Synthesen verarbeitet, müssen hier ausgeklammert werden.(13)

Überdies müssen wir auf eine Analyse der Dialektik-Konzeption von Lukács in den Schriften nach 1930 verzichten. Wir begnügen uns mit einigen schematischen Hinweisen: Nach der Selbstkritik in Sachen „GuK" vertritt Lukács eine modifizierte Widerspiegelungstheorie.(14) Sein theoretisches Hauptinteresse gilt weiterhin der Entfremdungs-ProbIematik - das zeigt ganz deutlich sein Hegel-Buch; in dieser Schrift betont er die Differenz der Marxschen Problembehandlung gegenüber der Hegeischen weitaus stärker als in „GuK."(15) In seinen Spätwerken - „Die Eigenart des Ästhetischen" und „Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins"(16) - versucht Lukács den Zusammenhang der wichtigsten gesellschaftlichen Praxisformen zu analysieren, indem er das Verhältnis von Alltagsleben - Wissenschaft - Kunst untersucht. Lukács beschreibt den Prozeß der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Praxis, die Funktion der so entstehenden neuartigen Objektivationssysteme und die Chancen, die aus diesem Prozeß resultierenden Entfremdungserscheinungen zurückzunehmen.(17) Die Arbeit faßt er dabei als das - sich innerhalb bestimmter Grenzen entwickelnde- Modell gesellschaftlicher Praxis auf.

An der „Ontologie" wird das komplizierte Miteinander von Kontinuität und Bruch in Lukács' Lebenswerk deutlich. Sehr vereinfacht können wir dies so zusammenfassen: Einerseits hält Lukács an der strikten Unterscheidung von Naturdialektik und Geschichtsdialektik fest,(18) andererseits entfernt er sich von der in „GuK" auf die Spitze getriebenen Gegenwartsorientierung und Historisierung der Marxschen Dialektik in Richtung auf eine relativ abstrakte Dialektik des gesellschaftlichen Seins. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese Differenz nicht zuletzt Ausdruck des Unterschieds zwischen der revolutionären Situation nach 1917 und der keineswegs revolutionären Lage der entwickelten kapitalistischen Ländern in unseren Tagen ist.

B. KURZER HINWEIS ZUM PRAKTISCH-POLITISCHEN KONTEXT

Die in diesem Kapitel dargestellten Dialektik-Konzeptionen von G. Lukács und K. Korsch lassen sich nur dann angemessen darstellen, wenn man sie in ihren konkreten historischen Bezügen sichtbar macht.(19) Dies kann hier nur sehr verkürzt geschehen. Lukács und Korsch gehören u.E. der antirevisionistischen kommunistischen Bewegung der Zeit nach dem i. Weltkrieg an; beide gelten als „linke Kommunisten." An der Aktualität der proletarischen Revolution besteht für sie bis in die Mitte der 20er Jahre kein Zweifel. Durch die Oktoberrevolution und den marxistisch-leninistischen Bruch mit der Strategie und Praxis der Parteien der II. Internationale wird - für Lukács stets, für Korsch in den frühen zwanziger Jahren - eine neue Qualität der proletarischen Bewegung repräsentiert. Der hier

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vollzogene praktische Bruch mit der Sozialdemokratie, der besonders durch R. Luxemburg und Lenin ermöglicht worden ist, bildet das revolutionäre Paradigma, auf das sich die Theorieansätze unserer Autoren beziehen.

Das heißt: Lukács und Korsch wollen einen theoretischen Bruch mit dem Revisionismus der II. Internationale herbeiführen helfen, dessen Gründlichkeit der revolutionären Situation nach 1917 adäquat sein soll. Exemplarisch läßt sich die Marxismusauffassung der II. Internationale anhand einer knappen Vergegenwärtigung des Kautskyschen Typs der „Orthodoxie" wiedergeben :

1. Die Marxsche Theorie wird von Kautsky als Evolutionstheorie gedeutet.(20) Kautskys Ansicht nach stellt sich Marx' materialistische Geschichtsauffassung die Aufgabe, „zu untersuchen, ob die Entwicklung der Gesellschaft mit der der tierischen und pflanzlichen Arten nicht innerlich zusammenhänge, so daß die Geschichte der Menschheit nur einen Spezialfall der Geschichte der Lebewesen bildet."(21) Gesellschaftliche Veränderung stellt sich Kautsky anhand jenes Modells der „Anpassung" vor, das Darwin bei der Darstellung der Naturevolution erfolgreich verwandt hatte.(22) Daß Kautsky, der in allen Entwicklungen stets nur Modifikationen des „gemeinsame(n) Gesetz(es), dem menschliche wie tierische und pflanzliche Entwickelung unterworfen ist,"(23) sieht, Geschichte nicht als Prozeß revolutionärer Umbrüche erfassen kann, ist evident.

2. Der These vom letztlich gemeinsamen Bewegungsgesetz von Natur und Geschichte entspricht Kautskys Methode. Anders als Marx sieht er „in der Entwicklungsgeschichte der Arten von den Protozoen bis zu den Menschenaffen den Schlüssel" für die theoretische Rekonstruktion der Geschichte auch der Klassengesellschaften.(24)

3. Um die Entwicklung vom Einfachen (der Vergangenheit) zum Komplizierten (zur Gegenwart) als Modifikation des allgemeinen Gesetzes von Natur und Gesellschaft zu erfassen, bedarf es der Dialektik nicht. Kautsky sieht die Marxsche Theorie wesentlich als empirische (positive) Wissenschaft.(25) Daß Kautsky, stets um den Schein der Orthodoxie bemüht, den Begriff „Dialektik" weiterhin verwendet, hat Legitimationsfunktionen. Faktisch ist bei ihm der Begriff Dialektik zu einer nichtssagenden, eigentlich entbehrlichen Leerformel geworden.

Kautskys Vorstellung vom Status der Marxschen Theorie als empirischer Wissenschaft entspricht es, daß er keine notwendige Verbindung von Marxismus und proletarischem Klassenkampf anerkennen will. Für ihn ist die materialistische Geschichtstheorie „als rein wissenschaftliche Lehre keineswegs an das Proletariat gebunden"; sie hängt mit ihm nur zusammen, weil sie „in ihrer Nutzanwendung heute proletarischen Interessen dient" und mithin der Arbeiterklasse „sympathisch" ist.(26) Bezeichnend für die Oberflächlichkeit von Kautskys Beschreibung der Marxschen Theorie als positiver Wissenschaft ist seine Meinung, die Gesellschaftstheorie Marx' sei mit mancherlei Philosophien kombinierbar (z.B. mit der Machs und Avenarius'), weil sie als strenge Wissenschaft das Theoriefeld der Philosophie gar nicht besetze.(27)

Neben Kautskys „Orthodoxie" bildet der an Kant anschließende Austro-marxismus (hier besonders Max Adler) einen weiteren gemeinsamen theoretischen Kontrahenten für Korsch und Lukács. Wesentliches Defizit dieses Theorietyps ist für Korsch und Lukács das Leugnen einer Realdialektik, die mit den kantischen Ansätzen inkompatibel ist. Diese transzendentalphilosophische Position gerät in Kollision mit der Marxschen Theorie, wenn sie mit der Realdialektik auch die Dialektik der Geschichte negiert.

Den sich als Gegner verstehenden Varianten des Marxismus, Kautskys „orthodoxem Marxismus" und dem neukantianischen Austromarxismus, ist eines gemeinsam: Kautskys Umdeutung des Marxismus zum monolithischen Objektivismus, der letztlich nur ein alles beherrschendes Bewegungsgesetz kennt, und die „marxistische" Rezeption transzendentalphilosophischer Ansätze eliminieren mit der Marxschen Dialektik vor allem dessen Weise, Praxis als Vermittlung zwischen dem Objektiven (objektiven Bewegungsgesetzen, Tendenzen) und dem Subjektiven (Interessen, Intentionen) zu

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denken.

Aus diesem Zusammenhang heraus wird verständlich, daß der projektierte Bruch mit dem Revisionismus der II. Internationale für Lukács und Korsch bei der Reaktualisierung der dialektischen Methode als dem signifikantesten Merkmal der Marxschen Wissenschaft ansetzen muß.(28) Ein Bewußtmachen des Stellenwertes von Dialektik macht zugleich einen Rekurs auf die Hegelsche Dialektik unumgänglich. Lukács' und Korschs Schriften verstehen sich als Versuch, „die Frage der dialektischen Methode - als lebendige und aktuelle Frage - zum Gegenstand einer Diskussion zu machen."(29)

Im folgenden stellten wir die Dialektik-Konzeptionen von Lukács und Korsch getrennt dar, weil sie keineswegs eine einfache Einheit bilden.

C. G. LUKÁCS' DIALEKTIK-KONZEPTION

I. Zur theoretischen Grundkonzeption von „Geschichte und Klassenbewußtsein"

Die Denksysteme, gegen welche Lukács zu einem eigenen Ansatz finden will, zeichneten sich, wie oben gezeigt wurde, durch eine Unverbundenheit der subjektiven und objektiven Sphäre aus, Subjekt und Objekt verblieben in bloßer Unmittelbarkeit. Dem Objektivismus der II. Internationale war es unmöglich, objektive Gesetzmäßigkeit mit subjektiver Intention zu vermitteln; umgekehrt war es Problem allen nachkantianischen Denkens, eine umfassende Vermittlung zwischen subjektiver Erkenntnisaktivität und den Erkenntnisgegenständen herzustellen. Die Wirkung solch dualistischer Konzeptionen eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses war in gleicher Weise die Unmöglichkeit einer an Wirklichkeitserkenntnis ausgerichteten Praxis: „Die praktische Gefahr einer jeden solchen dualistischen Auffassung zeigt sich darin, daß das richtungsgebende Moment für die Handlungen verloren geht."(30) Nach Lukács läßt sich also revisionistische Theoriebildung, die unverträglich ist mit dem Marxschen Entwurf einer Theorie als Ausdruck und Anleitung revolutionären Handelns, in ihrer Tiefenstruktur auf eine Unvermittelheit von Subjekt und Objekt zurückführen.

Dagegen gilt es nach Lukács eine lebendige Subjekt-Objekt-Einheit zu stellen, in der beide Sphären über vielfache Durchgänge miteinander vermittelt sind. Lukács bezeichnet ein Denken, das seine Gegenstände in der Unmittelbarkeit beläßt, sie in ihrer bloßen Vereinzelung und Unveränderbarkeit zeigt, als verdinglicht. Dialektisches Denken durchbricht diese Unmittelbarkeit und zeigt die Gegenstände seines Denkens als aufgehoben in einer prozessualen Totalität. Erst der Aufweis einer Subjekt-Objekt-Einheit, einer Totalität, ermöglicht eine Theorie-Praxis-Einheit, in der starre, verdinglichte Formen verflüssigt werden und mithin für eine revolutionäre Praxis über-formbar werden. Diese grundsätzliche Konnotation Dualität/Unmöglichkeit von revolutionärer Praxis und Totalität/Bedingung für revolutionäre Praxis ist signifikant für Lukács' Dialektikverständnis, indem es schwerpunktmäßig um das Aufzeigen dialektischer Einheiten geht. In dieser Weise ist Lukács' Projekt zu verstehen, den Marxismus als „revolutionäre Dialektik" wiederzuentdecken, indem die Bestimmungen aufgefunden werden, „die die Theorie, die dialektische Methode zum Vehikel der Revolution machen."(31)

Für sein Projekt, die Marxsche Methode herauszuarbeiten, die Lukács als dialektisch-revolutionär bestimmt hat, hält er es für unerläßlich, auf Hegel zurückzugehen. Marx selbst hat seine Beziehung zu Hegel nicht wirklich geklärt. Lukács muß, will er die methodische Relevanz Hegels erweisen, ohne in einen neuerlichen Dualismus von Methode und Gegenstand zu verfallen, bei Hegel und Marx zugleich eine analoge Methode und einen (zumindest partiell) gemeinsamen Gegenstand, ein ähnlich gelagertes Projekt aufzeigen.

Lukács erblickt Hegels wesentliche Leistung darin, daß er „die Gegenständlichkeitsformen der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Doppeltheit, in ihrem Widerspruch erfaßt hat: als Momente eines Prozesses, in dem der Mensch (...) in der Entäußerung zu sich kommt, zum Punkt, wo die Widersprüche seines Daseins auf die Spitze getrieben sind und die objektive Möglichkeit des Umschlagens der Aufhebung der Widersprüche selbst produzieren."(32) Dieser Begriff der Gegenwart, der nach Lukács dialektisch zu nennen

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ist, weil er in seiner Widersprüchlichkeit zugleich als Resultat und Ausgangspunkt in einer Einheit gezeigt wird, ist deshalb brauchbar, weil er einen unvermittelten, verdinglichten Wirklichkeitsbegriff auflöst. Schon in seiner Hegeischen Fassung erweist sich die Gegenwart als einheitliches, komplexes Feld von Vermittlungen bzw. Durchgängen: jede Entäußerung bzw. Verdinglichung kann in ihrer zeitlichen Dimension als „unmittelbar gegebene Daseinsform der Gegenwart" und als „Übergangsform zu ihrer Selbstüberwindung im historischen Prozeß"(33) begriffen werden.

In der Besetzung des Hegelschen Gegenwartsbegriffes zeigt sich Lukács' Verständnis von Dialektik als Auflösung von Verdinglichung (von starren Gegensätzen, Dualismen) durch das Verfahren der Vermittlung. In diesem Begriff der Gegenwart wird das unmittelbar Gegebene, das den Ausgangspunkt des Denkens bildet, zugleich in seiner Vermitteltheit, als Resultat, berücksichtigt; Unmittelbarkeit und Vermitteltheit bilden eine Einheit, indem sie sich als Momente einer prozessualen Gegenständlichkeitsform erweisen.

Die Fruchtbarkeit von Hegels Methode erschöpft sich für Lukács nicht darin, die unmittelbar gegebene Wirklichkeit in ihrem zeitlichen, diachronen Aspekt als Durchgangspunkt eines historischen Vermittlungsprozesses zu zeigen, sondern allein sie ist auch „zur Erkenntnis der Totalität befähigt."(34) Während das vorhegelsche bürgerliche Denken auch unter dem systematischen Aspekt in einer dualistischen Konzeption von Einzelnem und Allgemeinem stecken blieb, hat Hegel mit seiner Unterscheidung von Existenz und Wirklichkeit jede Unvermitteltheit von Einzelnem und Ganzem als Defizit abstrakten Denkens erkannt. Im Rekurs auf Hegels Lösungsweg zeigt Lukács, daß das Verhältnis von Einzelnem und Ganzem als Verhältnis von Moment und Totalität, d.h. als komplizierte Einheit, zu fassen ist, wobei „im einzelnem Moment die Möglichkeit steckt, aus ihm heraus die ganze inhaltliche Fülle der Totalität zu entwickeln."(35) Das Einzelne wird dialektisch erfaßt, indem es in seiner Unmittelbarkeit - als scheinbar isoliertes Phänomen - zugleich als Durchgangspunkt zur Totalität erfaßt wird. Zwischen Einzelnem und Ganzem besteht eine Wechselbeziehung: eine Veränderung der Momente verändert das Ganze, wie umgekehrt eine Veränderung des Ganzen auch eine Veränderung der Teilmomente nach sich zieht. Die dialektische Totalitätskonzeption bewahrt sich dadurch vor den Abstraktionen einer Theoriebildung, die Allgemeines nicht als konkretes Allgemeines erfaßt, die letzlich nicht Geschichte denken kann.

Nachdem die Gegenwart mit ihren Bedeutungskomponenten Unmittelbarkeit und Vermitteltheit als aufgehoben in der Einheit des Geschichtsprozesses und das Einzelne als aufgehoben in einer strukturierten Einheit bzw. als Moment der Genesis aufgezeigt wurden, dürfen nun auch diese beiden Einheiten nicht unvermittelt bleiben. Geschichte und Genesis, d.h. die Ableitung von Begriffen aus Begriffen in einer an Hegels „Logik" orientierten Darstellungsweise, sind in ihrer Einheit als prozessuale Totalität zu erweisen. Nachdem die Dualismen von Unmittelbarkeit und Prozeß bzw. Einzelnem und Ganzem aufgelöst worden sind, muß der Dualismus von Logik und Geschichte als überwindbar erwiesen werden, wenn nicht Geschichte und Logik der Totalität zu einer Dualität auf höherer Ebene führen sollen. Lukács nennt folgende Bedingungen zur Lösung des Problems: „Daß Genesis und Geschichte zusammenfallen oder genauer gesagt bloß Momente desselben Prozesses sind, ist nur dann möglich, wenn einerseits sämtliche Kategorien, in denen sich das menschliche Dasein aufbaut, als Bestimmungen dieses Daseins selbst (...) erscheinen, andererseits wenn ihre Abfolge, ihr Zusammenhang und ihre Verknüpfung sich als Momente des historischen Prozesses selbst, als struktive Charakteristik der Gegenwart zeigen."(36) Die Einheit von Genesis und Geschichte ergibt sich also immer dann, wenn es gelingt, die Gegenwart als gegliederte Totalität und als Prozeß zu fassen. Mit dem Werden der Gegenwart werden auch ihre Bestimmungen; aber das Werden der Gegenwart ist eben deren dynamische Struktur selbst.

Indem sich die Dualismen der Unmittelbarkeit als Durchgänge auf eine höhere Einheit, auf eine Prozeßtotalität, erweisen, sind sie zugleich überformbar geworden. Das heißt vor allem: es wird das Wesen verändernder revolutionärer Praxis faßbar. Indem der unmittelbar gegebene Dualismus von Subjektivität und Objektivität in der demonstrierten Art und Weise überformbar ist, wird der praxisnegierende Objektivismus überwunden und es wird gezeigt, wie es möglich ist, „den subjektiven Willen, Wunsch oder Entschluß dem

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objektiven Sachzusammenhänge der Tatsachen aufzuzwingen."(37)

Wenn Hegel trotz seiner fundamentalen methodischen Bedeutung letzlich doch dem bürgerlichen Denken verhaftet bleibt, so deshalb, weil er die entscheidende Dualität von Theorie und Praxis nicht zu überwinden vermochte. Hegels Theorie bleibt im wesentlichen rein kontemplatives Erkennen der Gegenwart: Er bleibt mit seiner Kritik entweder vor der Gegenwart stehen (Versöhnung mit der Gegenwart als dem Ende der Geschichte) oder er führt die weitertreibende dialektische Bewegung in den rein kontemplativen Sphären zum formellen Stillstand (absoluter Geist). Den entscheidenden Bruch mit diesem Zug Hegeischen Denkens vollzog Marx nach Lukács in seinen „Thesen über Feuerbach," in denen er für die Dialektik die Dimension menschlicher Praxis gewann. Diese nun praktische Kritik der bürgerlichen Gesellschaft ist aber abhängig vom Aufweis des Standpunktes, von dem aus sich die Totalität gesellschaftlicher Zustände einholen läßt. Das ist nur vom Standpunkt des Proletariats möglich, es übernimmt die Funktion des Hegelschen identischen Subjekt - Objekts, weil seine Klassenlage nur in der Erkenntnis der ganzen Gesellschaft begreifbar wird und weil für das Proletariat gilt: „Es kann aber seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft (...) aufzuheben."(38)

Erst diese Wendung in eine Dialektik der proletarisch-revolutionären Praxis, erlaubt es, letzte Dualitäten zu überwinden. Verdinglichungen auch in ihrer elementarsten Ausprägung aufzulösen: die Entgegensetzung von Denken und Sein, die Antinomien in der Erkenntnistheorie. In einer Engführung seiner Motive zeigt Lukacs Praxis, das ist für ihn die Prozessualität von Wahrheit, als Zentrum seines Denkens: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage."(39) Nachdem Lukács die Wirklichkeit als Prozeß gezeigt hat, kann das Einbringen der Wirklichkeit nicht als einmaliger Akt begriffen werden. Das bedeutet einen Bruch mit jeder Art von Abbildtheorie. Abbildlichkeit nimmt sowohl das Denken als auch seinen Gegenstand in dessen Unmittelbarkeit als fertig an; das ist unvereinbar mit

einer Auffassung der Wirklichkeit als eines Gesamtkomplexes. Es muß die dualistische Gegenüberstellung von Denken und Sein überwunden werden. Gegen Engels formuliert Lukacs seinen antidualistischen Prozeßbegriff: „Denken und Sein sind also nicht in dem Sinne identisch, daß sie einander entsprechen, einander abbilden, daß sie miteinander parallellaufen oder .zusammenfallen ..., sondern ihre Identität besteht darin, daß sie Momente eines und desselben real-geschichtlichen dialektischen Prozesses sind."(40) Die Praxis zeigt sich als Ort der Einheit für Genesis und Geschichte, zugleich als Zentrum von Prozessualität überhaupt. Die Gegenwart als Ort der Praxis zeigt, wie Tendenzen der Realität bewußt in eine Zukunft überführt werden können; in diesem Zusammenhang sind „sämtliche Kategorienprobleme als Probleme der sich umwälzenden geschichtlichen Wirklichkeit aufzufassen und darzustellen."(41) Die Zukunft herbeizuführen, ist in einer Prozeßhaftigkeit ernstnehmenden Philosophie einziges Wahrheitskriterium, Wahrheit wird zur Wahrheit des Werdens.

Für das Proletariat ist das Eintreten für die Zukunft immer zugleich auf die Totalität ausgerichtet. Proletarische Praxis ist deshalb „wahre" Praxis; sie löst die historische Unmittelbarkeit auf und leistet auch die Vermittlung zur Totalität als Prozeß. In der proletarischen Praxis findet sich mithin all das, was an dialektischen Durchgängen aufgewiesen wurde in seiner Einheit wieder. Hier wird aus einer abstrakten Möglichkeit eine konkrete Wirklichkeit.(42)

2. Lukács' Interpretation der dialektischen Methode im "Kapital"

Die Marxsche Basiskonzeption, deren Lukacssche Deutung wir bisher rekonstruiert haben, besitzt nach „GuK" keine Gültigkeit unabhängig von der Praktizierung der dialektischen Methode im „Kapital." Marx' Methode, die wichtigsten Kategorien materialistischer Dialektik erhalten erst hier ihren Sinn und ihre Begründung. Daß der Zusammenhang von Unmittelbarkeit und Vermittlung bzw. die Totalitätskategorie entscheidende Elemente der Dialektik sind, ergibt erst bei der Darstellung bzw. Ableitung der kapitalistischen „Bewegungsgesetze." Lukacs betont - und durch diese Einsicht in die theoretisch-

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praktische Funktion des „Kapital" hebt er sich deutlich von Korsch ab -, daß die Marxsche Theorie ihre Funktionen für die Praxis der Arbeiterbewegung erst erfüllen kann, wenn sie die spezifische Organisation der gesellschaftlichen Praxis im Kapitalismus systematisch aufdeckt und kritisiert.

Nun liefert „GuK" keine mikrologische Rekonstruktion des „Kapital." Lukacs versucht, die im „Kapital" praktizierte Methode in ihren verallgemeinerbaren Momenten herauszuarbeiten. Das „Kapital" versteht Lukacs als Theorie bzw. „Selbstbewußtsein" der bürgerlichen Gesellschaft.(43) Wie der gesamte historische Materialismus (auch dessen Basis-Uberbau-Theorem) sind die Kategorien und dialektischen Ableitungen des „Kapital" nur gültig für ihren historisch-begrenzten Gegenstand. Es liegt die Relevanz der Methode des „Kapital" gerade in ihrer strikten Orientierung auf einen konkreten Gegenstand. Um die bürgerliche Gesellschaft rekonstruieren zu können, ist es nötig, die bestimmte, konkrete Unmittelbarkeit als Ausgangspunkt zu nehmen, d.h. die Erscheinungsformen, in denen sich der Kapitalismus im bürgerlichen bzw. proletarischen Alltagsbewußtsein repräsentiert.(44) Die Erscheinungsformen der bürgerlichen Gesellschaft verlangen von einer Theorie, die nicht nur die Oberfläche des Gegebenen reproduzieren will, ein spezifisches Ableitungsverfahren der unmittelbar erfaßbaren Gegenständlichkeitsformen. Marx hat im Kapitel über den „Fetischcharakter der Ware"(45) gezeigt, daß sich „gesellschaftliche Verhältnisse" in der Wertform als „Verhältnisse von Sachen" darstellen. Die Ausführungen über den Fetischcharakter deutet Lukacs nicht als einen Exkurs sondern als den theoretischen Grundgedanken des „Kapital"; er stellt die These auf, „daß das Kapitel über den Fetischcharakter der Ware den ganzen historischen Materialismus, die ganze Selbsterkenntnis des Proletariats als Erkenntnis der kapitalistischen Gesellschaft ... in sich verbirgt."(46)

Das ist so, weil nach Lukacs die ganze kapitalistische Gesellschaft geformt ist durch das Phänomen der Verdinglichung. Unter Verdinglichung versteht Lukacs, daß in der bürgerlichen Gesellschaft ein strikter Dualismus zwischen den Subjekten (den Produzenten) und den gesellschaftlichen Objektivationen (den Produktionsmitteln, den Institutionen usw.), die sich zu einer „zweiten Natur" verselbständigt haben und dominieren, existiert.(47) Der Dualismus von Subjektivität und Objektivität ist nach Lukacs der zentrale Widerspruch des Kapitalismus, der in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten kann: als Widerspruch von Freiheit und Notwendigkeit, Intention und Resultat, partiell-rationaler Planung und Irrationalität des Ganzen, Sein und Bewußtsein, Bedürfnissen und gesellschaftlicher Funktion. Die dualistisch-antagonistische Verdinglichungsstruktur wird durch die kapitalistische Warenproduktion produziert und reproduziert: Verdinglichung ist mithin kein Werturteil, dem der Kapitalismus vor dem Maßstab eines vom Philosophen konstruierten Begriffs des „menschlichen Wesens" verfällt, sondern wesentliches Implikat einer spezifischen Organisation gesellschaftlichen Produzierens.

Marx' besondere Leistung besteht darin, daß er den Ideologien provozierenden Schein der kapitalistischen Erscheinungsformen destruiert. Dieser besteht darin, daß sich die verdinglichten Gesellschaftsformen als der Natur der Sachen angemessene Verhältnisse drapieren - man denke etwa an die Mysterien der trinitarischen Formel.(48) Gegen diese scheinbare Natürlichkeit bürgerlicher Gesellschaftsformen macht Marx die Historizität der gegebenen Gegenständlichkeitsformen geltend, indem er die vorgefundene Unmittelbarkeit in ihren immer schon gegebenen Vermittlungen erklärt. Diese Vermittlung geschieht dadurch, daß Marx (a) jedes scheinbar isolierte Einzelne als Moment einer Totalität, einer Produktionsweise, erweist und (b) die Spezifik jedes scheinbar naturhaften Einzelphänomen« konkret berücksichtigt, indem es als Teil einer Prozeßtotalität fungiert. Wie Lukács das Verfahren der Vermittlung im „Kapital" deutet, ist also näher zu erläutern anhand seines Totalitätsbegriffs und seiner Konzeption von Logik und Geschichte.

Die Grenzen nichtdialektischer Theoriebildung, v.a. die des Empirismus und der Transzendentalphilosophie, sprengt Marx durch sein Verfahren dialektischer Ableitung. Er geht bei der Darstellung der Bewegungsgesetze der kapitalistischen Warenproduktion aus von der Ware, wie sie unmittelbar erscheint, um danach deren Formbestimmtheit näher zu untersuchen. Die Wertform erweist sich als geeigneter und notwendiger Ausgangspunkt zur Rekonstruktion der gesamten kapitalistischen Gesellschaft. Denn: sie stellt abstrakt

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bzw. „keimhaft" die entscheidenden Formbestimmtheiten dieser Gesellschaft dar; und die konkreteren Formen (z.B. die Kapitalform) können systematisch nur aus der Wertform abgeleitet werden. Nach Lukács ergibt die Durchführung der Ableitungen den Nachweis der Einheitlichkeit aller Formbestimmtheiten der kapitalistischen Warenproduktion. Sie sind allesamt Formen einer fundamentalen Abstraktion: wie in der Geldform der Tauschwert eine selbständige Gestalt gegenüber dem Gebrauchswert erhält, so sind alle übrigen sich im Ableitungsgang ergebenden Formen Formbestimmtheiten, die einer Gesellschaft entsprechen bzw. eine Gesellschaft ermöglichen, in der die abstrakte Form gesellschaftlichen Reichtums, das Kapital, sich verselbständigt hat und die Logik der materiellen Produktion bestimmt.

Wir können festhalten: Lukács' spezifische Fassung des Totalitätsbegriffes besteht darin, daß er gesellschaftliche Totalität als Organisation heterogener Praxisformen nach einem homogenisierenden Muster (der Warenform) begreift. Die abstrakte, quantifizierende Form der Ware findet Lukács auch außerhalb der Wirtschaft wieder in der formal-rationalen Organisation der modernen Bürokratie, des bürgerlichen Staates und vor allem in den Lebensformen des kapitalistischen Alltags. Die kapitalistische Produktionsweise ist nach Lukács' Ansicht die bislang einzige Gesellschaftsformation, die eine solche strenge Einheit bildet, während sich die vorkapitalistischen Gesellschaften nicht zu einer komplizierten Einheit (mit einer übergreifenden Formbestimmtheit) strukturieren.(49)

Für Lukács und alle an ihn anknüpfenden Theoretiker ist die Dialektik vor allem die Methode, die die Historizität eines Gegenstandes erfassen kann. Wie wir schon oben gesehen haben, vertritt Lukács keineswegs einen schlichten „Historizismus," der die logische Ableitung als Abbildung der empirisch-historischen Abfolge begreift.(50) Schon er verweist exemplarisch darauf, daß Marx bei der dialektischen Ableitung dem „Industriekapital" systematische Priorität vor dem „Handelskapital" einräumt, obgleich dieses historisch früher wirksam geworden ist.(51) Diese Abweichung vom empirischen Gesichts verlauf ist erforderlich gerade für das Erfassen der Historizität des Phänomens. Nur durch die Einordnung des jeweiligen Phänomens in den Gesamtzusammenhang der Produktionsweise, der wiederum als konkrete Einheit der besonderen Phänomene sich bewähren muß, ist historische Erkenntnis möglich. Liegt in Lukács' Forderung nach dem Zusammenfallen von Genesis, d.h. dialektischer Ableitung von Begriffen aus Begriffen, und Geschichte also offenkundig kein historischer Empirismus vor, so ist zu fragen, was der Sinn seiner Emphase der Geschichtlichkeit ist.

Ein Gegenstand ist nach Lukács als geschichtlicher erwiesen, wenn er als Moment eines Gesamtzusammenhanges und dieser als Produkt darstellbar ist. Geschichtlichkeit in diesem emphatischen Sinne ist allererst mit dem Kapitalismus gegeben, der die Welt der Menschen zu einer komplizierten, antagonistischen, aber zusammenhängenden Einheit hat werden lassen, die nach einer ausschließlich durch gesellschaftliche Praxis konstituierten Logik, nämlich die der kapitalistischen Warenproduktion, verläuft. Die Prozessualität, von der die Marxsche Theorie spricht, differiert vom Werden in der Natur. Es ist eine Prozeßtotalität, die sich durch eine dualistische Subjekt-Objekt-Relation und deren Transzendierung zu einer neuen Subjekt-Objekt-Relation, in der die Subjektivität dominiert, konstituiert.

Die Widersprüche des gesellschaftlichen Seins sind objektive Widersprüche - aber die eines besonderen Typs. Sie sind hervorgebrachte Widersprüche, die an Leistungen von Subjekten gebunden sind. Als solche unterscheiden sie sich von Widersprachen, die in der Natur auftauchen und die Rede von einer Naturdialektik - im Sinne einer objektiven Bewegungsdialektik - als plausibel erscheinen lassen. „Damit ergibt sich die Notwendigkeit der methodischen Trennung der bloß objektiven Bewegungsdialektik der Natur von der geschichtlichen Dialektik, in der auch das Subjekt in die dialektische Wechselbeziehung einbezogen ist.(52) Wenn Engels die materialistische Dialektik am Beispiel von Naturvorgängen demonstriert (z.B. den Umschlag von Quantität in Qualität), so hat er nach Lukács noch keine das Wesentliche treffende Exemplifizierung geleistet. Der Umschlag von Quantität in Qualität vollzieht sich in der Gesellschaft dadurch, daß scheinbar rein objektive Veränderungen auch Veränderungen für die Subjekte bedeuten. Indem so der Zusammenhang von gesellschaftlicher Objektivität und Subjektivität sichtbar wird, verändert sich - mehr oder weniger umfassend - die Beziehung der Subjekte zur

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Gesellschaft. So bewirken die quantitativen Variationen der Ausbeutung einen qualitativen Umschwung, indem sie über die Veränderung des Bewußtseins der Arbeiterklasse eine - mehr oder weniger umfassende - Modifikation des Verhältnisses der Arbeiter zu ihrer Umwelt veranlassen und damit in den kapitalistischen Widerspruch, den Dualismus von Subjektivität und Objektivität, das Element der Transzendierung einfügen.

Die Marxsche Dialektik ist also nach Lukács auf das Problem des Dualismus von Subjekt und Objekt orientiert. Wenn Marx im „Kapital" die moderne Warenproduktion als System der verselbständigten und dominierenden Objektivationen aus einer bestimmten Verfaßtheit gesellschaftlicher Praxis erklärt, so geschieht dies nicht in der Manier der Feuerbachschen Religionskritik. Marx geht nicht davon aus, daß es ein ursprüngliches menschliches Wesen gibt, das in einer Phase entfremdeter Objektivationen seine Potenzen entfaltet, um diese schließlich zu reintegrieren. Es gibt für Marx nach Lukács stets nur Subjekt-Objekt-Relationen, das eine ist gleich-ursprünglich wie das andere. Der Geschichtsprozeß kann daher nicht als Entfaltung einer ursprünglichen Subjektivität gedacht werden, er beinhaltet vielmehr die Entwicklung von Subjekt-Objekt-Relationen, in denen die Objektivationen dominieren, zu einem Subjekt-Objekt-Verhältnis, in dem die Subjektivität zum ausschlaggebenden Faktor wird.

Paradigma der neuen Subjektivität ist die revolutionäre Klassenpraxis des Proletariats. Ist diese definiert als eine Form von Subjektivität, die als dominierender Faktor in der Subjekt-Objekt-Relation füngiert, so kann die proletarische Klassenpraxis nicht deterministisch verstanden werden. Weil Lukács die proletarische Revolution nicht mehr als naturwüchsigen Prozeß interpretiert, wird für ihn das Problem der Bildung proletarischen Klassenbewußtseins das Problem der marxistischen Revolutionstheorie. Wie „GuK." den Lernprozeß des proletarischen Klassenbewußtseins im einzelnen darstellt, können wir hier nicht näher erörtern. Es ist aber festzuhalten, daß Lukács die Bewußtwerdung als „objektive Möglichkeit"(53) der Zuspitzung des kapitalistischen Dualismus im Alltagsleben des Proletariats deutet: der Proletarier erfährt die Trennung von Subjektivität und Objektivität als Spaltung seiner eigenen Person und besitzt daher eine privilegierte Position in Bezug auf die Erkenntnis der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft.

Weil das Klassenbewußtsein aber nur die objektive Möglichkeit des proletarischen Lebens darstellt, ist die aktive Politik einer Partei nötig, deren Hauptaufgabe die Veränderung proletarischer Lebensformen - und dabei die permanente Selbsterziehung der Parteimitglieder - ist.

Lukács' Modell der Dialektik schließt natürlich vor allem eine deterministische Interpretation der Marxschen Überbau-Theorie aus.diedem Überbau bloß eine passive Reflex-Funktion zuspricht. Die abbildtheoretische Gegenüberstellung von „Wirklichkeit" bzw. „Sein" und „Denken" entspricht dem Typ bürgerlicher Philosophie und Wissenschaft. Gerade an der dualistischen Struktur bürgerlichen Denkens läßt sich aber der Zusammenhang von Basis und Überbau nachweisen: das dualistisch-antinomische Denken ist Moment der dualistischen Verfassung der bürgerlichen Gesamtgesellschaft, d.h. ein praktisch-wirksamer, freilich nicht dominierender Bestandteil der Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Ist also bereits das bürgerliche Denken „als Wirklichkeitsform, als Moment des Gesamtprozesses"(54) aufzufassen, so wird eine deterministische Überbau-Theorie vollends ideologisch, wenn sie die Grundlage für eine Bestimmung des proletarischen Klassenbewußtseins abgibt. Dieses Bewußtsein ist in keiner Weise ein passives Epiphänomen, seine Inhalte sind nicht bloße Abbildungen des Gegebenen. „Das, was das Bewußtsein des Proletariats .abbildet,' ist ... das aus dem dialektischen Widerspruch der kapitalistischen Entwicklung entspringende Positive und Neue."(55) Dieses Novum ist aber nicht die gegebene Voraussetzung des Denkens, sondern es „wird - nicht ohne Zutun des Denkens."(56)

3. Kritik an Lukács als Aufweis der Bedingungen für eine positive Rezeption

In „GuK" manifestiert sich ein emphatischer Begriff der Gegenwart als des Orts revolutionärer Praxis, es ist aber darin zugleich eine universalgeschichtliche Konzeption enthalten. Lukács mythologisiert das Proletariat zu der Klasse, die eine vollständige Harmonie von gesellschaftlicher Subjektivität und Objektivität herbeizuführen berufen ist.

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Identisches Subjekt-Objekt der Geschichte kann das Proletariat nur sein, wenn die Dualität von Vergangenheit und Gegenwart vollständig aufhebbar ist und wenn die Natur, mit der auch nach Lukács eine Totalvermittlung in absehbarer Zeit ausgeschlossen ist, aus dem System gesellschaftlichen Handelns praktisch eliminiert ist. Daß Lukács hier einem fragwürdigen Hegelianismus verfällt, daß er eine eschatologische Einschätzung des Proletariats vornimmt, daß er den Zusammenhang von Natur und Gesellschaft weitgehend ignoriert, ist in der Lukács-Literatur bereits hinreichend oft konstatiert worden und bedarf keiner Rekapitulation. U.E. ist die Frage interessanter, ob Lukács' Deutung der Subjekt-Objekt-Relation als des Kerns der materialistischen Dialektik sinnvoll ist.(57) Diese komplizierte Frage kann im folgenden natürlich nur andeutungsweise behandelt werden.

1. Lukács sieht in der Marxschen Dialektik die theoretische Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft, die zugleich das Ende der „Vorgeschichte" markieren soll. Die Dualismen, von denen nach Lukács das Marxsche Werk handelt und die er ihres naturgesetzlichen Scheins beraubt hat, sind historisch entstandene und vergehende Formen gesellschaftlicher Organisation. Mit dem Verschwinden dieser Dualismen wird eine andere Dialektik nötig werden. War es sinnvoll, die dialektische Rekonstruktion der kapitalistischen Widerspreche auf das Problem des Dualismus von Subjekt-Objekt zu orientieren, war der Nachweis der Historizität der Verdinglichung der Leitfaden des „Kapital," so bildet den Gegenstand der „neuen" Dialektik -soweit man diese bereits antizipieren kann - vor allem das Problem der Subjekt-Subjckt-Beziehungen und danach das der Vermittlung von Mensch und Natur.(58)

2. Lukács betont als eigentliche Leistung der Dialektik deren Fähigkeit, geschichtliche Dualismen in eine Prozeßtotalität zu überführen. Wenn Lukács schreibt: „Die Herrschaft der Kategorie der Totalität ist der Träger des revolutionären Prinzips in der Wissenschaft,"(59) so ist dabei seine Deutung der Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft vorausgesetzt. Weil Lukács in dem Dualismus von Subjektivität und Objektivität den einen und letzten Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft sieht, ist für ihn das Verfahren der Vermittlung des Unmittelbaren, das wir oben näher erläutert haben, das Novum der Marxschen Theorie.

3. Lukács' Dialektik-Konzeption steht und fällt mit seiner Verdinglichungstheorie. Nur wenn sich die Mannigfaltigkeit der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft auf den einen Widerspruch von Subjektivität und Objektivität zurückführen läßt, nur wenn die sozialistische Revolution sich als Dominanzwechsel in der Beziehung von Subjekt und Objekt realiter erweist, nur wenn ein geschichtsphilosophischer Begriff von Subjektivität -Lukács verwendet diesen für das Proletariat als Klasse - nicht mit Notwendigkeit ein ideologischer Begriff ist, nur wenn Praxis nicht als subjektlose Relation von Handlungselementen, sondern als Subjekt-Objekt-Vermittlung aufzufassen ist, läßt sich diese Theorie aufrechterhalten. Ob diese Voraussetzungen unterstellt werden können oder nicht, ist - wie der Autor von „GuK" betonen würde - heute nicht anders als im Rahmen einer Analyse des Spätkapitalismus möglich.(60)

4. Die Dialektik-Konzeption von G. Lukács wendet sich pointiert gegen naturalistische Theorien von Geschichte. Gesellschaft ist für Lukács kein sich selbst regelnder Automat, in den die Menschen als Funktionselemente eingefügt sind. Sie kann sich unter der Voraussetzung einer bestimmten Subjekt-Objekt-Relation dem Typ eines Automaten annähern - aber noch der Kapitalismus bleibt Produkt von Subjekten, die freilich von einer gesellschaftlichen Objektivität dominiert werden und sich deren verdinglichter Form anpassen müssen. Aber gerade hier erweist sich die Abhängigkeit des gesellschaftlichen Objektivationensystems von Subjektivität: nur wenn die gesellschaftliche Subjektivität und Intersubjektivität in einer bestimmten Form existiert, kann es eine entsprechende Gestalt der Objektivationen geben. Das „Kapital" und die gesamte Theorie von Marx ist der Versuch zu zeigen, daß der Kapitalismus eine bestimmte Weise von Subjektivität formt, die die Voraussetzung der Reproduktion der Gesellschaft als Kapitalismus bildet, aber diese wegen der Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Warenproduktion nicht perpetuieren kann und daher die objektive Möglichkeit einer neuen Subjektivität konstituiert.

In diesem Zusammenhang ist Lukács' berühmt gewordene Kritik der Engelsschen

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Naturdialektik zu verstehen. Entgegen weitverbreiteten Mißverständnissen verwirft Lukács durchaus nicht pauschal die Möglichkeit einer Naturdialektik.(61) Er insisitiert „nur" darauf, daß die Marxsche Dialektik der menschlichen Geschichte, die Subjekt-Objekt-Relationen zum Gegenstand hat, von der „bloß objektiven Bewegungsdialektik der Natur"(62) unterschieden wird. Der Versuch, dialektische Strukturen, die bei der Rekonstruktion der Gesellschaft entwickelt worden sind, auch in der Natur aufzufinden, führt sehr leicht dazu, einen sehr abstrakten, Heterogenes unzulässig homogenisierenden Dialektik-Begriff zu entwickeln, in dem nicht mehr alle wesentlichen Bestimmungen der Geschichtsdialektik enthalten sind. Wird gar die Geschichtsdialektik nach dem Modell einer objektiven Bewegungsdialektik konzipiert, so ergibt sich der Determinismus der II. Internationale, der die Funktion der Subjektivität im Geschichtsprozeß nicht mehr bestimmen kann, der sich in seiner Tiefenstruktur vom Typus des bürgerlichen Denkens nicht unterscheidet.

D. K. KORSCHS DIALEKTIK-KONZEPTION

1. Das Projekt von „Marxismus und Philosophie" (1923)

Das Leitmotiv von Korschs „Marxismus und Philosophie" (und seiner übrigen Schriften aus den 20er Jahren) ist das Problem der Wiedergewinnung des Marxschen Konzepts der Einheit von Theorie und Praxis. Korsch polemisiert gegen die Theoretiker der II. Internationale, die die Marxsche Theorie evolutionstheoretisch umstilisierten und den Zusammenhang von Theorie und Praxis verwässert oder negiert hatten. Ob Mehring, der revolutionäre Protagonist des theoretischen Marxismus in der deutschen Sozialdemokratie der Vorkriegszeit, Theorieformen wie Religion und Philosophie als „eine Art Aberglauben" apostrophiert (63) oder ob Hilferding die Marxsche Theorie als reine Wissenschaft ohne „Anweisung zu praktischem Verhalten"(64) verstanden wissen will, stets wird Theorie nicht selbst als eine praktische Frage behandelt. Gegen die „Marxisten" der II. Internationale will Korsch Marx' Selbstbestimmung seiner Theorie mobilisieren: Die theoretischen Sätze der Kommunisten „sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung."(65)

Um die Marxsche Theorie als Ausdruck des proletarischen Klassenkampfes richtig verstehen zu können, hält Korsch die Reaktualisierung der Dialektik für notwendig. Nur so kann s.E. die bürgerliche Weise der Theoriebildung überwunden werden und nicht durch eine Betonung des Materialismus. Wie Korsch gegen Lenin und marxistisch-leninistische Philosophen der 2oer Jahre (z.B. gegen Deborin) bemerkt, ist nämlich „als die herrschende Grundrichtung in der bürgerlichen Philosophie, Natur- und Geisteswissenschaft auch heute noch ... jene Richtung anzusprechen, die nicht von einer idealistischen, sondern vielmehr von einer naturwissenschaftlich gefärbten materialistischen Anschauung ausgeht."(66)

Wir können also wichtige Gemeinsamkeiten zwischen Korschs und Lukács' Projekten feststellen: beide wollen das revolutionäre Wesen materialistischer Dialektik zur Kritik der II. Internationale mobilisieren und betonen dabei den Zusammenhang von Theorie und Praxis. Sie fordern ferner beide ein kritisches Studium der Hegeischen Dialektik, um von hierher Marx' Methode besser verstehen zu können.

2. Korschs Bestimmung des „rationellen Kerns" der Hegeischen Dialektik

Korschs Polemik gilt einer naiv-realistischen Bewußtseinstheorie, „jenem naiven Realismus, mit dem der sog. gesunde Menschenverstand, dieser 'ärgste Metaphysiker,' und mit ihm auch die gewöhnliche, positive Wissenschaft der bürgerlichen Gesellschaft zwischen dem Bewußtsein und seinem Gegenstand eine scharfe Trennungslinie ziehen."(67) Zu kritisieren ist solch . eine Bewußtseinstheorie, weil sie die praktische Funktion der Theorie vergißt. Indem Theorie als - wissenschaftlichen Standards genügende - Wiedergabe (Abbildung) von objektiven Bewegungsabläufen verstanden wird, verkümmert Theorie zur bewußtseinsmäßigen Verdopplung naturwüchsiger, determinierter Abläufe.

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Hegels Verdienst besteht laut Korsch in der Überwindung einer „(dualistisch) metaphysischen Auffassung des Verhältnisses von Bewußtsein und Wirklichkeit."(68) Hegels Dialektik erfaßt hingegen das „Zusammenfallen von Bewußtsein und Wirklichkeit.(69) Nach Hegel ist nämlich Theorie (Philosophie) nicht Abbildung von Wirklichkeit sondern selbst Wirklichkeit. Hegels Formel, die Philosophie sei „ihre Zeit in Gedanken erfaßt,"(70) ist nach Korschs Meinung Ausdruck des vorwärtsweisenden Teils der Hegelschen Philosophie. Sie besagt, daß die Theorie Moment der Wirklichkeit selbst ist. Das Verhältnis von Theorie und Wirklichkeit ist demnach nicht das letztlich äußerliche Verhältnis zweier Heterogenitäten, sondern die dialektische Beziehung von Moment und Totalität.

Im einzelnen hat Hegel nach Korschs Darstellung folgende wichtigen Bestimmungen der Dialektik gegeben: (1) „Schon Hegel hatte gelehrt, daß die (philosophisch-wissenschaftliche) Methode nicht eine bloße Form des Denkens ist, der es gleichgültig wäre, auf welchen Inhalt sie angewendet wird."(71) Diese Zuordnung ergibt sich laut Korsch aus der Zuordnung von Geschichte und Theorie: wenn die Theorie ihre Zeit in Gedanken erfassen soll, so kann sie dies nur dann, wenn ihre Kategorien sich durch den Bezug auf den konkreten Gegenstand konstituieren. (2) Korsch sieht in Hegel den vormarxistischen Denker der Geschichte. Hegel habe nämlich „das .Absolute' aus dem Sein sowohl des ,Geistes' als auch der 'Materie' endgültig verbannt und in die dialektische Bewegung der ,Idee' verlegt."(72) Sein Konzept der „Selbstbewegung der Idee"73 bricht mit einer statischen Ontologie und einer ebenso statischen Bewußtseinstheorie, für die Sein und Denken Dualismen sind. (73) Schließlich finden sich bei Hegel Ansätze, die praktische Funktion der Theorie zu bestimmen. Laut Korsch besteht diese bei Hegel darin, „die Vernunft als selbstbewußten Geist mit der Vernunft als vorhandener Wirklichkeit zu versöhnen."(74)

Wir glauben, daß wir damit die Grundzüge der Korschschen Hegel-Rezeption zwar nicht detailliert aber doch sachlich umfassend wiedergegeben haben. Es fällt auf, daß sich Korsch mit den angeführten durchaus allgemeinen Bestimmungen der dialektischen Methode zufriedengibt. Wie die dialektische Entwicklung bzw. Ableitung der Begriffe bei Hegel konkret aussieht, welch ein Widerspruchsbegriff dabei verwandt wird, all dies wird bei Korsch nicht näher diskutiert. Ihn beeindruckt, daß Hegel den Zusammenhang von Theorie und Wirklichkeit aufgewiesen hat. Indem er die Dimension der Geschichte für das Denken gewinnt und die praktische Funktion von Theorie zu bestimmen sucht, wird er zum Vorläufer der Marxschen Theorie.

Marx konserviert nach Korsch die positiven Züge der Hegeischen Dialektik, die in der Bestimmung vom „Zusammenfallen von Theorie und Wirklichkeit" ihr Zentrum haben sollen. Marx' Innovation besteht (!) darin, die „Hegelsche Dialektik von ihrer letzten mystifizierenden Hülle zu befreien, in der dialektischen .Selbstbewegung der Idee' die darunter verborgene wirkliche geschichtliche Bewegung zu entdecken und diese revolutionäre geschichtliche Bewegung als das einzige jetzt noch übrigbleibende .Absolute' zu proklamieren."(75) Neben und in engem Zusammenhang mit der Marxschen Entdeckung der materiellen Praxis als der Realbasis des Gesamtprozesses nennt Korsch Marx' Überwindung des letzlich kontemplativen Status der Hegeischen Theorie als wesentliches Novum. Während Hegel die Aufgabe der Philosophie im Begreifen dessen, was ist, erblickt,(76) ist die materialistische „proletarische" Dialektik wesentlich Kritik. Nur so kann die Marxsche Theorie ihre Hauptdifferenz zu Hegel realisieren, die darin besteht, „daß die .proletarische Dialektik' Marxens eben diejenige Form ist, in der die revolutionäre Klassenbewegung des Proletariats ihren angemessenen theoretischen Ausdruck findet."(77)

3. Korschs Versuch einer Bestimmung der Marxschen Dialektik

Um die Dialektik, das entscheidende Symptom der Marxschen Methode, zu erläutern, bezieht sich Korsch intensiv auf die Marxschen Schriften vor 1848 (vor allem auf „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung,"78 auf die Feuerbach-Thesen79 und das „Kommunistische Manifest.(80) Marx hat in der „Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" das Verhältnis von Theorie und Praxis reflektiert. In der Terminologie dieser frühen Schrift(81) macht Marx darauf aufmerksam, daß die „theoretische Partei" die Philosophie

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nicht verwirklichen könne, ohne sie praktisch aufzuheben, und daß die „praktische Partei" die Philosophie nicht aufheben könne, ohne sie theoretisch aufzuheben.(82) Korsch sieht hier eine materialistische Bewußtseinstheorie angelegt, die auch die Frage der Theorie als praktische, wirkliche Probleme anerkennt.(83) Von hierher läßt sich s.E. die Marxsche Theorie begreifen: „Theoretische Kritik und praktische Umwälzung, und zwar diese beiden als untrennbar zusammenhängende Aktionen ... - in diesem Worte ist das Prinzip der neuen, materialistisch-dialektischen Methode ... von Marx und Engels in der präzisesten Form ausgesprochen."(84) Korsch insistiert also mit Recht darauf, daß die Marxsche Theorie und Philosophie wesentlich „geistige Aktionen gegen die Bewußtseinsformen der bisherigen bürgerlichen Gesellschaft"(85) sind, wobei die „geistige Aktion" ein eigenständiger Bestandteil der umfassenden revolutionären Praxis ist, die sich aus ökonomischen, politischen und „geistigen" Aktionen zusammensetzt. Diese deutliche Bestimmung der Theorie als „Aktion" muß als aktualisierbare Wahrheit des Korschschen Marxismus gedeutet werden.

Theoretische Aktion bzw. Teil der revolutionären proletarischen Praxis kann die Marxsche Theorie nur sein, weil sie - schon im „Manifest" - „eine alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens als Totalität erfassende Theorie der sozialen Revolution" darstellt.(86) Nur als kritische Theorie der kapitalistischen Totalität (als einer Einheit von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein), nicht als ökonomische Einzelwissenschaft, kann der Marxismus zur Theorie der proletarischen Revolution avancieren. Korsch gibt keine genaueren Erklärungen, wie Marx die dialektische Darstellung der kapitalistischen Bewegungsgesetze gelingt. Er begnügt sich mit dem Hinweis, daß Marx das Hegeische Konzept der Form-lnhalt-Identität rezipiert und weiterentwickelt. Diese historische Konkretheit der Marxschen Methode entspricht der - laut Korsch - zu konstatierenden Grundbestimmung der Marxschen Theorie als Ausdruck der proletarischen Revolutionsbewegung.(87)

Korschs Schriften der 20er Jahre verraten wenig Interesse an der Logik des „Kapital." Die bislang bezeichneten Spezifika der materialistischen Dialektik sind nach Korsch bereits in den Marxschen Frühschriften - mehr oder weniger umfassend - präsent.(88) Gleichwohl versucht Korsch in „MuPh" noch das das Marxsche Spätwerk als Fortschritt zu erweisen.(89) Das „Kapital" ist s.E. die Vervollkommung der materialistisch-dialektischen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft, die bereits in den Frühschriften als Kritik der ganzen bürgerlichen Sozietät angelegt ist. Im „Kapital" zeigt Marx konkret und in entwickelter Form, „daß sowohl alle Rechtsverhältnisse und Staatsformen als auch alle gesellschaftlichen Bewußtseinsformen nicht aus sich selbst ... zu begreifen sind, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln."(90)

Die überraschende und enttäuschende Tatsache, daß Korsch das Marxsche Spätwerk nur in einer überaus abstrakten Weise rekonstruiert, gilt es zu erklären. U.E. liegt ein wichtiger Grund darin, daß Korsch das Verhältnis der Frühschriften zum Spätwerk letzlich als einfache Einheit bzw. Kontinuität deutet. Daß das „Kapital" - mit seiner systematischen Darstellung der Logik der kapitalistischen Produktionsweise (91) - das entscheidende Paradigma der Marxschen Dialektik ist, wird von Korsch bei seinem Versuch einer Rekonstruktion der Marxschen Methode nicht zur Geltung gebracht.

Überdies kündigt sich bereits in den Korschschen Schriften der 20er Jahre eine problematische Eigenart von dessen Theorieverständnis an. Korsch sieht schon in „MuPh" das "Kapital" partiell als defizitäre Theorieform an: es ist s. E. Ausdruck einer relativ ruhigen Phase des Klassenkampfes. Die Funktion des „Kapital", die Mechanismen der kapitalistischen Produktionsweise im Allgemeinen zu erhellen, wird von Korsch nicht wirklich reflektiert. Dieser Mangel erweist sich als folgenreich für Korschs an sich interessanten Versuch, die Marxsche Methode „auf die gesamte Geschichte des Marxismus" selbst anzuwenden.(92) Korsch wendet sich richtig dagegen, die Entwicklung der Marxschen Theorie(93) bzw. die des Revisionismus ideengeschichtlich bzw. wissenschaftsintern zu beschreiben. Er möchte den historischen Materialismus zur Geltung bringen, indem er die Theorie als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse deuten will. So interpretiert er die Marxschen Schriften vor 1848 und v.a. das „Kommunistische Manifest" als theoretische Entsprechungen der politisch-revolutionären Situation vor 1848,(94) als „unmittelbar revolutionären Kommunismus.(95) Im „Kapital" manifestiert sich nach Korsch der Zusammenhang von Theorie und Praxis weniger deutlich, aber auch hier findet

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Korsch noch eine Theorie revolutionärer Praxis. „Die Veränderung besteht nur darin, daß in der späteren Phase die verschiedenen Bestandteile dieses Ganzen (d.h. des Ganzen der sozialen Revolution, d.V.), Ökonomie, Politik, Ideologie-wissenschaftliche Theorie und gesellschaftliche Praxis, weiter auseinandertreten. (96) Daß im „Kapital" der Zusammenhang von Theorie und Praxis nur in vermittelterer Form als im „Manifest" auftritt, begreift Korsch als Ausdruck des geringeren Niveaus der Klassenauseinandersetzungen nach 1848.

Korschs hier sehr komprimiert dargelegte „dialektische" Auffassung der Konnexion von Bewußtseinsformen und materieller bzw. politischer Praxis bescheidet sich offenkundig damit, eine eher oberflächliche Phänomenologie der politischen Praxis (des Entwicklungsgrads des Klassenkampfes) zur Erklärung einer ihr entsprechenden Bewußtseinsform heranzuziehen. Die „Oberflächlichkeit" Korschs hat ihren systematischen Grund u.E. darin, daß er die politische Praxis selbst nur in ihren Erscheinungsformen, nicht in ihren komplizierten Vermittlungen zur materiellen Produktion zur Kenntnis nimmt.(97)

4. Kritik an Korsch: Fortdauernde Aktualität und problematische Entwicklung

Korsch hat, wie gegenwärtig nicht selten hervorgehoben wird, sich von der problematischen Lukácsschen Auffassung des Proletariats als des identischen Subjekt-Objekts der Geschichte bzw. von dessen universalgeschichtlichen Hypostasierungen freigehalten. Freilich hat Korsch kein Äquivalent zu dem Lukacsschen Versuch einer Rekonstruktion des „Kapital" anzubieten. Das heißt aber doch, daß Korsch die Marxsche Methode in ihrem praktischen Vollzug kaum studiert hat und sich also mit einer abstrakten Darstellung der materialistischen Dialektik begnügt. Die Konsequenz der praktisch ausgebliebenen „Kapital'-Rezeption haben wir gesehen: Korsch kann die aktuelle politische Praxis des Proletariats selbst nur abstrakt erfassen, d.h. ohne deren Ableitung aus der Logik kapitalistischen Produzierens.(98)

Korschs auch heute noch aktuelles Projekt, den Marxschen Theorietyp nicht wissenschaftsintern sondern aus der Beziehung zur proletarischen Praxis zu erfassen, um so zu einer genauen Bestimmung der Funktion und Struktur „geistiger Aktionen" zu gelangen, ist aber damit von ihm selbst nicht befriedigend durchgeführt worden. Die späteren Schriften Korschs bringen in den angeführten Problempunkten keinen Fortschritt.(99) Korschs später Versuch, die dialektische Methode des „Kapital" zu bestimmen, ist noch problematischer als sein Ansatz in „MuPh." Der „späte" Korsch hebt als Zentrum der Marxschen Methode im „Kapital" deren „streng erfahrungswissenschaftliche Haupttendenz" hervor.(100) Dagegen scheint ihm Marx' Gebrauch der Begriffe „Widerspruch" bzw. „Quantität - Qualität -Umschlag" „vom Standpunkt des modernen, besonders an der Mathematik und den exakten Naturwissenschaften geschulten Denkens (wenig d.V.) befriedigende Lösungen des hier vorliegenden Problems" darzustellen.(101) Dieser noch mehr „gleichnishafte" Gebrauch verweist nach Korsch auf das Vorhandensein entscheidender Probleme, die auf ihre „streng erfahrungswissenschaftliche" Lösung warten.(102)

ANMERKUNGEN

1) Duncker, Ein neues Buch über den Marxismus.

2) Im folgenden beschränken wir uns auf einige äußerst schematische Bemerkungen zur Lukacs- und Korschen-Rezeption in der BRD.

3) Lukács, Zur Frage des Parlamentarismus.

4) Vgl. Krahl, Konstitution und Klassenkampf 199 ff.

5) a.a.O., 31 ff; Autorenkollektiv, Georg Lukács.

6) Coletti, Marxismus als Soziologie, S. 80-81; Grenz, Adornos Philosophie in

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Grundbegriffen.

7) Vgl. neuerdings de la Vega, Ideologie als Utopie. ' Vgl. Althusser, Das Kapital lesen, vol. i, 157 ff.

9) Vgl. die Beiträge von Negt, Buckmiller und Marramao in: C. Pozzolli, Jahrbuch Arbeiterbewegung, Band i.

10) Ähnliches gilt u.E. auch für Korschs politische Schriften und deren basisdemokratische Ansätze.

11) Korsch, Karl Marx; Korsch, Die dialektische Methode im „Kapital."

12) Neben „Geschichte und Klassenbewußtsein" berücksichtigen wir vor allem folgende Schriften Lukacs': Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken; Moses Hess und die Probleme der idealistischen Dialektik; ferner die Rezensionen zu N. Bucharin, Theorie des historischen Materialismus und Die neue Ausgabe von Lassalles Briefen.

13) Ansätze zur Erforschung des Lukácsschen Frühwerks bieten die Arbeiten von Apitzsch. Goldmann, Kammlcr und die Studien der „Budapester Schule" (Heller, Feher, Markus, Radnoti).

14) Vgl. Lukács, Die Erkenntnistheorie Lenins und die Probleme der modernen Philosophie, S. 127-160.

15) Vgl. Lukács, „Der junge Hegel." GL W, vol. 7,656 ff. Lukács kritisiert nach 1930, daß er in „GuK" unter dem Terminus „Verdinglichung" Heterogenes zusammenfaßte, nämlich Vergegenständlichung und Entfremdung.

16) Bisher sind drei Kapitel der Ontotogie erschienen: „Hegels echte und falsche Ontolo-gie"; „Ontologie - Marx"; „Ontologie - Arbeit."

17) Vgl. v.a. Lukács, „Die Eigenart des Ästhetischen." GLW, vol. n, S. 33-252 und vol. 12, S. 267-329. A. Heller, wohl Lukács' bedeutendste direkte Schülerin, versucht die Anregungen der „Ästhetik" weiterzuentwickeln in ihrem Buch über Das Alltagsleben und in einem weitgespannten Projekt zur Sozialanthropologie.

18) Vgl. etwa die Engels-Kritik in Lukacs, „Hegels echte und falsche Ontologie," 48 ff.

19) Eine materialistische Ableitung der Lukácsschen oder der Korschschen Konzeption soll damit natürlich noch nicht geleistet sein.

20) Lukács, Der Triumph Bernsteins, S. 591.

21) Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, vol. 2, S. 630.

22) Korsch, Die materialistische Geschichtsauffassung (1930), S. 35.

23) Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, vol. 2, S. 630. 2* Korsch, Die materialistische Geschichtsauffassung, S. 32.

25) Das Nicht-Verstehen der Marxschen Dialektik verbindet Kautsky mit Bernstein und dem Austromarxismus.

26 Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, vol. 2, S. 68l.

27) a.a.O., vol. 1,26 ff.

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28) Lukács, GuK, S. 5-11.

29) a.a.O.,S. li.

30) a.a.O., S. 37.

31) a.a.O., S. 14.

32) Lukács, Moses Hess, S. 676.

33) a.a.O., S. 677.

34) Lukács, GuK, S. 186.

35) a.a.O., S. 187.

36) a.a.O., S. 175.

37) a.a.O., S. 37.

38) a.a.O., S. 34-35

39) Lukács zitiert die 2. Feuerbach-These GuK, S. 217.

40) Lukács, GuK, S. 224.

41) a.a.O., S. 223 n.

42) a.a.O., S. 224.

43) a.a.O., S. 235.

44) a.a.O., S. 165-166.

45) Vgl. Marx, „Das Kapital," Bd. i. MEW, vol. 23, 85 ff.

46) Lukács, GuK, S. 186.

47 Vgl. Lukács, GuK, S. 97-98.

48) Vgl. Marx, „Das Kapital," Bd. 3. MEW, vol. 25,822 ff.

49) Vgl. Lukács, GuK, 66 ff.

50) Das unterstellt Althusser, Das Kapital lesen, 157 ff. *

51) Vgl. Lukács, GuK, S. 200-201.

52) Lukács, GuK, S. 226-227.

53) Vgl. Lukács, GuK, S. 85, S. 228 und passim. Das „objektiv mögliche" Klassenbewußtsein kann nicht empirisch konstatiert werden, es wird vom revolutionären Theoretiker, dessen Theorie stets Ausdruck der revolutionären Klassenpraxis des Proletariats ist, in der Weise der „Zurechnung" ermittelt. Vgl. Lukács, GuK, 57 ff.

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54) Lukács, GuK, S. 222.

55) a.a.O.,S. 224.

56) a.a.O., S. 223.

57) L. Goldmann hat u. W. als einziger ernsthaft einen solchen Versuch unternommen.

58) Vgl. Lukács, GuK, S. 225.

59) Lukács, GuK, S. 39.

60) Zur Kritik des strukturalistischen Praxis-Begriffs vgl. A. Honneth, Geschichte und Interaktionsverhältnisse, 405 ff.

61) Uns erscheint es notwendig, die bekannte Fußnote GuK, S. 17, in der Lukács Engels' „Darstellung der Dialektik" kritisiert im Licht der präziseren Ausführungen GuK, 225 ff zu verstehen, auf die wir uns im Text beziehen. Eine vergleichende philologische Darstellung beider Textstellen möchten wir an dieser Stelle nicht versuchen.

62) Lukács, GuK, S. 226.

63) Korsch, Marxismus und Philosophie, (= MuPh), 74 ff.

64)"Korsch, MuPh, S. 102.

65) Marx, „Manifest der Kommunistischen Partei." MEW, vol. 13, S. 475.

66) Korsch, Der gegenwärtige Stand des Problems ,MuPh'," S. 59.

67) Korsch, MuPh.S. 126.

68) a.a.O., S. 127.

69) a.a.O., S. 128 und passim.

70) Hegel, „Grundlinien der Philosophie des Rechts." Werke in zwanzig Bänden, vol. 7, S.26.Zitiert: Korsch, MuPh,S. 85. ' .

71) Korsch, MuPh.S. 129.

72) Korsch, Der gegenwärtige Stand, S. 6l.

73) Ebenda.

74) Korsch, MuPh, S. 115.

75 Korsch, Der gegenwärtige Stand, S. 6l.

76 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 26. Zitiert: Korsch MuPh, S. 133.

77) Korsch, Die Marxsche Dialektik, (März 1923), S. 168.

78) Korsch, MuPh, passim.

79) Vgl. Korsch, Der Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung (1922), S.

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152.

80 Vgl. Korsch, MuPh, S. 98 und passim.

81) Vgl. Marx, „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung." MEW, vol. l, S. 383-384

82) Vgl. Korsch, MuPh, S. 114.

83) a.a.O., S. 112: „Für den modernen dialektischen Materialismus ist es wesentlich, daß er solche geistigen Gebilde, wie die Philosophie und jede andere Ideologie, vor allem einmal als Wirklichkeiten theoretisch auffaßt und praktisch behandelt."

84) Korsch, MuPh, S. 133-134.

85) a.a.O., S. 136.

86) a.a.O., S. 110.

87) Das so zu gewinnende historische Selbstverständnis der materialistischen Dialektik impliziert auch eine historische Selbstbegrenzung des Marxschen Theorietyps. Vgl. Korsch, Über materialistische Dialektik (\ 924) S. 131.

88) Vgl. Korsch, MuPh, S. 98.

89) a.a.O., 123 ff.

90) a.a.O., S. 124.

91) Dies ist eine sehr vereinfachende und nur für unseren Zusammenhang bnuchtwn Bestimmung.

92) Korsch, MuPh, S. 97.

93 Korsch nennt in MuPh als Hauptetappen der Marxschen Theorie-Entwicklung den Zeitraum vor und nach 1848. Vgl. MuPh, S. 98-99.

94) a.a.O., S. 91-91.

95) a.a.O., S. 99.

96) a.a.O., S. 100.

97) Die Abstraktheit der Analyse entwertet auch Korschs interessanten Versuch einer Kritik von Lenins „Materialismus und Empiriokrizismus." Korsch liest Lenins Schrift als Reproduktion des dualistischen Materialismus des 18. Jahrhunderts; eine Reproduktion, die für die theoretischen Klassenkämpfe im relativ unentwickelten Rußland relevant werden konnte, deren positive Bedeutung aber sehr begrenzt ist. Vgl. Korsch, Der gegenwärtige Stand S. 57 ff.

98) Autorenkollektiv, Karl Korsch.

99) Wir sehen in der weiteren Entwicklung von Korsch eine Parallelität von dessen Entfremdung von der kommunistischen Bewegung und der Marxschen Theorie. Hatte er noch in seinem Marx-Buch eine „Kapital"-Lesart in der von GuK vorgczeichneten Intcr-pretationsrichtung vorgelegt (vgl. Korsch, Karl Marx S. 101), so rückt er insgesamt in seiner Entwicklung nach 1930 von dem Versuch einer Rekonstruktion der Marxschen Dialektik ab und tendiert zu einer Thcorieauffassung auf der Basis eines weiterentwickeltcn

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Empirismus. Schon 1931 hatte Korsch die Marxsche Theorie als eine „Tatsache der Vergangenheit" bezeichnet (Korsch, Krise des Marxismus, S. 172), weil sie nicht mehr den adäquaten Ausdruck der Arbeiterbewegung darstelle, sondern in einer eher äußerlichen Beziehung zu den wirklichen Klassenauseinandersetzungen stehe. Korschs Abrücken von der Marxschen Theorie entspricht also wieder genau seiner Auffassung des Verhältnisses von Theorie und Praxis als einer unmittelbaren Ausdrucksbeziehung.

100) Korsch, Die dialektische Methode im „Kapital," S. 178.

101) Ebenda.

102) Ebenda.

Editorische Anmerkung

Der Aufsatz ist das 6. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beitráge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 135-160

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MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIKBEITRÁGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von HEINZ KIMMERLE

04/07

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KAPITEL VII

ERNST BLOCHRUTH GROSSMASS

Zur Kapitelübersicht

A. ZUR REZEPTION DER BLOCHSCHEN DIALEKTIK-KONZEPTION

1. Schwierigkeiten einer Auseinandersetzung mit den Texten Blochs

Eine Darstellung der Blochsen Dialektik-Konzeption, die dem Anspruch wissenschaftlicher Genauigkeit gerecht werden und zugleich einführend sein, d.h. das Vertrautsein mit dem Denken Blochs nicht bereits voraussetzen will, hat mit spezifischen Schwierigkeiten zu kämpfen, die weniger mit inhaltlichen Problemen seiner Dialektik-Auffassung zu tun haben, als vielmehr durch das Spezifikum seiner Texte, seiner Theoriebildung bzw. seiner Begrifflichkeit hervorgerufen werden. Exemplarisch läßt sich diese Schwierigkeit von der Seite der Rezeption her erläutern:

Reaktionen auf Texte Blochs sind häufig - und dies gilt bis in die wissenschaftliche Auseinandersetzung hinein - emotional eingefärbt. Welche Emotionen dabei eine Rolle spielen, hängt oft eher vom Leser und seinem Leseinteresse ab als von den jeweiligen Texten. Daß jedoch Emotionen angesprochen werden, hängt unmittelbar mit der Blochschen Theoriebildung, seiner Begrifflichkeit, bzw. mit Blochs Denkstil zusammen. Und zwar insofern, als Bloch durchaus das Ziel hat, auch auf der Ebene der Theorie

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sowohl (emotional) zu „bewegen" als auch ,,in die Phantasie zu greifen.44

Ob er Analysen kultureller Phänomene, theoriegeschichtlicher Entwicklungen oder politischer Tendenzen unternimmt oder seinen philosophischen Standort zu explizieren sucht, immer wählt er in Theoriestatus und Begrifflichkeit die Ebene relativ allgemeiner (philosophischer) Reflexion mit der Möglichkeit, durch Bilder Tendenzen anzudeuten, Zusammenhänge zu umreißen und emotional-persönliches Engagement (Parteilichkeit) sowohl durchscheinen zu lassen als auch anzusprechen.

Diese Intention wird in den Arbeiten Blochs angemessen realisiert. Sein Verfahren hat jedoch auch zum Resultat, daß seine Aussagen einer analytisch präzisen und begrifflich eindeutigen Auseinandersetzung Widerstand entgegensetzen. Diese „Widerständigkeit" ist häufig Anlaß, die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Theorie Blochs abzubrechen.

So zu verfahren scheint mir jedoch falsch zu sein. Denn zum einen gibt es zwischen diesem „Denkstil" und dem Sachthema Blochs einen engen Zusammenhang: Bloch will das Noch-Nicht-Vorhandene, das „nur" Mögliche in seinem Denken mit erfassen können. Damit beschreitet er - in seiner eigenen Metaphorik ausgedrückt - offenes, noch nicht wegsam gemachtes Gelände. Unwegsames betreten, heißt aber gerade, keine festen Wege vorzufinden (auch nicht die Wege der begrifflichen Eindeutigkeit). Wo die Sache noch unentschieden ist, kann der Begriff nicht fest sein. So ergibt sich im Denken Blochs die Offenheit seiner Begrifflichkeit von der Sache her mit einer gewissen Notwendigkeit.

Zum anderen sind das sachliche Anliegen Blochs und die in seiner Realisierung entwickelte Dialektik-Konzeption inhaltlich interessant genug, um sich den Schwierigkeiten zu stellen, die sich für eine Klarheit und Eindeutigkeit anstrebende Auseinandersetzung ergeben.

Im folgenden wird deshalb versucht, die Dialektik-Konzeption Blochs herauszuarbeiten und darzustellen. Dabei soll sowohl das Spezifikum deutlich werden als auch der Versuch gemacht werden, größere Klarheit dadurch zu gewinnen, daß „Wege" eindeutig nachgezeichnet und „Unwegsamkeiten" ausgegrenzt werden.

Um dies zu erreichen, bedarf es auf der methodischen Ebene zweier Kunstgriffe:

a) Die Gliederungsstruktur der Darstellung folgt nicht dem Gedankengang Blochs, sondern einem abstrakt-analytischen Ableitungszusammenhang und verläuft in folgenden Schritten:

Philosophiebegriff BlochsBlochs Dialektikkonzeption Grundkonzeption und AnknüpfungspunkteElemente von DialektikMaterialisierung der Dialektik (bzw. dialektische Fassung der Materie)Umsetzung von Dialektik im eigenen Denken Rückbezug auf Blochs philosophische Gesamtkonzeption

b) Die drei Ebenen, auf denen Bloch sich zur Dialektik (bzw. dialektisch) äußert - allgemeine Aussagen zur Bedeutung von Dialektik, Detailexplikationen, methodische Wendungen - und die von Bloch selbst nicht explizit aufeinander bezogen werden, werden in einen direkten inhaltlichen Zusammenhang gestellt, wobei der leitende Bezugspunkt das Grundanliegen Blochs ist.

Bevor die so angelegte Darstellung beginnt, ist noch kurz auf die Beurteilung Blochs in der Sekundärliteratur und auf die Textgrundlage der Darstellung einzugehen:

2. Die Beurteilung der Theorie Blochs in der Sekundärliteratur: Kaum Beiträge zur Dialektik-Konzeption

Die Auseinandersetzung um Blochs Philosophie, wie sie in der Sekundärliteratur geführt

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wird, orientiert sich vor allem an den großen Themen seines Denkens: Hoffnung, Antizipation, Utopie bzw. die Beurteilung politischer und kultureller Entwicklungen und Phänomene. Im Mittelpunkt der Diskussionen um Bloch stehen dadurch immer wieder Gesamteinschätzungen seiner philosophischen Reflexion und - damit verbunden - Versuche, sein Denken bestimmten Richtungen oder Lagern zuzuordnen. Zu einem eindeutigen Ergebnis haben diese Versuche bis jetzt nicht geführt.

Die Einschätzungen reichen von der Einordnung Blochs als genuin marxistischem Theoretiker(1) bis zur Kritik seiner Philosophie als revisionistisch und der Zuordnung seiner Konzeption zum Existenzialismus.(2)

Daneben gibt es zahlreiche Versuche, Blochs Philosophie, ihren utopisch-eschatologischen Ausgangspunkt verabsolutierend, theologisch-christlichen Konzeptionen zuzuordnen,(3) oder aber sein Anliegen zu „domestizieren" und seine Theorie dadurch für einen demokratischen Sozialismus im Sinne der westdeutschen Sozialdemokratie nutzbar zu machen.(4) Gemessen an solchen Einschätzungsversuchen, sind die Ansätze zu einer differenzierteren Untersuchung und Kritik Blochs auch in Einzelaspekten wenig zahlreich. Genannt werden sollen hier, da sie auch für unser im weiteren zentrales Thema, die Dialektik-Konzeption Blochs, wichtige Hinweise enthalten:

- Die Analyse von H. H. Holz,(5) die versucht, den Ansatzpunkt Blochs ernstzunehmen und von da aus die Bedeutung und die Grenzen seiner philosophischen Spekulation zu verdeutlichen. (In Zusammenhang damit gibt Holz wichtige Hinweise für die Beurteilung der Gemeinsamkeiten und der Differenzen zwischen Marxismus und der Philosophie des „Prinzips Hoffnung."(6)

- J. v. Kempskis kurzer Beitrag „Hoffnung als Kritik,"(7) der Blochs traditionskritische Haltung untersucht und in Bezug auf Marx problemati-siert;

- Th. W. Adornos Artikel „Große Blechmusik,"(8) der Blochs Sprach- und Denkstil zu erläutern versucht.

Zur Dialektik-Konzeption Blochs schließlich, die auch er selbst nie zum Thema einer Arbeit gemacht hat, liegen kaum Untersuchungen vor, auf die sich die folgende Darstellung stützen kann. H. Mehringers und G. Mergners Bemerkungen über „Ernst Bloch und die Dialektik der Natur"(9) sind eher merkwürdig als instruktiv, wird hier doch der Versuch gemacht, Blochs Rekurs auf Engels' Dialektik-Konzeption ohne Auseinandersetzung mit der sachlichen Fragestellung auf eine charakterliche intellektuelle Verwandtschaft zurückzuführen.

M. Buhrs Kritik, Blochs Dialektik-Verständnis sei unzulässig Ideologisch,(10) geht über diese Feststellung nicht hinaus. Wichtige Ansatzpunkte zur Klärung eines Aspektes der Dialektik-Konzeption Blochs, nämlich des Verhältnisses von Naturdialektik und gesellschaftlicher Dialektik liefert dagegen H. Kimmeries Aufsatz „Materie und Dialektik,"(11) der allerdings gerade in seinen weiterführenden kritischen Überlegungen über die Explikation der Blochschen Position hinausgeht.

Auf Grund dieses Standes der Untersuchung der Blochschen Dialektik-Konzeption kann die folgende Darstellung nur der erste Schritt einer Explikation sein. Der Anspruch einer systematischen Rekonstruktion kann nicht erhoben werden, es werden vielmehr notwendig Lücken bleiben, insbesondere im Detail konkreter dialektischer Analysen.

Obwohl die Frage der Zugehörigkeit Blochs zur marxistischen Tradition umstritten ist, geht die folgende Untersuchung davon aus, daß es sich bei Blochs Beitrag zur materialistischen Dialektik um einen Beitrag innerhalb der marxistischen Theorie handelt. Denn Bloch hat sich eindeutig dem Marxismus zugeordnet, und auch seine Ausführungen zur materialistischen Dialektik ordnen sich in die marxistische Debatte um Dialektik ein, sind Explikationen der marxistischen Dialektik mit jeweils deutlichem Rückbezug auf Marx.

Eine Darstellung der Blochschen Dialektik-Konzeption hat diesen Anspruch zunächst

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ernstzunehmen und davon ausgehend, seine Position zu verdeutlichen.

3.Textgrundlage für die Darstellung der Dialektik-Konzeption Blochs (1951 ff.)

Da Bloch das Thema Dialektik nicht zum Gegenstand einer eigenständigen Arbeit gemacht hat, muß sich die folgende Darstellung auf einzelne Passagen in den zentralen philosophischen Arbeiten Blochs stützen.

Einzubeziehen sind: „Subjekt-Objekt (1951). das Erläuterungen zu Hegel bietet, „Das Prinzip Hoffnung" (1954-59), in dem Bloch seine philosophische Gesamtkonzeption entwickelt, „Tübinger Einleitung in die Philosophie" (1963/64), die zur Philosophie hinführen und in das Philosophieren Blochs einführen soll, und „Das Materialismusproblem" (1972), in dem Bloch diesen zentralen Aspekt seiner Konzeption aufgreift, um ihn detailliert aufzuarbeiten.

Thematisch einzubeziehen wäre auch Blochs 1975 erschienenes Werk „Experimentum Mundi," das am Leitfaden der Frage nach der kategorialen Strukturierung des Denkens eine Metareflexion seiner Gesamtkonzeption leistet. Für die Fragestellung der Dialektik finden sich darin insofern neue Überlegungen, als auch die dialektischen Bestimmungen auf der Ebene der Metareflexion unter dem Gesichtspunkt ihrer kategorialen Einordnung neu bedacht werden. Dieser Aspekt der Blochschen Konzeption kann im Rahmen einer ersten Explikation seines Dialektik-Modells indessen nicht berücksichtigt werden. . - . '..-..

B. DER THEORIESTATUS DER BLOCHSCHEN ANALYSEN

Für ein angemessenes Verständnis des Blochschen Beitrages zur materialistischen Dialektik ist es zunächst notwendig, Klarheit darüber zu gewinnen, welchen theoretischen Status seine Arbeiten haben. Die Beantwortung der sich daraus ergebenden Fragen nach der Abstraktions- bzw. Konkretionsebene seiner Reflexion, nach dem Theoriekontext, in den sein Denken eingreift, und nach der Argumentationsstruktur seiner Analysen soll im folgenden durch eine Klärung des Philosophiebegriffs bei Bloch sowie der Sprach- und Denkstruktur seiner Philosophie versucht werden.

1. Zum Philosophiebegriff

Blochs Theorie ist - von ihm selbst auch so benannt - Philosophie. In der Vorbemerkung zur „Tübinger Einleitung in die Philosophie" beschreibt er die Tätigkeit des Philosophierens als Nachdenken und Reflexion über die „Sachverhalte ... des (uns betreffenden) noch unentschiedenen Prozesses."(12) Dieses Nachdenken versetzt mitten in den Prozeß, greift in ihn ein, erfolgt also nicht von einem quasi-neutralen Standort aus, der sich als „erst recht befangen" erweist, sondern ist standpunktgebunden, die Person und Perspektive des Nachdenkenden einbeziehend, d.h. parteilich.

Gegenstand dieses Nachdenkens sind die Welt als prozessierender Gesamtzusammenhang und die Rolle des Menschen in ihr.

Aufgabe der Philosophie ist es, dem Menschen (als immer Lernendem) in der Welt Orientierung zu liefern und den Entwicklungszusammenhang Welt als einen Versuch zu erhellen.

Bereits diese vorläufige Bestimmung des Gegenstandes und der Aufgabe von Philosophie macht ein Charakteristikum des Blochschen Denkens deutlich: Im Mittelpunkt stehen Prozessualität und Offenheit des noch unabgeschlossenen Experiments Welt. Ein solches Denken muß nicht nur den Prozeß in seiner bisherigen Entwicklung begreifen, sondern auch die Offenheit und Tendenz des Prozesses auf die Zukunft bezogen erfassen können.

Es kann nicht mit „positivistischer Unterernährung" beim unmittelbar Gegebenen stehen bleiben, sondern muß über dieses hinausweisen. Dieses Moment verbindet das Denken Blochs mit der klassischen Metaphysik (ein Begriff, den Bloch im Gegensatz zu Engels'

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negativem Gebrauch positiv gegen positivistische Verarmung wendet.(13) Genauso wichtig wie diese Gemeinsamkeit ist die Differenz, die das Blochsche Denken der klassischen Metaphysik gegenüber auszeichnet: Blochs Denken ist nicht statisch, versucht nicht ein hinter dem Seienden liegendes unveränderliches Sein zu erfassen, sondern ist, seinem Gegenstand entsprechend, prozessual und experimentell. Das Anliegen, Offenheit denkend zu erfassen, ist sachlich der Punkt, an dem Bloch marxistische Positionen aufgreift. Der Marxismus ist für Bloch die Philosophie, die Veränderung und Offenheit des Prozesses zum Programm erhebt: Mit Marx beginnt „die Veränderung der Philosophie zur Philosophie der Weltveränderung.(14) Damit ist die Verbindung von Marxismus und Philosophie für die Seite der Philosophie notwendig geworden. Sie ist es aber umgekehrt auch für den Marxismus, will er seinen revolutionären Impetus nicht verlieren: „dialektischer Materialismus ist keiner, wenn er nicht philosophisch ist, d.h., einschreitend in große offene Horizonte."(15)

Die damit bereits angedeutete herausragende Bedeutung des Philosophischen für den dialektischen Materialismus knüpft sich für Bloch an die Interpretation der II. Feuerbach-These, die für ihn das „Losungswort" für die Marxsche Philosophie und von da an für marxistische Philosophie überhaupt ist.

Er versteht die n. Feuerbach-These („Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern."') als zweipolige Aussage, deren erste Hälfte gegen die Epigonen der Kontemplation gerichtet ist (gegen das nur Interpretieren) und deren zweite Hälfte das Ziel der Erkenntnis und des Handelns angibt: Veränderung. Veränderung im von Marx gewollten Sinne kann aber nur stattfinden, wenn sie ziel- und erkenntnisgeleitet ist. Sie bedarf der Philosophie, die das Real-Mögliche in den Tendenzen des Gegebenen expliziert und so Zielorientierungen zu geben vermag.(16)

Mit dieser Hervorhebung des philosophischen Moments des Marxismus nimmt Bloch zugleich pointiert zu einem zentralen Punkt der ideologischen Auseinandersetzung innerhalb des Marxismus Stellung. (Die Frage nach der Möglichkeit, Bedeutung und politischen Funktion der Philosophie im Marxismus ist spätestens seit der Kritik der II. Internationalen ein Auseinandersetzungspunkt, an dem sich auch politische Linienkämpfe festmachen.(17) Für Bloch führt die Vernachlässigung des philosophischen Moments des Marxismus zu Vulgärmaterialismus, Ökonomismus und Schematismus, oder wie er diese Erscheinungen zusammenfaßt, zur Banalität.

Er selbst hat dieses Problem mehrfach durch die Metapher vom Kälte- und Wärmestrom des Marxismus zu beschreiben versucht: „Vor allem müssen zwei Begriffe unterschieden werden im Marxismus. Der Kältestrom ist dedektivisch, eiskalt."(18) Er umfaßt die ökonomische Analyse, die Ideologiekritik. „Die zweite Seite, der Wärmestrom, ist das, was in die Phantasie greift, was moralisch bewegt, und zwar bewegt in dem Sinne, daß die Intelligenz einen Klassenverrat begeht, zum großen Teil, indem sie gegen die Klasse denkt, aus der sie stammt."(19)

Beide Momente gehören für Bloch notwendig zusammen. In einer Situation aber, in der weite Teile der marxistischen Theorie die eine Seite, den Kältestrom, einseitig zum Mittelpunkt machen, sieht Bloch seine Aufgabe darin, den anderen Pol zu akzentuieren: „Und da wird in meinem Philosophieren nun sehr oft der Anspruch erhoben, moralischen Hintergrund zu haben und in die Phantasie zu greifen, während dieser Akt das andere, den Kältestrom, nicht aufhebt, sondern vervollständigt."(20) Von diesem Selbstverständnis aus - Akzentuierung des Wärmestroms gegenüber dem verabsolutierten Kältestrom - sind Blochs philosophische Beiträge zur marxistischen Theorie zu sehen.

2. Zur Sprach- und Argumentationsstruktur

Die Argumentations- und Sprachstruktur der Texte Blochs hebt sich deutlich vom analytisch-logischen bzw. begrifflich-eindeutigen Vorgehen anderer philosophischer Texte ab. Auffällig ist die Fülle der Bilder, die häufig bewußte Nähe zu literarischen Ausdrucksformen, die teils in begrifflich präzise Bestimmungen übergeht, teils das Gemeinte umreißt, ohne es eindeutig zu benennen. Dies hat man durch Blochs intellektuelle Nähe zum Expressionismus oder aus der inhaltlichen Verwandtschaft des

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antizipatorischen Denkens mitder Prophetie zu erklären versucht.(21)

Obwohl zumindest die These vom expressionistischen Denker Bloch einen theoriegeschichtlich wichtigen Hinweis enthält, ist demgegenüber auf den Zusammenhang zwischen sachlich-inhaltlichem Anliegen und sprachlich-argumentativem Ausdruck zu verweisen. Blochs Philosophie will Offenheit und Prozessualität denken und auch die im Prozeß enthaltene Tendenz und Latenz begreifbar machen. Entsprechend hat Bloch seine Reflexion als „modellhaftes Denken"(22) und „Offenhalten zentraler Kategorien"(23) bestimmt und ihre Struktur als „Überschreiten"(24) gekennzeichnet.

Dies setzt sich z.B. in den der Intentionsforschung zuzuordnenden Passagen des „Prinzips Hoffnung" in eine Argumentationsstruktur um, die Bilder des Alltagsdenkens aufgreift, die darin enthaltenen Schichten herauskristallisiert (um so das aufgegriffene Bild zu präzisieren), dann zu einer begrifflichen Fassung des Bildlichen übergeht, um schließlich den Begriff auf den noch offenen Inhalt hin zu durchleuchten.

In der Auseinandersetzung mit Theoremen des dialektischen Materialismus bedient sich Bloch, seinem Anliegen entsprechend, eines Verfahrens der Polarisierung und Akzentuierung, dessen Ziel die Verdeutlichung von Prozessualität, Veränderung und Offenheit ist. Dabei führt die Hervorhebung des „Wärmestroms" als des „in die Phantasie Greifenden" zu metaphorischen Umschreibungen. Die Ansätze zur Präzisierung des Noch-Nicht (als dem im Prozeß enthaltenen Real-Möglichen) können von der Sache her, das noch nicht Gegebene noch nicht benennen. Was sie leisten können, ist seine kategoriale Eingrenzung. Dies hat Bloch - an einigen Stellen mit erstaunlicher Präzision - versucht.

C. BLOCHS DIALEKTIK-KONZEPTION

1. Bezugspunkte der Dialektik-Konzeption

Da für Bloch dialektisches Denken der gründliche und lebendige Nachvollzug der Inhalte und Möglichkeiten realer Bewegung ist,(25) findet er Momente dialektischen Denkens (d.h. Ansätze, den Widerspruch und die Möglichkeit des Neuen im Alten zu denken) bei allen großen Denkern der philosophischen Tradition.

Sokrates, Platon, Aristoteles, Heraklit, Nikolaus von Kues, Jakob Böhme, Leibniz, Kant, Schelling und Fichte gelten ihm, an dieser allgemeinen Bestimmung gemessen, in einzelnen Gedankengängen, Grundprinzipien oder methodischen Momenten als dialektisch oder „krypto"-dialektisch. So bedient sich Bloch auch in der Erläuterung einzelner Gedankengänge durchaus der Theoreme und Formulierungen dieser Autoren.

Die systematische Entfaltung und Begründung dialektischen Denkens setzt jedoch auch Bloch am „Umschlagspunkt" Hegel - Marx an. Entsprechend sind diese beiden Autoren der zentrale Bezugspunkt für seine Ausführungen zur materialistischen Dialektik. Dabei liegt der Ansatzpunkt zunächst immer bei Hegel, der Dialektik zwar auf idealistischer Grundlage, aber systematisch entwickelt hat und dessen Theorie alle zentralen Bestimmungen von Dialektik enthält. Die Marxsche Kritik der Hegeischen Dialektik ist weder Ablehnung der von Hegel erarbeiteten Kategorien noch die schlichte Übertragung dieser Kategorien von einem idealistischen Weltverständnis auf die verschiedenen Bereiche einer materialistisch begriffenen Realität, sie führt vielmehr zu einer qualitativ neuen inhaltlichen Füllung der Hegelschen Kategorien.

Um es in einem für Bloch charakteristischen Bild auszudrücken: Bei der „Hochzeit der Dame Dialektik (aus so vornehmen idealistischen Hause) mit dem plebejischen oder plebejisch gewordenen Burschen Materialismus"(26) stellt die Marxsche Kritik der Hegeischen Dialektik den Akt der Vermählung dar. Das Resultat ist nicht nur eine „begriffhafte Verbindung," sondern: „Dialektik und Materie wurden nun als gleichen Stammes gelehrt; ohne das rein Geisthafte der Konflikte hier, ohne das rein Klotzhafte von Materie dort."(27)

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2. Zentrale Bestimmungen der Hegelschen Dialektik

Die Hegelsche Dialektik ist für Bloch deshalb der zentrale Ansatzpunkt, weil bei Hegel das „unruhige," „bewegliche," „flüssige," „märzhafte" Element der Dialektik auf die Realität insgesamt bezogen wird: Hegel „totalisiert in seinem System die ganze bis dahin entwickelte Objektdialektik überhaupt."(28) Dialektik wird hierdurch bei Hegel zur Prozeßstruktur der Sache selbst, zum Entwicklungsmotor des Zusammenhangs der Realität.(29) Dies jedoch - und hier liegt die Schwäche der Hegeischen „Logik" wie seiner realphilosophischen Analysen - geschieht auf idealistischer Grundlage durch Ver"geist"igung der Realität.

Trotz dieser Einschränkung kann Hegel, da er die Bestimmungen des Prozesses in der Sache selbst aufzufinden sucht, die zentralen allgemeinen Prozeßstrukturen bestimmen und als „flüssige" Begriffe entfalten: Widerspruch, Negation, Sprung, Totum. Blochs Explikation dieser Hegeischen Begriffe wird im folgenden dargelegt.

Der dialektische Widerspruch

Die Kategorie des dialektischen Widerspruchs setzt sich in Gegensatz zu einer zentralen Bestimmung der formalen Logik, die besagt, „das A nicht /ugleich Nicht-A sein könne." Das Verbot des Widerspruchs als Regel des vernünftigen Redens ist damit nicht in Frage gestellt, denn „ein Mensch, der dauernd widerspricht, ist dadurch noch kein Dialektiker, nur ein Faseler. "(30)

Aber als Aussage über die Realität setzt Bloch dieser Bestimmung der formalen Logik dann entgegen: „Es gibt zugleich seienden Widerspruch durchaus."(31) Bei dieser Feststellung ist jedoch nicht stehenzubleiben, da der Widerspruch selbst über sich hinausweist: „Der Widerspruch ist bei Hegel ... gerade das, was es nicht bei sich aushält, und das Überalterte, Einengende, drückend Widerstandshafte am Status, das den Widerspruch unvermeidlich macht, ist das Unhaltbare schlechthin."(32) Und so ist der Widerspruch Quelle und Motor von Veränderung und Bewegung. Der Widerspruch (als der Widerspruch der Einheit und des Widerspruches) hat nichts Ruhendes, Bleibendes, ist vielmehr Kampf, Konflikt, Entzweiung und trägt das Moment seiner Negation in sich.

Als lebendiger Prozeß der Reflexion über die Realität ist auch das Denken widersprüchlich strukturiert - nicht im Sinne von „Sich-Widersprechen," wohl aber insofern, als es den Widerspruch in der Sache erfaßt und durch Entgegensetzung und „Widerständiges" zur konkreten Erfassung des Sachverhaltes fortschreitet. Dabei ist es für Bloch wichtig, hervorzuheben, daß der Hegelsche Dreischritt (Setzen der These - Entgegensetzung - Synthese) nicht jeden Denkprozeß zureichend beschreibt. Komplexere Prozesse können notwendig sein, und Unabgeschlossenheit des Denkens ist geradezu notwendig, wenn die Sache selbst unabgeschlossen ist.

Die dialektische Negation

Da jeder Widerspruch, jede widersprüchliche Einheit das Negative, Veränderungsbedürftige in sich enthält, ist die Negation das Treibende des Prozesses. In einer „erreichten Gewordenheit selber reift ihr Widerspruch, reift die Negation des Gewordenen, die es aufhebt."(33) Erst die Aufhebung des Negativen im Widerspruch (= Negation) führt zur Veränderung des widersprüchlichen Sachverhaltes (bzw. Prozesses). Ergebnis dieses Veränderungsprozesses ist wiederum eine widersprüchliche Einheit, die ihr Negatives enthält und zur Veränderung drängt: Negation der Negation.

Seine volle, für die Richtung des Gesamtprozesses wesentliche Bedeutung erhält diese Prozeßstruktur für Bloch erst mit dem Auftreten des Menschen, d.h. für den gesellschaftlichen Bereich. Denn mit dem Menschen, der die neue Qualität des antizipierenden Bewußtseins in den Entwicklungsprozeß der Materie einbringt, ist aktives Gestalten, aktives Aufgreifen des Wider-Spruches möglich geworden. Die menschliche Geschichte ermöglicht Negation der Negation mit Richtung auf Besserung, ja Optimierung

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des Gesamtprozesses.

Die dialektische Analyse hat jedoch die Einheit des Prozesses zu berücksichtigen, denn nicht alles, was widersprüchlich scheint, Negatives enthält, ist Moment einer dialektischen Entwicklung. Auch bei Hegel gibt es „bereits ... gewisse Unterschiede, will sagen, er notiert auch untauglich Negatives. Er notiert gerade in der menschlichen Geschichte auch Nihilisierungen schlechthin verwüstender Art, ohne sichtbare dialektische Funktion."(34)

Zur Präzisierung dieses Sachverhaltes hat Bloch den Begriff des Negativen durch die Kategorien Nicht und Nichts zu differenzieren versucht. Dabei bestimmt er als Nicht das im dialektischen Entwicklungsprozeß begriffene Negative, das auf Veränderung drängt und sowohl das Alles wie das Nichts als Möglichkeit enthält, deshalb auch als Noch-Nicht zu beschreiben ist. Als Nichts wird demgegenüber das bloße Vernichten, das bloße Unglück z.B. des Dreißigjährigen Krieges bestimmt, die tendenzielle Verfehlung des Alles im Aufheben des (Noch-)Nicht.(35)

Der dialektische Sprung

Die Form des Prozesses ist in ihrem Ablauf nicht kontinuierlich. Veränderung verläuft abrupt, Neues zeigt sich plötzlich, entwickelt sich in „Durchbrüchen." Quantitative Veränderungen, Verschiebungen im Verhältnis der Pole des Widerspruchcs können kontinuierlich verlaufen, das Entstehen einer neuen Qualität, wie Bloch es formuliert: die Geburt des Neuen jedoch, erfolgt in einem Sprung: „Plötzliche Qualitätsveränderung greift Platz, die Welle bricht, wenn ein bestimmtes Quantum erreicht ist, sie schlägt um."(36)

Die Hegelsche Kategorie der „Knotenlinie von Maßverhältnissen" -Bloch übersetzt sie (mit Engels) materialistisch als „qualitativen Umschlag quantitativer Verhältnisse, von einem bestimmten Maß ab" - hat diese Prozeßstruktur präzise beschrieben.

Die dialektische Kategorie Totalität /Totum

Eine besondere Bedeutung gewinnt für Bloch die Hegelsche Kategorie der Totalität. Totalität ist bei Hegel logisch zunächst die Einheit von Allgemeinem und Besonderem, sie umfaßt die durch die Arbeit des Begriffes vermittelten Bestimmungen des Absoluten. Realphilosophisch meint Totalität das konkrete Ganze, in dem die vollendete Idee mit dem konkreten Einzelnen vermittelt ist. Bloch schließt an diese Bestimmung folgende Überlegung an: Wenn die konkrete Ganzheit das Vollendete ist, „so ist ihr Gegenteil das Stückwerk, das Unvollendete, das Endliche,"(37) das vollendet werden will. „Die dialektische Aufhebung des Endlichen wird (von Hegel) mit der Erhebung über das Endliche gleichgesetzt, und die Unruhe des Endlichen, die es verzehrt, die es eben dazu bestimmt, verzehrt zu werden, erscheint als letzter Motor der dialektischen Bewegung."(38) Dieser mythische Inhalt des Begriffes ..Totalität" - wie ihn Bloch bei Hegel expliziert - ist auf matenalistischer Grundlage nicht haltbar. Dennoch ist darin für Bloch ein Moment von Dialektik angesprochen, das festzuhalten ist, weil auf ihm die Intensität der dialektischen Bewegung beruht.

Angesprochen wird darin die Unangemessenheit des Gegebenen (bei Hegel: Endlichen) gegenüber dem Möglichen (bei Hegel: Unendlichen). Das Mögliche ist das im Noch-Nicht als Möglichkeit enthaltene Alles, das potentielle Totum des Gesamtprozesses. Wichtig ist es Bloch, hervorzuheben, daß dieses Totum dem Prozeß der Materie immanent ist. Um dies zum Ausdruck zu bringen, scheint ihm der Leibnizsche Begriff „Tendenz" - so übersetzt Bloch „appctitus" - treffender zu sein als die Hegelsche „Erhebung über das Endliche," denn der Leibnizsche Begriff beinhaltet ein Streben, das an konkrete Bedürfnisse gebunden und auf die Zukunft gerichtet ist, also materielle geschichtliche Entwicklung begreifbar macht.

3. Materialisierung der Dialektik durch Marx

Der zentrale Mangel der Hegelschen Dialektik ist ihre idealistische „Verbegrifflichung," die letzlich dazu führt, daß die wirkliche Bewegung in ihren konkreten Widersprüchen

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vernachlässigt wird zugunsten eines begrifflichen Schematismus, der reale Möglichkeiten und Zukünftiges nicht erfassen kann. Materialistische Dialektik als „Realdialektik der Welt"(39) hebt diesen Mangel auf: In der materialistischen Dialektik wird das Dialektische „in die Unruhe des wirklich Konkreten gebracht, ins Gegenwärtige wie Zukünftige des Wirklichen, des materiellen Prozesses. Das ist der Sinn der Marxschen ,Umstülpung,' zum Zweck, die stete Neuerzeugung der Widersprüche und ihren weltverändernden Ausbruch vom bloßen Reflex im Kopf endlich auf die Füße zu stellen."(40) Diese Materialisierung der Dialektik muß notwendig auch die inhaltliche Bestimmung der Kategorien ´Dialektik' und ´Materie' verändern.

Materialistische Fassung von Dialektik

Die Bindung der Dialektik an den materiellen Prozeß verändert sie nicht in ihren einzelnen Bestimmungen, sondern in ihrer grundsätzlichen Bedeutung: Die Welt kann nicht mehr als bereits abgeschlossen gelten, sie ist offen mit der Anlage zu etwas, das noch nicht ist, dessen Möglichkeit aber bereits sichtbar ist.

So ist Dialektik als Realdialektik der Prozeß der Entfaltung dieser Möglichkeiten. Das dialektische Denken hat die Aufgabe, „schöpferische Offenheitsrelationen" im materiellen Prozeß aufzuweisen und ergreifbar zu machen. Dem so veränderten Blick zeigen sich Widersprüche, Aufbrüche zu Neuem (mit verschärfter Diskontinuität), Sprünge in allen Bereichen der natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit: in der Entwicklung des Lebens aus der anorganischen Materie, in der elektromagnetischen Bewegung des Wellikels (Welle/Partikel), in zwischenmenschlichen Konflikten, im Kampf zwischen Abhängigen und Herrschenden, im ökonomischen Grundwiderspruch antagonistischer Gesellschaften - als „Reflex und experimenteller Austrag solcher Widersprüche" z.B. in der Tragödie oder den Beethovenschen Symphonien.

Dialektik, materialistisch gefaßt, bleibt jedoch bei dem so veränderten Blick nicht stehen, sondern hebt zugleich den alten Hiatus zwischen Subjekt und Objekt in einer Richtung auf, die passive Kontemplation ausschließt. Dem objektiven Widerspruch wird der "subjekthaft-aktive" gegenübergestellt, beide sind Momente des materiellen Prozesses und miteinander zu vermitteln.

Grundmodell dieser Vermittlung ist der materielle Arbeitsprozeß, in dem Objekt und Subjekt, bzw. Natur und Mensch in Stoffwechsel miteinander treten: Kenntnis der objektiven Widersprüche, Antizipation des zu erreichenden Produktes und tätig-eingreifende Veränderung führen im gegenständlichen Erzeugungsakt (= Produktion) des Subjekts zur konkreten Vermittlung von Subjekt und Objekt. Der so verstandene Arbeitsprozeß ist die Grundlage der materialistischen Theorie-Praxis, denn jeder Theorie-Praxis-Zusammenhang enthält die beschriebene Struktur (Begreifen des objektiven Prozesses in seiner Widersprüchlichkeit - Antizipation des materiell möglichen Ziels - tätig-eingreifende Veränderung) und basiert auf ihr.(41)

Bloch akzentuiert in seiner Konzeption der Subjekt-Objekt-Dialektik die tätig-aktive Seite des Subjektes gegenüber dem Aspekt der Bestimmung des Subjektes durch die objektive Realität. Dies beinhaltet weder eine Negation dieser Bestimmung noch eine Hervorhebung des Geistes gegenüber dem materiellen Prozeß. Vielmehr ist für Bloch in der Subjekt-Objekt-Dialektik der Widerspruch zwischen tätigem Geist und mechanisch-toter Materie aufgehoben: das geschichtlich wirksame Subjekt (der wirtschaftende gesellschaftliche Mensch) ist selbst materiell, das Bewußtsein dieses Subjekts ist das höchste Produkt der Materie.

Die Hervorhebung der aktiv-subjektiven Seite des Verhältnisses von Subjekt und Objekt hat für Bloch die Funktion, den revolutionären Inhalt materialistischer Dialektik (wieder) lebendig zu machen und für das „Ergreifen" des objektiven Widerspruchs zu motivieren:

Der Gedanke, „sofern er ein mit der geschehenden Wirklichkeit vermittelter ist, (wird) selber ... Faktor der Umwälzungsprozesse: nur dann, dann aber unbedingt, wird er geschichtserzeugend. Wird als Klassenbewußtsein als revolutionäre Wissenschaft eine

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besonders mächtige, auf Produktion und Basis zurückwirkende Kraft, gehört zum Subjekt der Geschichtserzeugung, der mit Bewußtsein gemachten Geschichte."(42)

Der historische Prozeß, soll er zu positiver Weiterentwicklung führen, bedarf allerdings auch des aktiven Eingriffs des Subjekts. Denn die Negation als auslöschende kann ohne den Eingriff des subjektiv-aktiven Widerspruchs zum Scheitern, zum „Umsonst" führen. Beispiel für ein solches „Umsonst" ist für Bloch der deutsche Faschismus.

Dialektische Fassung der Materie

Die Materialisierung der Dialektik verändert auch den Materiebegriff qualitativ. Materie ist nicht mehr das statische, nur quantitativ bestimmbare „Klotzhafte." Vielmehr tritt das Quale,(43) die sinnliche Fülle der Entfaltungsmöglichkeiten der Materie in den Vordergrund. Dabei ist die quantitative, technisch nutzbare Seite der Materie nicht negiert, sondern in der dialektischen Bestimmung des Verhältnisses von Quantität und Qualität aufgehoben: Jede qualitative Stufe der Materie hat ihre quantitativen Bestimmungen, deren Veränderung (nach dem der Qualität zugehörenden Maß) sprunghaft zu einer neuen Qualität führt.

So wird Materie, dialektisch gefaßt, Prozeßmaterie, die ihr Ende, ihre endgültige Gestalt noch nicht gefunden hat. Sie ist nach vorn hin offen, voller objektiv-realer Möglichkeiten und hat die Tendenz, diese zu entfalten.

Im Vordergrund steht für Bloch bei dieser Explikation die Einheit der sich entfaltenden Prozeßmaterie, der materielle Gesamtzusammenhang, innerhalb dessen und durch den Entwicklung sich vollzieht.

Dennoch sind Schichten, Sprünge, Sphären der Entfaltung der Materie sichtbar, die zwar nicht isolierbar sind, aber gesondert betrachtet und untersucht werden können.

Solche Schichten der dialektisch prozessierenden Materie sind der mechanische, der chemische, der organische und der ökonomisch-historische Bereich der Realität - Bewegungsformen der Materie, wie Engels sie nennt.

Sie entstehen in einem hierarchisch strukturierten Entfaltungsprozeß, lösen sich jedoch nicht jeweils ab, sondern führen zu einem strukturierten Ganzen mit zunehmender Komplexität. Dies geschieht nicht „trotz des dialektischen durchgängigen Flusses, sondern kraft seiner."(44) Daß auch die außermenschliche Natur dialektisch strukturiert ist, steht damit für Bloch außer Frage. Wichtigstes Moment des „dialektischen Flusses" in der Naturmaterie ist der „qualitative Umschlag quantitativer Verhältnisse, von einem bestimmten Maß ab," wobei das dialektisch Neue nicht die Seite der Quantität ist - sie ist das Hauptfeld des mechanischen Materialismus -sondern das Entstehen neuer Qualitäten.

Daß für die dialektische Erfassung von Naturqualitäten auch in der modernen Physik Ansatzpunkte und aufzugreifende Brüche gegeben sind, hat Bloch zu zeigen versucht,(45) wirklich bestimmbar sind sie für ihn aber nur in einer philosophischen Analyse, die die Vermittlung von qualitativer Naturmaterie und historische Materie zu denken vermag:

Die erste, bereits vollzogene Vermittlung von Natur und Geschichte liegt in der Einheit der prozessierenden Materie, denn Natur und Geschichte sind unterschiedliche Stufen desselben Prozesses: „die Dialektik der Natur springt über in die Dialektik der menschlichen Geschichte; Leben wie Denken sind Bcwegungsformen einer höher qualifizierten Materie und der Geist kein total Anderes, gar dualistisch Entgegengesetztes, sondern deren .höchste Blüte'."(46) Ihren konkret-praktischen Ausdruck findet diese Einheit darin, daß der Stoffwechsel Mensch-Natur Grundlage jeder gesellschaftlichen Reproduktion des Menschen ist.

Diese grundlegende Vermittlung in der Subjekt-Objekt-Dialektik enthält über sich hinausweisend die Möglichkeit für eine zweite, umfassende (aber noch ausstehende) Vermittlung von Natur und Gesellschaft, in der der Widerspruch Mensch-Natur wirklich

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aufgehoben ist. Sie kann unter der Bedingung der Realisierung des Sozialismus vollzogen werden durch die Entfaltung der natürlichen Möglichkeiten des Menschen und der konkretqualitativen Potenzen der Natur, oder, wie Bloch, eine Antizipation von Marx aufgreifend, formuliert: durch Naturalisierung des Menschen und Humanisierung der Natur.

Will, man die Blochsche Bestimmung von „materialistischer Dialektik" und „dialektischer Materie" zusammenfassen, so ist „Dialektik" als Logik des materiellen Prozesses zu bestimmen und „Materie" als materielles Substrat dieses Prozesses. Beide Kategorien beschreiben denselben Prozeß, der Natur, Gesellschaft und Denken umfaßt. Als voneinander unterscheidbare Kategorien heben sie jeweils unterschiedliche Aspekte derselben Einheit hervor.

Um diese Einheit zum Ausdruck zu bringen, verwendet Bloch häufig Begriffe wie: „Dialektik-Materie," „Prozeßmaterie," „dialektisch-historischer Materialismus."

4. Blochs Verfahren der dialektischen Akzentuierung

Das bisher Dargestellte des Blochschen Dialektik-Modells umfaßt seine Grundkonzeption zur materialistischen Dialektik. Sie gründet sich auf die von Marx und Engels in Anschluß an Hegel entwickelten Grundpositionen dialektischen Denkens. Spezifisch für das Denken Blochs ist bei seinem Rekurs auf Grundpositionen der marxistischen Tradition eine Hervorhebung der darin enthaltenen Momente, die sich mit den Stichtworten Offenheit, unabgeschlossener Versuch, Entfaltung objektiv-realer Möglichkeit umschreiben lassen. Dieses akzentuierende Aufgreifen marxistischer Theoreme ergibt sich als methodisches Element unmittelbar aus der inhaltlichen Ziel- und Aufgabenbestimmung seines Denkens; Stärkung des „Wärmestroms" des Marxismus gegenüber dem (in der gegenwärtigen marxistischen Philosophie) verabsolutierten „Kältestrom."

Dieses Anliegen Blochs wird nicht nur in seiner Grundkonzeption deutlich, sondern drückt sich auch in seinen Versuchen zur Präzisierung einzelner Kategorien und Bestimmungen materialistischer Dialektik aus, wiederum durch ein deutlich akzentuierendes Aufgreifen und Verarbeiten von Fragestellungen.

Um dies zu verdeutlichen, sollen modellhaft zwei solcher Präzisierungsversuche im folgenden skizziert werden:

A) OFFENHEIT VON DIALEKTIK UND UNABGESCHLOSSENHEIT DER ERKLÄRUNGSLEISTUNG DIALEKTISCHEN DENKENS

Im „Materialismusproblem" versucht Bloch durch die Vertiefung dreier kategorialer Bestimmungen aufzuzeigen, daß Dialektik, materialistisch gefaßt, selbst noch unabgeschlossen, offen ist.(47) Symptomatisch hierfür scheinen ihm „Unwegsamkeiten," d.h. nicht geklärte und unerprobte Wege materialistischen Denkens zu sein, die aber gerade ein sich dialektisch verstehender Materialismus begehbar zu machen hat.

Wichtige „Unwegsamkeiten" solcher Art sind: die „Crux" des Verhältnisses Allgemeines - Einzelnes, die „Antinomie" des Sprungs Quantität -Qualität und die „Aporie" des Verhältnisses Sein - bewußtes Sein (wobei Crux, Antinomie, Aporie in dieser Reihenfolge Bezeichnungen für jeweils gesteigerte Formen von Unwegsamkeiten des Denkens sind).

Die Crux Allgemeines-Einzelnes

Im Verhältnis des Allgemeinen zum Einzelnen steckt das alte philosophische Problem, wie das wahrnehmbare Sinnlich-Einzelne mit dem gedachten Begrifflich-Allgemeinen in Beziehung zu setzen sei. In der quantitativ bestimmten neuzeitlichen Wissenschaft hat das bürgerliche Denken diese Relation in das Verhältnis von empirischer Tatsache und mathematisch ausdrückbarem Gesetz übersetzt und das Problem ihres Zusammenhanges abstrakt durch die Einführung des Funktionsbegriffes gelöst: die einzelnen empirischen Tatsachen stehen in einem funktionalen Zusammenhang, der sich verallgemeinern und

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abstraktiv als Gesetz formulieren läßt.

Damit ist jedoch nur die quantitative Seite der Relation Allgemeines -Einzelnes erfaßt. Der qualitative sinnliche Gehalt des Einzeldings wird genauso vernachlässigt wie das inhaltliche Beziehungsgefüge, das die verschiedenen Einzelnen mit dem Allgemeinen vermittelt.

So ist die gefundene Lösung nur eine scheinbare, denn das Problem des Verhältnisses des Allgemeinen zum Einzelnen bleibt in der Form bestehen, daß die zugeordneten Kategorien ihren jeweiligen Inhalt (an sinnlich konkretem Material) nicht erschöpfen können. Das quantitativ beschreibbare Faktum erfaßt nicht die qualitativen Eigenschaften des konkreten Einzeldings, der funktionale Zusammenhang beschreibt nicht die Totalität eines konkreten Allgemeinen. Damit bleibt das Verhältnis des begreifenden Subjekts zum erfaßten Objekt abstrakt.

Materialistische Dialektik führt zu einer grundsätzlichen Lösung dieser Crux, indem sie sie nicht mehr nur als Problem des Denkens faßt, sondern sie als Polarisierung von allgemein-begrifflicher Erfassung einerseits und qualitativer Materie in ihren realen Besonderheiten und Entwicklungsstufen andererseits begreift. Zwischen diesen beiden Polen sind in einem einheitlichen Theorie-Praxis-Prozeß Vermittlungsschritte durch konkret-sinnliche Erfahrung und praktische Veränderung möglich. So wird die Crux zunehmend auflösbar gemacht, d.h. das Unwegsame wird begehbar.

Aber gerade dadurch, daß diese grundsätzliche Lösung des Problems im Angeben einer Methode für seine jeweils konkrete Lösung besteht, ist die Crux des Verhältnisses des Allgemeinen zum Einzelnen damit nicht verschwunden, sondern stellt sich in jedem einzelnen Erkenntnisakt neu, eine eigene konkrete Lösung erfordernd.

Bloch schätzt dies als einen Gewinn ein, der das dialektische Denken offen hält für „das fruchtbar Unterbrechende, wie es genau vom lebhaft und bunt Einzelnen herkommen mag."(48)

Die Antinomie des Umschlages Quantität-Qualität

Qualitative Materie entfaltet sich in diskontinuierlicher Kontinuität zu einer Hierarchie von Daseinsformen. Dies vollzieht sich durch quantitative Veränderungen, die, wenn ihr Maß erreicht ist, in einem Sprung zu einer neuen Qualität führen.

In dieser dialektischen Bestimmung des Umschlages von Quantität in Qualität sieht Bloch zwar die Struktur des Prozesses richtig beschrieben, er findet jedoch auch hier eine dialektische Crux insofern, als durch „Sprung" zwar das qualitativ Neue der entstehenden Materieform hervorgehoben

wird, nicht aber die Frage beantwortet ist, auf Grund welcher Kontinuität genau diese Qualität aus der vorhergehenden entsteht und was es eigentlich ist, das die einheitliche Prozeßmaterie von einer Qualität in die nächste treibt. Dieses Treibende kann nicht nur quantitativer Art sein, es muß selbst qualitativ sein. Um es mit Blochschen Termini auszudrücken: das Daß ist in der dialektischen Bestimmung zureichend beschrieben, das Was bedarf der Präzisierung.

Es kann jedoch nicht begrifflich-allgemein präzisiert werden, denn das Was des jeweiligen Prozesses ist selbst noch offen. Festzuhalten ist jedoch, daß das Treibende zu einem neuen Was selbst eine Qualität der Materie sein muß. Bloch faßt es mit dem Grenzbegriff Tendenz.

Die Aporie des Umschlages vom Sein zum bewußten Sein

Innerhalb der Entwicklungsstufen der Materie hat schon Engels zwei qualitative Sprünge als besonders bedeutend hervorgehoben (starting points): die Entstehung des Lebens und

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die Entstehung des Bewußtseins. Der zweite enthält für Bloch die Aporie des Verhältnisses Sein - Bewußtsein und stellt eine dritte Crux dialektischen Denkens dar.

Bloch schreibt: „der dialektische Sprung vom Atom zur Zelle, von einem physischen Quantum zu einem organischen Quäle ist via Aminosäure nicht schwer nachdenkbar, aber freilich von der Zelle zum Gedanken, von einem noch so organisch gewordenen Quantum zu einem psychisch sich selbst reflektierenden Quäle schwierig, dergestalt daß, auch wenn man in einem Gehirn umhergehen könnte wie in einer Mühle, man nicht daraufkäme, daß hier Gedanken erzeugt werden.(49)

Materielles und Ideelles als Formen ein und derselben Prozeßmaterie bedürfen der Vermittlung, die durch aus beidem gemischten Vermittlungsschritten jeweils konkret geleistet werden kann.

Philosophisch ergibt sich die notwendige Vermittlung, wenn man hinzunimmt, daß Bewußtsein (die „höchste Blüte der Materie") als bewußtes Sein Ietzlich sich selbst reflektierende Materie ist. Diese Reflexion bezieht sowohl den bisherigen Prozeß ein als auch die Tendenz der sich qualifizierenden Materie. Mit Auftreten des Bewußtseins ist Antizipation und Zielbestimmung des Prozesses möglich geworden. Eine vom Bewußtsein geleitete menschliche Praxis ermöglicht darüber hinaus die subjektiv-aktive Negation (s. Blochs Bestimmung der dialektischen Negation). Materielle Dialektik erreicht damit in der menschlichen Gesellschaft die Stufe einer möglichen offenen Teleologie des Prozesses (von Bloch mit dem Begriff der Entelechie der Materie bezeichnet). Die Aporie des Verhältnisses Sein - Bewußtsein erweist sich, dialektisch gefaßt, als Aporie des noch unentschiedenen Weltprozesses selbst.

Anzumerken bleibt, daß die Aporie Sein - Bewußtsein, die sich abstrakt als ein Spezialfall der Antinomie Quantität - Qualität darstellt, konkret diese Antinomie erst erfaßbar macht, denn die Wahrnehmung qualitativer Veränderungen und Überschüsse ist an die Anwesenheit menschlichen Bewußtseins gebunden.

B) STELLENWERT DES SUBJEKTIV-AKTIVEN MOMENTS DER DIALEKTIK

Im „Prinzip Hoffnung" leistet Bloch an zentraler Stelle (Fundierung des antizipierenden Bewußtseins) eine Strukturierung und Interpretation der Feuerbachthesen von Marx, die für ihn ein Kernstück des historischen Materialismus sind.(50)

Bereits in der Gruppierung der Thesen werden die für Bloch zentralen Themen historisch-materialistischer Dialektik deutlich. Er faßt die Thesen zu drei Gruppen zusammen:

1. erkenntnistheoretische Gruppe (Thesen 5,1,3) mit dem Thema „Anschauung und Tätigkeit"

2. anthropologisch-historische Gruppe (Thesen 4,6,7,9,10) mit dem Thema „Selbstentfremdung, ihre wirkliche Ursache und der wahre Materialismus"

3. Theorie-Praxis-Gruppe (Thesen 2,8) mit dem Thema „Beweis und Bewährung."(51)

In der Auseinandersetzung mit Feuerbach (bisheriger Materialismus) und Hegel (Idealismus) formuliert Marx, wie Blochs Gruppierung und seine thematische Festlegung der Gruppen ergeben, grundsätzliche Positionen zu den Fragen:

1. Wie ist das Verhältnis des Subjekts zum Objekt dialektisch-materialistisch zu bestimmen?

2. Welche Ursachen hat die menschliche Selbstentfremdung und wie ist sie aufzuheben?

3. Wie ist das Verhältnis von Theorie (Wahrheit) und Praxis dialektischmaterialistisch zu

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bestimmen?

In der Kommentierung der Thesengruppen arbeitet Bloch die jeweilige Marxsche Antwort auf die gestellten Fragen als Vermittlung zwischen zwei extremen Polen heraus; Grundlage hierfür ist das Marxsche Verfahren der Kritik antithetisch entgegen gesetzter Positionen (des Idealismus und des bisherigen Materialismus).

Marx' Antwort auf die erste Frage setzt sich sowohl gegen eine mechanistische Milieutheorie (bisheriger Materialismus) als auch gegen die idealistische Subjekttheorie ab und bestimmt das Verhältnis von Subjekt und Objekt als wechselwirkende Vermittlung nach dem Grundmodell der sinnlich-gegenständlichen Arbeit. Die Gleichberechtigung der beiden Pole in diesem Vermittlungsprozeß stellt nicht das Prius des Seins über das Bewußtsein in Frage, sondern basiert vielmehr darauf, daß im historisch-gesellschaftlichen Sein objektiviertes Bewußtsein enthalten ist. Bloch legt, gegen Vulgärmaterialismus gewendet, den Akzent seiner Explikation auf die subjektive Seite dieses Wechselwirkungsverhältnisses und betont: Die Tätigkeit des Subjekts, die durch Bewußtsein gesteuert ist, wird in der lebendigen Subjekt-Objekt-Beziehung selbst materielle Kraft.

In seiner Beantwortung der zweiten Frage geht Marx vom Faktum der menschlichen Selbstentfremdung aus. Dieses Faktum ergibt sich jedoch nicht, wie die Dichotomie Individuum - Gattung unterstellt, durch das Auseinanderfallen von Individuum und Gattung. Das Individuum ist vielmehr gerade in der konkreten Gesellschaft, die seine Selbstentfremdung produziert, mit der konkret-gesellschaftlich zu verstehenden, sich historisch entwickelnden Gattung vermittelt. Selbstentfremdung muß also ihre Ursache in der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst haben: „Die Menschen verdoppeln ihre Welt nicht nur deshalb, weil sie ein zerrissenes, wünschendes Bewußtsein haben (so hatte Feuerbach die Entfremdung in der Religion erklärt, d. V.). Vielmehr entspringt dieses Bewußtsein, samt seinem religiösen Widerschein, einer viel näheren Entzweiung, nämlich einer gesellschaftlichen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse selber sind zerrissen und geteilt, zeigen ein Unten und Oben, Kämpfe zwischen beiden Klassen und dunstreiche Ideologien des Oben, von denen die religiöse nur eine unter mehreren ist."(52) Ist Selbstentfremdung gesellschaftlich produziert, dann kann ihre Aufhebung nur durch die praktische Kritik der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse gelingen.

Damit ist aber das in der Entgegensetzung Individuum - Gattung enthaltene zweite Moment, die abstrakte Fassung der menschlichen Gattung als Humanität nicht völlig hinfällig.

Humanum oder Humanität als Wertbegriff, der das dem Menschen Mögliche bezeichnet und als Kriterium der Kritik des Gegebenen dienen kann, bleibt - so Bloch - auch für Marx erhalten. Es schwingt als Zielbestimmung für die Aufhebung der Selbstentfremdung mit und ist als reale Möglichkeit Moment des Veränderungsprozesses selbst.

Gegenüber marxistischen Positionen, die in diesem Punkt die wissenschaftlich-nüchterne Seite der Marxschen Position - Entlarvung und Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen für Entfremdung - verabsolutieren, akzentuiert Bloch gerade die andere Seite, den „Wertbegriff Humanismus": „je wissenschaftlicher der Sozialismus, desto konkreter hat er gerade die Sorge um den Menschen im Mittelpunkt, die reale Aufhebung seiner Selbstentfremdung im Ziel."(53)

Zur Klärung des Verhältnisses von Theorie und Praxis greift Marx die Antithese von sinnlicher Anschauung und Gedanken auf, die sich bei der Hegel-Kritik Feuerbachs ergibt. In der Gegenüberstellung von Denken und sinnlicher Anschauung läßt sich jedoch die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Erkenntnis nicht lösen.

Kritisch nimmt Marx von der Seite des Denkens das tätige Moment und von der Seite der Anschauung das sinnlich-konkrete Moment auf. Materialistisch gefaßt, führt das tätige Moment zur konkret-gegenständlichen Praxis, die sinnlich-konkrete Anschauung wird erster Schritt zur Theoriebildung, der durch das begriffliche Denken zu ergänzen ist. So

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ergeben sich die beiden Pole Theorie und Praxis, die Marx als Momente eines einheit-' liehen Prozesses bestimmt, dessen Ziel die konkret-praktische Veränderung der Wirklichkeit ist (was Parteilichkeit für Theorie und Praxis einschließt).

Bloch ist es in seinen Explikationen zur dritten Thesengruppe besonders wichtig, herauszustellen, daß ein gelungener Theorie-Praxis-Prozeß aller drei Momente bedarf, der Betroffenheit des Klassenstandpunktes, der rational klärenden Kraft des Denkens und der verändernden Tat.

Versucht man, das Verfahren der hier als Beispiel skizzierten Analysen zu verallgemeinern, so ergibt sich als Grobstruktur folgende Schrittfolge:

1. Aufgreifen eines antithetischen Gegensatzes (z.B. Quantität - Qualität)

2. Analyse der beiden Entgegengesetzten auf ihre materialistische Bedeutung hin (z.B. Quantität und Qualität als Bestimmungen der sich entwickelnden Prozeßmaterie)

3. Begreifen der Entgegengesetzten als Pole innerhalb einer dialektisch vermittelten Einheit, die prozessual ist. (z.B. Umschlag von Quantität in Qualität)

4. Herausarbeitung des neuen „Widerständigen" in dieser Einheit (z.B. Tendenz)

Diese Schrittfolge ist in ihren Grundzügcn mit dem identisch, was Bloch Klbst in seiner Bestimmung des Widerspruchs als konstruktive Entfaltung von Widersprüchen herausgestellt hat, sie beschreibt, was Bloch als Grundstruktur dialektischen Denkens eher global umrissen hat, wenn er formuliert: „Dialektisches Denken schreitet durch auftretende Widersprüche im Sachverhalt des Denkens fort."(54)

Anzumerken bleibt, daß Bloch diese Struktur in vielen Fällen nur andeutet oder durch Exkurse und philosophiegeschichtliche Globalskizzen verdeckt. Detailliert ausgearbeitet ist sie nur in den Fällen, in denen er sich (wie

in unseren Beispielen) auf vorliegende Analysen von.Marx und Engels stützen kann.

D. EINORDNUNG DER DIALEKTIK-KONZEPTION BLOCHS IN SEINE PHILOSOPHIE

Die vorausgegangene Darstellung der Dialektik-Konzeption Blochs hat versucht, einen Aspekt seines Denkens, nämlich das von ihm herausgearbeitete Modell materialistischer Dialektik, aus seinen philosophischen Arbeiten herauszukristallisieren und zu explizieren. Es ist nun darauf zurückzukommen, daß Bloch selbst die Frage der Dialektik nie isoliert thematisiert hat, sondern seine Stellungnahmen zu diesem Thema immer im Zusammenhang mit übergreifenden Themen verdeutlicht hat. Es bleibt deshalb die Frage zu beantworten, welchen Stellenwert dieses Moment seines Denkens in seiner Gesamtkonzeption hat.

Zu Beginn unserer Untersuchung war deutlich geworden, daß das zentrale theoretische Motiv, das Bloch zur materialistischen Dialektik führt, die Suche nach einer philosophischen Grundlage für das Denken von Veränderung, Bewegung und Offenheit ist. Dieses Motiv hält sich auch in seiner Rezeption der marxistischen Dialektik und in der Ausarbeitung seiner eigenen Konzeption als Leitgedanke durch. Immer wieder war - das hat sich gezeigt - das unruhige, bewegende, auf Veränderung ausgerichtete Momeni von Dialektik das für Bloch wesentliche. Dialektisches Denken ist für Bloch. so läßt sich die Bedeutung von Dialektik zusammenfassen, der Ansatz, der das Denken des noch unentschiedenen Experiments Welt und Mensch wissenschaftlich fundiert möglich und notwendig macht.

Übergreifend gefaßt, bietet der dialektisch-historische Materialismus als Gesamtkonzeption die theoretische Grundlage für Entwicklung nach vorn, die wissenschaftliche Basis für die Antizipation gesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkciten

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und die politisch-praktische Begründung für aktives Einschreiten in gesellschaftliche Prozesse. Um diesen Stellenwert des dialektischen Materialismus bzw. der materialistischen Dialektik hervorzuheben, muß Bloch gegenüber Formen eines kodifizierten Marxismus gerade die offene Seite der Dialektik akzentuieren. Die feststehenden, ausgearbeiteten Bestandteile des dialektischen Materialismus, z.B. die Kritik der politischen Ökonomie oder die Systematisierung bereits geleisteter begrifflicher Bestimmungen werden dabei nicht negiert, sondern vorausgesetzt.

Blochs Anliegen ist es, den „Wärmestrom" des Marxismus, seine emotional und moralisch motivierende Seite wieder lebendig zu machen, denn - die ist ihm selbstverständlich - ohne dieses Moment ist die revolutionäre Aktivierung des subjektiven Faktors gesellschaftlicher Veränderung nicht möglich. Gerade der subjektive Faktor wird aber, sind die gesellschaftlichen Widersprüche erst einmal entfaltet, zum entscheidenden.

Wichtigster Schritt für die Umsetzung dieses Anliegens ist für Bloch die Herausarbeitung konkreter Antizipation der noch offenen Entwicklung. Die Utopie, die seit Jahrhunderten philosophisch der Versuch solcher Antizipation ist, kann auf marxistischer Grundlage wissenschaftlich begründet und konkret mit der gegebenen Situation vermittelt werden, sie ist konkret geworden. Damit ist auch die menschliche Hoffnung nicht mehr darauf verwiesen, sich in abstrakten religiösen Nebelbildern zu verflüchtigen oder in der Kunst ihren nur künstlerischen Ausdruck zu suchen. Sie kann sich vielmehr immanent im materiell-gesellschaftlichen Prozeß selbst ausdrücken, ist aufklärend und begrifflich faßbar, wird zur docta spes.

Dies herauszuarbeiten und in konkreten Einzelanalysen für unterschiedliche Bereiche aufzuzeigen, ist das Ziel der Blochschen Philosophie.

ANMERKUNGEN

1) Als Beispiel hierfür sei die Einführung Detlef Horsters genannt: der versucht, den marxistischen Ansatzpunkt Blochs an Hand einer Beziehung zur Weltformanalyse des Kapitals zu verdeutlichen.

2) Diese Auffassung wird von der DDR-Philosophie spätestens seit 1957 vertreten, s. hierzu vor allem: R. O. Gropp u.a., Ernst Blochs Revision des Marxismus; M. Buhr, Der religiöse Ursprung und Charakter der Hoffnungspliilosophie Ernst Blochs.

3). hierzu z.B.: H. Gollwitzer, Die Existenz Gottes im Bekenntnis des christlichen Glaubens und J. Haar, Ernst Bloch „Das Prinzip Hoffnung" Marxistische Eschatologie.

4). Werner Maihofer, „Ernst Blochs Evolution des Marxismus," in, G. Busch (Red.), über Ernst Bloch. Eine zureichende Kritik solcher Rezeption liefert H. H. Holz in. Lagos ipermalikos.S. 13-16.

5) H. H. Holz, Lagos spermatikos.

6) a.a.O., S. 9-10 und S. 216-221.

7) J. v. Kempski, „Hoffnung als Kritik," in, Neue Deutsche Hefte, vol. 5, S. 913-927.

8) Th. W. Adorno, „Große Blochmusik," in, Neue Deutsche Hefte, vol. 6, S. 14-26.

9) H. Mehringer/G. Mergner, „Ernst Bloch und die Dialektik der Natur" (nicht gesondert gezeichneter Beitrag), in H. Mehringer/G. Mergner, Debatte um Engels, vol. 2, S. 98-

10) M. Buhr, Der religiöse Ursprung, S. 591.

11) H. Kimmerle, „Materie und Dialektik," in H. Kimmerle, Die Zukunftsbedeutung der

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Hoffnung,J1974, S. 2l5-223.

12) Bloch, Tübinger Einleitung, vol. i, S. 7 und 8; Einfügung im Zitat von der Verfasserin.

13) "Zu dem gegenüber Engels differenzierenden Sprachgebrauch äußert sich Bloch im Materialismusproblem, S. 360.

14) Bloch, Subjekt - Objekt, S. 519.

15) ebenda

16) Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 271-278.

17 In diesem Punkt findet sich Bloch durchaus in der Tradition von Lukäcsund Korsch, die den Revisionismus der II. Internationale von einem ähnlichen Ansatzpunkt aus kritisiert haben. Für Bloch ist dies jedoch gleichermaßen ein Kriterium der Kritik gegenüber Verflachungen des Marxismus im realen Sozialismus Osteuropas wie gegenüber Verharmlosungen des Marxschcn Ansatzes in der westlichen Sozialdemokratie.

18) Gespräche mit Ernst Bloch, S. 132.

19) Ebenda.

20) Gespräche mit Ernst Bloch, S. 133.

21) s. z.B. J. Moltmann, „Messianismus und Marxismus," in, G. Busch (Red.), über Ernst Bloch, S. 42-46.

22) Bloch, Tübinger Einleitung, vol. l, S. 8.

23) a.a.O., vol. 2, S. 171.

24) Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 2.

25) s. hierzu: Bloch, Subjekt-Objekt, S. 121-123.

26) Bloch, Tübinger Einleitung, vol. 2, S. 63.

27) Ebenda.

28) a.a.O., S. 57-

29) Bloch, Subjekt- Objekt, S. 123.

30) Bloch, Tübinger Einleitung, vol. 2, S. 53.

31) Bloch, Subjekt-Objekt, S. 126.

32) Bloch, Tübinger Einleitung, vol. 2, S. 58.

33) Bloch, Subjekt - Objekt, S. 124.

34) "a.a.O.,S. 147. , .

35) Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 360-364.

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36) Bloch. Subjekt - Objekt, 8.125.

37) a.a.O., S. 138.

38) a.a.O., S. 139, Einfügung im Zitat von den Verfasserin.

39) Bloch, Experimenlum Mundi, S. 64.

40) Bloch, Tübinger Einleitung, vol. 2, S. 61.

41) Bloch, Materialismusproblem, S. 83.

42) Bloch, Subjekt - Objekt, S. 412.

43) Bloch bezieht sich hier auf eine von Marx aufgenommene Kategorie J. Böhmes.

44) Bloch, Materialismusproblem, S. 367.

45) a.a.O., S. 316-358.

46) a.a.O., S. 412.

47) Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf: Bloch, Materialismusproblem, S. 304-315; 372-376; 456-469

48) a.a.O., S. 459.

49) a.a.O., S. 311 f-

50) Die folgende Analyse bezieht sich auf Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 288-318.

51) Die 11. These wird von Bloch als Losungswort für die neue - dialektisch-materialistische - Philosophie eingeordnet, s. hierzu weiter oben Punkt B. l.

52) Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 307.

53) a.a.O., S. 306.

54) Bloch, Tübinger Einleitung, vol. 2, S. 53.

Editorische Anmerkung

Der Aufsatz ist das 7. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beitráge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 161-184

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MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIKBEITRÁGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von HEINZ KIMMERLE

05/07

trendonlinezeitung

Kapitel VIIIFRANKFURTER SCHULE (ADORNO UND MARCUSE)

Steffen Kratz, Beate Verhörst

Zur Kapitelübersicht

A. VORBEMERKUNGEN ZUM THEORETISCHEN KONTEXT DER .FRANKFURTER SCHULE*

Wenn im Folgenden das Dialektik-Modell der „Frankfurter Schule" oder der „Kritischen Theorie" - beide Bezeichnungen werden mehr oder minder unonym verwandt - betrachtet wird, so wollen wir uns damit nicht in die Diskussion darüber einlassen, wieweit die Rede von einer Schule überhaupt Berechtigung beanspruchen darf. Schon gar nicht kann es darum gehen, wer heute noch zu Recht oder Unrecht der „Frankfurter Schule" zugeordnet »erden kann.

Habermas etwa teilt mit Adorno und Horkheimer zwar den Ansatz der Positivismuskritik, nicht aber die Grundgedanken der „Dialektik der Aufklärung" und der „Negativen Dialektik." Auch O. Negt u.a., die publizistisch der „Frankfurter Schule" zugerechnet werden, stehen dieser eher distanziert gegenüber.

Dennoch läßt sich für die Begründer der „Kritischen Theorie" Horkheimcr, Adorno und - mit Einschränkungen - Marcuse eine Gemeinsamkeit festmachen, die in der durchgängigen Überzeugung von der Negativität der Gesellschaft und Geschichte besteht. In Horkheimers programmatischem Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie" (1937) sowie in seiner gemeinsam mit Adorno verfaßten Arbeit „Dialektik der Aufklärung" (1947) findet sich hierzu eine erste Selbstverständigung.

Die Problematik der Negativität der Gesellschaft mit dem philosophisch-theoretischem Implikat einer Negativen Dialektik soll vor allem im ersten Teill zu Adorno behandelt werden, während die Auseinandersetzung mit Marcuse, die eher chronologisch angelegt ist, zu zeigen vermag, wie in der .Kritischen Theorie" durchaus divergierende theoretische Positionen miteinander kompiliert werden und schließlich eine Abkehr von grundsätzlichen Theoremen des Marxismus erfolgt.

Auch in diesem Zusammenhang sind in der Tat symptomatische Gemeinsamkeiten der Theoretiker der „Frankfurter Schule" zu verzeichnen. So ist der Versuch einer Integration der Psychoanalyse in eine „kritische Theorie der Gesellschaft," die sich zunächst auf die Marxschen politökonomischen Analysen stützt und sich durchaus marxistisch versteht, durchgängig. Ferner erlangt Hegel eine zentrale Bedeutung, wobei zu vermerken ist, daß die Kritik an dessen Philosophie und Dialektik letztlich dann auch auf Marx gemünzt ist. Philosophiehistorisch läßt sich daher das Konzept der „Kritischen Theorie" im Umkreis des Junghegelianismus verorten. Besonders Adorno bekennt sich explizit zu diesem. Sachlich ist diese Beziehung dort festzumachen, wo Adorno wie Bruno Bauer die Hegelsche Figur der Negation der Negation durch eine absolute Negativität zu ersetzen sucht, was sich in der Einschätzung der bestehenden Gesellschaft als einer total unwahren begründet, gegen die Theorie äußerste Distanz bewahren muß, um ihre kritische Potenz zu behaupten. Zum anderen wird ein Zusammenhang mit Feuerbach und Stirner dort erkennbar, wo Adorno sein Interesse am Konkret-Besonderen erklärt und die abstrakte Allgemeinheit traditioneller Philosophie diffamiert.

Darüber hinaus lassen sich weitere Einflüsse verschiedener Theoretiker verzeichnen, so für Marcuse Heidegger mit seiner Existentialontologie, für Horkheimer in zunehmendem

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Maße Nietzsche und Schopenhauer, für Adorno schließlich Nietzsche und Kierkegaard.

B. KONTURIERUNG DER KONZEPTION THEODOR WIESENGRUND ADORNOS NACH IHREN ASPEKTEN UND STADIEN

1. Das Verhältnis von Adornos „Negativer Dialektik"' zu seinen materiellen Modellanalysen

Das Konzept einer Dialektik, die sich selbst als eine „negative" bezeichnet, nimmt seinen Ausgangspunkt und seine Begründung von der Differenz zu anderen Modellen her, versteht sich mithin vordringlich als ein kritischer Gegenentwurf.

Dem soll in der Darstellung des Adornoschen Dialektikbegriffes dadurch Rechnung getragen werden, daß zunächst die Kritik Adornos am theoretischen Diskurs der traditionellen Philosophie behandelt wird. Die sich daran anschließende Darstellung der Auseinandersetzung Adornos mit Hegel leitet über zu Adornos eigener Konzeption von Dialektik, gewinnt er diese doch in einer gleichzeitigen Wiederaufnahme und kritischen Distanzierung von der Hegeischen Dialektik.

Die Rekonstruktion von Adornos Dialektikbegriff stützt sich im wesentlichen auf die beiden Arbeiten „Dialektik der Aufklärung" und die „Negative Dialektik." Nach den Worten ihres Autors soll die „Negative Dialektik" die „Karten auf den Tisch"(1) legen; zwar kann sie die materialen Arbeiten Adornos nicht einer Begründung zuführen, indem sie gewissermaßen eine Methodologie erstellt, wäre dies doch für Adorno nichts anderes als ein Rückfall in das traditionelle Verständnis von Philosophie als Metatheorie, die „Negative Dialektik" vermag jedoch die vielfältigen Schriften zur Gesellschaft, Literatur, Musik usw. und deren Verfahren zu rechtfertigen.

Nun ist die „Negative Dialektik" selbst ein philosophisches Werk von äußerster Abstraktheit, das sich dem Verständnis nur dann öffnet, wenn man « an das Gesellschafts- und Geschichtsverständnis Adornos zurückkoppelt. Das Verhältnis der „Negativen Dialektik" zu der „Dialektikder Aufklärung," aber auch zu den „Prismen," den „Eingriffen" usw. läßt sich also als ein solches ,,subtile(r) theoretische(r) Aufarbeitung und Reproduktion"(2) beschreiben. Eine Darstellung von Adornos Dialektikbegriff sieht sich damit veranlaßt, auf Adornos Gesellschaftsbegriff zu rekurrieren, da dieser seinerseits wiederum das Konzept einer Negativen Dialektik rechtfertigt.

2. Kritik am Identifikationsprinzip einer ,prima philosophia in der „Dialektik des Aufklärung" (1947)

Die Intentionen des Adornoschen Philosophierens werden greifbar in der Vorrede zu der gemeinsam mit Max Horkheimer verfaßten Arbeit „Dialektik der Aufklärung." Es geht um „die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art \on Barbarei versinkt."(3) Zwar sind die Autoren überzeugt, „daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist,"(4) jedoch muß der offensichtliche „Rückfall(s) von Aufklärung in Mythologie"(5) geklärt werden durch eine kritische Reflexion auf Anliegen und Tendenzen der Aufklärung selbst. Wo Aufklärung, die die Emanzipation der Menschheit ;um Ziel hatte, sich mit herrschendem Unrecht widerspruchslos verbindet, ist es unerläßlich, sie kritisch zu hinterfragen. Erst indem aufklärerisches Denken das ihr eigene rückläufige Moment reflektiert, kann aus einer Kritik an ihr ein positiver Begriff von Aufklärung, die nicht mehr mit blinder Herrschaft zusammengeht, herauspräpariert werden.

Der Begriff der Aufklärung wird ähnlich wie der Positivismusbegriff innerhalb der „Kritischen Theorie" mehr als ein Etikett, denn in seiner philosophiehistorischen Bedeutung verwandt. Aufklärung meint dabei jenes Bemühen der Menschen, sich aus der Abhängigkeit von Natur zu befreien, wobei Horkheimer und Adorno schon in den griechischen Mythen einen ersten Niederschlag von Aufklärung erblicken.

Dabei wird für die Aufklärung die Emanzipation des menschlichen Subjekts und die

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Naturbeherrschung zu ein und demselben Anliegen. An dieser „Verwechslung von Naturbeherrschung und Ansichsein"(6) setzt Adornos Kritik der Aufklärung an.

Jene philosophische Reflexion, die beides - Emanzipation des Subjekts und Naturbeherrschung - widerspiegelt und zugleich legitimiert, erkauft nämlich die Konstituierung des autonomen Subjekts durch eine solche Vin-dizierung der Natur, die diese zum bloßen Objekt herabsetzt. Jede Besonderheit, jegliche Qualität wird getilgt, um die Natur dem Subjekt kommensurabel zu machen, d.h. sie als vom Subjekt konstituierte zu begreifen.

Die traditionelle Philosophie ist auf der Suche nach einem ursprünglichen Prinzip, sie ist damit prima philosophia. Aus diesem Prinzip soll sich alles herleiten lassen, womit die Identität von Subjekt und Objekt erreicht wäre. Daß dieses Prinzip als ein subjektives ausgegeben wird, kennzeichnet diese Philosophie zwar als Idealismus, nicht aber ist Identitätsphilosophie und Idealismus identisch. Auch jede Position, die im Sein, in Natur oder Materie ein Erstes erblickt, ist prima philosophia, geht auf Identität und wird damit für Adorno letzlich Ideologie.

Adornos Kritik an Ursprungsphilosophie bzw. prima philosophia entfaltet sich nun an ihren Voraussetzungen und Konsequenzen. Zunächst einmal muß eine solche Philosophie auf ein Allgemeines gehen, letztlich auf ein Abstraktes. „In dem als philosophisch Ersten behaupteten Prinzip soll schlechthin alles aufgehen, gleichgültig, ob dies Prinzip Sein heißt oder Denken, Subjekt oder Objekt, Wesen oder Faktizität. Das Erste der Philosophen erhebt totalen Anspruch: es sei unvermittelt, unmittelbar.... Aber ein jegliches Prinzip, auf welches Philosophie als auf ihr erstes reflektieren kann, muß allgemein sein, wenn es nicht seiner Zufälligkeit überführt werden will. Und ein jegliches allgemeines Prinzip eines Ersten, wäre es auch das der Faktizität im radikalen Empirismus, enthält in sich Abstraktion."(7)

Die Kürzung der Natur auf ein bloßes Objekt, das nur noch zum Gegenstand der Beherrschung und Berechnung wird, ist letzte Konsequenz der Aufklärungsphilosophie, womit Vernunft zur rein instrumentellen degradiert wird. Philosophie verfährt hier nach dem Modell der Naturwissenschaften, „Verfügbarkeit stiftet das Bündnis zwischen Philosophie und Mathematik,"(8) denn die Philosophie, die in der Herrschaft des Subjekts über die Natur die Emanzipation des Subjekts erblickt, streicht per Abstraktion allei weg, was sich dieser Beherrschung am Objekt sperrt. Machbarkeit und Kalkulierbarkeit avancieren so zum obersten Wahrheitskriterium. „Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann."(9)

Mit jener Vereinnahmungsstrategie, die Ursprungsphilosophie betreiben muß, will sie ein ursprünglich Erstes behaupten, wird Aufklärung gewissermaßen totalitär. Dies schlägt sich auch dort nieder, wo das Ideal der Philosophie „das System (ist), aus dem alles und jedes folgt."(10)

Da Identität sich lediglich in einer abstrakten Allgemeinheit behaupten kann, geht nicht nur das Objekt, die Natur, jeglicher Qualität verlustig, sondern ebenso sehr das Subjekt, das Ich, dessen Emanzipation das Ziel war. „Die disqualifizierte Natur wird zum chaotischen Stoff bloßer Einteilung und das allgewaltige Selbst zum bloßen Haben, zur abstrakten Identität."(11) Und im Hinblick auf die Kantische Philosophie vermerkt die „Dialektik der Aufklärung": ,,... die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird von ihm übriggelassen, als eben jenes ewig gleiche Ich denke, daß alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Subjekt und Objekt werden beide nichtig."(12)

Abzulesen ist dies an der durchgängigen Trennung von transzendentalem und empirischem Ich. Das empirische Ich könnte seine Abhängigkeit von äußerer und innerer Natur niemals leugnen; es als autonom zu setzen, es als Unbedingtes zum Konstituens alles Bedingten zu machen, wäre höchstens lächerlich. Nur ein transzendentales Subjekt, dessen Beziehung zum empirischen der Idealismus immer ungeklärt ließ, vermag dies von sich zu behaupten. So geht zwar die „Gleichung von Geist und Welt ... am Ende auf, aber

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nur so, daß ihre beiden Seiten gegeneinander gekürzt werden."(13)

Das Identifikationsprinzip führt in der Konsequenz zur Vergewaltigung des Konkreten, Einzelnen, an der Natur sowohl wie am Menschen. Die wachsende Beherrschung der Natur durch den Menschen schlägt um in eine anonyme Herrschaft einer zweiten Natur (der Gesellschaft) über das einzelne Subjekt. In der Philosophie spiegelt sich dies wider als Desinteresse am Einzelnen, Besonderen, Konkreten, wodurch sie menschenfeindlich wird. In der Kritik des Allgemeinen der Philosophie, wodurch notwendig das Recht des Einzelnen unterdrückt wird, steht Adorno durchaus in der Tradition Kierkegaards, den er nichtsdestoweniger heftig kritisiert, aber auch in der Tradition junghegelianischer Positionen wie derjenigen Feuerbachs oder Stirners.

Die philosophischen Kategorien des Einzelnen und Allgemeinen haben dabei bei Adorno nicht zuletzt die Konnotation von Individuum einerseits und Gesellschaft andererseits. Nur das Beharren auf der Nichtidentität gegenüber der abstrakten Identität - jenem zentralen Motiv im Denken Adornos - vermag das Individuum angemessen ins Spiel zu bringen, kann das Recht desselben gegenüber der immer totaler werdenden Gesellschaft behaupten. Identitätsdenken dagegen richtet sich auf das Allgemeine, das Invariante, das Ewiggleiche, wogegen das Einzelne ihr nur unwesentliches Beispiel ist. Hier schlägt sich für Adorno der Haß des einmal etablierten Bürgertums gegen jegliche Veränderung nieder, alles Veränderliche wird der Unwahrheit geziehen. „Mit der Unterschiebung des Bleibenden als des Wahren, wird der Anfang der Wahrheit zum Anfang der Täuschung. Es ist ein Fehlschluß, was dauert, sei wahrer, als was vergeht."(14) Das Identifikationsprinzip ist Adornos zentraler Angriffspunkt. Für dieses versucht er auch eine materialistische Erklärung zu geben, indem er es als theoretischen Widerschein der warenproduzierenden Gesellschaft faßt, es hat am Tausch ,,sein gesellschaftliches Modell, und es wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch."(15) An diesem Punkt ist auch schließlich der letzte und einzige Bezug von Adorno auf Marx anzutreffen. Politökonomische Analysen liegen nicht in Adornos Interesse; er betreibt Kultur- und Ideologiekritik, die ihre Legitimation darin findet, daß Identitätsdenken auf den Warentausch als seine materialistische Basis zurückgeführt wird. Identität und Identifikation ist allgemeines Strukturmerkmal der gesellschaftlichen Totalität. „Herrschaft" - so führt Rohrmoser aus - „gründet also für Adorno in letzter Instanz in dem Gesetz der Identität."(16)

Zentrale Motive für Adornos Negative Dialektik sind in seiner Kritik an prima philosophia bereits versammelt. Gegen das Interesse am Allgemeinen, das nur um den Preis der Abstraktion sich durchsetzen kann, hat heutige Philosophie ihr Interesse am Einzelnen, Besonderen, Begriffslosen. Ebenso gilt es die Verwechslung der Autonomie des Subjekts mit der Naturbeherrschung umzukehren und den Vorrang des Objekts anzuerkennen, denn „allein in der Erfahrung der eigenen Naturhaftigkeit entragt der Genius der Natur."(17) Schließlich ist das zentrale Motiv der Identitätsphilosophie selbst aufzubrechen; der Fiktion einer Identität von Subjekt und Objekt, von Begriff und Sache, die sich ja nur deshalb behaupten kann, weil die Sache so abstrakt zugerichtet ist, daß sie in der Tat nicht mehr erreicht und begriffen wird, ist das konsequente Bewußtsein der Nichtidentität entgegenzusetzen.

Diesen Aufgaben kann sich aber nur eine differenzierte Subjekt-Objekt-Dialektik stellen, die damit für Adorno dem Anliegen nach, nicht aber in der Durchführung der Hegeischen Philosophie entspricht.

3. „Hege! retten" und „Lossage von Hegel"

„Wie die Kritik der angeblich ersten philosophischen Begriffe zur Dialektik treibt,"(18) so wird auch die Dialektik Hegels motiviert durch das „verhängnisvolle(n) Erbe der traditionellen Metaphysik, der Frage nach einem letzten Prinzip, auf das alles sich müsse zurückführen lassen."(19)

Dagegen hat Hegel auf der dialektischen Vermittlung von Subjektivität und Objektivität bestanden; die kritische Erfahrung der Gegenstände ist zusammenzuzwingen mit dem

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kritischen Bewußtsein der Vernunft von sich selbst. Auf diese Weise ist das Konstitutionsverhältnis von Subjekt und Objekt ein wechselseitiges. In diesem Ansatz einer Subjekt-Objekt-Dialektik ist Adorno Hegel durchgängig verbunden.

Der vielbeschworene realistische Inhalt der Hegeischen Philosophie ist für Adorno auch nicht von Hegels Spekulation abzuschneiden, sondern als deren Konsequenz zu bewerten. Gerade im absoluten Idealismus wird der Gegensatz von Inhalt und Form -jenes Problem der Kantischen Philosophie -, von formgebendem Bewußtsein und bloßem äußeren Stoff aufgelöst. Erst die Hegelsche Dialektik schafft die Möglichkeit, die Gegenstände nicht nur als durchs Subjekt zugerichtete zu begreifen, sondern sich ihnen auch gewissermaßen passiv zu überlassen. Das ist mit Hegels „bloßem Zusehen" gemeint, mit dem er seine Methode in der „Phänomenologie" beschreibt.

In einer Philosophie des Absoluten, die sowohl Subjekt wie Objekt unter sich begreifen will, können beide sachhaltig werden, und damit der abstrakten Leere, die ihnen in einer prima philosophia anhaftet, entkommen. „Die Sachen reden selber in einer Philosophie, die sich stark macht zu beweisen, daß sie selbst eins sei mit den Sachen."(20)

Allerdings steckt in dem Absoluten Hegels auch das Skandalen seiner Philosophie, denn das „Hegeische Subjekt-Objekt ist Subjekt"(21) und als „idealistische war auch Dialektik Ursprungsphilosophie."(22) Indem Hegel Subjekt und Objekt in eine Identität zwingen will, und diese dann als Subjektivität, gewissermaßen als absolutes Ich begreift, vergeht er sich an seinem eigenen Begriff von Dialektik. Die dialektische Kategorie der Vermittlung darf nach Adorno nämlich nicht als ein Mittleres zwischen den Extremen, über die es hinaus wäre, gefaßt werden, sondern „die Vermittlung ereignet sich durch die Extreme hindurch in ihnen selbst."(23) Dem Identitätszwang, dem die Dialektik ja gerade opponieren wollte, indem sie die Nichtidentität, wenn auch innerhalb einer Vermittlungsstruktur, zu denken gestattete, erliegt Hegel schließlich selbst. Er bezahlt das damit, daß sein absolutes Subjekt ebenso wie das der Kantischen oder Fichteschen Philosophie beziehungslos zum empirischen Subjekt wird. Dies zeigt sich nicht nur da, wo Hegel die Individualität abwertet, sondern vor allem dünn, wenn er vorgeblich das Besondere verhandelt. Obgleich er eine Dialektik des Besonderen intendierte, schreckt er doch vor dieser zurück, denn sie würde ihm seine Identitätskonzeption verbieten, die sich eben nur auf der Ebene des Allgemeinen einrichten läßt. Adorno nennt es eine Spiegelfechterei, wenn Hegel anstelle des Besonderen „den allgemeinen Begriff von Besonderung schlechthin, etwa von .Existenz,' in dem es kein Besonderes mehr ist,"(24) unterschiebt. Nicht von wahrhaft Besonderem, sondern von Besonderheit, einem bereits Begrifflichen, ist bei Hegel die Rede.

Andererseits aber ist die Unwahrheit der Hegeischen absoluten Philosophie, die Adorno an Begriffen wie Totalität, Identität, Negation der Negation usw. festmacht, zugleich als ihre Wahrheit zu dechiffrieren. „Die Wahrheit Hegels hat ... ihren Ort nicht außerhalb des Systems, sondern sie haftet an diesem ebenso wie die Unwahrheit. Denn diese Unwahrheit ist keine andere als die Unwahrheit des Systems der Gesellschaft, die das Substrat seiner Philosophie ausmacht."(25)

So ist das Allgemeine Hegels mit seiner Dominanz über das Besondere zu verstehen als philosophischer Reflex jener Gesellschaft, durch deren Strukturen auch jeder Einzelne von vornherein formiert ist und zum bloßen Funktionsträger eines ihm undurchschaubaren Allgemeinen wird. Das in sich geschlossene und abgeschlossene System Hegels, das durch seine Invarianz jeder Dynamik widerstreitet, spiegelt letztlich die kapitalistisch antagonistische Totalität wider, die sich durch ihre Widersprüche hindurch konstituiert und erhält, diese aber nicht zu schlichten vermag.

„Die Nichtidentität des Antagonistischen, auf die sie (die Hegelsche Philosophie, d.V.) stößt und die sie mühselig zusammenbiegt, ist die jenes Ganzen, das nicht das Wahre, sondern das Unwahre, der absolute Gegensatz zur Gerechtigkeit ist."(26) Gesellschaft ist sehr wohl ein System, eine Totalität, aber keine versöhnte, sondern eine in sich widersprüchliche. Wo Hegel die Versöhnung philosophisch versichert, die real aussteht, da macht er sich schuldig, wird seine Philosophie zur bürgerlichen Rechtfertigungsideologie.

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„Die philosophische Antizipation der Versöhnung frevelt an der realen."(27)

Die kritische Strategie, die das Wesen der Dialektik eigentlich ausmacht und die von Hegel zwecks philosophischer Versöhnung verraten wurde, muß durch eine Lossage von Hegel behauptet werden. Diese Lossage beinhaltet für Adorno zentral die Absage an die Figur der Negation der Negation als einer Position, wogegen die bestimmte Negation, d.i. absolute Kritik zu setzen ist. ,,Die Gleichsetzung der Negation der Negation mit Positivität ist die Quintessenz des Identifizierens, das formale Prinzip auf seine reinste Form gebracht. Mit ihm gewinnt im Innersten von Dialektik das antidialektische Prinzip die Oberhand, jene traditionelle Logik, welche more arithmetico minus mal minus als plus verbucht."(28)

„Demgegenüber hat unbeirrte Negation ihren Ernst daran, daß sie sich nicht zur Sanktionierung des Seienden hergibt. Die Negation der Negation macht diese nicht rückgängig, sondern erweist, daß sie nicht negativ genug war ... Das Negierte ist negativ, bis es verging. Das trennt entscheidend von Hegel."(29)

Trotz allem aber ist Hegel für Adorno von entscheidender Bedeutung, letzlich bedient er sich „Hegels als Negativfolie."(30) War für Hegel die Geschichte ein Fortschritt der Vernunft, so ist sie für Adorno dagegen ein Fortschreiten der Unvernunft, der Barbarei, was sich etwa in Auschwitz konsequent manifestiert. Grundsätzlich aber zeigt Adornos Rückgang hinter Marx auf Hegel und damit auf die Philosophie, was sich darin rechtfertigen soll, daß der „Augenblick ihrer (der Philosophie, d.V.) Verwirklichung versäumt ward,"(31) die generelle Problematik seiner Philosophie an. Löwith hat dazu einmal treffend bemerkt: „Nur ein utopischer Marxismus wie der von H. Marcuse, Adorno und Horkheimer, der keine praktische Entscheidung trifft, sondern stattdessen eine permanente Kritik alles Bestehenden kultiviert, kann sich der Illusion hingeben, auf dem Boden von Hegels Dialektik zu operieren und zugleich das Anliegen von Marx in sublimierter Weise zur Geltung zu bringen."(32)

4. „Negative Dialektik" (1966)

In Adornos Auseinandersetzung mit der Hegeischen Dialektik scheint sein eigener Begriff von Dialektik schon auf. Zunächst einmal ist Dialektik nicht bloß Methode, denn die Unversöhntheit, die Widersprüche, die sie wahrnimmt, sind die Widersprüche der Sache selbst. Jedoch ist sie auch kein schlicht Reales, denn Widersprüchlichkeit ist eine Reflexionskategorie, betrifft die Konfrontation von Begriff und Sache. „Dialektik als Verfahren heißt, um des einmal an der Sache erfahrenen Widerspruches willen und gegen ihn in Widersprüchen zu denken. Widerspruch in der Realität, ist die Widerspruch gegen diese."(33) Da die Widersprüche der Sache angehören, kann eben Identitätsdenken der Sache selbst nicht gerecht werden. Jede Identitätsphilosophie leugnet das, was auch die antagonistische Gesellschaft verleugnen will: ihre Nichtidentität, ihre widersprüchliche Struktur. „Identität ist die Urform von Ideologie."(34)

Gegen den Identitätszwang vermag nur dialektisches Denken zu opponieren, denn ihr „Name sagt zunächst nichts weiter, als daß die Gegenstände in ihrem Begriff nicht aufgehen, daß diese in Widerspruch geraten mit der hergebrachten Norm der adacquatio."(35) Zwar ist Dialektik „das konsequente Bewußtsein der Nichtidentität,"(36) doch würde dies als bloße Behauptung ein Problem übersehen, was mit der Sprache und dem Denken selbst gegeben ist. Denken nämlich bedeutet Identifizieren, „jede Bestimmung ist Identifikation."(37) Ein jeglicher prädikativer Satz drückt in der Kopula „ist" schon eine Identifikation aus, woraus denn auch Hegel am Eingang der „Phänomenologie" die Tugend des Idealismus macht. Ein konkretes Dieses oder Jetzt läßt sich nicht sagen, und so verrät für Hegel schon die sinnliche Gewißheit, wenn sie sagen will, was sie meint, daß nur das Allgemeine die Wahrheit ist. Doch hat dialektisches Denken für Adorno gerade die Aufgabe, den Widerspruch des Denkens gegen das Konkret-Besondere, den Gegensatz von Identität (auf die das Denken notwendig verwiesen ist) und Nichtidentität (wonach die Sache im Denken nicht aufgeht) auszuhalten. Daß es sich hierbei letztlich um eine Aporie bzw. um ein Paradoxon handelt, weiß auch Adorno, dem er jedoch selbst wieder auf paradoxe Weise zu entgehen glaubt, wenn er erklärt: „Dialektisch ist Erkenntnis des Nichtidentischen auch darin, daß gerade sie, mehr und anders als das

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Identitätsdenken, identifiziert."(38)

Die von Adorno geforderte differenzierte Subjekt-Objekt-Dialektik, die dem Identitätszwang entgehen und sich der Nichtidentität zuwenden soll, soll zugleich auch dem bisher entqualifizierten, unterdrückten Objekt einen Vorrang einräumen, was allerdings keineswegs bedeutet, daß nun dem Subjekt eine untergeordnete Rolle zugewiesen wird. „Im schroffen Gegensatz zum üblichen Wissenschaftsideal bedarf die Objektivität dialektischer Erkenntnis nicht eines Weniger, sondern eines Mehr an Subjekt."(39)

Hier ist sicher das problematischste Moment der Adornoschen Konzeption berührt, soll doch der Trug der konstitutiven Subjektivität „kraft des Subjekts"(40) durchbrochen werden. Im Kontext eines allgemeinen gesellschaftlichen Verblendungszusammenhanges und der offiziellen Verherrlichung von Subjektivität und der realen Depravation von Individualität ist Kritik nur noch denen vorbehalten, die die verwaltete Welt „nicht ganz gemodelt hat."(41) So wird Kritik am Privileg selbst zum Privileg; wo Gesellschaft das Bewußtsein völlig determiniert und vereinnahmt hat, sind nur noch Einzelne kraft ihrer Subjektivität zur Kritik befähigt. Die Möglichkeitsbedingung für Opposition und gesellschaftliche Veränderung wird von Adorno ins Subjekt zurückverlagert. Dieser Rückzug auf das Subjekt ist aber die notwendige Konsequenz von Adornos Gesellschaftsauffassung. Ist Gesellschaft gekennzeichnet als absolute Negativität, geradezu als der Ort der Unwahrheit, dann kann Wahrheit nur noch im Subjekt gefunden werden. Hieraus resultiert auch der vieldiskutierte Praxisverzicht der „Kritischen Theorie," denn der totale Verblendungszusammenhang, der die heutige Gesellschaft charakterisiert und dem auch das Proletariat nicht entgeht, reduziert jede Praxis für Adorno auf ein „Mitmachen," das Bestehendes nicht nur nicht ändert, sondern geradezu stabilisiert. Nur im reflektierenden Subjekt vermag sich Opposition zu erhalten, die allerdings konkret in nichts anderem besteht als in einem „Heraushalten."

Andererseits geht der Rückzug aufs Subjekt, das allein heutigem Denkzwang entrinnen kann, auch über in Esoterik, wonach eben „Kriterium des Wahren ... nicht seine unmittelbare Kommunizierbarkeit an jedermann"(42) ist, weil „gegenwärtig jeder Schritt zur Kommunikation hin die Wahrheit ausverkauft und verfälscht."(43) Die Subjekt-Objekt-Dialektik, die zwar den Vorrang des Objekts betont, zugleich aber auch den Standpunkt des Subjekts behauptet, rechtfertigt sich für Adorno in der Erkenntnis, hinter die nicht zurückgegangen werden kann, daß die Subjekte zwar durch die gesellschaftliche Objektivität determiniert sind, letztere aber sich nur durch die Subjekte hindurch durchsetzt und ihr Produkt ist. „Erst der Idealismus hat die Wirklichkeit, in der die Menschen leben, als eine nicht von ihnen unabhängige und invariante durchsichtig werden lassen. Ihre Gestalt ist menschlich und noch die schlechterdings außermenschliche Natur vermittelt durch Bewußtsein. Das können die Menschen nicht durchstoßen: sie leben im gesellschaftlichen Sein, nicht in Natur."(44)

Adornos Objektbegriff fällt so schließlich zusammen mit dem gesellschaftlicher Objektivität, eine Dialektik der Natur ist für ihn undenkbar, denn ohne „das Moment subjektiver Reflexion wäre jeglicher Begriff von Dialektik nichtig."(45)

Daraus folgt die Ablehnung einer Position als undialektisch, als Perversion des dialektischen Materialismus, die in der Natur oder Materie das Erste erblickt und im Bewußtsein ein Abgeleitetes. Adorno unterschiebt dabei eine solche Auffassung Lenin, indem er dessen Konzeption auf eine simple Abbildtheorie reduziert. Konsequent wird dann auch eine solche Position als ideologisch diffamiert, denn Ideologie „steckt in der Substruktion eines Ersten selbst, gleichgültig fast welchen Inhalts, in der impliziten Identität von Begriff und Sache, welche die Welt auch dann rechtfertigt, wenn summarisch die Abhängigkeit des Bewußtseins vom Sein gelehrt wird."(46)

Den Vorrang des Objekts proklamiert Adorno deshalb, weil das Subjekt „ganz anders ins Objekt (fällt) als dieses in jenes."(47) „Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt,"(48) denn das Subjekt ist immer auch selbst ein Objekt, ist dies in der Leiblichkeit des konkreten Subjekts, wodurch die Körperlichkeit zu jener Dignität gelangt, von der der transzendentale Subjektbegriff der traditionellen Philosophie abstrahiert hatte und abstrahieren mußte, um dem Subjekt eine konstitutive

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Funktion zuzusprechen.

Einerseits wird so Dialektik im Übergang zum Vorrang des Objekts materialistisch, zum anderen nimmt sich die philosophische Reflexion gewissermaßen des leiblichen Moments an, d.h. läßt menschliches Leiden beredt werden. „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt."(49)

Das subjektive Leiden als Bedingung von Wahrheit ist damit auch die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß selbst innerhalb eines totalen gesellschaftlichen Verblendungszusammenhanges Wahrheit überhaupt noch auftreten kann.

Im Vorrang des Objekts und dem damit verbundenen Interesse an körperlichem Leiden „konvergiert das spezifisch Materialistische mit dem Kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis,"(50) die darauf abzielt, das Leiden der Gattung aufzuheben.

Daß sich Adorno hierbei standhaft weigert, Aussagen über die gesellschaftlichen Tendenzen, über einen „richtigen Zustand" zu machen - jenes berühmte Bilderverbot -, begründet sich in der Einsicht, daß der Zwang des Allgemeinen, der Gesellschaft, durch das Individuum eben doch nicht vollständig zu überspringen ist. „Wer einen richtigen Zustand ausmalt, um dem Einwand zu begegnen, er wisse nicht, was er wolle, kann von jener Vormacht, auch über ihn, nicht absehen. Vermöchte selbst seine Phantasie alles radikal verändert sich vorzustellen, so bliebe sie immer noch an ihn und seine Gegenwart als statischen Bezugspunkt gekettet, und alles würde schief. Auch der Kritischste wäre im Stande der Freiheit ein ganz anderer gleich denen, die er verändert wünscht."(51) So beschränkt sich Adornos Bemühen auf Ideologiekritik, die das Bestehende an dem mißt, was es zu sein behauptet, ist insofern der Aufklärung im strengen Sinne verbunden. Mehr ist theoretisch nicht möglich, denn „Dialektik ist das Selbstbewußtsein des objektiven Verblendungszusammenhangs, nicht bereits diesem entronnen. Aus ihm von innen her auszubrechen, ist objektiv ihr Ziel."(52)

In diesem Zusammenhang ist eine Besonderheit des Adornoschen Dialektikbegriffs anzumerken, denn ein Ende der Dialektik wird denkbar. Denn wäre eine Veränderung der Gesellschaft erreicht, rationale Identität installiert, dann wäre die Gesellschaft über den Identitätszwang hinaus. Dialektik als das „Selbstbewußtsein des objektiven Verblendungszusammenhanges" würde dann überflüssig, denn sie ist nur gerechtfertigt durch den an den Gegenständen erfahrenen Widerspruch und im Widerspruch gegen diesen.

Adornos Konzept einer Negativen Dialektik sagt sich vom traditionellen Philosophieren los, will aber selbst Philosophie sein; dann aber bleibt zu fragen, was eine Negative Dialektik zu leisten vermag und wie sie zu verfahren hat. Sie muß sich gegen das herkömmliche Ideal systematischer Geschlossenheit ebenso wenden wie gegen das Philosophieren in Allgemeinbegriffen und schließlich muß sie die „Richtungstendenz" der Begriffe, die auch sie nicht entbehren kann, ändern.

Adorno meint dieser Aufgabe dadurch gerecht zu werden, daß er in Modellen denkt. „Die Forderung nach Verbindlichkeit ohne System ist die nach Denkmodellen ... Das Modell trifft das Spezifische und mehr als das Spezifische, ohne es in seinen allgemeineren Oberbegriff zu verflüchtigen. Philosophisch denken, ist soviel wie in Modellen denken; negative Dialektik ein Ensemble von Modellanalysen."(53) Verbindlichkeit erreichen diese Modelle für Adorno auch ohne System deshalb, weil er mit Hegel das Konzept einer pars totalis teilt, wonach sich in jedem Teil die Strukturen des Ganzen manifestieren. Die absichtlich partikularen Modelle, von denen Adorno eine Vielzahl liefert, können so noch immer den Anspruch erheben, die Situation der gesellschaftlichen Totalität aufzudecken.

Die „Negative Dialektik" selbst liefert drei solcher Modelle, in denen das zunächst abstrakt Ausgeführte ins Sachhaltige übergehen soll, wobei die Modelle „Schlüsselbegriffe philosophischer Disziplinen (erörtern), um in diese zentral einzugreifen."(54)

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Das Modelldenken soll dabei vor allem das Besondere, dem sich Dialektik widmen muß, thematisieren, indem es seinen Gegenstand nicht in einem fixen Begriffskatalog verortet, sondern gewissermaßen umkreist. Dieses umkreisende Denken soll den Gegenstand in seiner „Konstellation" erfassen. „Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation ist die des Prozesses, den er in sich aufspeichert. Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, daß er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Kassenschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer, sondern eine Nummernkombination."(55)

Wo einmal die Nichtidentität von Begriff und Sache zum Ausgangspunkt von Philosophie gemacht wird, muß sie anders verfahren als traditionell, weshalb Adorno polemisch gegen den letzten Satz von Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus" Philosophie definiert „als Anstrengung, zu sagen, wovon man nicht sprechen kann; dem Nichtidentischen zum Ausdruck zu helfen, während der Ausdruck es immer doch identifiziert."(56)

C. ENTWICKLUNGSGESCHICHTLICHER AUFRISS DER KONZEPTION VON HERBERT MARCUSE

Vorliegende Darstellung der Dialektik-Konzeption Herbert Marcuses versucht, unter Berücksichtigung der Kontinuitäten wie Diskontinuitäten seines Denkens, d.h. der inneren Brüche und Einschnitte der von ihm entwickelten Theorie, die Theoriebildung selbst in ihrem Entwicklungsgang zu rekonstruieren; deshalb bietet sich folgende, die Hauptphasen der Entwicklung dialektischer Theorie bei Marcusc grob skizzierende Dreigliederung (57) des Artikels an: In einem I. Teil (58) wird Marcuses sich eng an die Existentialontologie Heideggers anschließende Begründung einer historisch-materialistischen Phänomenologie sowie die aus diesem Theoriekonzept sich ableitende Methode dialektischer Konkretion dargestellt; in einem II. Teil Marcuses Wendung von der phänomenologisch zur linkshegelianisch orientierten Interpretation der Marxschen Theorie untersucht, also die Ablösung der Dialektik als Methode phänomenologischer Konkretion durch die Dialektik der „Negativität" dargestellt; in einem III. Teil schließlich Marcuses Theorie des „Spätkapitalismus" (bzw. der „Industriegesellschaft") und die sich daraus ableitende Revision des traditionell hegelianischen Dialektik-Konzepts eingehender behandelt.

1. Historisch-materialistische Phänomenologie: Dialektik als Methode der Konkretion (1927-1932)

In seinen vor 1933 verfaßten Schriften (59) versucht H. Marcuse, den Historischen Materialismus in einer an der Existentialontologie von Heideggers „Sein und Zeit" orientierten „dialektischen Phänomenologie" zu fundieren.

Die Begründung einer gleichermaßen existential-ontologischen wie historisch-materialistischen Anforderungen entsprechenden „Theorie der Geschichtlichkeit" bildet dabei den Ansatzpunkt seines Denkens. „Geschichtlichkeit" wird von Marcuse als „die primäre Bestimmtheit menschlichen Daseins" gefaßt, „in deren Boden alle abstrakt gewordenen geistigen und materialen Gegenstände zurückzunehmen sind .. .(60) In der Rückbesinnung auf die ursprüngliche Geschichtlichkeit menschlichen Daseins bildet die Heideggersche Philosophie einen „Wendepunkt" in der Philosophiegeschichte, insofern sich hier „die bürgerliche Philosophie von innen her auflöst und den Weg frei macht zu einer neuen .konkreten' Wissenschaft."(61) Heidegger hat in der Reflexion auf die Struktur der Geschichtlichkeit überhaupt und die Grundbedingungen geschichtlicher Existenz(62) den philosophischen Weg zur „Aufweisung der eigentlichen Existenz als eigentlicher Geschichtlichkeit"(63) gewiesen und „die Verfallenheit der alltäglichen Existenz wieder vor die Möglichkeiten eigentlichen, wahren Existierens gebracht .. ,"(64); Philosophie wird damit zur „Wissenschaft von den Möglichkeiten eigentlichen Seins und seiner Erfüllung in der geschichtlichen Tat."(65)

Die mit Heidegger in der bürgerlichen Philosophie erstmalig explizit werdende Reflexion auf die eigentlichen Möglichkeiten der Existenz bleibt jedoch in ihrer fundamentalontologischen Absicht gänzlich abstrakt und muß deshalb im „marxistischen Durchbruch zur praktischen Konkietion"(66) allererst materialisiert werden: „dem auf die Totalität des geschichtlichen Daseins gerichteten Blick geht es in gleicher Weise um die

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Fundamente der Existenz wie um ihre konkrete Lage, in der die Dialektik als revolutionäre Praxis ihre Anwendung findet."(67)

Marx hat mit der Begründung des Historischen Materialismus den konkreten Zugang zur eigentlichen Geschichtlichkeit menschlichen Daseins gewiesen und die von Heidegger entwickelte fundamentalontologische Geschichtstheorie einer wissenschaftlichen Fundierung zugänglich gemacht.(68) Innerhalb des Marxismus als „Theorie des gesellschaftlichen Handelns, der geschichtlichen Tat"(69) bezeichnet der Historische Materialismus den „Gesamtbereich der Erkenntnisse des Marxismus, die sich auf die Struktur der Geschichtlichkeit überhaupt und die Bewegungsgesetze der Geschichte richten";(70) er wird durch eine Phänomenologie ergänzt, die „Frage und Zugang von den Gegenständen selbst leiten" läßt und damit „die Gegenstände selbst voll in den Blick"(71) bringt. Die Phänomenologie hat also die Funktion, die innerhalb des Historischen Materialismus in ihrer grundsätzlichen historischen Struktur und Determination erfaßten Gegenstände in ihrer Spezifizität zu konkretisieren, d.h., „die konkrete Situation, ihren konkreten .materialen' Bestand"(72) in die historisch angelegte Analyse eingehen zu lassen.

In einer programmatischen Formulierung verdeutlicht Marcuse seine auf die Synthese bislang unvermittelt nebeneinanderstehender Methodenkonzepte angelegte Intention: „Wenn wir so einerseits fordern, daß die von Heidegger begonnene Phänomenologie des menschlichen Daseins zur dialektischen Konkretion vordringt und sich vollendet in einer Phänomenologie des konkreten Daseins und der jeweils geforderten konkreten Tat, so muß andererseits die dialektische Methode des Erkennens phänomenologisch werden und die Konkretion als volle Erfassung ihres Gegenstandes auch nach der anderen Richtung hin sich zu eigen machen."(73)

In der Vereinigung von Dialektik und Phänomenologie zur „dialektischen Phänomenologie," d.h. einer historischen Methode „äußerster Konkretion"(74) wird die Geschichtlichkeit menschlichen Daseins adäquat erfaßt und eine „dialektische Grundwissenschaft" als „Wissenschaft vom Wesen der Geschichtlichkeit überhaupt, ihrer Struktur, den Bewegungsgesetzen und möglichen Existenzformen geschichtlichen Daseins"(75) konstituiert.

Die so in ihren allgemeinsten Charakteristika gekennzeichnete dialektisch-phänomenologische Methode leistet in der Aufdeckung der „marxistischen Grundsituation,"(76) d.h. in der historisch spezifizierten Analyse der existentiellen Situation menschlichen Daseins, die Konkretion des seinsmäßig geschichtlichen Daseins als eines klassenmäßigen. Als historische Methode der Erkenntnis betrachtet sie ihren Gegenstand als „gewordenen und vergehenden, als in einer bestimmten Lage notwendig erwachsen, auf das in dieser Lage befindliche Dasein bezogen und nur von ihm aus zu verstehen."(77) Dialektik löst die zur starren Eindeutigkeit abstrahierten historischen Kategorien auf, indem sie sie als „Existenzbestimmungen"(78) konkretisiert. In der konkreten Aufweisung historischer Existenz liegt der methodische Sinn materialistischer Dialektik,(79) der gegenüber allen „törichten Verwendungen der Dialektik als .klapperndes Gerüst,' als Allerweltsschema" zu behaupten bleibt. Das dialektische Modell von „Thesis-Antithesis-Synthesis" hat dabei nur den „Sinn, der immanenten Notwendigkeit der geschichtlichen Bewegung schon in der Methodik gerecht zu werden,"(80) also die (intendierte) revolutionäre Praxis in der Erkenntnis zu strukturieren und damit politisch konkretisierbar zu machen.

Dialektik kann sich selbst gegenüber die „Forderung letzter Konkretion"(81) nur erfüllen, wenn sie praktisch wird, denn: „Es ist der Sinn der dialektischen Methode, daß sie in einer erkenntnisgemäßen Methode des Handelns gipfelt."(82) Erst durch die „radikale Tat" des revolutionären Subjekts, d.h. der Klasse als der „geschichtlichen Einheit" wird Dialektik konkret, Praxis.

2. Kritische Theorie: Dialektik der Negativität (1933-1960)

Marcuses früher Versuch, in eine vorwiegend an Heidegger orientierte Phänomenologie der Geschichtlichkeit die Perspektive des Klassenkampfes einzubringen, Dialektik mithin

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als historisch-materialistisch begründete Methode revolutionären Handelns zu konzipieren, wird seit Beginn der 30iger Jahre durch eine die Hegel/Marx-Rezeption stärker ins Zentrum rückende „neue Anthropologie" abgelöst, in der der Arbeitsbegriff (83) den Kernbegriff philosophischer Orientierung bildet. Der unmittelbare Zusammenhang von Dialektik und Klassenkampf löst sich zugunsten einer abstrakteren „kritischen Theorie der Gesellschaft" auf,(84) in deren Kontext Dialektik den Titel für ein beharrliches Insistieren auf Erfahrungen der Negativität bildet.

Der 1932 anläßlich der Entdeckung der Marxschen Frühschriften verfaßte Aufsatz „Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus" formuliert bereits einige zentrale, das philosophische Verhältnis von Hegel und Marx betreffende Einsichten,(85) die in der Hinwendung der philosophischen Reflexion auf das Problem der Dialektik in dem 1941 erschienenen Hegel-Buch „Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie"(86) weiterentwickelt werden. In einem innerhalb von „Vernunft und Revolution" enthaltenen Abschnitt über „Die Marxsche Dialektik"(87) findet sich, im Kontext einer linkshegelianisch orientierten Darstellung und Interpretation des Hegelschen Gcsamtwerks, eine erste grundsätzliche Einschätzung des Verhältnisses von Hegelscher und Marxscher Dialektik: Marcuse geht hier, bei seinem Versuch, „die Qualitäten zusammenzufassen, die die Marxsche Dialektik von der Hegeischen unterscheiden,"(88) von der grundlegenden These aus, „daß Marx' dialektische Konzeption der Wirklichkeit durch denselben Sachverhalt wie die Hegeische motiviert wurde, nämlich durch den negativen Charakter der Wirklichkeit."(89)

Der philosophische Ausgangspunkt bzw. die Problembasis, auf der sich Ictztendlich die Marxsche Dialektik als historisch-revolutionäre Methode der Destruktion einer „negativen Wirklichkeit" entfaltet, wird damit von Marcuse als für Hegel wie Marx identisch angesehen: „Für Marx wie für Hegel liegt ,die Wahrheit' nur im Ganzen, nur in der ,negativen Totalität'."(90) Obwohl die durch „denselben Sachverhalt," nämlich den „negativen Charakter der Wirklichkeit" bestimmte „negative Totalität" den gemeinsamen Ansatzpunkt der Dialektik Marx' und Hegels bildet, versucht Marcuse genau hier, „den entscheidenden Unterschied zwischen der Hegeischen und der Marxschen Dialektik"(91) festzumachen:

Denn für Hegel ist die „negative Totalität" die der „Vernunft"; sie bildet ein nur in abstrakten philosophischen Termini faßbares „geschlossenes ontologisches System,"(92) das keinerlei konkrete (historische) Bestimmungen in sich aufnimmt. Hegels „dialektischer Prozeß" ist ein von allen Realbestimmungen abstrahierender „umfassend ontologischer," dessen Vorbild die „(Vernunft-)Geschichte im metaphysischen Prozess des Seins" bildet.

Marx kommt demgegenüber das Verdienst zu, die von Hegel begründete Dialektik von ihrer „ontologischen Basis" abgelöst, d.h. historisch fundiert und im Sinne des berühmten Marxschen Diktums „vom Kopf auf die Füße gestellt" zu haben. Die „Negativität der Wirklichkeit bleibt so bei Marx nicht länger „metaphysischer Sachverhalt," sondern wird zu einer „historischen" und damit „gesellschaftlichen Bedingung, die mit einer besonderen historischen Form der Gesellschaft," der Klassengesellschaft, „verknüpft ist."

Die grundlegende Differenz zwischen materialistischer und idealistischer Dialektik liegt so für Marcuse in der durch Marx geleisteten konkrethistorischen Fundierung eines bereits bei Hegel präsenten Modells „dialektischer Negativität"; die von Hegel begründete Dialektik wird durch historische Ausfüllung ihrer ontologischen Leerstellen zur materialistischen, d.h. politisch revolutionären Methode.

Denn die von Marx in seinen historisch-gesellschaftlichen Analysen konkretisierte „negative Totalität" Hegels ist die „Totalität der Klassengesellschaft"; „die Negativität, die ihren Widersprüchen zugrunde liegt und einen jeden ihrer Inhalte bestimmt, ist die Negativität der Klassenverhältnisse."

Die abstrakte „Negativität" liegt den konkreten „Widersprüchen" zugrunde; als ontologisches Prinzip universalhistorischer Gültigkeit determiniert sie den historischen Prozeß in seinen konkreten Verlaufsformen. Der hier unter dem Rasier Wesen Erscheinung auftretende Hegelianismus Marcuses erweist die angebliche Zentralkategorie

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materialistischer Dialektik als abstraktes Prinzip eines der Marxschen Theorie unterschobenen Ideologischen Prozesses, der in der „negativen Dialektik" von Wesen und Erscheinung über alle Entfremdungsformen hinweg nur die Wiedergewinnung seiner ursprünglichen Einheit und „Eigentlichkeit vorbereitet."(93)

Die Marxsche Dialektik erscheint so für Marcuse als vom Prinzip der „Negativität" her vollständig definierbar; sein in Termini der „Negativität" gefaßtes Model! der Dialektik läßt sich in folgender Trias beschreiben: a) umfassende „Negativität" (herrschender Zustand); b) „Negation" dieser „Negativität" (durch die „historische Aktion des Menschen" - „Klassenkampf") c) „Negation der Negation" („Aufhebung" der „herrschenden Negativität" - „Sozialismus" als „Assoziation befreiter Individuen" - „Befriedung des Daseins").

Mit anderen Worten: Die „immanenten Möglichkeiten" innerhalb des „negativen Prozesses"(94) werden „befreit" und zu „positiven" (im Sinne Hegelscher Aufhebung) gemacht. Mit der „Negation der Negation" wird eine „neue Ordnung der Dinge" hergestellt. Durch den „autonomen Akt," d.h. durch die historische Negation des revolutionären Subjekts wird der „existierende Zustand als Ganzes" aufgehoben und seine ursprüngliche „Wahrheit" zur „Wirklichkeit" gebracht. „Der ,neue' Zustand ist ,die Wahrheit' des alten."

Die Marxsche Dialektik als negative ist jedoch in ihrem Geltungsbereich historisch begrenzt; sie „hat es mit einer besonderen Stufe des historischen Prozesses zu tun."(95)

Denn die von Marx in den „Philosophisch-ökonomischen Manuskripten" selbst formulierte Unterscheidung zwischen der „Entstehungs-" oder „Vorgeschichte" der Menschheit und ihrer „eigentlichen Geschichte" läuft auf eine „Begrenzung der Dialektik"(96) hinaus. „Die Entstehungsgeschichte der Menschheit, die Marx ihre Vorgeschichte nennt, ist die Geschichte der Klassengesellschaft. Die eigentliche Geschichte des Menschen wird beginnen, wenn diese Gesellschaft abgeschafft worden ist."

Da die Marxsche Dialektik nur die historische Fundierung Hegelscher Dialektik leistet, letztere aber lediglich „die abstrakt-logische Form der vorgeschichtlichen Entwicklung" darstellt, reicht die Marxsche Dialektik in ihrer Gültigkeit über die vorgeschichtliche Phase nicht hinaus. D.h., die von Marx entwickelte dialektische Methode reflektiert „noch die Herrschaft blinder ökonomischer Kräfte" innerhalb der antagonistisch strukturierten Klassengesellschaft; die „Wirklichkeit" steht „unter der Macht objektiver Mechanismen," die sich mit der Notwendigkeit von Naturgesetzen durchsetzen. Der „Widerspruch" bildet das treibende gesellschaftliche Entwicklungsprinzip innerhalb des als negativ begriffenen antagonistischen Ganzen, in dem sich herrschende und unterdrückte Klasse noch in deutlicher Polarisation gegenüberstehen; er erscheint als „die Kraft, von der die Gesellschaft in Bewegung gehalten wird."

Die „Vorgeschichte" der Menschheit bzw. die Geschichte der Klassengesellschaften kann also insofern als dialektisch strukturiert angesehen werden, als sie, unter der Herrschaft objektiver Determinationen und von diesen sich ableitenden Gesetzmäßigkeiten stehend, „noch nicht von der Aktivität frei assoziierter Individuen gesteuert wird.'(97)

Dialektische Bewegung ist „objektive" (= subjektlose) Bewegung.

Mit der Begrenzung des Geltungsbereichs Marxscher Dialektik auf die Geschichte der Klassengesellschaften bleibt diese an den Begriff der „Notwendigkeit" gebunden und dem Automatismus eigengesetzlicher Entwicklung verhaftet: Die innerhalb der Marxschen Dialektik gültigen Gesetze erscheinen als „notwendige Gesetze," die Klassengesellschaften gehen kraft der ihnen innewohnenden Herrschaftslogik „notwendig an ihren inneren Widcrsprüchen zugrunde."(98)

3. Theorie des Spätkapitalismus: Die „Stillstellung" der Dialektik (1960 ff.)

Doch der Kapitalismus in seinem fortgeschrittenen Stadium, von Marcuse „Spätkapitalismus" oder „korporativer Kapitalismus" genannt, zeichnet sich durch eine tendenzielle Aufhebung der zur Überwindung der Klassengesellschaften führenden

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dialektischen Antagonismen und Gesetzmäßigkeiten aus; er hat durch die im Zuge der technologischen Evolution immens gesteigerte Warenproduktion sowie die mit ihr cinhergchende Entwicklung einer in die soziale Tricbstruktur der Individuen eingreifenden Entfrem-dungs- und Manipulationsstrategie die „Reichweite und Macht rationaler Praktiken" der Unterdrückung „in einem erheblichen Umfang erweitert."(99) Wie Marcuse in seinem auf dem Präger Hegel-Kongreß 1966 gehaltenen Vortrag „Zum Begriff der Negation in der Dialektik"(100) betont, laßt sich die Entwicklung des fortgeschrittenen Kapitalismus nur unter „Schwierigkeiten" „in den originären Begriffen ... der Marxschen Theorie"(101) erfassen. Diese „Schwierigkeiten" finden Marcuse zufolge ihre Begründung in der Fixierung materialistischer Dialektik auf das von Hegel vorformulierte Schema einer immanent negativen Entwicklung, d.h. in der für die Hegelsche wie für die Marxsche Dialektik gleichermaßen geltenden Prämisse, daß sich „die negativen Kräfte . . . innerhalb eines bestehenden antagonistischen Ganzen entwickeln." Für Marcuse ist „diese Entwicklung der Negativität innerhalb des antagonistischen Ganzen heute schwer demonstrierbar," denn der Spätkapitalismus ist durch eine „Stillstellung der Dialektik der Negativität" gekennzeichnet, die die Gültigkeit einer auf geschichtlichen Fortschritt hin angelegten Dialektik grundsätzlich in Frage stellt.

Die innerhalb der Hegeischen Dialektik wirkende „Negation," vermittels derer sich, „durch alle Destruktion hindurch letzten Endes doch immer nur das an sich Seiende entfaltet ... und auf eine höhere geschichtliche Stufe gehoben wird,(102) hat „konformistischen Charakter," insofern die Positivität der „Vernunft" bereits ursprünglich in ihr angelegt ist und im Durchgang durch die einzelnen Stufen ihrer Entwicklung nunmehr manifestiert wird. Auch die materialistische Dialektik bleibt, solange sie die hegelianische Fortschrittsideologie nicht destruiert, der „idealistischen Vernunft" verhaftet; die für Hegel geltende Prämisse, daß „die Zukunft immer schon im Innern des Bestehenden verwurzelt"(103) sei, muß durch die Radikalisierung des „Begriffs) des Übergangs zu einer neuen gesellschaftlichen Stufe" eliminiert werden, d.h. die materialistische Dialektik muß „die Umkehr, den Bruch mit der Vergangenheit und dem Bestehenden" in ihre Konzeption integrieren.(104)

Der Bruch mit der hegelianischen Fortschrittsideologie impliziert die Elimination des ,,BegrifT(s) der Negation als Aufhebung."(105) Denn die gleichermaßen für Marx wie für Hegel geltende Einsicht, derzufolge sich die negierenden Kräfte innerhalb des antagonistischen Systems entwickeln und im Zuge der Zuspitzung seiner immanenten Widersprüche die Aufhebung der Negativität bewirken, hat im Spätkapitalismus keine Gültigkeit mehr.

Das Proletariat spielt nicht länger die Rolle der negierenden Kraft innerhalb eines antagonistischen Ganzen; die in der Marxschen Dialektik gültige Dichothomie von Bourgeoisie und Proletariat und die ihr zugrundeliegende Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft ist im „circulus vitiosus"(106) eines scheinbar alle Klassengegensätze in sich integrierenden Systems aufgehoben. „Die kapitalistische Entwicklung ... hat die Struktur und Funktion dieser beiden Klassen derart verändert, daß sie nicht mehr die Träger historischer Umgestaltung zu sein scheinen. Ein über alles sich hinwegsetzendes Interesse an der Erhaltung des Status quo vereinigt die früheren Antagonisten in den fortgeschrittensten Bereichen der gegenwärtigen Gesellschaft."(107) Die innerhalb der traditionellen marxistischen Theorie als Träger des Widerspruchs und gesellschaftlicher Veränderung auftretende Arbeiterklasse ist .durch ihre Teilhabe an den stabilisierenden Bedürfnissen des

Systems ..., eine konservative, ja konterrevolutionäre Kraft geworden."(108) Zwar ist das Proletariat „objektiv," „an sich" noch die „potentiell revolutionäre Klasse" - „subjektiv," „für sich,"(109) d.h. seinem „Bewußtseinsstand nach, ist es von einer ehemals negativen in eine positive, das Bestehende reproduzierende Kraft verwandelt worden.(110)

Aus dieser von Marcuse als „Hypothese" bezeichneten Einsicht in die „historische Faktizität" spätkapitalistischer Verhältnisse leiten sich folgende, die fortan geltenden Prämissen materialistischer Dialektik kurz umreißenden Resultate ab: „die Fragwürdigkeit der sich im Innern eines bestehenden Ganzen entfaltenden Negation. Damit auch die Fragwürdigkeit dieses materialistischen Begriffs der Vernunft in der Geschichte. Und daher

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die Notwendigkeit, den Begriff der Praxis von der Koppelung an dieses Schema zu lösen und das Innerhalb wieder mit dem Außerhalb zu verbinden, auf das es in der Geschichte angewiesen ist."(111)

Die Konstruktion dieses „absichtlich undialektisch formulierten Gegensatz(es) von Innerhalb und Außerhalb"(112) hat die Funktion, die innerhalb der traditionellen Dialektik geltende Konzeption der „bestimmten Negation"(113) zu liquidieren, denn Marcuse zufolge gibt es unter spätkapitalistischen Verhältnissen nur die „reale Möglichkeit, daß in der geschichtlichen Dynamik ein bestehendes antagonistisches Ganzes von außen negiert und aufgehoben wird."(114)

Zur Legitimation dieser These, die letzlich auf die philosophische Begründung einer politischen Randgruppenstrategie hinausläuft, beruft sich Marcuse paradoxerweise auf das in der Hegeischen „Rechtsphilosophie" entwickelte Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat, in dem sich, seiner Interpretation zufolge, die von ihm konstruierte Dichothomie von „Innerhalb" und „Außerhalb" wiederfinden läßt: Gegenüber den innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft auftretenden partikularen (Gruppen-)Interessen verkörpert der Staat eine Instanz höherer und allgemeiner Vernunft, in welcher die einander widersprechenden Partikularitäten aufgehoben und zu höherer Einheit gebracht werden. Ebenso wie Hegel in seiner „Rechtsphilosophie" den Staat trotz aller geschickt ausgearbeiteten dialektischen Übergänge der bürgerlichen Gesellschaft letztlich von außen aufoktroyiert, will Marcuse den Träger gesellschaftlicher Veränderung unter spätkapitalistischen Verhältnissen nicht innerhalb, sondern außerhalb des Systems ansiedeln. Er begreift dabei das „Außen," d.h. die nicht total vom repressiven System absorbierten politischen Randgruppen (Ghettobewohner, Intellektuelle, Künstler usw.) analog zu Hegel als eine die allgemeinen Interessen der manipulierten Mehrheit repräsentierende Vernunftinstanz, als „qualitative Differenz," welche die im Innern des antagonistischen Teilganzen bestehenden Gegensätze, zum Beispiel den Gegensatz von Kapital und Arbeit, übersteigt und auf diese Gegensätze nicht reduzierbar ist."(115)

Das revolutionäre Subjekt wird so zum transzendenten; das an gesellschaftliche Antagonismen gebundene Klassensubjekt als Subjekt immanenter gesellschaftlicher Revolutionierung eliminiert: „Die Kraft der Negation ... ist heute in keiner Klasse konzentriert."(116)

Die „reale transzendierende Kraft"(117) eines frei von gesellschaftlichen Determinationen aus dem nicht-entfremdeten Bewußtsein sich entwerfenden Randgruppensubjekts ersetzt die bei Marx konzipierte Rolle des Proletariats als revolutionärer Klasse. Mit dem vermeintlichen „Einbrechen der Freiheit in das Reich der Notwendigkeit" wird eine „utopische Konzeption des Sozialismus"(118) anvisiert, deren politisches Postulat im Rückgang „von Marx zu Fourier ... vom Realismus zum Surrealismus"(119) liegt.

Anmerkungen

1) Adorno, Negative Dialektik, S. 7.

2) Koch/Kodalle, „Negativität und Versöhnung," in: Koch/Kodalle/Schweppenhäuser Negative Dialektik und die Idee der Versöhnung, S. 54.

3) Adorno/Horkhcimer, Dialektik der Aufklärung, S. l.

4) a.a.O., S. 3.

5) a.a.O., S. 3.

6) Adorno, Negative Dialektik, S. 393.

7 Adorno, Metakritik der Erkenntnistheorie, S. 15.

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8) a.a.O., S. 17.

9) Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 12.

10) a.a.O., S.10.

11) a.a.O., S. 13.

12) a.a.O., S. 27.

13) Ebenda.

14) Adorno, Metakritik der Erkenntnistheorie, S. 25.

15) Adorno, Negative Dialektik, S. 147.

16 Rohrmoser, Das Elend der kritischen Theorie, S. 15.

17) Adorno, Negative Dialektik, S. 388.

18) a.a.O., S. 296.

19) Adorno, Studien zu Hegel, S. 16.

20) a.a.O., S. 13.

21) a.a.O., S. 19.

22) Adorno, Negative Dialektik, S. 156.

23 Adorno, Studien zu Hegel, S. 15.

24) Adorno, Negative Dialektik, S. 173.

25) Adorno, Studien :u Hegel, S. 35.

26) Ebenda.

27) a.a.O., S. 31.

28) Adorno, Negative Dialektik, S. 159.

29) a.a.O., S. 160.

30) Koch/Kodalle, Negativitäl und Versöhnung, S. 9.

31) Adorno, Negative Dialektik, S. 13.

32) Löwith, Vermittlung und Unmittelbarkeit, S. 311/312.

33) Adorno, Negative Dialektik, S. 146.

34) a.a.O.. S. 149.

35) a.a.O., S. 14/15-

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36) a.a.O., S. 15.

37) a.a.O., S. 150.

38) a.a.O., S. 150.

39) a.a.O., S. 48.

40) a.a.O., S. 8.

41) a.a.O., S. 49.

42) a.a.O., S. 49.

43) a.a.O., S. 49/50.

44) Adorno, Metakritik der Erkenntnistheorie, S. 35.

45) Ebenda.

46) Adorno, Negative Dialetik, S. 48.

47) a.a.O., S. 182.

48) Ebenda.

49) a.a.O., S. 27.

50) a.a.O., S. 201.

51) a.a.O., S. 343.

52) a.a.O., S. 396.

53) a.a.O., S. 37.

54) a.a.O., S. 8.

55) a.a.O., S. 163/164.

56) Adorno, Studien zu Hegel, S. 94.

57) Die Dreigliederung des Artikels dient nur der groben Strukturierung der philosophischen Entwicklung Marcuses, deren einzelne Phasen zwar inhaltlich klar unterscheidbar, zeitlich jedoch nicht ohne Schwierigkeiten voneinander abzugrenzen sind. Nach Auffassung d. Verf. lassen sich die Stadien Marcusescher Dialektik-Interpretation wie folgt bestimmen:

I. Historisch-materialistische Phänomenologie: Dialektik als Methode der Konkretion (1927-1933; von „Beiträge..." bis „Die philosophischen Grundlagen...").

II. Kritische Theorie: Dialektik der Negativität (1933-1960; von „Der Kampf gegen den Liberalismus..." bis zu den Psychoanalyse-Aufsätzen von 1957 „Trieblehre..." Und „Die Idee des Fortschritts. ..").

III. Theorie des Spätkapitalismus: Die „Stillstellung" der Dialektik (ab 1960;

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von "Von der Ontologie...").

58) Auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung der weitgehend unbekannten phänomenologischen Frühphase Marcusescher Philosophie weist auch J. Habermas im Geleitwort zu „Antworten auf Herbert Marcuse" hin. Habermas vertritt hier die These, „daß man den Marcuse von heute ohne den von damals nicht richtig versteht," „daß jene (phänomenologische, d. V.) Phase seiner Entwicklung nicht einfach eine Marotte war." - „Wer in den Kategorien der Freudschen Trieblehre, aus denen Marcuse eine marxistische Geschichtskonstruktion entwickelt hat, wer in seiner neuerdings wieder hervorgekehrten Anthropologie die Kategorien von 'Sein und Zeit' nicht einmal mehr ahnt, ist vor handfesten Mißverständnissen nicht sicher." (J. Habermas, Geleitwort zu „Antworten," S. 10f).

59) Zu den wichtigsten Texten der Frühphase Marcusescher Philosophie gehören:

- Beiträge...- über konkrete Philosophie- Zum Problern der Dialektik I- Zum Problem der Dialektik II- Hegels Ontotogie...- Neue Quellen....- Über die philosophischen Grundlagen...

60) Marcuse, Beiträge. ... S. 53.

61) a.a.O., S. 54.

62) C.F. A. Schmidt, Existentialontologie. ... S. 123.

63) Marcuse, Beiträge. . ., S. 58.

64) a.a.O.. S. 59f.

65) a.a.O., S. 60.

66) a.a.O.. S. 65.

67) Ebenda.

68) Ebenda (Hervorh. d. Verf.)

69) Marcuse, Zum Problem der Dialektik l, S. 27.

70) Marcuse, Beitrage.. ., S. 41.

71) a.a.O., S. 71.

72) a.a.O., S. 66.

73) a.a.O., S. 66f.

74) a.a.O., S. 67 (Hervorh. d. Verf.)

75) a.a.O., S. 68.

76) a.a.O., S. 69.

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77) a.a.O., S. 42.

78) a.a.O., S. 63f.

79) a.a.O., S. 64.

80) Ebenda.

81) Ebenda. "'a.a.O., S. 44.

82) Vgl. hierzu v.a.D. die Aufsätze „Neue Quellen ..." und „Über die philosophischen Grundlagen ...."

85) Vgl. J. P. Arnason, Von Marcuse zu Marx ..., S. 29.

86) In diesem Aufsatz betont Marcuse die „innere Verbundenheit der revolutionären Theorie mit der Philosophie Hegels" (S. 54) und vertritt die auch in der Weiterentwicklung seiner Philosophie sich durchhaltende These, „daß die Marxsche Theorie im Mittelpunkt der philosophischen Problematik Hegels verwurzelt" sei. (S. 18).

87) Marcuse, Vernunft . . .,S. 274-283.

88) a.a.O., S. 274.

89) Ebenda (Hervorh. d. Verf.).

90) Ebenda (Hervorh. d. Verf.).

91) a.a.O., S. 275 - „Freilich ist die Totalität, in der sich die Marxsche Theorie bewegt, eine andere als die der Hegelschen Philosophie ...."

92) Ebenda; alle weiteren Zitate bis Anmerkung 93 ebenda.

93 „Negativität" als „Wesen" bedingt die konkreten „Erscheinungen" des „negativen Ganzen." Die „Antagonismen" der „Klassengesellschaft" haben die bloße Funktion, die ihnen zugrundeliegende abstrakte „Negativität" zu intensivieren, d.h. in ihrer konkret-historischen Gültigkeit zu bestätigen. Cf. Marcuse, Vernunft .... S. 277: „Die Negativität, mit der die Marxsche Dialektik beginnt, ist jene, die das menschliche Dasein in der Klassengesellschaft kennzeichnet; die Antagonismen, die diese Negativität intensivieren und schließlich abschaffen, sind die Antagonismen der Klassengesellschaft." (Hervorh. d. Verf.).

94) a.a.O., S. 276; alle weiteren Zitate bis Anm. 95 ebenda.

95) a.a.O., S. 277. Den grundsätzlichen Geltungsbereich materialistischer Dialektik bestimmt Marcuse als ausschließlich historischen: „Die Dialektik begreift die Tatsachen als Elemente einer bestimmten historischen Totalität, von der sie nicht isoliert werden können" (S. 276). „Natur" ist deshalb „dialektisch" nur insofern, als sie in den historischen Prozeß gesellschaftlicher (Re)produktion entritt (276). Denn jede „Tatsache" ist nur insoweit dialektisch analysierbar, als sie „von den Antagonismen des gesellschaftlichen Prozesses beeinflußt wird." (S. 276).

96 a.a.O., S. 277; alle weiteren Zitate bis Anm. 97 ebenda.

97) a.a.O., S. 278.

98) Ebenda.

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99) a.a.O., S. 279.

100) Marcuse, Zum Begriff der Negation .... S. 185-190.

101) a.a.O., S. 185; alle weiteren Zitate bis Anmerkung

102) ebenda. 01 a.a.O., S. 186.

103) Ebenda.

104) Ebenda.

105) a.a.O., S. 187.

106) Marcuse, Der eindimensionale Mensch .... S. 53-

107) a.a.O.. S. 115.

108) Marcuse, Versuch .... S. 33.

109) Ebenda.

110) Marcuse, Zum Begriff der Negation .... S. 188.

111) Ebenda.

112) Ebenda.

113) Die „Dialektik der bestimmten Negation" bildet einen „circulus vitiosus". „Die Transzendenz der bestehenden Bedingungen (von Denken und Handeln) setzt Transzendenz innerhalb dieser Bedingungen voraus. Diese negative Freiheit ... ist das Apriori der historischen Dialektik, sie ist das Element der Wahl und Entscheidung in der geschichtlichen Determination und gegen sie." (Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 235) - Marcuse schlägt deshalb vor, den Begriff der „bestimmten Negation" durch den der „bestimmten Wahl" /.u ersetzen, „um den Einbruch der Freiheit in die historische Notwendigkeit hervorzuheben." (Ebenda, S. 233). Wie W.F.Haug richtig bemerkt, wird menschliche Geschichte von Marcuse durch die Schlüsselbegriffe „Wahl," „Entscheidung," „Transzendenz" „aufs Format des Individuums gebracht, um dieses zu retten." (W.F. Haug, Das Ganze ... S. 188).

114) Marcuse, Zum Begriff.... S. 188.

115) 'Ebenda.

116) a.a.O.. S. 189.

117) a.a.O., S. 190.

118) Marcuse, Versuch ...,S.41.

119) Ebenda.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 8. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 185 - 206

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MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIKBEITRÁGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von HEINZ KIMMERLE

06/07

trendonlinezeitung

KAPITEL IX

ANTONIO GRAMSCI Ulrich Buchholz Zur Kapitelübersicht

A. PROBLEME DER ENTWICKLUNG EINER KONZEPTION MATERIALISTISCHER DIALEKTIK BEI GRAMSCI (1914-1937)

Antonio Gramsci, Theoretiker und Führer der Arbeiterbewegung Italiens, war Mitbegründer der italienischen Kommunistischen Partei (1921) und bedeutender Protagonist der III. Internationale vor seiner Einkerkerung (1926) durch die Faschisten. Gramsci gilt als ,,Theoretiker der Revolution im Westen." Er kämpfte an der gleichen Front wie Lukács und Korsch gegen den Revisionismus der II. Internationale und entfaltete seine Konzeption materialistischer Dialektik im Rahmen praktischer leninistischer Politik, die Politik umgekehrt als Verwirklichung der Philosophie, als ihre „Kritik und reale Dialektik.“(1) Von Lenin inspiriert, erneuert und erweitert Gramsci das Konzept der marxistischen Theorie des Überbaus: des politischen (Staatsapparat, ideologische Staatsapparate: Parteien, Schule, Kirche) und des ideologischen (Problem der Intellektuellen, der kulturellen Hegemonie).

Der Marxismus hat für Gramsci in der Philosophie eine derart, folgenschwere Revolution bewirkt, daß er kraft Autonomie gegenüber heterogenen philosophischen Einflüssen nicht als Materialismus, nicht einmal als dialektischer Materialismus konzipierbar ist. Marxismus ist vor allem „Philosophie der Praxis" (Chiffre gegen die Gefängniszensur, die Gramsci zugleich mit realem Bedeutungsinhalt füllt) und meint: eine völlig neue Praxis des Philosophierens, wie auch: neue Praxis.

Gramsci, dessen wissenschaftliche Erörterung der dialektischen Methode als Konstituens der marxistischen Philosophie kategorial instabil und stellenweise rein rhetorisch bleibt, entwickelt seine Konzeption materialistischer Dialektik als Prozeßtheorie der Geschichte.

Daß Gramsci an keiner Stelle seiner Schriften systematisch und kohärent seine Konzeption materialistischer Dialektik entfaltet hat, vielmehr die Entwicklung der dialektischen Kategorien in concreto, die „konkrete Analyse des konkreten Gegenstandes" als geschichtliche Praxis in der Einheit von „Situation, Tat und Reflexion" begriffen hat, spiegelt sich auch am Stand der Aufarbeitung dieses Gedanken-Konkretums .Dialektik'" in der Sekundärliteratur wieder. Bemüht, die „Pragmata eines dialektischen Denker-Politikers dialektisch zu verwerten," (2) sind Arbeiten zur Politik- und zur Staatstheorie entstanden (Ch. Buci-Glucksmann, P. Anderson, N. Badaloni), Monografien zur Theorie der Hegemonie (L. Gruppi), der Ideologie usw. Ein besonderes Problem der Rezeption bestand bis zur historisch-kritischen Herausgabe der Schriften Gramscis (von V. Gerratana 1975 besorgt) in der Verzahnung Gramscis mit der Entwicklung der PCI (von 1914, erstes Jahr des „Partito Novo," bis heute), die die Kist-Ausgube der „Quadern!" zu einer taktischen gemacht hat. Die recht bedenkenlose Instrumentalisierung Gramscis für die theoretischen Zwecke des „Eurokommunismus" ist eine aktuell spürbare Folge. Der

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Instabilität der gramscianischen Kategorien selbst ist eine expansive politische und theoretische Verwertung seines Werkes geschuldet: Neben der humanistischen Interpreretation seines Marxismus (A. Buzzi, J. Texier, A. Schmidt) findet sich die rigoros theoretisch-politische Lektüre Gramscis (Ch. Buci-Glucksmann, L. Althusser, E. Balibar, N. Poulantzas, D. Grisoni, L. Maggiori). Die deutschsprachige Rezeption Gramscis ist durch Fehlen einer brauchbaren Übersetzung gekennzeichnet: Die vorliegenden Untersuchungen (Ch. Riechers, P. Palla, J. Rodrigues-Lores, G. Roth) geben zwar philosopliisch-theoretisch-immanente Einzeldarstellungen, thematisieren aber nicht explizit das Problem der Dialektik.(3) Periodisierungsversuche der Schriften Gramscis lassen zwischen der militanten Phase (1914-1926) und den „Heften aus dem Gefängnis" (1926-1937) eine relative Kontinuität der theoretischen Entwicklung hervortreten. Die „Hefte" sind häufig, wenn auch fragmentarisch gebliebene Ausarbeitungen von Notizen aus der Zeit als aktiver Politiker. Gegenüber einer entwicklungs-gcschichtlichen Darstellung der Dialektik-Konzeption Gramscis, die die disparaten Notizen der „Quaderni" in einen chronologischen und sachlichen Zusammenhang bringen müßte, hat eine thematisch einkreisende Gramsci-Lektüre den Vorzug, die Voraussetzungen seiner dialektischen Kategorien in den Dimensionen der Geschichte und Politik deutlich zu machen, der „konkreten Analyse einer konkreten Situation" in Italien von 1914-1937.

B. DIE .PHILOSOPHIE DER PRAXIS'

1. Die Tradition der Philosophie der Praxis in Italien (Labriola, Gentile, Mondolfo)

Marxismus in Italien läßt sich um 1920 nicht allein in der spezifischen theoretischen und gesellschaftlich-politischen Konjunktur der Arbeiterbewegung situieren. Gramscis Marxismus nimmt seinen Ausgangspunkt in der besonderen italienischen kulturgeschichtlichen Entwicklung, die den Marxismus vorzugsweise als „kulturelles" Element rezipierte. Mit der Ausnahme Labriolas reklamierte keine dieser Positionen in der Philosophie den Titel materialistischer Dialektik. Skizzenhaft soll hier der theoriegeschicht­liche Entstehungs Zusammenhang des Begriffes der „Philosophie der Praxis" unter dem Aspekt seiner verschiedenen Dialektikkonzeption nachgezeichnet werden.

Für Labriola, der den Marxismus in Italien einführt, ist die marxistische Philosophie in der von Marx/Engels präsentierten Gestalt nicht bereits fertige Lehre. Wie diese bei Marx/Engels „in sich die Kritik" ist, „so kann sie wiederum nur kritisch weitergeführt, angewandt und korrigiert werden."(4) Niemals ein System allgemeingültiger Sätze, weist der Marxismus einen gegenüber aller Veränderung von Form und Inhalt resistenten „philosophischen Kern,"(5) das „Mark" des historischen Materialismus auf: die „Philosophie der Praxis.“(6)

Als praktische „Umkehrung der Erkenntnistheorie" (für Labriola die idealistische, insbesondere Hegelsche Subjekt-Objekt-Dialektik) konstituiert die „Philosophie der Praxis" die Einheit von Subjekt und Objekt, von Theorie und Praxis auf materialistischer Basis.(7) In der „Philosophie der Praxis" habe man das „Geheimnis" der Marxschen Metapher von der „Umstülpung" der Hegeischen Dialektik, zu sehen, d.h. für Labriola, „daß anstelle des selbstbewegenden Rhythmus des für sich seienden Gedankens die Selbstbewegung der Dinge gesetzt wird, deren Produkt letztlich die Gedanken sind."(8) Die „Dinge" („cosa") haben Vorrang über die „Überdinge" („sopra-cosa"); insofern ist die „Philosophie der Praxis" die Philosophie, „die den Dingen immanent ist, über die sie philosophiert,"(9) Einheit von „werdendem Denken" und „werdenden Dingen," die Labriola „tendenza all monis-mo"(10) nennt. Der Historische Materialismus korrigiert den (idealistischen) Monismus „mit kritischem Scharfsinn" dadurch, daß „er von der Praxis ausgeht," „d.h. von der Entwicklung der Tätigkeit."(11) „Praxis" wird zum Prinzip des „tendenziellen Monismus". Labriola, der den gnoseologischen Wert der materiellen Empirie für die Theorie der Geschichte anerkennt, wendet sich polemisch mit dem Ausdruck „Naturalisierung der Geschichte" gegen die rein subjektivistische Auffassung der Geschichte. Steht eine Philosophie der Praxis dieses Typs auch stärker in der Nachfolge des Engelsschen „Anti-Dühring" (Widerspiegclungstheorie, Naturdialektik) als der Marx­schen Dialektikkonzeption, so schränkt Labriola doch selbst diese Affinität ein: „Dieser Terminus .Naturalisierung' kann nun manche dazu verführen, die Gesetze und die Denkweise, die sich zur Untersuchung der natürlichen Welt bereits bewährt haben, auf die

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Geschichte auszudehnen .. ."(12)

Steht bei Labriola der Terminus „Philosophie der Praxis" synonym für Historischen Materialismus, so impliziert er bei Gentile eine spezifische Interpretation. Die „philosophia della prassi," die Gentile am jungen Marx erar-beitet,ist für ihn der in den Feuerbach-Thesen enthaltene Versuch einer Synthese Jer /fege/sehen Dialektik mit dem Feuerhachschen Materialismus. Wenn Marx mit Feucrbach darin übereinstimmt, daß nicht die Idee, sondern der „sinnliche Gegenstand" zum Prinzip der Wirklichkeit wird, so begreift Marx doch über Feuerbach hinaus mittels Hegelscher Dialektik den sinnlichen Gegenstand als „praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit," nicht als bloßes sinnliches Objekt und damit die Erkenntnis als anschauend: Die Materie, in stetem Werden begriffen, ist Praxis.

Bei Gentile jedoch ist Materie für sich selbst unbeweglich; eine ihr immanente Tätigkeit, die sie in dialektischer Entwicklung umwandeln soll (Marx), muß aber eine „vernünftige" Kraft sein, d.h. Geist (Gentile). Die unter Praxis sich in „fortlaufendem Werden" befindende Materie manifestiert sich einzig noch in der Selbstbewegung der „reinen Tat" des „absolut autonomen Subjekts": Identisches Subjekt-Objekt, in dem das erkennende Subjekt das Objekt durch bloße Erkenntnis hervorbringt.(13) Ohne die Vermittlung des Form- (= Praxis-) Prinzips mit dem des Inhalts (= Materie), wie sie Marx gegenüber aller vergangenen Philosophie leistet, ohne Berücksichtigung der entscheidenenden Wendung zur praktisch-politischen Veränderung der Wirklichkeit, wie sie die 11. Feuerbach-These anzeigt, muß die von Gentile intendierte „Synthese" Hegel/Feuerbach scheitern.

Gentiles Pointe: Die eigentliche Bedeutung des Marxismus liegt in seiner Instrumentalisierung zur Einführung Hegels in die italienische Kultur für den Kampf der italienischen Idealisten gegen Positivismus und Materialismus. Für die italienische Tradition des Marxismus bestätigt dies B. Croce, der den Schritt von Marx zu Hegel zurück ausdrücklich vollzieht: Marx war „das Medium, in dem die Philosophie und die Dialektik zu ihren Quellen zurückkehren konnten."(14)

Auch Mondolfo geht in seinem Buch: „II materialismo storico di Frederico Engels" von der Subjekt-Objekt-Dialektik aus. Als Überwindung von Idealismus und Materialismus privilegiere die Marxsche Philosophie weder die „Einseitigkeit der Subjektivität" noch die der Objektivität, sondern begreife die dialektische Einheit von Subjekt und Objekt (Denken und Sein) in der Praxis. Doch Denken und Sein existieren nur begrifflich als Komplemente der von Mondolfo behaupteten Einheit der Praxis. Dieses Praxis-Objekt der Philosophie, als menschliche Tätigkeit definiert, hat eine subjektivistische Struktur, die Willen und Bewußtsein bilden. Entsprechend möchte Mondolfo den Historischen Materialismus zum „idealismo volontaristico" oder „telismo" umbenennen. Praxis, deren gesellschaftliche Natur bei Mondolfo rhetorisch bleibt, kommt in seiner Version des Historischen Materialismus auf einen „Pragmatismus gesellschaftlicher Natur" herunter.

2. Die Philosophie der Praxis als Wissenschaft der Dialektik bei Gramsci

Die „Philosophie der Praxis" soll nach Gramsci die kritische Überwindung der klassischen Oppositionen (Materialismus/Idealismus) in Form einer neuen Synthese leisten. Als Voraussetzungen der „Philosophie der Praxis" bei Gramsci lassen sich zwei Etappen schematisch unterscheiden:

(1) Die spekulative Kritik der Spekulation (Croce, Gentile);

(2) die Verflachung des Marxismus zum Mechanismus und Ökonomismus (Bucharin, II. Internationale).

Die „Aufhebung" des alten Dualismus von Materialismus und Idealismus findet jedoch nicht am Ort der kulturimmanenten Interpretation dieses Widcrspruchs statt: Ort dieser Synthese ist die reale Geschichte. Die neue Synthese als originale Aufhebung des Widerspruchs jenseits des alten Systems ist untrennbar vom Prozeß der proletarischen Hegemonie, d.h. einer neuen Staatsbildung. Die Geschichtsdialektik, in der die Philosophie der Praxis sich selbst als ein Element des Widerspruchs entwickelt, ist also

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nicht auf das theoretische Feld des Idealismus (Croce) reduzierbar. Der Marxismus „ist ... das von den Widersprüchen erfüllte Bewußtsein, in der der Philosoph individuell oder als ganze Klasse betrachtet nicht allein die Widersprüche, sondern sich selbst als Element des Widerspruchs begreift, und dieses Element zum Prinzip der Erkenntnis und somit des Handelns erhebt."(15) Die Historisierung der marxistischen Philosophie verweist auf ein externes, d.h. geschichtsdialektisches Verhältnis von marxistischer Philosophie und Dialektik. Die Artikulation eines internen Verhältnisses kommt zunächst über eine allgemeine Bestimmung nicht hinaus, wenn Gramsci im Marxismus eine „allgemeine Philosophie" sieht, die „die wirkliche und eigentliche Philosophie der Praxis: nämlich die Wissenschaft der Dialektik oder Erkenntnistheorie" ist.(16) Um „Funktion und Bedeutung der Dialektik in ihrer Wescntlichkeit"(17) zu erfassen, greift Gramsci auf Labriolas These von der autonomen theoretischen Struktur und „Integralität" des Marxismus zurück. „Autonom" und „originär" rechnet der Marxismus mit jeder traditionellen Philosophie ab und bricht mit dem Titel systematischer Philosophie. Die marxistische Philosophie in ihrer Gestalt als „Wissenschaft der Dialektik" befindet sich permanent im Stadium „der Diskussion, der Polemik, der Ausarbeitung."(18) Marx habe in erster Linie als Begründer einer Theorie der Geschichte, der Gesellschaft und Ökonomie zu gelten, seine Philosophie (Dialektik) allein in „Form von Aphorismen und auf den konkreten Fall bezogenen praktischen Kriterien"(19) hinterlassen. Die lediglich praktische Präsenz der materialistischen Methode bei Marx, ihre bloß aphoristische Theorctisierung werden von Labriola und Gramsci mit dem autonomen, globalen Charakter des Marxismus, seiner radikalisierten, d.h. von jeder Spekulation abgelösten Immanenz konfrontiert. Als radikal immanente Philosophie, „immanent den Dingen, über die sie philosophiert," kann der Marxismus keine Dialektik a priori, sondern nur in der praktischen Auseinandersetzung mit der Geschichte, d.h. im revolutionären Klassenkampf entwickeln. Das ist die reale Bedeutung des Terminus „Philosophie der Praxis": die dialektische Einheit von Theorie und Praxis, Philosophie und Geschichte.

C. DIALEKTIK-KONZEPTION

1. Gramscis Auseinandersetzung mit dem Mechanismus und Ökonomismus der II. Internationale

Gegen die sogenannte „Orthodoxie" der II. Internationale formuliert Gramsci einen kritischen erneuerten Orthodoxiebegriff. Nach Labriola resultiert die Autonomie der marxistischen Dialektik aus der Korrektur des idealistischen Monismus im historischen Materialismus. Wenn Dialektik nichts anderes als der theoretische Ausdruck des Verhältnisses Mensch und Materie (Subjekt und Objekt) ist, dann bedeutet Monismus „die Identität der Gegensätze in der konkreten geschichtlichen Tat, d.h. menschliche Tätigkeit (Geschichte/Geist) im konkreten Sinne, die unlöslich einer gewissen organisierten (historischen) ,Materie,' der vom Menschen veränderten Natur, verbunden ist."(20) Tendenzieüer Monismus meint bei Gramsci: die Identität von Philosophie und Geschichte im Sinne von Einheit und Unterschied, nicht als Zusammenfallen.(21)

Die Tendenz zum Monismus macht den Marxismus in seiner konkreten Gestalt zur Weltanschauung einer Epoche. Nicht in der Ausbildung des Marxismus zur „allgemeinen Weltanschauung" unterscheidet sich Gramsci von Engels, Plechanov, Kautsky und Bucharin, vielmehr in seiner Zurückweisung der „materialistischen" Basis dieser Weltanschauung. „Man ging von der dogmatischen Voraussetzung aus, der Historische Materialismus sei ohne weiteres ein etwas verbesserter und revidierter traditioneller Materialismus (verbessert durch die Dialektik ...)"(22) bemerkt Gramsci in seiner Kritik an Bucharin. Wie Mondolfo versucht Gramsci Marx vom Materialismus-Verdikt freizusprechen, indem er ihn aus dem „System der materialistischen Welt- und Geschichtsauffassung" herauslöst, in das Engels ihn hineingearbeitet hatte. Im Sinne F. A. Langes, der in seiner „Geschichte des Materialismus" dem Historischen Materialismus den Materialismus abspricht, setzt Gramsci „den Akzent auf historisch ... und nicht auf Mate­rialismus, der metaphysischen Ursprungs ist."(23) Die Kritik, in der Marx dem „abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus" vorwirft, den „geschichtlichen Prozeß auszuschließen," weil er die Materie außerhalb des menschlichen Produktionsprozesses konzipiert, radikalisiert Gramsci verbal zu einer Ausklammerung der materialistischen Seite in der Marxschen Methode: Gramsci meint von der Stelle im „Nachwort zur 2. Auflage des

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Kapitals,"(24) wo Marx die Metapher der „Umstülpung" der Hegelschen Dialektik erläutert: wie Marx seine „Konzeption niemals materialistisch genannt hat ... so verwandte er nie die Formel .materialistische Dialektik,' sondern rational, im Gegensatz zu mystisch, was dem Terminus .rational' eine sehr genaue Bedeutung gibt."(25) Gramscis Kritik trifft jedoch den Materialismus der II. Internationale und ihres Nachfahren Bucharin. Gramsci bezeichnet dessen Materialismus als metaphysisch, weil er die Materie als Substrat im aristotelischen Sinne „ungeschichtlich" als „prima causa" auffaßt. Der Matericbegriff des Historischen Materialismus ist aber nicht der der Naturwissenschaften, sondern die „Historisierung der Materie" selbst. Gramsci reflektiert den Materiebegriff nur im Zusammenhang mit seiner Bedeutung für die „Philosophie der Praxis," d.h. Materie nur „insofern sie zu einem produktiven, ökonomischen Element,"(26) zur „ökonomischen Kategorie der menschlichen Praxis"(27) wird.

In Bucharins Zweiteilung des Marxismus in eine positivistisch verstandene Soziologie und einen „dialektischen Materialismus" sieht Gramsci die deterministische Weltauffassung am Werk. Historischer Materialismus, hier auf „ökonomischen Materialismus" reduziert, erhält den Charakter einer „science," den Schein falscher Objektivität. Der Fetischisierung der naturwissenschaftlichen Methode korrespondiert der Determinismus einer Katastrophen-Dialektik, der Gramsci die „bewußte Aktion" des Proletariats entgegensetzt, den revolutionären Übergang von Quantität zu Qualität. Das der geschichtlichen Dialektik immanente Moment der Qualität, d.h. das subjektive Element der Geschichte in seinen verschiedenen politisch-ideologischen Formen umschreibt Gramsci mit der Kategorie „historischer Block,"(28) dem von einer gegebenen objektiven Basis determinierten Kom­plex, der die organische Einheit von Basis und Überbau konstituiert. Mit Bezug auf das „Vorwort" zu Marx' Buch „Zur Kritik der politischen Ökonomie" von 1859 sieht Gramsci in der Ideologie den Ort der geschichtlichen Möglichkeit des Proletariats, die zur realen Dialektik wird. Nicht die ökonomische Basis wird „rebellische Wirklichkeit,"(29) sondern die politische Initiative wird bei Gramsci zur entscheidenden Instanz der Geschichte: eine folgenreiche Akzentverlagerung innerhalb des traditionellen Basis/Überbau-Verhältnisses.

2. Subjektive und objektive Dialektik

Gramscis Konzept der Praxis geht über die bloße Subjekt-Objekt-Dialektik im Rahmen einer strikten Immanenzphilosophie hinaus. Irreduzibel auf Gentiles Subjekt-Objekt-Identität in einem „Akt" (Aktualismus, politische Konsequenz: Determinismus), reflektiert Gramsci „Praxis" politisch als Klassenpraxis, d.h. sein Wirklichkeits- (Objektivitäts-) begriff ist an eine gesellschaftsverändernde Praxis gebunden. Gramsci: „Die .Philosophie der Praxis' ist nicht nur mit der Immanenzphilosophie verbunden, sondern auch mit der subjektiven Wirklichkeitsaujfassung, indem sie diese umkehrt und sie als geschichtliches Faktum erklärt, als geschichtliche Subjektivität einer gesellschaftlichen Gruppe." Die revolutionäre Praxis der „filosofia creativa," deren „Richtigkeit" sich „experimentell," nach dem Modell wissenschaftlicher Praxis erweisen muß, kehrt die „subjektive Wirklichkeitsauffassung" um; von der subalternen Klasse zur (kulturellen und politischen) Hegemonie des Proletariats, in Lukäcs' Terms: von der Klasse ,an sich' zur Klasse ,für sich.' Wird bei G. Lukacs das Proletariat als identisches Subjekt-Objekt der Geschichte noch zur Wahrheitsgarantie des „Geschichtlich-Notwendigen" mystifiziert, so fällt für Gramsci das Proletariat als einziger geschichtlich legitimierter Träger der Wahrheit in der politisch-gesellschaftlichen Konjunktur Italiens seit 1920 aus (Faschismus). Dieses Ausfallen wirkt sich auf die bei Lukacs akzentuierte Kategorie der Vermittlung ruinös aus: Von dialektischer Vermittlung im Verhältnis von Geschichtsprozeß und Klassen­bewußtsein, d.h. von materialistischer Dialektik als „philosophischer Garantie für die Heraufkunft der Revolution und des Sozialismus"(30) kann nicht mehr die Rede sein. Oder: Ohne eine Reife, d.h. klassenbewußte „subjektive" Kraft würden die „objektiven" Bedingungen nie ausreichend sein, folgert Gramsci zwingend aus dem Zerschlagen des Streiks der Turiner Räte (1920), (und damit dem Scheitern der proletarischen Demokratie in der Fabrik als Zentrum des revolutionären Prozesses). Ohne den rätedemokratischen Gedanken je ganz aufzugeben, beschleunigt Gramsci den Aufbau einer revolutionären kommunistischen Partei (1921).

D. THEORIEGESCHICHTLICHER UND POLITISCHER KONTEXT DER DIALEKTIK-

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KONZEPTION

1. Die Historizismusproblematik - der Versuch einer „Umkehrung"

Gramsci entfaltet seine Dialektikkonzeption nicht mit ausdrücklichem Bezug auf die authentischen Quellen materialistischer Dialektik, vielmehr macht er nach zwei Seiten Front gegen philosophische Richtungen, die die theoretische Integrität der Marxschen Dialektik desavouieren: Gegen den spekulativ von der Dialektik Gebrauch machenden Idealismus Croces und gegen Bucharins un-dialektischen Vulgärmaterialismus. Die gleichzeitige Kritik an Croce und Bucharin ist Inhalt von Gramscis philosophischem Projekt, „in einem höheren Entwicklungsmoment des Marxismus,"(31) innerhalb dessen sich „noch einmal die in der ersten Feuerbach-These kritisierte reziprok einseitige Position zwischen Materialismus und Idealismus" reproduziert, die fortwährende Synthesis beider „reziprok einseitigen" Momente im Sinne einer „kritischen Aufhebung" zu verwirklichen. Das bedeutet: Rekonstruktion marxistischer Dialektik auf dem Terrain theorieimmanenter philosophischer Diskussion, d.h. Rekonstruktionsarbeit in der Philosophie!

Die Auseinandersetzung mit Croce steht in einem Analogieverhältnis zur Marxschen Hegel-Kritik in den Manuskripten von 1844: Wie Marx an Hegel kritisiert, den real-geschichtlichen Prozeß in eine Bewegung der Ideen projiziert zu haben, so bezeichnet Gramsci Croces Dialektik als reine Begriffsdialektik in Kontroversrelation zur materialistischen Dialektik: Dialektik der Ideen statt der realen Dinge.

Croce verkürzt Hegels Dialektik allerdings dergestalt, daß im triadischen Rhythmus nur das synthetische Moment Realitätsgehalt beanspruchen könne: eine Dialektik der konkreten Unterschiede statt des Dualismus der Gegensätze. Kraft interner dialektischer Selbstbewegung bewahrt jeder Term dieser Unterschiede die Einheit des Geistes gegen die Multipüzität der Gegensätze. Croccs Revision trifft den Nerv der Hegeischen Dialektik und beraubt sie ihres entscheidenden Momentes, des konkreten Widerspruchs. Gramsci sieht bei Croce eine universal-abstrakte Konzeption der Dialektik am Werk: die abstrakte Idee des „Werdens," die als diminuitive Spielart der Hegclschen Dialektik auftritt. „Der philosophische Irrtum dieser Konzeption besteht darin, daß der dialektische Prozeß mechanisch unterstellt wird, daß die These durch die Anti-These bewahrt werden muß, um den Prozeß selbst ... nicht zu destruieren."(32)

In Analogie zu Marx' Kritik an Proudhon, der die fundamentale Bedeutung der Negativität der Geschichte nicht begriffen hat, enthüllt Gramsci den reformistischen Charakter von Croces Dialektikkonzeption des Typs „Bewahrung-Erneuerung," in der die italienische kulturelle und politische Tradition überdauert (Quincts „Revolution-Restauration", Cuocos „Passive Revolution"). Stimmt Gramsci der Erhaltung des Alten im geschichtlich Neuen allgemein zu, zieht er doch eine klare Grenzlinie gegen die ideologische Beanspruchung dieses noch hinter Hegel zurückfallenden dialektischen Prinzips.

Gramsci expliziert gegen Croce die eigene dialektische Konzeption geschichtsdialektisch als a-teleologische Verlaufsform des historischen Prozesses: „In der wirklichen Geschichte tendiert die Anti-These zur Destruktion der These; die Synthese wird eine .Aufhebung' sein, aber ohne daß a priori zu sagen ist, was von der These in der Synthese .bewahrt* werden wird."(33) Gramsci setzt gegen Croces Dialektik der Distinktionen das Moment der Negativität in den Mittelpunkt seiner Konzeption, deren differenzierte Entfaltung in dieser Kontroverse allerdings unenwickelt bleibt.

Gramsci fragt von Neuem, wie der Satz von Engels über die Erbschaft der klassischen deutschen Philosophie verstanden werden soll: „Man darf das Erbe der klassischen deutschen Philosophie nicht nur inventarisieren, sondern man muß es zu tätigem Leben wiedererstehen lassen. Dazu muß man die Rechnung mit der Philosophie Croces machen ... das gleiche ..., was die ersten Theoretiker der Philosophie der Praxis mit der Hegelschen Philosophie gemacht haben," (d.h. ,sie auf die Füsse stellen', d.V.).(34)

Gramscis Abrechnung mit Croces Philosophie, die „für uns Italiener ... die klassische deutsche Philosophie vertritt"(35) erfüllt die Doppelfunktion a) der Auseinandersetzung

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der Philosophie der Praxis mit der Hegeischen Dialektik in Gestalt einer „Reform und Überwindung des Idealismus"(36) und b) der gleichzeitigen Bewahrung und Überwindung des spekulativen Historizismus Croces, seiner Theorie der Einheit von Philosophie und Geschichte.

Die Analogie des Verhältnissen Marx-Hegel zu Gramsci-Croce findet ihre theoretische Grenze in der Degeneration der Hegeischen Dialektik bei Croce. Indessen gibt Gramscis Kontroverse mit Croce einen relativen Aufschluß darüber, wie Gramsci das Verhältnis der materialistischen zur idealistischen Dialektik (Marx-Hegel) situiert.

a. Auf dem theoretisch-philosophischen Terrain bildet der Historizismus Gramscis die theoretische Allianz seines Marxismus mit der italienischen kulturellen Tradition des Idealismus (Vico, Croce, Bruno), eine Allianz, die in Hinblick auf die Konstitution materialistischer Dialektik einer kontinuierlichen Entwicklungslinie von Hege! zu Marx folgt: Hegelsche Dialektik übernimmt die Rolle des theoretischen Konstituens für den Übergang vom Idealismus zum Materialismus, indem sie die Kategorie des objektiven Widerspruchs in den Mittelpunkt ihres Systems rückt, allerdings nur in Form eines „philosophischen Romans," wie Gramsci sagt, d.h. die idealistische Dialektik begreift sich selbst außerhalb des widersprüchlichen Gangs der Geschichte, nämlich an seinem Ende. Das zentrale Moment der Negati-vität, mit dem die Hegeische Dialektik den Marxismus vorbereitet, wird zum Impetus der Auseinandersetzung Gramscis mit Bucharin und bleibt in Gramscis Konzeption als Konstituens materialistischer Dialektik präsent. In welchem Sinne Gramsci dabei dem Interpretament einer Kontinuität Hegel/Marx folgt, geht deutlich daraus hervor, daß er den Marxismus als Produkt aus „Hege! plus Ricardo"(37) bezeichnet. Diese Hypothese von der Kontinuität des Gegenstandes bei der klassischen Ökonomie und Marx, in der die materialistische Dialektik bloß als Verallgemeinerung Ricardos auftritt, rückt Gramsci in die Nähe der von ihm bekämpften Vulgär-Materialisten, die offen unterstellen, daß der Unterschied zwischen Marx und seinen Vorgängern allein in der Methode zu suchen sei(38): metaphysisch in der klassischen Ökonomie, dialektisch bei Marx. Diese Interpretation unterstellt, Marx habe diese als reine Methode begriffene Dialektik von Hegel übernommen und auf ein „reines Objekt," „die sichere Straße des Materialismus"(39) übertragen. Die Nicht-Differenz der Gegenstände bei Ricardo/Smith und Marx impliziert die Vorstellung einer bloßen „Umkehrung" der Hegelschen Dialektik durch Marx.

b. Wie die bloße „Umkehrung" der Hegeischen Problematik deren Struktur unangetastet läßt, so konserviert die „Umkehrung" bzw. „Überwindung" des spekulativen Historizismus Croces durch Gramsci prima vista ein und dieselbe Problematik „unter dem Anschein der Kritik."(40) Die Identität von Philosophie und Geschichte beruht bei Croce auf Vicos „verum ipsum factum," der Einheit des Wahren mit dem Geschaffenen: Die vom Menschen gemachte Geschichte wird zum einzigen Gegenstand des Erkennens. In dieser Identität von Geist und Geschichte gibt die Philosophie im Sinne von Metaphysik ihre Eigenständigkeit auf; an ihre Stelle tritt, wie Croce konstatiert, „nicht mehr Philosophie, sondern Geschichte ... die Philosophie-Geschichte."(41) Gramsci kritisiert nun an Croce, daß dessen Historizismus inkonsequent bleibe, indem er zwar alles in den Rahmen der Geschichtlichkeit stelle, zugleich aber die Kategorien des Geistes (im Sinne Hegels) von dieser Historizität ausnehme. Spricht Croce auch der Philosophie den Charakter der Metaphysik ab, bleibt er doch ganz Platoniker, wenn er von den „ewigen," „unwandelbaren" Kategorien spricht. Gramsci besteht jedoch auf der Historisierung eben der Kategorien, unterscheidet er doch „nur in logischer Hinsicht ... die dem ständigen Wandel unterliegende Wirklichkeit und den Begriff der Wirklichkeit, die historisch als untrennbare Einheit verstanden werden müssen."(42) Gramsci unterscheidet damit nicht mehr zwischen Philosophie (des Marxismus) und Ideologie, da die Philosophie der Praxis Ausdruck der geschichtlichen Widcrsprüche ist, „das volle Bewußtsein der Widersprüche, indem der Philosoph selbst - sei es als Individuum oder sei es als ganze gesellschaftliche Gruppe (d.h. des Proletariats- d.V.) nicht nur die Widersprüche begreift, sondern sich selbst zum Element dieser Widersprüche und dies Element zum Prinzip der Erkenntnis und damit der Aktion macht."(43) (Althusser).

Gramsci versteht das Verhältnis von realer Geschichte und Philosophie als eine Einheit unmittelbaren Ausdrucks, die marxistische Philosophie als direktes Produkt der Aktivität

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und Erfahrung der Massen.(44) Die bei Hegel und Croce zwischen Philosophie und Geschichte gedachte Beziehung eines direkten Ausdrucks findet sich in der „Umkehrung" dieser Theorie bei Gramsci in der Beziehung einer expressiven Einheit zwischen Politik (realer Geschichte) und Philosophie wieder, wenn Gramsci im Rückgriff auf Feuerbachsche Terminologie den „spekulativen" Historizismus Croces auf die Füße stellt, d.h. in die „konkrete" Philosophie des Marxismus, „spekulative" in „konkrete" Dialektik „umkehrt."

Lassen wir jedoch die kraft Reduktion der marxistischen Philosophie (Theorie) auf Geschichte implizierte empiristische Problematik unerörtert beiseite,(45) begnügen uns aber auch nicht mit dem Hinweis einer bestimmten Spielart humanistischer Gramsci-Lektüre, der „absolute Historizismus" sei („nichts weiter als") ein kritischer, polemischer Begriff gegen objektivistische Tendenzen im Marxismus (Bucharin) und den spekulativen Historizismus Croces, dann verschiebt sich der Akzent der Interpretation allererst auf die entscheidende Dimension, die bei Gramsci zu Croces Gleichsetzung von Philosophie und Geschichte hinzutritt: die Dimension der Politik. Die materialistische Dialektik in ihrer doppelten Einschreibung in die Wissenschaften und die Politik ist dann in der Interpreationslinie von Kontinuität und Diskontinuität: Marx-Lenin-Gramsci zu lesen. Die sogenannte „Leninistische Wendung,"(46) die den „Bruch" Gramscis mit Croces Historizismus markiert, setzt erst den realen Bedeutungsgehalt des „absoluten Historizis­mus" für eine materialistische Lesart frei: den Versuch, dialektischen Prozeß und die Bewegung der Politik (als konkrete Gestalt der historischen Praxis im allgemeinen) miteinander zu identifizieren. Die Reihe tendenzieller Gleichsetzungen lautet also bei Gramsci: Philosophie = Dialektik = Geschichte = Praxis = Politik. Historizismus im Sinne Gramscis bedeutet vor allem die Fähigkeit der konkreten Analyse einer konkreten Situation in ihrer Besonderheit (André Tonsei),(47) wie die historische Bedeutung dieser Konzeption als theoretischer Begründung des „italienischen Weges zum Sozialismus" bezeugt. Doch Gramscis Historizismus in seiner von der PCI unter Togliattis Ägide praktizierten politischen Gestalt ist nicht allein politischtaktisches Kalkül. Der Historizismus ah politisch-theoretische Konzeption ist das philosophische Selbstverständnis eines bestimmten Artikulationstypus der dialektischen Einheit von Theorie und Praxis (Politik), dem die Theorie der Ideologien bei Gramsci zugrundeliegt, eine Theorie der Ideologien als Überbau - und nicht als bloßer Bewußtseinstrukturen, die als Uberbaustrukturen in ihrer Abhängigkeit von den Bewegungen und Konflikten der Basis materielle Kräfte werden können.(48) Halten wir fest:

„Der authentische revolutionäre Charakter des Historizismus Gramscis besteht ... in der Reklamierung der politischen Natur der Philosophie, in der These vom historischen Charakter der sozialen Formationen (und ihrer Produktionsweisen), in der korrelierenden These von der Möglichkeit der Revolution, in der Forderung der Einheit von Theorie und Praxis."(49)

Gramsci definiert den „absoluten Historizismus" auch als „absoluten Humanismus." Nicht die Rekonstitution eines unhistorischen „menschlichen Wesens," sondern die Historisierung der menschlichen Natur ist das Implikat von Gramscis Formulierung des Menschen als „Prozeß seiner Handlung," oder als „Komplex seiner sozialen Beziehungen." Die o.a. Reduktion jeder Erkenntnis auf sozio-historische Verhältnisse impliziert stillschweigend eine zweite Reduktion des Historizismus, die der Produk­tionsverhältnisse auf intersubjektive, zwischen-menschliche Beziehungen, (die Gramsci in die Nähe von Bucharins organisationssoziologischen Vorstellungen bringt). Diese Unterstellung jeder Variante humanistischer Marx-Interpretation beruht allerdings auf der „Voraussetzung, daß die .Akteure' der Geschichte, die konkreten Individuen auch die Verfasser ihres Textes, die Subjekte ihrer Produktion seien."(50) In Gramscis Konzeption tritt die historisierte menschliche Natur jedoch nicht als Subjekt der Geschichte im alten metaphysischen Sinne auf. Wenn Gramsci bemerkt, daß der Marxismus den Massen erlaubt, Akteure der Geschichte zu werden, so eröffnet das den Ausblick auf eine Unterscheidung der Begriffe Akteur und Subjekt sowie des Konzepts Masse und Menschen. Die marxistische Theorie ersetzt den Willen im Geschichtsprozeß durch eine Multiplizität von Elementen, die das einzige Subjekt ist. Wenn Praxis im Zentrum dieser Geschichtsdialektik steht, dann konzipiert Gramsci Praxis nicht als Praxis eines Subjektes, dagegen Praxis als anonymes Subjekt das nicht die Struktur eines Subjektes hat. (51)

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(vielmehr die Struktur der Produktionsverhältnisse, d.h. der sozio-ökonomischen und ideologischen Verhältnisse als des eigentlichen Regisseurs der Geschichte).

2. Die Einheit von Philosophie, Ökonomie, Geschichte - Dialektik als nicht formalisierbare „ Übersetzungstheorie"

Gramsci kritisiert in seiner Auseinandersetzung mit Bucharins „Lehrbuch" dessen Verfahren, die Dialektik von den einzelnen marxistischen Theorien der Erkenntnis, der Gesellschaft, der Geschichte usw. zu isolieren, um sie zur Lehre von den „allgemeinen Bewegungsgesetzen" im „Dialektischen Materialismus" zusammenzufassen.

Bucharin „degradiert" die Dialektik „zu einer Unterabteilung der formalen Logik und der elementaren Scholastik."(52) Für Gramsci beraubt die Gleichstellung mit der formalen Logik die Dialektik des konkreten Widerspruchs und damit gerade des Hegelschen Erbes, das bei Marx zur revolutionären Dialektik wird. Wenn Bucharin den Marxismus in Soziologie und Philosophie zweiteilt, verliert Dialektik ihren Sachinhalt. Theorie steht der Geschichte als fertiges Koordinatensystem gegenüber, in das ihre Fakten jeweils nur einzutragen sind, während bei Gramsci der historische Prozeß für die Dialektik konstitutiv ist, so daß er deren Kategorien modifiziert. Gramsci kritisiert die Formalisicrung der Dialektik gegenüber den regionalen Theorien des Materialismus bei Bucharin und restituiert die „Wissenschaft der Dialektik" als eine logische Einheit stiftende Methodologie, „in der die allgemeinen Begriffe der Geschichte/Politik/Ökonomie in organischer Einheit miteinander verknüpft sind." 53

Die Einheit des Marxismus impliziert kein Anwendungs-Verhältnis der Dialektik auf die Geschichte, beziehungsweise auf die regionalen Theorien des historischen Materialismus. Dialektik ist Differenzierungsprinzip der spezifischen Theorien wie auch „Übersetzungs"-Prinzip.(54) Jede einzelne von den drei „Tätigkeiten" - Ökonomie, Philosophie, Politik - behält ihre relative Autonomie, ist aber ein Teil eines Ensembles reziprok ineinander über­setzbarer Momente des Überbaus einer spezifischen Gesellschaftsformation.

Gramsci konzipiert damit ein Dialektikmodell, in dem Totalität (anders als nach dem Prinzip einfachen Ausdrucks bei Hegel) als ein Prinzip „produktiver Übersetzbarkeit," des Übergangs von „einem Text zu einem anderen" begriffen wird.(55) „Philosophie, Politik, Ökonomie. Wenn diese drei Aktivitäten konstitutive Elemente derselben Weltanschauung sind, muß notwendigerweise in ihren theoretischen Prinzipien eine Umsetzbarkeit von einem zum anderen, eine reziproke Übersctzbarkeit bestehen, jedes in seiner spezifischen Sprache jedes konstitutiven Elementes: das eine ist implizit im anderen enthalten, und alle zusammen bilden einen homogenen Zirkel."(56)

Anders gesagt: Materialistische Dialektik, die in der „Philosophie der Praxis" mit Praxis im emphatischen Sinne identifiziert wird, konkretisiert sich in Praxisformen, die sich sozusagen „in Erwartung" einer Aufnahme auf höherem Niveau befinden: dem der Politik. Politik steht aber nicht etwa in einem Ablcitungsverhältnis zur ökonomischen Basis, sie ist vielmehr,,Übersetzungstätigkeit von Theorie in Praxis, von Erkennen objektiver Gegeben­heiten in subjektive Handlungsstrategien."(57) Paradoxerweise läßt Gramscis Kritik des Evolutionismus, des Mechanismus und Ökonomismus, die die Möglichkeit einer differenzierten Analyse des Überbaus eröffnet, nichts aus bis auf die ökonomische Basis, die „ist, was sie ist ... eine rebellische Wirklichkeit, die niemand verändern kann"(!)(58) Der Historische Materialismus, der die Bürgerliche Revolution als Resultat der Entwicklungsprozesse von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften in Rechnung stellt, schweigt sich bei Gramsci über die proletarische Revolution als Abschaffung eben dieser Produktionsverhältnisse aus,(59) Das „Übersetzungsprinzip" hat verschiedene Implikate:

a. Das Verhältnis Philosophie und Politik läßt sich als Identität nach der dialektischen Form von Einheit und Unterschied bestimmen: „Die Philosophie muß praktisch zu Politik werden, um weiter Philosophie sein zu können."(60) Mit dem Prinzip der Übersetzung tritt die Dialektik in die Dimension der Politik, Umkehrung und notwendige Folge von Gramscis „philosophischer Rückübersetzung" der Politik Lenins. (Eine neue Praxis der Politik; Philosophie als Hegemonialer

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Apparat).

b. Die organische Kohärenz der Bestandteile des Marxismus erklärt Gramscis Ablehnung eines Bruches zwischen Dialektischem und Historischem Materialismus.(61) Das „Übersetzungsprinzip" schließt die Konstitution der Dialektik als „philosophischen Materialismus" = „Wissenschaft der Dialektik" aus, wieder Widerspruch des abgeleiteten Begriffes: Dialektik = „philosophische Wissenschaft" zeigt. Eine „Wissenschaft der Dialektik," das ist der „alte platonische oder Hegelsche Traum einer Episteme, die die Wirklichkeit umfaßt."(62)

c. Gramscis Kritik an Bucharin zeigte schon, daß der gesuchte Artikulationstyp der Dialektik nicht nach dem klassischen Modell eines Begründungszusammenhanges und seiner Anwendung funktioniert. Materialistische Dialektik ist nicht formalisierbar und als formalisierte beliebig anwendbar, sie ist allein übersetzbar, d.h. übertragbar auf spezifische theoretische Felder, deren reziproke Übersetzbarkeit auf der Kompatibilität ihres ideologischen Gehaltes beruht. „Zwei fundamental ähnliche Basen haben äquivalente und reziprok übersetzbare Überbauten gleich welcher spezifischen und nationalen Sprache."(63)

Das Übersetzungsprinzip antizipiert metaphorisch den Begriff materialistischen Dialektik den Gramsci in der „Philosophie der Praxis“ nicht hinreichend systematisch entfaltet. Der vorausgesetzten logischen Einheit der einzelnen Bestandteile des Marxismus konfrontiert Gramsci eine andere Einheit, die auf der „dialektischen Entwicklung der Widersprüche" zwischen Mensch und Materie (Natur, materielle Produktivkräfte) beruht: „In der Ökonomie ist das Einheitszentrum die Werttheorie. In der Philosophie: die Praxis, d.h. das Verhältnis von menschlichem Willen (Überbau) und ökonomischer Basis. In der Politik: das Verhältnis von Staat und bürgerlicher Gesellschaft."(64) Gramscis Hinzufügung: „Zu vertiefen und in genaueren Begriffen auszudrücken,"(65) dürfte eine Anleitung sein, den Doppelsinn seiner Konzeption des Historischen Materialismus begrifflich genauer zu bestimmen. Wenn Gramsci von einem „systematischen Expose '̂ der „Philosophie der Praxis" erwartet, „alle allgemeinen Begriffe einer Methodologie der Geschichte, der Politik, gleichermaßen ... zu entwickeln,"(66) dann existiert der Gegenstand der Dialektik (die allgemeinen theoretischen Begriffe) und existiert zugleich nicht, insofern die verschiedenen Einzelpraktiken und -disziplinen eine implizite Philosophie enthalten, die zu übersetzen bleibt.

Das doppelte Problem des Verhältnisses Dialektik und Wissenschaft und Autonomie der Philosophie im Verhältnis zu Geschichte und Politik, das Gramsci selbst als „Unsicherheit" der Dialektik bezeichnet, ist vor allem der Instabilität der Gramscianischen Kategorien geschuldet: die doppelte Reichweite der logischen Kategorien, zugleich historische Kategorien zu sein. Das Dilemma erscheint nur lösbar, wenn Gramscis Zurückweisung eines Anwendungsverhältnissen von Dialektik und Wissenschaft sowie Dialektik und Geschichte bzw. Politik im Sinne einer organischen Beziehung begründet wird, die außerphilosophische Praxisformen, Eingriffe, den realen Einsatz der Dialektik als Waffe im philosophischen und politischen Kampf produziert (Althusser): Eingriff und Übersetzung sind dann untrennbare Konzepte.

3. Die dialektische Einheit von Theorie und Praxis als Reformulierung der materialistischen Überbautheorie

Das Prinzip der „Übersetzbarkeit" beschreibt metaphorisch den Zusammenhang zwischen den konsumtiven Bestandteilen des Marxismus als Prinzip des Übergangs von der Theorie zur Praxis, von der Praxis zur Theorie. Die in der 11. Feuerbach-These bei Marx reklamierte dialektische Einheit von Theorie und Praxis interpretiert Gramsci als „permanenten dialektischen Prozeß" historischen „Werdens."

Gramsci formuliert seine Konzeption der dialektischen Einheit von Theorie und Praxis gegen die empirische, dogmatische Position des Mechanismus (Bucharin), welche Theorie als bloßen Appendix zur Praxis in eine einfache Ausdrucksbeziehung setzt. Die Theorie macht die Praxis „homogener," „kohärenter" d.h. Theorie organisiert die Praxis als bereits „determinierte," also von der Theorie modifizierte Praxis, die diese wiederum realisiert. Der

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dialektische Prozeß der Identifikation von Theorie und Praxis ist ein „kritischer Akt" spiralförmiger, unendlicher Prozesse der wechselseitigen Veränderung beider Momente, dem sich das Problem der Hierarchie, des Primats des einen Momentes über das andere nicht stellt. Die Einheit beider ist „kein mechanisch gegebenes Faktum, aber ein historisches Werden, in seiner ersten Phase im Bewußtsein des .Unterschieds,' der .Trennung,' und schreitet bis zum realen und vollständigen Besitz einer kohärenten und einheitlichen Weltanschauung fort.“(67)

Nicht nur der „Unterschied," vielmehr die „Trennung" von „Theorie und Praxis" herrscht, solange das Proletariat nicht als organisierte, klassenbewußte Kraft auftritt, d.h. das Problem der dialektischen Einheit von Theorie und Praxis stellt sich politisch als die Frage von Bewußtsein (der Klasse) und Organisation (der Partei). Als „moderner Fürst" bzw. „Kollektivintellektueller" (Togliatti) ist die Partei die vereinheitlichende und zentralisierende Kraft, die den diffusen Charakter allgemeinen Denkens,"(68) d.h. den Alltagsverstand der Massen in „sukzessiven Verbindungen" in das kritische, historisch-dialektische Denken einführt. Diesen Lernprozeß setzt eine Schicht Intellektueller neuen Typs, Spezialisten und Politiker zugleich, die ein organisches Verhältnis zu den Massen haben, in Gang: „es existiert keine Organisation ohne Intellektuelle d.h. ... ohne eine konkrete Manifestation der theoretischen Seite des Theorie-Praxis-Nexus - in Form einer spezialisierten, mit begrifflich philosophischer Arbeit befaßten Schicht."(69) Diese über die Intellektuellen neuen Typs herzustellende dialektische Einheit von Theorie und Praxis ist ein historischer Prozeß, an dessen Ende erst der „vollständige Besitz einer kohärenten und einheitlichen Weltanschauung" steht. 70

Die Fassung der Einheit von Theorie und Praxis führt bei Gramsci zu zwei bedeutenden theoretischen Erweiterungen der marxistischen Thcoriebildung:

(1) Ausdehnung des Terrains der Erkenntnis

(2) Neuformulierung der materialistischen Erkenntnistheorie als Theorie des Überbaues.

Erste theoretische Neuheit: Gramsci bricht mit dem klassischen Ort der Erkenntnis, wie ihn die traditionelle Philosophie gewöhnlich umschreibt: Erkenntnistheorie mit dem bekannten Effekt der Ausbeutung der Wissenschaften,(71) Für Gramsci ist jede Praxis mit einem Erkenntnisprozeß verschränkt(72). (Daher seine These: Jeder ist ein Intellektueller). Das Feld der Erkenntnis ausdehnen ist eine fundamental anti-idealistische und anti­mechanistische Operation.

Zweite theoretische Neuheit: In Marx' Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie" von 1859 sieht Gramsci die gründliche Darlegung der Marxschen Methode, zugleich die Theorie der Überbauten als erkenntnistheoretisches Prinzip angelegt. Gramsci spricht von Überbauten in der Mehrzahl, um die Komplexität der von der Basisstruktur abhängigen, relativ autonomen Überhauphänomene zu betonen. Gramscis Reformulierung des Basis-Überbautheorems, das von der relativen Autonomie zweier miteinander verknüpfter Sphären ausgeht, hat der damit eröffneten Problemstellung der Ungleichzeitigkeit beider Sphären, der Problematik der im Basis-Überbau-Verhältnis begründeten Überdeterminierung des marxistischen Widerspruchs einen Weg gewiesen.(73) Den „kathartischen" Übergang von der Basis zum Überbau, der „ökonomisch-kooperativen Phase" zur „ethisch-politischen" beschreibt Gramsci als neue revolutionäre Praxis in den Überbauten, als hegemonialen Prozeß, in dem das Proletariat seinen „Subalternitäts"-Zustand revolutionär überwindet. Die kommunistische Partei, der „kollektive Intellektuelle" organisiert die Vereinheitlichung der „Subalternen" in einem neuen „historischen Block," der internen Artikulation einer gegebenen historischen Situation, die die höchste Entfaltungsstufe des historischen Prozesses zur Hegemonie einer Klasse darstellt.

In Lenins Konzept der „Hegemonie" sieht Gramsci die politische Konsequenz der Marxschen Überbautheorie. Hegemonie ist die Fähigkeit einer Klasse, Konsens über eine neue Weltanschauung politisch und ideologisch überlegen durchzusetzen. Gramsci ersetzt mit seinem Hegemoniebegriff nicht etwa den Begriff der „Diktatur des Proletariats", vielmehr entwickelt er die Leninsche Verwendung des Begriffes weiter(74) Gramsci führt

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die Bedeutung der kulturellen Dimension in das reziproke Verhältnis von Ökonomie und Politik ein. Hegemonie oder Diktatur des Proletariats hieße eine falsche Alternative formulieren, besteht Gramscis zentrale Intention doch in einer anti-ökonomistischen Version des Verhältnisses Basis-Überbau.diedie einfachen Oppositionen eines einseitigen Determinationsverhältnisses auflöst. In einer Phase dominierender mechanistischer Tendenzen des theoretischen Marxismus hat Gramsci das Verhältnis von Basis und Überbau wieder als dialektischen Prozeß einer in zahlreiche Abstufungen gegliederten Einheit konzipiert: „Basis und Überbau stellen einen .historischen Block' dar, d.h. die komplexe und widersprüchliche Gesamtheit der Überbauten reflektiert die Gesamtheit der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ... Das notwendig Ineinanderübergehen von Basis und Überbau ... ist der wirkliche, dialektische Prozeß."(75)

ANMERKUNGEN

1) Gramsci, //materialismo storico e lafilosofia di Benedetto Croce, Opere, vol. 2 ( = MS) S. 45. Sämtliche Gramsci-Zitate werden anhand der italienischen Ausgabe der Werke Gramscis bei Einaudi nachgewiesen und, soweit möglich, wird die deutsche korrekturbe­dürftige Übersetzung angeführt: (Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis. Eine Auswahl. Herausgegeben und übersetzt von Ch. Riechers (= PP)).

2) Chiellino, Rezension von Gramsci: / Ouadernidel Carcere, S. 36. Mazzone, Anmerkun­gen zu einem Dialektiker, S.u.

3)Eine gute Übersicht bietet die Sammelrezension von Karin Priester, Antonio Gramsci und der italienische Marxismus, S. 182-207.

4) Labriola, Discorrendo di socialismo e difilosofia, S. 194.

5) Ebenda.

6) Labriola, Discorrendo, S. 195. Vgl. zum folgenden auch: Rodrigues-Lores, Die Grundstruk tur des Marxismus. Gramsci und die Philosophie der Praxis, S. 13-27. Riechers, Antonio Gramsci. Marxismus in Italien, S. 16-24. Roth, Gramscis Philosophie der Praxis, S. 13-31. Texier, Gramsci, S. 33-39. Buzzi, La Theoria politique d´Antonio Gramsci, S. 112-188.

7) Labriola, Discorrendo, S. 16.

8) a.a.O., S. 232.

9) a.a.O., S. 226.

10) a.a.O., S. 226.

11) Labriola, Über den Historischen Materialismus. Prälimarien, S 2.24.

12) a.a.O., S. 210.

13) Gentile, Lafilosofia di Marx, S. 156 f.

14) Croce, Geschichte als Gedanke und Tat, S. 153. " Gramsci, A/5, S. 93 ff. - PP, S. 197. "Gramsci, MS, S. 129.

17)a.a.O., S. 132.

18) a.a.O., S. 129 f.

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19) a.a.O., S. 130.

20) a.a.O., S. 44.

21) a.a.O., S. 191.

22) a.a.O., S. 113 -PP. S. 237.

23) a.a.O., S. 159.

24) Marx, MEW, vol. XXIII, S. 393 Anmerkung.

25) Gramsci, MS, S. 113 - PP, S. 237 f.

26) Gramsci, MS, S. 160.

27) a.a.O., S. 160/1.

28) a.a.O., S. 39,49.

29) a.a.O., S. 39 f., 49 f.

30) Althusser, Ist es einfach in der Philosophie Marxist zu sein? S. 21.

31 Gramsci, MS, 8.71 -PP,S. 195.

32) Gramsci, MS, S. 185.

33) a.a.O., S. 185/6.

34) a.a.O., S. 199 f.

35) a.a.O., S. 201.

36) a.a.O., S. 184-186.

37) a.a.O., S. 204. Badaloni, Gramsciet leproblemede la revolution, S. 107.

38) Althusser, Das Kapital lesen I, S. no ff. Palla, Marxistische Philosophie der Praxis und wissenschaftlicher Sozialismus in Italien, S. 22 ff. Fußnote 46. 19 Althusser, Kapital!, S. 110/1.

39) Althusser, Kapital!, S. 110/1.

42 Gramsci, MS, S. 103.

43) a.a.O., S. 93 f.

44) Althusser, Für Marx, S. 100-167. Althusser, Kapital I, S. 171.

45) Althusser, Kapital I, S. 168-187. Buci-Glucksmann, Gramsci et l'Etat, S. 386.

46) Kramer, Gramscis Interpretationen des Marxismus, S. 109. Fußnote i o. A. Kramer verweist darauf, daß Gramsci in den Quaderni von sich sagt, er sei früher „tendenziell

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Croceaner" gewesen. Siehe zu diesem Problem auch A. Pizzorrno, Apropos, S. 162, der die Schriften zur „Süditalienischen Frage" als „Werk des Übergangs" ansieht.

47) Tonscl, Laphilosophie marxisle en Itü/ie, S. 97.

48) Priester, Zur Staatstheorie bei Antonio Gramsci, S. 515-532.

49) Althusser, Interview in Rinascita vom 15.3.1968.

50) Althusser, Kapital I, S. 189.

51) Tonsei, Le muteriatisme Dialectique Jans le Materialisme Historique. Gramsci et Historicisme empirique de la Philosophie de la Praxis, S. 97.

52) Gramsci, A«, S. 218.

53) a.a.O., S. 129.

54) Buci-Glucksmann, Gramsci, S. 412 f.

55) Buci-Glucksmann, Gramsci, S. 413. Anderson, The Antinomie* of Antonio Gramsci, S. 34-39.

56 Gramsci, MS, 8.92.

57 Priester, Zur Staatstheorie bei Antonio Gramsci, S.518.

58) Gramsci, MS, S. 39 f.

59) Balibar, Vorlesung vom 11.3.1975, CERM.

60 Gramsci, MS, S. 92.

61 Buci-Glucksmann, Gramsci, S. 414.

62) a.a.O., 8.419-422.

63) Gramsci, MS, 8.91.

64) a.a.O., S. 91/2.

65) a.a.O., S. 93

66) a.a.O., S. 94.

67) a.a.O., S. 13.

68 a.a.O., S. 9 -PP, S. 136.

69) a.a.O., S. 12-W, S. 139.

70) a.a.O., S. ii -PP, S. 138.

71) Althusser, Philosophie et philosophie spontanee des savants, S. 83-98.

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72) Lenin, Philosophische Hefte, S. 208.

73) Althusser, Marx, S. 82 f.

74) Gruppi, Gramsci. Philosophie der Praxis und die Hegemonie des Proletariats, S. 14.

75) Gramsci, Quaderni, S. 1051 f.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 9. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 210-229

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MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIKBEITRÁGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von HEINZ KIMMERLE

7-8/07

trendonlinezeitung

KAPITEL X

KAREL KOSIKMartin Hüttel Zur Kapitelübersicht

A. ZUR STANDORTBESTIMMUNG KOSIKS ALS REPRÄSENTANTEN DER OPPOSITIONELLEN PHILOSOPHIE IN DEN SOZIALISTISCHEN LÄNDERN OSTEUROPAS

Die philosophische Diskussion in den sozialistischen Ländern Osteuropas basiert auf dem theoretischen Ansatz von Marx, Engels und Lenin. Dieser wird jedoch in unterschiedlicher Weise interpretiert. Eine erste Richtung versteht den dialektischen Materialismus vornehmlich im Kontext der herrschenden Staatsauffassung. Sie hat vor allem ein Interesse daran, die bestehenden Errungenschaften des realen Sozialismus systemkonform darzustellen. Die „Positivisten" wie auch die „Dialektiker4" haben hiergegen opponiert, indem sie bestimmte Seiten des dialektischen Materialismus als besonders wichtig erklären, indirekt aber dadurch zu vereinseitigter Weltanschauung gelangen. So verzichten die „Positivisten44 darauf, ihre sozialwissenschaftlichen Untersuchungen in eine umfassende Philosophiekonzeption zu integrieren. Die „Dialektiker" hingegen haben es nicht vermocht, ihre philosophische Konzeption im Zusammenhang mit der sozioökonomischen Realität und deren empirisch zu beobachtenden Veränderungen darzulegen.(1) Unter den „Dialektikern44 ist Kosik wohl einer der renommiertesten philosophischen Vertreter.(2) Er hat in journalistischen, essayistischen und wissenschaftlichen Schriften den Begriff der Dialektik in grundsätzlicher Weise thematisiert. Dabei beschränkt sich sein Einfluß nicht nur auf die Diskussion in der CSSR - er verstand sich selbst als Repräsentant des Prager Frühlings -,(3) Kosiks Einfluß macht sich auch in der Konzeption der jugoslawischen Zeitschrift „Praxis" geltend: dies zeigt insbesondere sein Aufsatz „Gramsci et la Philosophie de la Praxis"(4); ebenfalls in dieser Zeitschrift läßt " sich Kosiks Verbindung zu polnischen Philosophen belegen: 1968 hat er sich mit der Position von sechs relegierten Professoren

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der Universität Warschau (u.a. auch Kolakowski) solidarisch erklärt.(5) Auch im Westen ist Kosik nicht unbekannt. Seine Arbeiten wurden ins Deutsche, Französische, Italienische und Spanische übersetzt. Aufgrund der genannten Hinweise erscheint es angebracht, Kosiks Dialektikkonzeption exemplarisch zu untersuchen, nämlich als Modell dialektischen Denkens, wie es in den sozialistischen Ländern Osteuropas Mitte der sechziger Jahre verbreitet war und z.T. noch Gültigkeit besitzt.

Kennzeichnend für das Kosiksche Denken ist hierbei die Vereinigung vielfältiger Argumentationsebenen: so sucht er in „Dialektik des Konkreten" Dialektik nicht allein in erkenntnistheoretischer Hinsicht aufzuzeigen, sondern überdies auch in bezug auf das Alltagsdenken, die Ökonomie und die alltägliche Praxis. In seinem Aufsatz „Dialektik der Moral und Moral der Dialektik44 geht Kosik schließlich auch auf den ethischen Aspekt der Dialektikein.

Um die Argumentationsweise solch vielschichtiger Philosophie des näheren zu erklären, ist es m.E. angebracht, einen Aspekt des Kosikschen Dialek-tikverständnisses bevorzugt zu erörtern. Zur Begründung der Auswahl dieses Aspektes ist kurz auf das Anliegen seines Philosophierens einzugehen: Kosik versucht - sowohl gegenüber bürgerlichen Ansätzen als auch gegenüber vereinseitigten wissenschaftlichen Positionen im Bereich der sozialistischen Länder -, folgenden Aspekt der Marxschen Theorie zu aktualisieren: Es geht ihm darum, jedes Erkenntnisbemühen als einen spezifischen Zugang zur Wirklichkeit zu begreifen, d.h. eine Form von Umgestaltung: eine praktischkonkrete oder erkennend - rekonstruierende, wobei die praktische die Voraussetzung der erkennenden ist. Diesem Grundanliegen Kosiks sind alle Einzelanalysen untergeordnet. Entsprechend soll auch in der folgenden Darstellung der Dialektikkonzeption Kosiks der erkenntnistheoretische Aspekt im Mittelpunkt stehen.

B. DER ZENTRALE ERKENNTNISTHEORETISCHE ASPEKT DER „DIALEKTIK DES KONKRETEN" (1967)

Den erkenntnistheoretischcn Begriff der Dialektik erläutert Kosik vorab im Sinne von Marx. Dabei nimmt er sowohl auf das Methodenkapitel in der „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie44 Bezug als auch auf die im . „Kapital44 konkretisierte DialektikaufTassung. Diese konfrontiert Kosik mit Theoremen der Anthropologie, der Phänomenologie und der Philosophie der Praxis, wobei er bei so unterschiedlichen Theoretikern wie Lukäcs, Gramsci und Heidegger Anleihen macht.(6)

1. Kritik an pseudokonkreten Konzeptionen

Anlaß für die erkenntnistheoretischen Untersuchungen von Kosik ist die ideologische Befangenheit innerhalb der hochtechnisierten arbeitsteiligen Gesellschaft. Solche Befangenheit zeigt sich besonders im Alltagsdenken und der mit ihm einhergehenden Praxis, bildet sich aber auch in vereinseitigten Positionen der Wissenschaft und Kultur ab.

Diese generalisierende Betrachtungsweise bezieht Kosik sowohl auf das Alltagsdenken als auch auf die alltägliche Praxis. Er kann sich hierbei auf theoretische Überlegungen von Marx stützen, wie dieser sie im sogenannten Fetischismuskapitel programmatisch ausgeführt hat; darüber hinaus hat sich Marx im „Kapital" mit der Ideologiekritik des Alltagslebens nicht beschäftigt.

Solche Thematik wurde erst in neuerer Zeit Gegenstand der Forschung. Aufgrund der Komplexität dieses Gegenstandes hat die Wissenschaft auf diesem Gebiet freilich kaum mehr als erste Schritte gemacht: diesbezüglich sind neben Kosiks Arbeiten diejenigen von G. Lukäcs, P. Bourdieu, H. Lefebvre und Th. Leithäuser zu nennen.(7)

Im Unterschied zu Marx bezieht Kosik seine Analysen nicht nur auf die kapitalistischen Gesellschaften. Kosik greift den Kernpunkt der Marxschcn Analyse (gesellschaftliche Beziehungen erscheinen als Beziehungen von Sachen) auf und general isiert ihn im Blick auf alle hochtechnisierten arbeitsteiligen Gesellschaften, also auch auf die sozialistischen Gesellschaften Osteuropas, ökonomisch abgesichert wird diese Verallgemeinerung von

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Kosik freilich nicht. Er orientiert sich vielmehr am Alltagsdenken und der mit ihr einhergehenden Alltagspraxis. Diese versteht er im Kapitalismus wie auch im Sozialismus als pseudokonkret. Die Geltungsbereiche des Pseudokonkreten zählt er im einzelnen auf wie folgt: „die Welt der äußeren Erscheinungen, die sich an der Oberfläche der wirklichen, wesentlichen Prozesse abspielen ;/die Welt der Versorgung und Manipulation, d.h. die zum Fetisch erhobene Praxis der Menschen (die mit der revolutionär-kritischen Praxis der Menschheit nicht identisch ist);die Welt der geläufigen Vorstellungen, die eine Projektion der äußeren Erscheinungen in das Bewußtsein der Menschen und ein Gebilde der fetischisierenden Praxis, ideologische Formen ihrer Bewegung sind;die Welt der fixierten Objekte, die den Eindruck natürlicher Bedingungen machen und nicht unmittelbar als Ergebnisse der gesellschaftlichen Tätigkeit der Menschen erkennbar sind."(8)

Alltagsdenken und Alltagspraxis erfassen die Wirklichkeit nicht hinreichend. Die Alltagspraxis gewährleistet nur ein vordergründiges Funktionieren des gesellschaftlichen Gesamtprozesses, das dazugehörige Denken erklärt diesen Prozeß keineswegs in wissenschaftlich hinreichender Weise: „die praktischen Träger der Verhältnisse mögen sich ebenso daheim fühlen wie ein Fisch im Wasser" - schreibt Kosik im Rekurs auf Marx. „Trotzdem sind die Erscheinungsformen, die den inneren Zusammenhängen entfremdet sind, in dieser Isoliertheit völlig unsinnig."(10)

Für wissenschaftliche Erkenntnis ist es nach Kosik unumgänglich, von der Erscheinungsebene, die die Oberfläche beschreibt, zum Wesen vorzudringen (Dialektik von Wesen und Erscheinung). Dies realisiert sich in der „Zweiteilung des Einen": „Erkenntnis verwirklicht sich als Trennung der Erscheinung vom Wesen, des Nebensächlichen vom Wesentlichen, denn nur durch diese Trennung kann sich ihr innerer Zusammenhang und damit der spezifische Charakter der Sache erweisen."(10)

Dienlich für diese Zweiteilung des Einen scheint Kosik im Bereich des Alltagsdenkens und der Alltagspraxis insbesondere der von Heidegger in die Philosophie eingebrachte Begriff der Sorge. Dieser bezeichne die subjektivistische Befangenheit, in welcher sich das Individuum mit dem gesellschaftlichen Gesamtprozeß konfrontiert sieht. Solches Ideologem sei in der hochtechnisierten Gesellschaft besonders häufig anzutreffen, da deren Wesen nicht ohne weiteres einsichtig sei. Obgleich Heidegger den Begriff der Sorge ontologisch, nicht aber materialistisch fundiert habe, eigne er sich doch zur Beschreibung entfremdeter gesellschaftlicher Verhältnisse. Er ermögliche es, die Marxsche Theorie in differenzierter Weise zu explizieren.

Hierauf bezieht sich denn auch Kosik, wenn er den Begriff der Sorge als Paradigma des alltäglichen Lebens bestimmt. Danach bedeutet Sorge: „i. die Verstocktheit des gesellschaftlichen Individuums in das System der gesellschaftlichen Beziehungen aufgrund seiner Engagiertheit und utilitären Praxis; 2. das Handeln dieses Individuums, das in seiner elementaren Gestalt als Fürsorgen und Besorgen in Erscheinung tritt; 3. das Subjekt des Handelns (besorgen und fürsorgen), das als Undifferenziertheit und Anonymität erscheint."(11)

Mithin vollzieht das in der Sorge befangene Denken die alltägliche Praxis als Manipulation. Die Verdinglichung der Welt erscheint als total. Vom Standpunkt Heideggers läßt sich solches Denken nur dann destruieren, wenn man der „uneigentlichen" Erscheinung das ihr korrelierende „eigentliche" Wesen der Sache zuordnet.

Für die Decouvrierung der Alltäglichkeit kann die Heideggersche Betrachtungsweise freilich nur partielle Hinweise geben. Sie macht eine ökonomische Untersuchung nicht überflüssig. Wissenschaftlich fundiert wurde diese erstmals in der klassischen englischen Ökonomie. Sie stellte präzis gesellschaftsbezogen die Frage: wie funktioniert das System der ökonomischen Beziehungen als Mechanismus und wie kann er in Gang gehalten werden?

Solche Fragestellung erkennt nach Kosik die Notwendigkeit an, die gesellschaftlichen Erscheinungen mittels eines theoretischen Modells zu erklären.

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Sie impliziert ferner, daß die zahllosen chaotischen individuellen Aktionen, die scheinbar willkürlich und unberechenbar sind, sich auf eine Anzahl charakteristischer und typischer Bewegungen reduzieren lassen. Das führt zur Möglichkeit einer Quantifizierung und Mathematisierung der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten,

Diese erste wissenschaftliche Untersuchung des Kapitalismus verblieb freilich einseitig, denn sie verstand die Ökonomie gleichsam als Selbstzweck. Der Mensch wurde nur als ein Bestandteil der Ökonomie aufgefaßt. Im Bestreben, soweit als möglich subjektivistische Denkweise zu vermeiden, wurde die objektive Realität letztlich verzerrt. Sie wurde als eine objekthafle Wirklichkeit, d.h. als eine Wirklichkeit der Objekte verstanden. Daß solch verdinglichter Begriff der Wirklichkeit vereinseitigt ist, zeigt sich für Kosik besonders bezüglich des ideologischen Überbaus: Wissenschaft, Kunst, Religion usw. lassen sich vom Standpunkt des Ökonomismus nur teilweise erklären.

Der Ökonomismus ist für Kosik nicht in der Lage, Wesen und Erscheinung zu vermitteln; weil er die Dialektik von Subjekt und Objekt (der Mensch ist Produkt und Produzent zugleich) vernachlässigt, bleibt er in seinem Festhalten am Objekt einseitig. Denselben Fehler, obwohl durch Vereinseitigung in umgekehrter Richtung - Verabsolutierung des Subjekts -, macht eine Konzeption, die von einem metaphysischen Vernunft- und Wissenschaftsbegriff ausgeht.

Ein solch metaphysischer Wissenschafts- und Vernunftbegriff ist für Kosik im neuzeitlichen Rationalismus seit R. Descartes angelegt. Dieser ging von der methodologischen Forderung aus, daß jegliche Erkenntnis in bezug auf ihren theoretischen Wahrheitsgehalt in Zweifel zu ziehen sei. Unbezweifelbar bleibe auf diese Weise lediglich das Bewußtsein des Zweifelns; dieses letzte Unbezweifelbare bezeichnet Descartes als res cogitans. Sie ist ihm Garant für wissenschaftlich begründete Erkenntnis.

Der Vernunftbegriff von Descartes hat zwar, philosophiegeschichtlich betrachtet, Autorität und Tradition im Bereich der spätmittelalterlichen Philosophie kritisiert. Auf der anderen Seite läßt er außer acht, daß - wie Kosik es nennt - „das Individuum nicht nur ein Subjekt des Setzens, sondern auch seinerseits gesetzt ist, daß die Vernunft des atomisierten Individuums, sobald sie sich realisiert, notwendigerweise die Unvernunft produziert, weil sie von sich selbst als von etwas Unmittelbarem ausgeht und weder praktisch noch theoretisch die Totalität der Welt einschließt."(12)

Insbesondere unter kapitalistischen Verhältnissen habe sich die unabhängige Vernunft als „falsches Subjekt" erwiesen, „dessen Kraft, Macht und ....Vernunft wirklicher Subjekte gesellschaftlich handelnder Menschen genährt wird." (Text - eine Zeile - fehlt in der Vorlage; d. Scänner) Vom Standpunkt des Materialismus aus ist der Rationalismus insofern als theoretisch beschränkt anzusehen und die Vernunft als die Vernunft des gesellschaftlichen Subjekts zu begreifen: „die Vernünftigkeit seiner Vernunft besteht nicht darin, daß sie ohne Voraussetzungen ist, sondern darin, daß sie vernünftige Voraussetzungen als Voraussetzungen ihrer eigenen Vernünftigkeit einbezieht. Sie besitzt deshalb nicht die unmittelbare Evidenz der kartesianischen Vernunft, sondern ist vermittelt durch eine vernünftig gegliederte und vernünftig gebildete (gesellschaftliche) Wirklichkeit."(13)

Vereinseitigte Erkenntnis kann nach Kosik schließlich noch durch einen metaphysischen Begriff von Kultur bedingt sein, wie sie die sogenannte Faktorentheorie verkörpert. Diese bestimmt Kosik in Anlehnung an Labriola und Plechanov als unmarxistisch: Zwar anerkennt die Faktorentheorie die Bedeutung des ökonomischen für das Begreifen der sozialen Wirklichkeit. Sie mißt aber auch anderen gesellschaftlichen Bereichen eine Geltung bei, die u.U. diejenige des ökonomischen übertrifft: So sei beispielsweise im Mittelalter der Katholizismus hauptsächlicher Faktor gewesen, in der Antike die Politik. Kennzeichnend für die Faktorentheorie ist in jedem Fall der Versuch, Teile der sozialen Wirklichkeit isoliert herauszugreifen und ihre gegenseitige Abhängigkeit von einem determinierenden Faktor aus zu erklären.

Eine solche Denkweise muß nach Kosik ideologiekritisch erklärt werden, was seiner Auffassung nach Labriola und Plechanov nicht geleistet haben. Für ihn ist die

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Faktorentheorie Ausdruck der Entwicklung, in welcher die Resultate der gesellschaftlichen Tätigkeit der Menschen autonom verstanden werden.(14) Sie erscheinen dann als vom Menschen und seiner Tätigkeit unabhängige Kräfte.

Kritik an solcher Theoriekonzeption hält Kosik auch gegenüber Max Weber für angebracht, dessen pluralistischer Determinismus sich letzlich auf die Faktorentheorie reduzieren lasse. Für Weber bilden die sozialen Determinanten Ökonomie, Macht und soziale Stellung eine gleichsam überhistorische Existenz. Daß diese tatsächlich immer innerhalb und aufgrund einer bestimmten ökonomischen Formation bestehen, läßt Weber außer Betracht.

Vom Standpunkt des dialektischen Materialismus aus ist die soziale Wirklichkeit nicht durch die Faktorentheorie zu erklären. Zwar mag die Faktorentheorie zur Beschreibung gesellschaftlicher Phänomene geeignet sein. Sie vermag aber nicht die unterschiedliche Bewertung sozialer Teilbereiche im Verlauf der Geschichte einsichtig zu machen. Der dialektische Materialismus kann u.a. solche Bedeutungsverschiebung, wie sie auf der Erscheinungsebene sichtbar wird, hinreichend begründen, indem er durch die Erklärung der Besonderheit den Geschichtsprozeß als solchen erfaßt. Kosik schreibt:

„Die Faktorentheorie kehrt die gesellschaftliche Bewegung völlig um, denn sie sieht als Träger der gesellschaftlichen Entwicklung isolierte Produkte der gegenständlichen oder geistigen Praxis des Menschen an, obwohl der einzige wirkliche Träger der gesellschaftlichen Bewegung der Mensch im Prozeß der Produktion und Reproduktion seines gesellschaftlichen Lebens ist."(15) Soziale Umwertungsprozesse sind demzufolge nicht primär als das Ergebnis subjektiver Bewertung anzusehen, sondern als Reflex auf objektive Veränderungen im Bereich der ökonomischen Struktur.

2. Die dialektisch-materialistische Betrachtung der Realität

Nach Kosik ist für das Zustandekommen von Erkenntnis die Metaphysik des Alltagslebens, der Wissenschaft und Vernunft und auch diejenige der Kultur hinderlich. Die Wirklichkeit könne nicht von einem idealistischen Prinzip her begriffen werden, wie dies Descartes mit seiner res cogitans befürwortet. Selbst ein dialektisches Prinzip wie dasjenige von Hegel ermögliche nicht, die Wirklichkeit angemessen zu begreifen. Unabdingbar für die Erkenntnis im Sinne der marxistischen Klassiker sei vielmehr, von den sinnlich vermittelten Daten auszugehen. Die Eigenheit einer dialektisch-materialistischen Position sucht Kosik hierbei in der Unterscheidung gegenüber undialektischen Konzeptionen des Materialismus aufzuzeigen.

Eine solch undialektische Position vertritt u.a. der Spinozismus. Dieser beläßt es bei einer Reduktion der sinnlichen Eindrücke auf abstrakte Begrifflichkeit. Für Spinoza ist alles Konkrete und Einmalige illusorisch, der ganze Reichtum der Wirklichkeit sei vielmehr im Hinblick auf etwas Grundlegendes und Elementares zu begreifen: die unveränderliche Substanz. Ähnlich abstrakt verbleibt nach Kosik auch der moderne Positivismus. Dieser versteht die Realität als eine Welt der idealisierten realen Werte, des Ausgebreitetseins, der Quantität, der Meßbarkeit und der geometrischen Formen. Eine solche Reduktion vermag indes die alltägliche Welt des Menschen nicht angemessen zu verstehen. Dessen Dasein könne der moderne Positivist nur in der Form abstrahierender Aktivität bestimmen. Ihm gelte der Mensch nur mehr als Physiker, Statistiker, Mathematiker, Linguist, „keineswegs aber mit allen seinen Potenzen, keineswegs als ganzer Mensch."(16)

Nach Kosik darf die Materie demgegenüber nicht als unwandelbare Substanz angesehen werden. Falsch ist jedoch auch eine Auffassung von marxistischer Theorie, die sich letzlich als eine Modifikation des spinozisti-schen Standpunktes erweist: danach ist die Welt der Erscheinung als dynamisierte Substanz zu verstehen. Das Erkennen der Substanz bedeutet ...... Erkenntnis der Gesetze, nach denen sich die Sache selbst bewegt.(Text - eine Zeile - fehlt in der Vorlage; d. Scänner) Solche Auffassung versteht unter Dynamik eine Äußerlichkeit der Sache selbst, eine Phase, Form und Aspekt derselben. Auch dieses Theorem reduziert letzlich alles Neue auf Bedingungen und Voraussetzungen, die schon

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der ursprünglichen Sache zu eigen waren.

Dieser Standpunkt ist nach Kosik insofern verfehlt, als er das Neue als etwas Äußerliches erklären muß, selbst dann, wenn das Neue dem Alten wesensfremd ist. Vom Standpunkt des dialektischen Materialismus ist hingegen die Wirklichkeit nicht als unwandelbare oder auch dynamisierte Substanz anzusehen. Der Materiebegriff des dialektischen Materialismus hat andere Qualität, nämlich die der Negativität. Sie besitzt die Fähigkeit, neue Qualitäten und höhere Entwicklungsstufen hervorzubringen: „Wenn die Materie als Negativität aufgefaßt wird, hört die wissenschaftliche Erklärung auf, eine Reduktion zu sein, ein Zurückführen des Neuen auf seine Voraussetzungen, der konkreten Erscheinungen auf eine abstrakte Basis, und wird zur Explikation der Erscheinungen. Die Wirklichkeit läßt sich nicht durch Reduktion auf etwas anderes als sie selbst erklären, sondern nur durch die Explikation ihrer selbst, durch Entfaltung und Durchleuchtung ihrer Phasen und ihrer Bewegungen."(17)

Im Gegensatz zum Spinozismus und zum modernen Positivismus reduziert der dialektische Materialismus nicht die Daseinsfülle auf eine abstrakte Substanz hin. Vielmehr spricht er der Materie Negativität zu, die wesensmäßige Veränderungen der Wirklichkeit erst rational erklärt. Dieses dialektische Materieverständnis setzt die Realdialektik als Grundlage aller menschlichen Erkenntnistätigkeit voraus. Der Begriff der Negativität selbst hat für den dialektisch-materialistischen Erkenntnisprozeß große Bedeutung, denn er kennzeichnet, wie die abstrakte Begrifflichkeit hin zu einem Gedankenkonkretum zu strukturieren ist. Dieser konstruktive, „aufsteigende" Erkenntnisschritt entspricht der Realdialektik. Kosik schreibt: „Wenn die Wirklichkeit ein dialektisches, strukturiertes Ganzes ist, kann die konkrete Erkenntnis der Wirklichkeit kein systematisches Aneinanderreihen von Fakten an Fakten und von Erkenntnissen an Erkenntnisse sein, nur ein Prozeß der Konkretisierung, der vom Ganzen zu den Teilen und von den Teilen zum Ganzen, von der Erscheinung zum Wesen und vom Wesen zu den Erscheinungen, von der Totalität zu den Gegensätzen und von den Gegensätzen zur Totalität fortschreitet, und eben in diesem spiralförmigen Fortgang, bei dem alle Begriffe in gegenseitige Bewegung geraten und sich gegenseitig erläutern, erreicht sie ihre Konkretheit."(18) Das Resultat des dialektisch-materialistischen Erkenntnisprozesses zeichnet sich dadurch aus, daß die Realität nicht vereinseitigt, sondern als konkrete Totalität begriffen ist.

3. Der Begriff der konkreten Totalität

Um das Kosiksche Dialektikmodell zusammenfassend zu erörtern, ist nunmehr noch auf den für Kosik zentralen Begriff der konkreten Totalität einzugehen. Diesen Begriff verwendet Kosik konträr zu demjenigen der Pseudokonkretheit: im Gegensatz zu vereinseitigt bestimmter Erkenntnis bezeichnet konkrete Totalität die dialektisch begriffene Wirklichkeit.

Eine falsche Auffassung von Totalität besteht dort, wo dieser Begriff auf ein methodologisches Postulat reduziert wird, beziehungsweise auf eine methodische Rege! zur Prüfung der Wirklichkeit. Solche Auflassung beschränkt sich darauf, Totalität dahingehend zu erklären, daß ein universaler Zusammenhang zwischen den Teilen bestehe, wobei das Ganze mehr sei als die Teile.

Nach Kosik sind für den dialektischen Materialismus indes methodologische Fragen nicht das Primäre, sondern vielmehr die sinnlich vermittelte Realität. Erst im nachhinein, wenngleich untrennbar verbunden, lassen sich hieraus methodologische und epistemologische Folgerungen ableiten. Kosik schreibt: „Der Frage, wie man die Wirklichkeit erkennen könne, geht immer die fundamentalere Frage voraus, was die Wirklichkeit sei."(19)

Um die Besonderheit des Marxschen Totalitätsbegriffs zu explizieren, kritisiert Kosik außerdem einen Einwand Poppers. Für Popper konstituiert sich die Wirklichkeit aus der Summe aller Fakten. Um die Wirklichkeit konkret zu begreifen, müßte die Gesamtheit aller Fakten zusammengefaßt werden. Das ist aber, wie leicht einzusehen ist, unmöglich. Prinzipiell lassen sich nämlich endlos Fakten aneinanderreihen, indem man etwa auf bislang außer acht gelassene zurückgreift oder auf noch nicht entdeckte Fakten Bezug

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nimmt. Popper folgert daraus, daß die Realität immer nur abstrakt, niemals konkret erfaßt werden kann und daß eine empirisch gehaltvolle Theorie der Realität niemals als Inbegriff aller denkbaren Bestimmungen und Beziehungen aufgefaßt werden könne. Dies sei u.a. auch gegen den Marxschen Begriff der Totalität vorzubringen. Nach Poppers Auffassung täuscht dieser Begriff nur vor, „die konkrete Struktur der sozialen Realität selbst" zu erfassen.(20)

Wie Kosik aufzeigt, unterscheidet sich der Totalitätsbegriff von Marx grundlegend von demjenigen Poppers: für Popper ist „konkrete Totalität" die Summe aller Fakten, wohingegen für Marx das Konkrete die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, d.h. „Einheit des Mannigfaltigen."(21) Vom Standpunkt des dialektischen Materialismus ist die konkrete Totalität nicht eine abgeschlossene Universalbeschreibung und Universalerklärung. „Totalität," schreibt Kosik, „bedeutet die Wirklichkeit als strukturiertes, dialektisches Ganzes, in welchem und aus welchem beliebige Fakten (eine Gruppe, ein Komplex von Fakten) rational begriffen werden können."(22) Nach Kosik konkretisiert sich dieser Begriff von Totalität in der wechselseitigen Beziehung von Gesetzmäßigkeit und Zufälligkeit, von Wesen und Erscheinung, von Teilen und Ganzem, vom Produzieren und den Produkten usw. Auf diese Weise spiegelt jedes Faktum „durch sein ontologisches Wesen die gesamte Wirklichkeit wider, und die objektive Bedeutung der Fakten hängt davon ab, wie reich und wie wesentlich sie die Wirklichkeit zusammenfassen und gleichzeitig widerspiegeln ... Die Wirklichkeit ist in gewissem Sinne nichts anderes als eine Zusammenfassung von Fakten, eine hierarchisierte und gegliederte Totalität von Fakten."(23)

Erst eine solche genetisch-dynamische Auffassung der Totalität begreift die Wirklichkeit angemessen. Sie vereinigt den logischen und historischen Gesichtspunkt bei der Erkenntnis der Wirklichkeit. Die logische Methode zeigt, wo die historische anzusetzen hat. Umgekehrt ergänzt die historische Methode die logische, von der sie ausgeht.(24)

C. KRITIK DES KOSIKSCHEN DIALEKTIK-MODELLS ALS ABSTRAKT-ALLGEMEIN, HUMANISTISCH-VAGE UND EKLEKTIZISTISCH

Obgleich in der bisherigen Darstellung die Konzeption Kosiks nur von dem zentralen Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie aus wiedergegeben wurde, läßt sich trotz dieser Beschränkung die Argumentationsweise Kosiks deutlichmachen. Kosiks Hauptanliegen ist es, die Sache selbst zu erkennen, indem man Erscheinung und Wesen als dialektisch in sich unterschiedene Einheit begreift. Der Weg hierzu ist die Destruktion der Pseudokonkretheit. Sie vollzieht sich, von seinem Beitrag zur Lösung dieses Problems aus gesehen, als „dialektisches Denken, das die fetischisicrte Welt des Scheins auflöst, um zur Wirklichkeit und zur .Sache selbst' durchdringen zu können." Die Realisierung der Wahrheit als Gestaltung der menschlichen Wirklichkeit ist vom gesellschaftlich-historischen Individuum eigenverantwortlich zu leisten: „Jedes Individuum muß seihst und ohne Stellvertretung sich die Kultur aneignen und sein Leben loben." Als „revolutionär-kritische Praxis der Menschheit" ist diese identisch mit dem „Prozeß der .Vermenschlichung des Menschen,' dessen entscheidende Etappen die sozialen Revolutionen sind."(25)

Um den Begriff der Dialektik zu erläutern, greift Kosik auf eine ganze Reihe von Theoremen zurück. Diese können, wie oben gezeigt, verschiedenster Provenienz sein. Je nach Gesichtspunkt zeigt Kosik Analogien oder auch Differenzen zwischen dem dialektischen Materialismus und dem Positivismus, der Phänomenologie, der Anthropologie, dem Existentialismus, ja sogar der christlichen Theologie auf. Dabei erkennt Kosik durchaus das theoretische Niveau und die formallogische Differenziertheit solcher Richtungen an. Dies gilt vor allem in bezug auf Heidegger, der ja über Marcuse und Sartre auch in den sozialistischen Ländern Osteuropas eine breite Resonanz gefunden hat. Durch eine kritische Rezeption im Sinne des dialektischen Materialismus meint Kosik, den bestehenden Marxismus-Leninismus in der CSSR aus provinzieller Enge führen zu können.(26)

In der Auseinandersetzung mit bürgerlicher Philosophie bleibt Kosik auf abstrakt-allgemeiner Ebene, indem er die Grundzüge des jeweiligen Ansatzes skizziert und ihn

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dann an allgemein-philosophischen Kriterien mißt. Hierbei wird der jeweilige Wirklichkeitsbegriff untersucht, das jeweilige Verhältnis von Subjekt und Objekt, das jeweilige Verständnis von Totalität usw. Bei dieser Ausseinandersetzung kommt Kosik weder zu einer detaillierten immanenten Kritik noch zu einer ideologiekritischen Analyse. Auf diese Weise verwischen sich für ihn die Unterschiede zwischen bürgerlichen Theorien und materialistischer Dialektik. Dies zeigt sich besonders deutlich in seiner Generalisierung der Analyse des Warenfetischismus. Es zeigt sich ferner auch dort, wo er anthropologische Fragen reflektiert. Kosik fordert zwar historisch-konkrete Betrachtung, seine eigenen Überlegungen lösen diesen Anspruch indes nicht ein. Über der Frage nach dem Menschen (als solchem, bzw. in jeder geschichtlichen Gestalt) vernachlässigt er empirisch fundierte sozioökonomische Untersuchung. Der Bezug auf den Menschen bleibt vage. Er führt zwar über die Begrenztheit der philosophischen Konzeptionen in den sozialistischen Ländern Osteuropas hinaus, wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren bestand, aber er bietet keine konkrete gesellschaftlich-politische Zielbestimmung.

Die Bedeutung, die der Anthropologie beigemessen wird, hat auch zur Folge, daß das Historische immer nur abstrakt bestimmt, niemals aber inhaltlich näher gefaßt wird. Im abschließenden Resümee seines Dialektikbegriffs schreibt Kosik: „Der Dialektik geht es um ,die Sache selbst.' Aber ,die Sache selbst' ist keine gewöhnliche Sache, sie ist sogar überhaupt keine Sache. .Die Sache selbst,' mit der sich die Philosophie befaßt, ist der Mensch und seine Stellung im Weltall, oder, was mit anderen Worten dasselbe ausdrückt: die Totalität der Welt, die vom Menschen in der Geschichte enthüllt wird, und der in der Totalität der Welt existierende Mensch."(27)

Zusammenfassend kann man sagen, daß Kosik immer wieder außermarxistische Positionen benutzt - wenn nicht als Alternative so doch als Illustration -, um den Bedeutungsgehalt von Dialektik zu erklären. Bei ihm verwirren diese Verweise auch angesichts ihrer Vielzahl eher, als daß sie die Besonderheit von Dialektik im Sinne der marxistischen Theorie einsichtig machen. Alles in allem ist Kosiks Dialektikmodell eklektizistisch.

Neben diesem Vorbehalt gegen Kosik ist noch praxisbezogen zu bemängeln, daß Kosik in seinem Bemühen, die Sache selbst zu begreifen, nicht mehr nach der politischen Bedeutung und Funktion seiner Dialektikkonzeption fragt. Auf die konkreten sozioökonomischen Fragen, die sich beim Aufbau des Sozialismus in der CSSR stellen, geht er nicht ein. Kosiks Kritik am herrschenden Marxismus-Leninismus beruft sich zwar noch autoritativ auf die marxistischen Klassiker, interpretiert dieselben jedoch im Sinne kosmopolitischer Humanitätsideologie.

Anmerkungen

1) Fetscher, Zur gegenwärtigen Philosophie-Diskussion im Ostblock, S. 46.

2) Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 40; Theorie und Praxis, S. 281; Vranicki, Geschichte des Marxismus, vol. 2, S. 765-772.

3) Liehm, Gespräch an der Moldau, S. 330-348; Koslk, Die Krise unserer Gegenwart, S. 55-85.

4) Kosik, Gramsci et la Philosophie de la Praxis, S. 328-332.

5) Kosik, Solidarität, S. 305; Kosik u.a., Les Reponses des Membres du Comite de Soutien de Praxis, S. 477.

6) Pepperle, Rezension, S. 1124-1133.

7) Lukacs, Ästhetische Theorie; Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen; Lefebvre, Kritik des Alltagslebens; Leithäuser, Formen des Alllagsbewußtseins.

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8) Kosik, Dialektik des Konkreten, S. 9.

9) a.a.O., S. 8.

10) a.a.O., S. 13.

11) a.a.O., S. 64. ,

12) a.a.O., S. 98.

13) a.a.O., S. 97. _ '

14) a.a.O., S. 106-111.

15) a.a.O., S. 109.

16) a.a.O., S. 24.

17) a.a.O., S. 29 f.

18) a.a.O., S. 44.

19 a.a.O., S. 36.

20) a.a.O., S. 36; Poppcr, Das Elend des Historizismus, S. 63; Ritsert, Probleme politisch-ökonomischer Theoriebildung, S. 54-56.

21) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 21.

22) Kosik. Dialektik, S. 37.

23) a.a.O., S. 48.

24) a.a.O., S. 55.

25) a.a.O.. S. 18 f.

26) Liehm, Gespräch, S. 310-348; Kosik, Krise, S. 55-85.

27) Kosik, Dialektik, S. 247.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 10. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 230-

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MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIKBEITRÁGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von HEINZ KIMMERLE

09/07

trendonlinezeitung

KAPITEL XIGRUNDLAGEN MATERIALISTISCHER DIALEKTIK IN DER UDSSR UND DDRvon Klaus Bock & Heinrich Clairmont

Zur Kapitelübersicht

A. ZUM FORSCHUNGSSTAND: SUMMARISCHE AUSEINANDERSETZUNG MIT KRITISCHEN POSITIONEN UND AUFWEIS DER AUFGABEN UND ENTWICKLUNGEN GEGENWÄRTIGER FORSCHUNG (CA 1967 FF.)

Das Anliegen der marxistisch-leninistischen Philosophie in der UdSSR und der DDR, die Theorie von Marx, Engels und Lenin - insbesondere die materialistische Dialektik - gemäß den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und neuen Erkenntnissen der Wissenschaften weiterzuentwickeln, sieht sich mannigfacher Kritik seitens anderer philosophischer Positionen ausgesetzt. Abgesehen werden kann bei der Charakterisierung dieser Kritik von bürgerlichen Theoretikern, die von Positionen des Antikommunismus aus ohne ernsthafte Aufarbeitung des gegenwärtigen Forschungsstandes der marxistisch-leninistischen Philosophie die Wissenschaftlichkeit und philosophische Relevanz gänzlich absprechen.

Bedeutsamer ist die Kritik, die von bürgerlichen Philosophen mit marxistischem Selbstverständnis, marxistischen Theoretikern und Anhängern der „Maotsetungideen" geübt wird.(1) Im Zentrum der Auseinandersetzungen mit diesen Richtungen steht der Vorwurf, die Gesellschaftsordnung der sozialistischen Länder und die politische Praxis der kommunistischen Parteien weiche von grundlegenden Prinzipien des Marxismus ab und stelle eine „Entartung" sozialistischer Ideen dar. In der Konsequenz sei die marxistisch-leninistische Philosophie in diesen Ländern zu einem Dogmensystem erstarrt, das nicht in der Lage sei, die gesellschaftliche Entwicklung theoretisch aufzuarbeiten und Leitlinien für deren Weiterentwicklung durch praktisch-politische Eingriffe zu entwickeln. Sie fungiere letzlich nur noch als „Legitimationswissenschaft" politischer Herrschaftsstrukturen und sei damit in ihrem Kern revisionistisch.

Auf theoretischer Ebene schälen sich dabei zwei grundlegende Aspekte der Kritik heraus. Zum einen zielt die Kritik im wesentlichen auf die Widerspiegelungstheorie und damit im Kern auf die erkenntnistheoretische Konzeption überhaupt ab. Die Widerspiegelungstheorie wird als bloße „Abbildtheorie," als mechanistische Auffassung der Erkenntnis unter Außerachtlassung der konstituierenden Rolle der Praxis und der gesellschaftlichen Entwicklung für die Theoriebildung dargestellt.(2) Erkenntnis sei so nicht mehr dialektisch sich entwickelnder Prozeß, der sich vor allem durch das aktive Eingreifen der Menschen, durch die gesellschaftliche Praxis und die Veränderung des Erkenntnisobjekts vollziehe, sondern mechanistisch-passive Rezeption des der Erkenntnis Vorgegebenen.(3) Diese Kritik an der Erkenntnistheorie impliziert das Negieren des wissenschaftlichen Charakters der marxistisch-leninistischen Philosophie insgesamt und zielt auf praktischer Ebene gegen die dialektische Vermitteltheit dieser Konzeption mit Problemen der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft sowie der Regelung und Planung gesellschaftlicher Prozesse in den sozialistischen Ländern.

Zum ändern konzentriert sich die Kritik von maoistischer Seite auf die angebliche Abweichung vom sozialistischen und die Hinwendung zu einem kapitalistischen Weg in den sozialistischen Ländern. Festgemacht wird dieses Abweichen daran, daß das Prinzip des Widerspruchs als Quelle der gesellschaftlichen Entwicklung zugunsten harmonistischer Anschauungen, z.B. von der grundsätzlichen sozialen Einheit der sozialistischen Gesellschaft unter Leugnung existierender Klassengegensätze und damit antagonistischer Widersprüche, aufgegeben worden sei.(4) Durch diese Kritik an der Widerspruchskonzeption wird der Kern der materialistischen Dialektik und damit die

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gesamte Theorie als im Grunde revisionistisch abqualifiziert.(5)

Die notwendig nur kurz skizzierten philosophischen Auseinandersetzungen sind nicht zu trennen von der Gesamtheit der aktuellen politisch-ideologischen Konflikte. Die praktisch-politische Relevanz der Kritik an der materialistischen Dialektik leitet sich in diesem Zusammenhang daraus ab, daß sie in organischer Verbindung mit dem philosophischen Materialismus die Basis für die marxistisch-leninistische Weltanschauung insgesamt bildet, deren konkrete Aussagen über die gesellschaftliche und politische Praxis der Arbeiterklasse den eigentlichen Zielpunkt der Kritik bilden. Die scheinbar rein philosophischen Auseinandersetzungen spiegeln in vermittelter Form die Widerspräche zwischen kapitalistischem und sozialistischem Gesellschaftssystem, die gegensätzlichen Anschauungen über den Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und der damit verbundenen Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus sowie die Widersprüche innerhalb der kommunistischen Weltbewegung wider.

Beinahe jede Kritik an der Theorie der Dialektik, wie sie in den sozialistischen Ländern ausgearbeitet wird, ist insgesamt gekennzeichnet durch weitgehendes Ignorieren des aktuellen Forschungsstandes. Es werden fast ausschließlich bestimmte dogmatische und den Schematismus fördernde Tendenzen der stalinistischen Periode und ihrer Auswirkungen, die als Produkte der gegenwärtigen Forschung ausgegeben werden, ausgewählt. Der Versuch einer Aufarbeitung dieses Problemkreises würde den Rahmen des Artikels sprengen. Er stellt sich vielmehr die Aufgabe, einen kurzen Abriß der Konzeption von Dialektik in der UdSSR und DDR zu geben, d.h. einen Einblick in die elementaren Grundlagen der Theorie der materialistischen Dialektik, ohne den Anspruch zu erheben, daß alle speziellen wissenschaftlichen Untersuchungen zu einzelnen Punkten oder die Theorie in ihrer Gesamtheit aufgearbeitet werden. Die Eingrenzung der Darstellung auf diese beiden Länder ist nicht als Abgrenzung von der Theorieentwicklung in den anderen sozialistischen Staaten zu verstehen, sondern als notwendige Beschränkung auf die wesentlichsten Entwicklungen der Theorie der materialistischen Dialektik. Aus der Fülle der vorliegenden Arbeiten konzentrierten sich die Verfasser vor allem auf die aktuelle Diskussion.

Anstelle einer historischen Aufarbeitung der Entwicklung der hier behandelten Konzeption materialistischer Dialektik, die eine gesonderte Arbeit erfordern würde, sollen kurz die wichtigsten Aufgaben und Entwicklungen gegenwärtiger Forschung dargestellt werden. Als die vordringlichsten Themen der Dialektikforschung in der DDR lassen sich die Diskussion über die Probleme der sozialen Dialektik als Dialektik der Praxis und der Dialektik von Systemen, insbesondere des Systems der sozialistischen Gesellschaft und der Rolle des Widerspruchs bei ihrem Aufbau, benennen (6) In der UdSSR stehen neben diesen Bereichen weitere Forschungsprojekte im Vordergrund, die von wissenschaftlichen Kollektiven langfristig angegangen werden Es handelt sich dabei um die konkrete Weiterentwicklung der Theorie der materialistischen Dialektik als Dialektik der Natur, der gesellschaftlichen Entwicklung und des wissenschaftlichen Erkennens, also um die konkrete Bestimmung der Dialektik als Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der objektiven Realität und des Denkens. Weitere Schwerpunkte sind die Erarbeitung der Dialektik als Resultat der gesamten Geschichte des menschlichen Denkens, der Wissenschaften, der Technik und der praktisch-revolutionären Tätigkeit auf der Basis des Prinzips der Einheit des Logischen und des Historischen sowie die Ausarbeitung der materialistischen Dialektik auf der Grundlage der Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten.(7) Neben der Erforschung der Dialektik der Praxis und der gesellschaftlichen Entwicklung steht also die Ausarbeitung der Dialektik als Theorie, Methode und Methodologie im Zentrum der Bemühungen in den sozialistischen Ländern.

B. OBJEKTIVE UND SUBJEKTIVE DIALEKTIK. DIE EINHEIT VON DIALEKTIK, LOGIK UND ERKENNTNISTHEORIE

Die isolierte Darstellung der materialistischen Dialektik stößt bereits prinzipiell auf eine grundlegende Schwierigkeit. Die Dialektik als Lehre von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der objektiven Realität und des Denkens ist untrennbar verbunden mit dem dialektisch aufgefaßten philosophischen Materialismus. Nur in der organischen

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Einheit von materialistischer Dialektik, dialektischem und historischem Materialismus kann die marxistisch-leninistische Philosophie die Basis der gesamten Weltanschauung bilden. Weltanschauung wird hier verstanden als das „verallgemeinerte System der Anschauungen des Menschen von der Welt als wechselseitig verbundenem Ganzen, darunter von seinem eigenen Platz in dieser Welt, also auch der Anschauungen vom Charakter der Gesellschaft und dar gesellschaftlichen Entwicklung, vom Sinn und der Bestimmung der einzelnen gesellschaftlichen Institutionen und vom Platz des einzelnen Menschen in der Gesellschaft."(8) Sie ist wesentlich klassenmäßig bestimmte Anleitung für die gesellschaftliche Praxis und die erkenntnistheoretische Tätigkeit der Menschen. Als theoretische Erfassung der revolutionären Praxis und Perspektive der Arbeiterklasse besitzt sie wissenschaftlichen Charakter, der in der organischen Verbundenheit ihrer Bestandteile - Philosophie, d.h. dialektischer und historischer Materialismus, politische Ökonomie und wissenschaftlicher Kommunismus(9) - zum Ausdruck kommt. Die Philosophie bildet das Kernstück der Weltanschauung, die theoretische Verallgemeinerung ihrer Erkenntnisse und die methodische Grundlage der weiterführenden Er-kenntnistätigkcit. Die Dialektik erfaßt die Bewegungsund Entwicklungsgesetze der objektiven Realität und des Denkens, ist damit in gewisser Weise das „bewegende Prinzip" der Philosophie und der Weltanschauung. In der Konsequenz bedeutet dies, daß die Darstellung der Dialektik streng genommen nicht von der gesamten marxistischen Philosophie und der Weltanschauung mit ihren praktisch-politischen Implikationen getrennt werden kann.

Die eigenständige Behandlung der Dialektik gewinnt ihre Berechtigung aus ihrer besonderen Stellung im philosophischen Gesamtsystem, aus ihrem Charakter als Theorie, Methode und Methodologie. Theorie ist die Dialektik als in sich geschlossenes wissenschaftliches System von Prinzipien - als solche sind zu nennen: Objektivität der Betrachtung, Allseitigkeit der Analyse, dialektischer Determinismus -, Gesetzen und Kategorien.(10) Als Bestimmung der Art und Weise der theoretischen und praktischen Aneignung der Welt durch den Menschen sowie der Kritik und Verallgemeinerung der verschiedenen einzelwissenschaftlichen Methoden zur Lösung dieses Problems ist sie zugleich Methode sowie methodologische Basis einzelwissenschaftlicher Methoden.

Bei der näheren Charakterisierung der Dialektik wird unterschieden zwischen objektiver und subjektiver Dialektik. Unter objektiver Dialektik werden die gesetzmäßigen inneren Zusammenhänge und Wechselwirkungen sowie die Veränderung und Entwicklung der objektiven Realität, d.h. deren dialektische Struktur und Dynamik gefaßt(11). Die subjektive Dialektik ist die Widerspiegelung der objektiven, d.h. ideelle Reproduktion der dialektischen Struktur und Entwicklung der objektiven Realität sowie Erfassung der spezifischen dialektischen Gesetze des Denkens.

Das Verhältnis zwischen objektiver und subjektiver Dialektik ist keineswegs identisch mit dem Verhältnis zwischen Materie und Bewußtsein. W. Segeth und H. Mielke weisen zu Recht darauf hin, daß die Begriffe objektive Dialektik und Materie bzw. subjektive Dialektik und Bewußtsein zwar ihrer Extension nach identisch, ihren Intensionen nach aber verschieden sind.(12) Die Kategorie Materie bezeichnet die unabhängig vom Bewußtsein existierende objektive Realität, wobei von deren innerer Gliederung abstrahiert wird. Die Kategorie objektive Dialektik erfaßt darüber hinaus deren dialektische Strukturen und ihre dialektische Entwicklung. Ein analoges Verhältnis herrscht zwischen den Kategorien subjektive Dialektik und Bewußtsein. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen objektiver und subjektiver Dialektik ist demnach nicht einfach die Übertragung der Grundfrage der Philosophie auf die Dialektik. Durch sie wird zwar auch geklärt, daß die objektive Dialektik das Primäre, Bestimmende, die subjektive das letztlich durch sie Determinierte ist, aber sie bringt vor allen Dingen die organische Vereinigung von Materialismus und Dialektik sowie die dadurch gegebene qualitative Weiterentwicklung gegenüber dem mechanischen Materialismus und der idealistischen Dialektik zum Ausdruck. Diese Vereinigung impliziert, daß die „Dialektik ... nicht als selbständiger, von den übrigen Bestandteilen der marxistisch-leninistischen Philosophie unabhängiger Teil aufzufassen"(13) ist und ihre Funktion als revolutionäre gesellschaftsverändernde Methode nur als organischer Bestandteil dieser Philosophie erfüllen kann.

Die Kategorie objektive Dialektik ist nicht identisch mit dem Begriff Dialektik des Objekts.

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Als Objekt kann nur etwas definiert werden, was bereits Gegenstand der menschlichen Praxis und Erkenntnis geworden ist. Die Kategorie objektive Dialektik schließt dagegen auch den Bereich der vom Menschen nicht beeinflussten Natur ein. Analog dazu kann die subjektive Dialektik als rein ideell charakterisiert werden, das Subjekt dagegen als Einheit von Ideellem und Materiellem, da es sich durch die gegenständliche Praxis die objektive Welt aneignet und in diesem Prozeß zugleich seine eigene Subjektivität objektiviert. Das Verhältnis von objektiver und subjektiver Dialektik ist demnach nicht einfach auf die Subjekt-Objekt-Dialektik reduzierbar, d.h. auf eine Position, die Dialektik allein konstituiert sieht durch die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, die durch die Praxis vermittelt wird.(14) Eine solche Reduzierung der Dialektik auf eine „Dialektik der Praxis" stellt eine subjektivistische Vereinseitigung dar.

Allerdings ist auf dem Hintergrund der Widerspiegelungstheorie und der für sie grundlegenden Subjekt-Objekt-Dialektik eine speziellere Analyse und genauere Charakterisierung des Verhältnisses von objektiver und subjektiver Dialektik möglich. Die bestimmende Seite des dialektischen Subjekt-Objekt-Verhältnisses ist das Objekt. Inhalt und Form der Widerspiegelung sind letzlich objektiv bestimmt, richten sich nach der Struktur und der Entwicklung des Erkenntnisobjekts.

Dieses bedeutet aber keineswegs, daß die Rolle des Subjekts im Widerspiegelungsprozeß sich auf eine rein passive und rezeptive Abbildung des Objekts reduziert. Demgegenüber wird betont, daß ein Gegenstand erst Objekt der Erkenntnis wird, wenn er durch die menschliche materiell-gegenständliche Tätigkeit mit dem Erkenntnissubjekt in Wechselwirkung tritt.(15) Die gesellschaftliche Praxis wird somit Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie. Diese zwei kurz skizzierten Seiten des Widerspiegelungsprozesses faßt K. Gößler in der Konzeption der „doppelten materiellen Determiniertheit des Erkenntnisprozesses"(16) zusammen. Der Erkenntnisprozeß wird charakterisiert als Einheit von „gegenständlicher Bestimmtheit und sozial-ökonomischer Determiniertheit."(17) Das Erkenntnisobjekt kann nur dadurch ideell reproduziert werden, daß es durch menschliche Tätigkeit in den gesellschaftlichen Lebensprozeß der Menschen integriert wird. Die gegenständlich-objektive Bestimmung der Widerspiegelung beinhaltet so gleichzeitig immer subjektive Faktoren, da die Zielstellungen, die Erkenntnisbedürfnisse und -Interessen, mit denen gesellschaftliche Praxis sich vollzieht, konkrethistorisch bestimmt sind durch die Verhältnisse und Struktur der jeweiligen ökonomischen Gesellschaftsformation, durch die Interessen der in ihr wirkenden Klassen, Schichten und Gruppen.

Die gesellschaftlich-historische Bedingtheit des Erkenntnisprozesses verhindert unter zwei Gesichtspunkten eine vollständige Übereinstimmung des durch die Widerspiegelung produzierten Abbildes mit dem Abgebildeten: 1. Die historische Bedingtheit des Erkenntnisniveaus läßt nur das Erfassen bestimmter Momente und Seiten des Erkenntnisgegenstandes zu. Die Erkenntnis vollzieht sich als dialektisch-widersprüchlicher Prozeß der Annäherung an den Erkenntnisgegenstand. 2. Da der Widerspiegelungsprozeß sich nur auf der Basis der gesellschaftlichen Praxis entwickeln kann, ist er wesentlich ein aktiver, schöpferischer Prozeß. Das durch ihn hervorgebrachte Abbild entsteht als „Resultat der Wechselwirkung zwischen objektivem Inhalt ... und subjektiver konstruktiver Veränderung, die durch das Einwirken des Subjekts hervorgerufen wird."(18) T. Pavlov charakterisiert dementsprechend die Idee als „dialektische Einheit objektiver, durch den Gegenstand selbst bedingter und subjektiver, vom Erkenntnissubjekt selbst beigefügter Seiten und Elemente..."(19)

Der schöpferische Charakter des Widerspiegelungsprozesses impliziert, daß die „Abbildung" der objektiven Realität untrennbar verbunden ist mit ihrer praktischen Umgestaltung. Geistige und praktische Aneignung fallen auf der Basis der Widerspiegelungstheorie und der damit verbundenen Lösung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses zusammen. Dieses Zusammenfallen von praktischer und geistiger Aneignung der Welt durch den Menschen in der materiellen gesellschaftlichen Produktion bringt die bereits von Marx herausgearbeitete „grundlegende Einheit von menschlicher und gesellschaftlicher Entwicklung, die Einheit des Änderns der Umstände und der Menschen"(20) zum Ausdruck. Die Verhältnisse formen zwar den Menschen, aber das Verhältnis beider ist nicht nur durch diese einseitige Beeinflussung charakterisiert. Die

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Menschen treten der objektiven Realität aktiv gegenüber, verändern sie zielgerichtet, passen sie ihren Bedürfnissen zielgerichtet an. Diese Veränderung ihrerseits bedingt die Änderung und Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und die Art der Praxis zu ihrer Befriedigung.(21)

Auf diesem theoretischen Hintergrund wird das Verhältnis von objektiver und subjektiver Dialektik bestimmt als das einer dialektischen Einheit. Inhalt und Form der subjektiven Dialektik sind sowohl objektiv - dies macht ihre Einheit aus - als auch subjektiv bestimmt, wodurch sie in Gegensatz zur objektiven Dialektik tritt. Die damit gegebene relative Selbständigkeit der subjektiven Dialektik ist konstituierend für ihre Rolle als Methode der praktisch-revolutionären Veränderung der objektiven Realität.(22) Diese theoretische Konzeption hat entscheidende Auswirkungen auf die Interpretation des Prinzips der Einheit von Dialektik - im weiteren hier als objektive verstanden -, Logik und Erkenntnistheorie. Die noch nicht abgeschlossener Diskussion dieser Frage knüpft an die These Lenins an, daß „im Kapital' ... auf eine Wissenschaft Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie (man braucht keine 3 Worte: das ist ein und dasselbe) des Materialismus angewendet"(23) werden und die „Dialektik ... eben die Erkenntnistheorie ... des (Text - eine Zeile - fehlt in der Vorlage; dazu gehört die Fußnote 24; LW 38, S.343 - d. Scänner ) also im Kern um die Überwindung des Gegensatzes zwischen Ontologie und Gnoseologie durch die materialistische Dialektik.

Ein kleiner Kreis von Theoretikern, unter ihnen P. V. Kopnin, interpretiert das Verhältnis von Dialektik, Logik und Erkenntnistheorie als das einer vollständigen Identität.(25) Begründet wird dies damit, daß die dialektischen Gesetze sowohl Gesetze des objektiven Seins als auch des Denkens sind, die Denkgesetze nur Widerspiegelungen der Seinsgesetze seien, daher inhaltlich mit diesen zusammenfielen und nur der Form nach von ihnen verschieden seien.(26) Der weit größere Teil der Philosophen - so z.B. M. M. Rosental, I. S. Narski, V. I. Stoljarov, F. Kumpf, A. Kosing u.a.(27) - weist darauf hin, daß Lenin den Begriff „Identität" niemals in der Bedeutung „absolute Identität," sondern immer in der Bedeutung „dialektische Einheit" verwandte. Deshalb gehen sie von der These aus, das Zusammenfallen von Dialektik, Logik und Erkenntnistheorie sei nicht die Herstellung einer völligen Identität, sondern einer Einheit, die selbst den Unterschied an sich hat. Die Vertreter der „Einheitsthese" führen gegen die der „Identitätsthese" weiter an, diese berücksichtigten bei ihrer Interpretation in zu geringem Maße die Bedeutung der Praxis für die Entwicklung der dialektischen Logik. F. Kumpf z.B. betont, daß sich zu den Gesetzen, nach denen sich das Denken vollzieht, keineswegs immer entsprechende Entwicklungsgesetze der objektiven Realität aufzeigen lassen: „Es ist vielmehr so, daß eine bestimmte Struktur der objektiven Realität eine ganz bestimmte Struktur und damit bestimmte Gesetzmäßigkeiten des erkennenden Denkens verlangt, die eine adäquate Widerspiegelung der realen Sachverhalte ermöglichen, selbst aber spezifische Gesetze der Erkenntnis sind." Es handelt sich bei ihnen „um Gesetze einer spezifischen Form der menschlichen subjektiven Tätigkeit."(28) Die Logik wird hier nicht reduziert auf die adäquate Widerspiegelung der objektiven Seinsgesetze, wie die These von der inhaltlichen Identität der Seins- und Denkgesetze dies impliziert.

Neben den für die Dialektik, Logik und Erkenntnistheorie insgesamt gültigen Grundgesetzen der Dialektik existieren also Gesetze, die nur für einen oder zwei dieser Bereiche Geltung haben.(29) Ihre dialektische Einheit beinhaltet daher gleichzeitig ihren Gegensatz und die Existenz voneinander abgegrenzter Aufgabenbereiche. Der Aufgabenbereich der dialektischen Logik läßt sich u.a. im wesentlichen bestimmen als die Erforschung der methodischen Grundlage der wissenschaftlich-theoretischen Reproduktion der objektiven Realität und der dialektisch-gesetzmäßigen Bildung und Verknüpfung von Abstraktionen, Begriffen und Kategorien als annähernd adäquater Widerspiegelung des zugrundeliegenden Objektiven. Als ein zentraler Teil der dialektischen Logik muß daher die Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten gelten. Diese Definition grenzt die Logik zugleich als relativ selbständigen Teil von der Erkenntnistheorie ab, deren vorwiegendes Aufgabengebiet die Analyse der Widerspiegelung, der Rolle der Praxis im Erkenntnisprozeß und des Subjekt-Objekt-Verhältnisses ist.

Im Hinblick auf die Bedeutung, die dem Prinzip der Einheit von Dialektik, Logik und

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Erkenntnistheorie und insbesondere der dialektischen Logik für die Entwicklung der Dialektik zuerkannt wird, ist es befremdlich, des öfteren (30) die lapidare Bemerkung anzutreffen, eine befriedigende Ausarbeitung der Rolle und des Inhalts der dialektischen Logik liege noch nicht vor, sondern befinde sich noch im Stadium der Diskussion. Ansätze zu ihrer inhaltlichen Ausarbeitung sind erst in jüngster Zeit stärker in Angriff genommen worden.(31)

C. DIE GRUNDGESETZE DER DIALEKTIK ALS THEORETISCHER AUSDRUCK DES DIALEKTISCHEN DETERMINISMUS,

1. Die Bedeutung der Grundgesetze der Dialektik

Die Dialektik als Lehre von den allgemeinen Beziehungen, Veränderungen und Entwicklungen in der Natur, der Gesellschaft und im Denken ist wesentlich dialektischer Determinismus, d.h. eine philosophische Theorie des objektiven Zusammenhangs, die die Bedingtheit und Bestimmtheit der Objekte und Prozesse in ihrem objektiven Zusammenhang erfaßt.(32) Der dialektische Determinismus ist nicht interpretierbar als eine totale Vorherbestimmung der Entwicklung aller Momente der objektiven Realität, sondern basiert auf der Analyse konkreter Objekte und ihrer Beziehungen sowie ihrer Verallgemeinerung und Erfassung in Begriffen und allgemein gültigen Gesetzen. Der grundlegende theoretische Ausdruck dieses dialektischen Determinismus sind für die hier vorgestellte Konzeption die drei Grundgesetze der Dialektik.(33) Notwendig für die inhaltliche Bestimmung dieser Gesetze - des Gesetzes der Einheit und des Kampfes der Gegensätze, des Umschlagens quantitativer Veränderungen in qualitative und der Negation der Negation -ist die vorherige Klärung des Gesetzesbegriffs. Unter einem Gesetz versteht man einen „... allgemein-notwendigen und wesentlichen Zusammenhang zwischen Dingen, Systemen und Prozessen sowie zwischen einzelnen Seiten derselben, der sich stets unter bestimmten Bedingungen reproduziert."(34) Ein Gesetz muß also zumindest drei Bedingungen erfüllen: 1. Es muß einen hinreichenden Allgemeinheitsgrad besitzen, sich auf eine bestimmte Klasse.... (Text - eine Zeile - fehlt in der Vorlage; - d. Scänner ) Es muss die relativ stabileinnere Einheit von Dingen, Systemen und Prozessen ausdrücken. 3. Es muß das Prinzip der Wiederholbarkeit erfüllen, d.h. es muß sich unter der Voraussetzung der Existenz bestimmter Bedingungen mit Notwendigkeit durchsetzen.(35)

Die Grundgesetze der Dialektik unterscheiden sich von anderen dialektischen Geset/en wesentlich dadurch, daß sie nicht einzelwissenschaftlicher Natur sind, sich also nicht nur für einzelne Bereiche der objektiven Realität und des Denkens als gültig erweisen, sondern in ihrer Gesamtheit den allgemeinsten und wesentlichsten Zusammenhang jedes Entwicklungsprozesses in der Natur, der Gesellschaft und im Denken zum Ausdruck bringen. Sie erfassen somit das Wesen der dialektischen Entwicklungskonzeption und der materialistischen Dialektik überhaupt, ohne daß sich materialistische Dialektik auf sie reduzieren ließe. G. Bartsch/G. Klimaszewsky z.B. heben hervor, daß die Grundgesetze nur die wesentlichen, hauptsächlichen Züge der Dialektik widerspiegeln und daher notwendig der Ergänzung durch andere Gesetze und Kategorien der Dialektik bedürfen.(36)

Die drei Grundgesetze der Dialektik sind auf der Basis der Prinzipien des dialektischen Materialismus von der materiellen Einheit der Welt und der Universalität der Entwicklung die allgemeinste philosophisch-weltanschauliche Charakterisierung aller Entwicklungsprozesse. Sie können daher keineswegs unmittelbar bei der konkreten Analyse bestimmter Prozesse in der Natur, der Gesellschaft oder im Denken angewendet werden. Vielmehr muß die Analyse aufweisen, wie die Grundgesetze vermittelt in den spezifischallgemeinen Gesetzen der drei Bereiche und in konkreten Prozessen erscheinen und sich durchsetzen. Die These vom universellen Geltungs- und Wirkungsgrad der Grundgesetze ist nur dann sinnvoll, wenn man ihre sich nach der Vermittlungsstruktur Allgemeines - Besonderes - Einzelnes entwickelnden Beziehungen und Übergänge zu besonderen und konkreten dialektischen Prozessen anhand des zugrunde liegenden Untersuchungsobjekts genau nachvollzieht.

Die Grundgesetze dürfen nie isoliert voneinander gesehen werden. Erst in ihrem

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organischen Zusammenhang erfassen sie das Wesen jedes Entwicklungsprozesses. Dadurch wird das Problem der Analyse dieses organischen Zusammenhangs und des Verhältnisses der Grundgesetze zueinander gestellt.(37) Ein - wenn auch nur die mögliche Entwicklungsrichtung aufzeigender - Lösungsvorschlag stammt von E. Thomas.(38) Er sieht die Einheit der Grundgesetze als genetischen Zusammenhang und als Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit bei relativer Selbständigkeit, wobei das Gesetz von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze einen besonderen und zentralen Stellenwert hat. Dies bedeutet nicht, daß die Grundgesetze auf das Gesetz der Einheit und des Kampfes der Gegensätze reduzierbar wären, vielmehr bauen sie in der Weise aufeinander auf, „daß die objektiven Widersprüche der Entwicklung qualitative Veränderungen und gesetzmäßige Folgen von qualitativen Umschlägen in der Entwicklung, „Negation," erzeugen, die mit dem Widerspruch selbst dennoch nicht identisch sind, ... ."(39)

Im folgenden sollen die drei Grundgesetze der Dialektik bzw. ihre Bestimmungen beim derzeitigen Forschungsstand kurz skizziert werden. Die Reihenfolge der Darstellung richtet sich nach dem bereits erwähnten Klassifizierungsversuch von E. Thomas, der am ehesten geeignet scheint, den Zusammenhang der Grundgesetze und ihre wechselseitige Bedingtheit auf der Basis des dialektischen Widerspruchs zu kennzeichnen.

2. Das Gesetz der Einheit und des Kampfes der Gegensätze

Das Gesetz von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze stellt - nach den Worten Lenins - den Kern der Dialektik dar. Es erläutert die Ursache der Bewegung und Selbstentwicklung aller Dinge, Systeme und Prozesse sowohl in der materiellen Sphäre als auch in der ideellen. Als Kern der Dialektik durchdringt das Gesetz von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze alle anderen Gesetze, Kategorien und Teilbereiche der Dialektik, ist unauflöslich mit ihnen verbunden, ohne daß sie sich auf dieses reduzieren ließen. Durch dieses Gesetz als Ausdruck allgemeinster Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten dialektischer Bewegung wird die innere Logik (d.h. die Logik der Selbstentfaltung) zu analysierender Gegenstände thematisiert. Dabei wird davon ausgegangen, daß „alle Dinge und Erscheinungen ... ihrem Werden und ihrem Sein nach durch gegensätzliche Momente bestimmt ... (sind, d.V.); diese Gegensätze betreffen das Wesen der Erscheinungen, sie zeigen, daß die Welt überhaupt eine polare Struktur besitzt."(40)

Grundlegendes Kennzeichen des Gegensatzes ist die Polarität (die Beziehung des Sich-wechselseitig-Bedingens und Sich-Ausschließens) der sich im Gegensatzverhältnis befindlichen Erscheinungen. Diese erweisen sich als bestimmte Daseinsform des ihnen zugrundeliegenden und sie bestimmenden Wesens, dessen Entwicklung sie ausdrücken. Der Analysegegenstand wird aufgefaßt als System, das durch sie gekennzeichnet ist: „Jeder Gegenstand uls System gefaßt bedeutet nicht nur eine bestimmte Ordnung der einzelnen Elemente dieses Systems, sondern vor allem eine solche Ordnung, die durch die innere Ordnung des Gegenstandes bestimmt ist."(41)

Unter Einheit der Gegensätze wird die bestimmte Form wechselseitiger Bedingtheit, des Sich-Voraussetzens verstanden, die in jeweils konkreten Umständen ihrer Existenz wurzelt: beide Pole erscheinen als Momente eines übergreifenden Ganzen im Zustand relativer, „dynamischer" Ruhe. Der Charakter der Pole und die spezifische Beziehung zwischen ihnen ist also nicht aus dem bloßen Konstatieren ihrer Entgegensetzung zu erklären, sondern aus ihrer Einheit, d.h. aus dem beiden zugrunde liegenden Wesen. Die Selbständigkeit und Entgegensetzung muß aus dem Prozeß ihrer Selbstunterscheidung, aus ihrer Genese erklärt werden. Diese Einheit der Gegensätze, ihr Sich-gegenseitig-Bedingen führt unter bestimmten Bedingungen bis zu ihrem Übergehen ineinander, ihrer gegenseitigen Durchdringung, ihrer „Identität." Die Charakterisierung der Einheit der Gegensätze als relativer und damit zeitweiliger impliziert bereits, daß es sich nicht um eine absolute und damit abstrakte Identität handelt, sondern um eine konkrete dialektische, die den Unterschied in sich einschließt. Der Unterschied zwischen den Momenten dieser konkreten dialektischen Identität verwandelt sich im Prozeß der Selbstunterscheidung und Versclbständigung unter bestimmten Bedingungen in den Gegensatz. „Gegensätze sind gewissermaßen Unterschiede auf der höchsten Stufe ihrer Entwicklung."(42)

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Der Kampf der Gegensätze (als absolutes Sich-Ausschließen, Sich-gegen-seitig-Negieren der Pole) ist als negatives Aufeinanderbeziehen zu verstehen, das allerdings schon deshalb nicht total ist, weil „Gegensätze durch die gleichzeitige Beziehung des Sich-Bedingens und Sich-Ausschließens gekennzeichnet sind, stets mit dem Gegenteil der Negation, mit Position verknüpft (sind, d.V.)."(43) Eine scheinbare Selbständigkeit der gegensätzlichen Pole erweist sich nicht als ursprüngliche Polarität, sondern als relative Selbständigkeit im Prozeß ihrer Entgegensetzung, der Selbstentwicklung des konkreten Ganzen. Eine Analyse des Gegensatzverhältnisses schließt so außer einer Zustandsbetrachtung vor allem eine Untersuchung des Prozesses der Entgegensetzung selbst mit ein, die die entgegengesetzten Pole unter dem Aspekt der konkreten Einheit des Ganzen aufdeckt. Festzuhalten bleibt ferner, daß sich stets eine Seite des Gegensatzverhältnisses als die zur Auflösung der Relation der beiden Pole treibende erweist und für seine Charakterisierung und die Richtung seiner Weiterentwicklung bestimmend ist. Die Dominanz dieser Seite ergibt sich aus den konkreten Entwicklungsbedingun-gcn des jeweiligen Gegenstandes.

Als Verhältnis von Gegensätzen, die in jeweils verschiedenem Grad Einheit und Kampf realisieren, kann auf allgemeinster Ebene der dialektische Widerspruch definiert werden.(44) Er wird gekennzeichnet als Einheit mehrerer Formender Beziehung von Gegensätzen. Während die Kategorie des Gegensatzes als auf alle Erscheinungen innerhalb eines Bezugssystems anwendbar angesehen wird, gilt als Widerspruch lediglich die aktive Beziehung von Gegensätzen innerhalb ihres Bezugssystems, ihre gegenseitige Wechselwirkung und Beeinflussung auf der Grundlage der dialektischen Einheit, in der sie vermittelt sind. Das so bestimmte Widerspruchsverhältnis, das als dynamisches Verhältnis von Gegensätzen zu seiner Selbstnegation drängt vermöge der aktiven wechselseitigen Beeinflussung der entgegengesetzten Seiten,(45) muß im konkreten Analyscfall aufzeigen das Werden im Bestehenden, die Genesis in der Struktur, die historische Konkretheit in der logischen Struktur und die gnoseologische Beschränktheit der Erkenntnis.(46) Letzteres besagt, daB Wissen sich nicht als fertiges und undifferenziertes Resultat erweist, sondern dialektisch sich entwickelnder Prozeß ist, in dem jedes Resultat gleichzeitig die Richtung für Oberprüfung und Weiterentwicklung des Wissens weist. Der jeweilige Analysegegenstand wird widergespiegelt als historisch durch die Entwicklung seiner Widersprüche gewordenes komplexes Ganzes, das über die erreichte qualitative Stufe hinausdrängt. Diese sich am Widerspruch und seiner Entwicklung orientierende Methode des Denkens ist als „Logik des Widerspruchs ... die Logik der nach ihrem kritischen Gehalt ... konsequentesten revolutionären Weltanschauung, weil sie eine Denkweise beinhaltet, ... (die das Sein, d.V.) nicht in fixe gegenständliche Formen zwängt und nicht zu einer fest vorgegebenen abgeschlossenen Weltordnung erhebt."(47)

Widerspruch als allgemeines dialektisches Gesetz drückt nichts anderes aus als die durch „ihren Zusammenhang bewirkte Bewegung der Gegensätze,"(48) die in jeweils besonderer Form auftritt; die materielle Welt in ihrer Gesamtheit erscheint als vielschichtiges komplexes System dialektischer Widersprüche. Letzteres darf nicht verwechselt werden mit der Auffassung prinzipiell nicht strukturierbarer, in ihrer Komplexität nicht faßbarer Widersprüchlichkeit. Vielmehr kann in der konkreten Analyse ein Grundwiderspruch, z.B. der Antagonismus gesellschaftliche Produktion - private Aneignung der Produkte als Grundwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaftsformation, herausgearbeitet werden. Der Grundwiderspruch, der die übrigen Widersprüche des Bezugssystems bestimmt, in ihnen erscheint und sich im gesamten Verlauf einer Prozeßentwicklung erhält, darf jedoch in seiner Wirkungsweise nicht verabsolutiert werden, sondern hat sich in der spezifischen historischen Analyse in seiner konkreten Wechselwirkung zu anderen Prozeßmomenten zu erweisen. Mechanistisch dagegen wäre eine Denkweise, die alle konkreten Widersprüche bereits im Grundwiderspruch wie im Keim enthalten sähe und direkt aus ihm deduzieren wollte. Diese Sichtweise würde der konkreten Herausbildung der Widersprüche sowie ihrer komplexhaften und komplizierten Struktur ebenso wenig gerecht wie ihren spezifischen Beziehungen innerhalb eines konkreten Ganzen...(Text - eine Zeile - fehlt in der Vorlage; - d. Scänner ) ..läßt sich der Hauptwiderspruch kennzeichnen als derjenige, der in einem bestimmten Prozeßzustand erstrangige Bedeutung erhält, den Charakter und die Entwicklungsrichtung eines Systems, Dings usw. in dieser Etappe bestimmt, seine dominierende Stellung jedoch im Verlauf der Entwicklung durch seine Lösung, Aufhebung oder andere Strukturverschiebungen verliert. Die Analyse des Hauptwiderspruchs ermöglicht, anders als die des Grundwiderspruchs, lediglich eine

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etappenmäßige und ausschnitthafte Erfassung des gesamten Entwicklungsprozesses. Die Rolle eines Widerspruchs als Hauptwiderspruch ist demnach relativ und zeitlich begrenzt. Nach der Beendigung der von ihm bestimmten Etappe kann er sich in einen Nebenwiderspruch, dessen Rolle und Funktion innerhalb seines Systems vom Grund- und vom Hauptwiderspruch bestimmt werden, verwandeln. Andererseits kann ein Nebenwiderspruch, bedingt durch die konkreten Umstände, erstrangige Bedeutung erlangen, zu einem Hauptwiderspruch werden.

Während die Differenzierungen zwischen Grundwiderspruch und abgeleiteten Widersprüchen, d.h. den konkreten Widersprüchen, in denen sich der Grundwiderspruch reproduziert, in ihnen erscheint, ohne daß ihre Genese und ihr konkreter Inhalt vollständig aus dem Grundwiderspruch deduzierbar wären, sowie Haupt- und Nebenwidersprüchen allgemeine Gültigkeit besitzen, ist die Unterscheidung antagonistische-nichtantagonistische Widersprüche auf den gesellschaftlichen Bereich beschränkt. Als allgemeine Definition eines Antagonismus kann gelten, „daß er das Verhältnis einer feindlich wechselseitigen Ausschließung entgegengesetzter Seiten darstellt, daß ihm -mittelbar oder unmittelbar - heftig sich bekämpfende soziale Interessen, Tendenzen, Momente zugrunde liegen und daß seine grundsätzliche Lösung nur unter völliger Veränderung der gegebenen sozialen Basis möglich ist."(49)

Diese Bestimmung grenzt die Existenz antagonistischer Widersprüche auf den Bereich von Klassengesellschaften ein: Antagonismen sind Typen von durch unversöhnliche Klassengegensätze bedingten Widersprüchen, deren Entwicklung tendenziell auf die Auflösung, Sprengung des Bezugssystems zielt. Begrenzte, zeitweilige Angleichungen der gegensätzlichen Seiten eines Antagonismus sind damit nicht ausgeschlossen, erweisen sich jedoch als Stadium relativer Ruhe, die die systemsprengende Gerichtetheit des Antagonismus nicht aufheben.(50) Das Verhältnis der antagonistisch entgegengesetzten Pole läßt sich darstellen als eines der Subordination von Klasseninteressen der unterdrückten Klasse unter diejenigen der herrschenden. Die jeweilige Besonderheit dieser Unterordnung ist entscheidend für die Entwicklung eines Antagonismus, seine tendenzielle Zuspitzung und schließlich die Auflösung des Bezugssystems: der vorher untergeordnete wird zum dominierenden Pol des Antagonismus.

In diesem Zusammenhang wird die grundsätzliche neue Qualität der kommunistischen Gesellschaftsformation und ihrer ersten Etappe, des Sozialismus, deutlich. Das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln schafft die Basis für das Verschwinden von Klassengegensätzen und damit jeglicher Formen von Antagonismen. Das bedeutet nicht, daß Widersprüche im gesellschaftlichen Bereich in entwickelten sozialistischen Gesellschaftssystemen prinzipiell aufgehoben sind, sondern lediglich, daß sich ihre Entwicklung auf der qualitativ neuen, nichtantagonistischen Grundlage grundsätzlicher Interessengleichheit der Klassen, Gruppen und Schichten vollzieht. Als nichtantagonistische Widersprüche sind auf systematischer Ebene diejenigen zu charakterisieren, deren Entwicklung nicht auf völlige Aufhebung des zugrundeliegenden Verhältnisses von Klassen tendiert, sondern bei deren Auflösung, Weiterentwicklung die ursprüngliche Einheit eine qualitative Veränderung erfährt. Über den Modus dieser Veränderung - den Lösungsweg nichtantagonistischer Widersprüche finden sich in der Literatur mannigfache Äußerungen.(51) So wurde der Lösungsweg von Nichtantagonismen im Sozialismus allgemein definiert als langer, komplizierter, sich allmählich entwickelnder Prozeß; als weiteres Merkmal galt die tendenzielle Abnahme der Schärfe nichtantagonistischer Widersprüche in ihrer Entwicklung.(52) Mit dieser These wird keineswegs ausgeschlossen, daß in bestimmten Phasen eine Zuspitzung des Gegensatzverhältnisses der Pole des nichtantagonistischen Widerspruchs möglich und für seine Lösung notwendig ist.

Die Unterscheidung zwischen antagonistischen und nichtantagonistischen Widersprüchen ist von grundlegender weltanschaulicher Bedeutung, weil durch sie die qualitative Differenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die historische Überlegenheit der kommunistischen Gesellschaftsformation gegenüber der kapitalistischen verdeutlicht wird. Die Betonung dieser Überlegenheit auf der Grundlage der Theorie von der grundsätzlichen sozialen Einheit der sozialistischen Gesellschaft, d.h. der Überwindung der Klassengegensätze und antagonistischer Widersprüche durch die Vergesellschaftung der

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Produktionsmittel und der darauf beruhenden prinzipiellen Interessengleichheit aller Klassen, Schichten und Gruppen, führte in der Vergangenheit zu schematischen und ahistorischen Auffassungen über die Rolle der Widersprüche im Sozialismus. Widersprüche wurden allein als Indikator für Fehlenentwicklungen, die soziale Einheit des Sozialismus als harmonistisches Prinzip aufgefaßt und damit implizit die Gültigkeit der Dialektik für die kommunistische Gesellschaftsformation negiert.(53) Diese falschen Auffassungen wurden in den letzten Jahren überwunden. Ausgangspunkt war die Feststellung, daß der Sozialismus zwar bereits keine Klassengesellschaft mehr ist, weil den Klassengegensätzen der Boden entzogen wurde, die Klas-

senstruktur bei grundsätzlicher Einheit der Interessen aber immer noch das entscheidende Charakteristikum dieser Gesellschaft darstellt.(54) Von dieser These ausgehend wurden im Verlauf einer internationalen Diskussion in den Jahrgängen 1972-1973 der Zeitschrift „Probleme des Friedens und des Sozialismus"(55) die falschen Theorien über die Rolle der Widersprüche im Sozialismus eingehend kritisiert. Es wurde klar herausgestellt, daß die Widersprüche ein unabdingbarer Wesenszug des Sozialismus, die eigentliche Triebkraft seiner Entwicklung und die Ursache für seine größere soziale .Dynamik sowie schnellere Entwicklung gegenüber der kapitalistischen Gesellschaft sind.(56) Als zu seinem Wesen gehörig haben die Widersprüche objektiven Charakter. Dies gilt auch für die durch subjektive Fehler verursachten, da sie aufgrund der Vereinseitigung oder Verabsolutierung realer Momente und Tendenzen des Sozialismus entstehen.

Breiten Raum nahm in der Diskussion die Frage der Klassifizierung der Widersprüche im Sozialismus ein. Nach Meinung der Verfasser stellt der Klassifizierungsversuch von G. Gleserman den difTerenziertesten und den konkret-historischen Verhältnissen adäquatesten Lösungsvorschlag dar. Er unterscheidet drei Hauptgruppen von Widersprüchen.(57)

1. Objektive innere Widersprüche des Sozialismus. Diese wiederum sind unterteilt in zwei Arten, in die von der kapitalistischen Gesellschaft „übernommenen" Widersprüche und in die, die auf der Grundlage der sozialistischen Produktionsverhältnisse entstanden sind, also die eigentliche Triebkraft des Sozialismus darstellen. Die „übernommenen" Widersprüche sind zu differenzieren in solche, deren antagonistischer Charakter im Sozialismus noch nicht überwunden wird - z.B. Widersprüche in der ideologischen Sphäre(58) - und solche, deren antagonistischer Charakter in einen nichtantagonistischen überführt wurde. Diese Arten von Widersprüchen erscheinen nicht in reiner Form, sondern in komplexer, enger Verflochtenheit. Ihr Ver- " hältnis stellt sich vor allem dar als ständiger Kampf des Neuen gegen das Alte (Überreste des Kapitalismus) und das Veraltende (überholte Momente des Sozialismus).

2. Äußere Widersprüche. Diese sind unterschieden in zwei Gruppen, in antagonistische Widersprüche zwischen kapitalistischem und sozialistischem Weltsystem, die auf die innere Entwicklung des Sozialismus Einfluß nehmen, und in nichtantagonistische Widersprüche zwischen den sozialistischen Ländern selbst, die bezogen auf jedes Land äußere, bezogen auf das System des Sozialismus aber innere Widersprüche sind.

3. Subjektive Widersprüche, die z.B. durch Fehler in der Planung und Leitung gesellschaftlicher Prozesse entstehen. Bei aller Wichtigkeit der Klassifizierung der Widersprüche ist allerdings zu betonen, daß zur Vermeidung einer schematischen Herangehensweise die Erforschung der konkreten Widersprüche Priorität besitzt.(59)

Die komplexe Struktur der Widersprüche und ihre enge Wechselwirkung werfen die Frage auf, ob die Verwandlung nichtantagonistischer Widersprüche in antagonistische und umgekehrt möglich ist. Sie wird dahingehend beantwortet, daß sich nichtantagonistische Widersprüche durch falsches Herangehen an ihre Lösung bis zu einem sozialen Konflikt verschärfen können und eine antagonistische „Äußerungsform" annehmen, die allerdings nicht ihren grundsätzlichen Charakter berührt. „Die Formen der Äußerung und die Methoden zur Lösung der Widersprüche können sich je nach den objektiven Bedingungen wie auch nach dem Grad der Übereinstimmung des subjektiven Faktors mit ihnen verändern. Aber die Natur der Widersprüche, ihr antagonistischer oder nichtantagonistischer Charakter können durch nichts anderes bestimmt werden als durch

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die Natur der Gesellschaft selbst, durch die der Gesellschaft eigenen Klassenverhältnisse."(60) Die Möglichkeit der Änderung in der Äußerungsform zeigt deutlich an, daß Auffassungen, bei nichtantagonistischen Widersprüchen überwiege der Aspekt der Einheit, völlig verfehlt sind. Vielmehr gilt auch bei ihnen der Grundsatz von der „Absolutheit" des Kampfes der Gegensätze.(61)

Die Bedeutung der richtigen Herangehensweise an die Lösung von Widersprüchen weist auf die entscheidende Rolle des subjektiven Faktors hin. Die Widersprüche im Sozialismus wirken nicht im Selbstlauf als Motor des Fortschritts, sondern erfüllen diese Funktion nur dann, wenn ihre rechtzeitige und richtige Lösung durch aktives Herangehen an sie geleistet wird. D.h., die Widersprüche als Triebkraft der Entwicklung bedingen ein höheres Bewußtsein der Arbeiterklasse und aller einzelnen Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft über deren Gesamtzusammenhang, die Funktion der einzelnen Teilbereiche und der eigenen Rolle für die Weiterentwicklung des Systems. Aus diesem Grunde besitzen „ideologische Faktoren ... auf der Grundlage sozialistischer Verhältnisse, erstrangige Bedeutung für die Entwicklung der Gesellschaft,"62 ohne daß diese Bestimmung verabsolutiert, ohne Bezug zur ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung gesehen werden dürfte.

Die Diskussion, die hier nur sehr verkürzt dargestellt werden konnte, befindet sich noch im Anfangsstadium. Insbesondere die Probleme des Grund-widcrspruchs der kommunistischen Gesellschaftsformation, der konkreten Erforschung der komplizierten Struktur der Widersprüche im Sozialismus als Bedingung der Vermeidung jeglichen Schematismus, der spezifischen Lösungsformen dieser Widersprüche u.a. können bei weitem noch nicht als gelöst betrachtet werden.(63)

3. Das Gesetz vom Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative

Die Gesetzmäßigkeiten des Widerspruchs als im wesentlichen qualitative Verhältnisbestimmungen enthalten - in aufgehobener Form - bereits das Prinzip des Umschlagens quantitativer Veränderungen in qualitative, welches in seiner Form als Entwicklungsgesetz besagt, „daß in Entwicklungsprozessen in der Natur, der Gesellschaft und im Denken quantitative Veränderungen innerhalb einer bestimmten Qualität beim Überschreiten ihres Maßes zu sprunghaften qualitativen Änderungen führen."(64) Es geht im folgenden also um die Art und Weise prozeßhafter Veränderung und Selbstbewegung von Gegensätzen und um ihre Formbestimmtheit: nicht zwei gegensätzliche Erscheinungen vollziehen einen Stellungswechsel, sondern eine Erscheinung geht von einem gegebenen Zustand in einen entgegengesetzten über.(65)

Die Kategorie der Qualität drückt nicht nur das Wesentliche eines Bezugsgegenstandes - als Gesamtheit der Qualitäten - aus, sie charakterisiert auch die zur Konstituierung des Gegenstandes notwendigen Eigenschaften. Unter Quantität wird „die Beschaffenheit der Dinge und Erscheinungen, als Menge von Qualitäten, Eigenschaften, Elementen usw. zu existieren"(66) verstanden, eine Definition, die noch insofern der Ergänzung bedarf als „Quantität" auch strukturelle Anordnung innerhalb des Systemganzen ausdrückt.(67) Das Maß, als der spezifische Zustand der Qualität/Quantität- ' Verhältnisse des Gegenstandes, ist nicht nur Synthese dieser Verhältnisse, sondern zeigt darüber hinaus spezifische Erscheinungsformen und Entwicklungsmöglichkeiten im Rahmen gegebener Qualitäten an. Ferner beinhaltet es als Kategorie Strukturprinzipien zwischen gegenständlichen und systembedingten Qualitäten, die Prinzipien der Verbindung unterschiedlicher Qualitäten und den Miteinbezug des eigenen gnoseologischen Standpunktes "- in die Analyse.(68)

Die Maßanalyse spiegelt so auch die zieh vertiefende Erfassung des Gegenstandes wider, es werden unterschieden einfaches/unmittelbares Maß, das zustande kommt in der unmittelbaren Kenntnis der Erscheinung ohne Ein-bezug von deren wesentlicher Bestimmtheit. Schon aus der Anhäufung derartiger Kenntnisse erwächst die Notwendigkeit, über sie hinauszugehen, um Genesis, Determinanten, Systemzusammenhänge klären zu können. Dies erfolgt auf der Stufe des systembedingten /substantiellen Maßes, wo das Sein der Erscheinung sich als systembedingtes erweist, das nur innerhalb dieses Zusammenhangs und dessen historischer Entwicklung begriffen werden kann. Die Unmittelbarkeit des einfachen Maßes

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entpuppt sich als vom Bezugszusammenhang getragene Vermitteltheit, die auf der Ebene des realen Maßes in ihrer historischen Konkretheit bestimmt wird. Erst auf dieser Stufe werden die Erscheinungen „in der ganzen Mannigfaltigkeit der wirklichen Beziehungen" erfaßt.(69)

Mittels der Maßanalyse, die eine genaue Zustandsbestimmung auch der Grenzbereiche der Entwicklung innerhalb eines spezifischen Qualitätsgefüges ermöglicht, läßt sich so die Kategorie der Entwicklungsphase definieren, die den jeweiligen Verlauf der Qualität/Quantität-Verhältnisse bis zu deren Maßüberschreitung charakterisiert. Innerhalb einer Entwicklungsphase können sich quantitative Prozesse vollziehen, die nicht direkt zu einer Beeinflussung der jeweiligen Grundqualität führen, sondern erst durch langsame Akkumulation quantitativer Momente die Toleranzgrenze des Maßverhältnisses erreichen. Wird diese Grenze erreicht, die Einheit von Qualität und Quantität gesprengt, konstituiert sich das jeweilige System nach einer Phase der Instabilität, der Diskontinuität, entweder in neuer Qualität oder verbleibt in der durch diese Entwicklung modifizierten vorherigen. Es gewinnt in beiden Fällen wieder einen Zustand relativer Ruhe, der von der neuen Grundqualität bestimmt wird und ein qualitativ anderes Maßverhältnis aufweist, welches Richtung und Umfang der in diesem Rahmen möglichen quantitativen Veränderungen angibt. Die erreichte qualitative Bestimmtheit eröffnet die Möglichkeit weiterer quantitativer Entwicklung: Qualität schlägt in Quantität um wie vorher Quantität in Qualität: beide stehen in einem reziproken Verhältnis.

Der dialektische Sprung als Moment des Qualitätenwechsels kann näher charakterisiert werden als diskontinuierliches Element der Entwicklung, das in Bezug auf die jeweiligen Maßverhältnisse und ihre konkreten Vollzugsbedingungen nicht als punktuelles Ereignis, sondern als Prozeßmoment betrachtet wird.(70) Dieses Prozeßmoment, dessen Spezifität und Gerichtetheit wesentlich von der Qualitätsbestimmtheit determiniert ist, steht so notwendig in Wechselwirkung mit der eher evolutionären Bewegung der Akkumulation von quantitativen Elementen, der es in seiner Forcierung eine neue Gerichtetheit gibt.

In seiner Funktion der Erfassung der Art und Weise der Selbstbewegung von Materie ist das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität anwendbar nicht nur für Entwicklungs-, sondern für Bcwegungsprozesse überhaupt, für Fälle also, in denen, wie in naturwissenschaftlichen Prozessen nicht unbedingt eine höhere Qualität, sondern lediglich eine andere durch den Qualitätssprung erreicht wird.

4. Das Gesetz der Negation der Negation

Wie bereits angedeutet, wird ein konkretes Ganzes als komplexe Struktur von Widerspruchsverhältnissen begriffen; das beinhaltet auch, „die folgerichtige Selbstkonkretisierung des Gegenstandes (aufzuspüren, d.V.), in deren Verlauf alle seine Widersprüche gelöst und reproduziert werden."(71) Unabdingbare Voraussetzung hierbei ist, daß dialektische Negation als sich real vollziehender Prozeß verstanden wird, dessen Analyse immer von den gegebenen Eigenschaften realer Dinge ausgeht, um von der Konstatierung ihrer gegenwärtig gegebenen Existenz zur Analyse ihrer gesetzmäßigen Negierung in der Zukunft zu gelangen.(72)

Während der Schwerpunkt der Aufdeckung dialektischer Strukturen bei der Behandlung des Gesetzes von Einheit und Kampf der Gegensätze auf der Analyse widersprüchlicher Objektstrukturen lag, sollen durch das Gesetz der Negation der Negation die konkreten Entwicklungsformen dieses Widerspruchs, die zu immer neuen, konkreteren Synthesen (Lösungsformen) aus der ursprünglichen Einheit und ihrer sich aus ihr selbst entwickelnden Negation führen, erläutert werden. Das Gesetz läßt sich in seiner Struktur darstellen als komplizierte Form des dialektischen Widerspruchs. Faßt man zur Verdeutlichung die Prozeßstadien einer Negation der Negation unter dem Begriffsschema These-Antithese-Synthese, abstrahiert man von der inhaltlichen Bestimmtheit des Prozesses und von der Gleichzeitigkeit der auftretenden Widersprüche, lassen sich folgende dialektische Verknüpfungen darstellen:

(1) Die Relation These-Antithese (Negation der These durch die Antithese unter

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Beibehaltung entwicklungsfähiger Momente der These)

(2) Das Verhältnis Antithese-Synthese (das konkrete Lösungsverhältnis des Widerspruchs, sein Aufgehobenwerden in die neue Einheit)

(3) die Beziehung These-Synthese (die die Qualität des Gegenstandes bedingende innere Form der These wird auf der Basis der im Rahmen der Antithese erfolgten quantitativen Entwicklung wiederhergestellt).(73)

Das Gesetz der Negation der Negation beinhaltet so als Moment sowohl das Gesetz von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze als auch dasjenige vom Umschlagen von Quantität in Qualität: seine Anwendung setzt diejenige der dialektischen Methode als Ganzer voraus.(74) Das Gesetz der Negation der Negation drückt die Einheit von Kontinuität und Diskontinuität einer Entwicklung aus, es ermöglicht ferner, bestimmte Folgebeziehungen im Entwicklungsprozeß über unterschiedliche Prozeßetappen hinweg auszumachen (Wobei einschränkend bemerkt werden muß, daß hierbei von historisch - Zufälligem abstrahiert wird und lediglich eine wahrscheinliche Entwicklungsrichtung angegeben werden kann, keineswegs die konkrete Realisationsform.(75) Jede Entwicklung läßt sicli darstellen als Reihe verschiedener Entwicklungszyklen, deren Verknüpfung durch die Negation des jeweils vorangegangenen Zyklus bestimmt ist.(76) Im Pro/cü der Negation der Negation vollzieht sich die Umwandlung eines Gegensatzes in einen qualitativ neuen, höheren, der entweder potentiell oder faktisch den Grundwiderspruch der früheren Entwicklungsstufe löst. Grundsätzliche Bedingungen und Merkmale dialektischer Negation sind daher zum einen die gesamt-prozessuale Entwicklung der Negation, ferner die unregelmäßige, sprunghafte Entwicklung verschiedener Zyklen sowie der Bezug der Negation auf lediglich eine entwicklungsbestimmende Qualität. Eine Negation der Negation stellt so keinen totalen Bruch innerhalb der Widerspruchsentwicklung dar, sondern bestimmt die spezifische Form des Entwicklungsverhältnisses: „Der reale Entwicklungsprozeß zeigt sich als eine in sich verschlungene Folge von Negation und Negationen der Negationen verschiedenster Qualitäten des untersuchten Objekts oder Prozesses."(77)

Diese Umschreibung beinhaltet die Kontroversen, die bei der Darstellung der Form von Entwicklungsprozessen beim gegenwärtigen Forschungsstand bestehen und deren Lösung noch aussteht, so daß hier lediglich zwei Grundpositionen genannt seien. Während Entwicklungsprozesse - allgemein zu definieren als gerichtete, nicht umkehrbare qualitative Veränderungen - in vielen Arbeiten dargestellt werden als spiralförmige Formen der Höherentwicklung, die einer generalisierenden Ideologischen Komponente nicht entbehren,(78) wird im Gegensatz dazu auch eine Position vertreten, die die relative Selbständigkeit von Prozeßmomenten stärker betont.(79) Hervorgehoben wird hierbei die Einheit von Progreß- und Regreßkriterien im Entwicklungsprozeß, kritisiert wird die Vernachlässigung der konkreten Analyse zugunsten einer von Abweichungen abstrahierenden Entwicklungslinie, stärker beachtet wird die Wechselwirkung von Kontinuität und Diskontinuität in Entwicklungsprozessen, die zu folgender Einschätzung der Negation der Negation führt: „Das Gesetz der Negation der Negation ist ein allgemein notwendiger und wesentlicher Zusammenhang zwischen verschiedenen Seiten und Momenten von sich entwickelnden Objekten und Prozessen, in deren Abfolge eine scheinbare Rückkehr zum Alten, zum Ausgangspunkt auf höherer Stufe erfolgt."(80) Aus dieser Position folgt auch die methodologische Forderung nach einer komplexeren Herangehensweise an die Gesetzmäßigkeiten der sich entwickelnden objektiven Realität und nach einer detaillierten Erfassung von Prozeßstrukturen in ihrer genetischen Entwicklung.

D. DIE KATEGORIEN IM SYSTEM DER > MATERIALISTISCHEN DIALEKTIK

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Dialektik als ein in sich konsistentes System von Prinzipien, Grundgesetzen und miteinander zusammenhängenden Kategorien aufzufassen ist. Die drei Grundgestze der Dialektik bringen in ihrer Einheit das Wesen der dargestellten Dialektikkonzeption zum Ausdruck, charakterisieren in ihrer Gesamtheit die allgemeinsten Grundzüge der gesetzmäßigen Bewegung und Entwicklung der objektiven

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Realität und des Denkens.

Trotz ihrer grundlegenden Bedeutung beinhalten die Grundgesetze natürlich nicht alle Probleme und Aspekte der dialektischen Entwicklungstheorie, so daß sich die Dialektik etwa auf sie reduzieren ließe. Wesentliche Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten, die allen Erscheinungen und Prozessen eigen sind, werden durch die Kategorien der materialistischen Dialektik widergespiegelt. Nur die Einheit von Grundgesetzen und Kategorien bildet eine ausreichende Basis für die Theorie der materialistischen Dialektik insgesamt.

Es kann hier nicht darum gehen, die dialektischen Kategorien, -paare und -tripel, deren wichtigste Wesen-Erscheinung, Einzelnes-Besonderes-Allgemeines, Ursache-Wirkung, Notwendigkeit-Zufall, Möglichkeit-Wirklichkeit, Notwendigkeit-Freiheit sind, inhaltlich aufzuarbeiten. Es soll vielmehr eine kurze Darstellung der Rolle und der Funktion der dialektischen Kategorien im System der materialistischen Dialektik versucht werden, wobei zu berücksichtigen ist, daß die Diskussion über ihre Systematisierung und ihre inhaltlichen Beziehungen zueinander nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann.(81) Dies betrifft auch generell die Stellung der Kategorien innerhalb der Theorie der Dialektik. Weitgehend abgelehnt werden inzwischen theoretische Positionen, die die Kategorien als bloße Explikationen und Ergänzungen der Grundgesetze ansehen. Eine positive Bestimmung ihrer Funktion steht in wesentlichen Fragen allerdings noch aus. Als wichtiger Ansatzpunkt zur Lösung des Problems kann nach Meinung der Verfasser angesehen werden , die Kategorien als Konkretisierungen des allgemeinen dialektischen Widerspruchs zu begreifen und auf dieser Grundlage an ihre Systematisierung heranzugehen.

Die Kategorien der materialistischen Dialektik werden durch zwei Momente wesentlich charakterisiert:

(1) Sie sind keine „A-priori-Kategorien,"(82) sondern Ergebnis der theoretischen Verarbeitung und Verallgemeinerung der historischen Entwicklung, der Ergebnisse der Wissenschaften und der gesamten menschlichen Praxis.

(2) In den Kategorien werden allgemeine Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der objektiven Realität und des Denkens widergespiegelt.

Aus dieser Charakterisierung lassen sich wichtige Schlußfolgerungen ableiten :

1. Die Kategorien umfassen sowohl ontologische als auch gnoseologische Inhalte. Jede Einteilung in ontologische und gnoseologische Kategorien widerspricht sowohl ihrem Wesen als auch dem Prinzip der Einheit von Dialektik, Logik und Erkenntnistheorie.

2. Die Kategorien stellen die allgemeinen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung in logischer Form dar, sie sind durch die Einheit des Logischen und des Historischen gekennzeichnet.

3. Die Kategorien, -paare und -tripel erfassen nur allgemeine, notwendige und wesentliche Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten, Gegenüber einzelwissenschaftlichen Kategorien weisen sie demzufolge einen weit höheren Abstraktionsgrad und größere Resistenz gegenüber neuen Entwicklungen in den Wissenschaften und der gesellschaftlichen Praxis auf.

Diese Charakteristika der Kategorien der materialistischen Dialektik sind konstituierend für ihre besondere Bedeutung, machen ihre methodologische und heuristische Funktion im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß und in der menschlichen Erkenntnistätigkeit überhaupt aus. Sie sind nach den Worten Lenins „Knotenpunkte" im System der Begriffe, durch das sich die Menschen die objektive Welt theoretisch aneignen, entscheidende Stufen im Prozeß des tieferen Eindringens in die wesentlichen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten,

Als schwerwiegendes Problem für die hier skizzierte Funktion der Kategorien erweist sich

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ihr hoher Allgemeinheitsgrad und die damit verbundene Resistenz gegenüber neuen Erkenntnissen der Einzelwissenschaften, was zum Widerspruch zwischen dem Stand der Erkenntnisse überhaupt und ihrer Widerspiegelung in philosophischen Kategorien führen kann. Dieser Widerspruch löst sich nicht allein durch den generellen Charakter der Kategorien als Prozeßkategorien - als Widerspiegelung wesentlicher Entwicklungsgesetze und ihrer allseitigen Verbindung untereinander, ihrer hohen „Elastizität," durch die das System der Kategorien als offenes, sich ständig entwickelndes bestimmt ist. Die Lösung dieses Widerspruchs erfolgt prinzipiell in zwei Formen(83):

i.Der Inhalt bereits existierender Kategorien wird geändert, präzisiert durch die Verarbeitung der neuen Erkenntnisse. Diese Veränderung erfordert gleichzeitig die Überprüfung und Veränderung der Relationen zu den anderen Kategorien des Systems. Die inhaltliche Präzisierung einer Kategorie führt dazu, daß das gesamte System ein höheres Niveau erreicht.

2. Neue Erkenntnisse erfordern die Vervollständigung des kategorialen Apparats durch die Bildung und Aufnahme einer neuen Kategorie.

Beide Wege werfen die Frage nach der genauen Art der philosophischen Verallgemeinerung einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse und Begriffe sowie nach dem spezifischen Abstraktionsprozeß auf, den allgemeine Kategorien der Einzelwissenschaften durchlaufen müssen, um philosophischen Charakter zu gewinnen und in das Kategoriensystem der materialistischen Dialektik eingegliedert werden zu können. Im Zuge der Überbewertung der allgemeinen Systemtheorie, der Kybernetik u.a. wurde der Prozeß der philosophischen Abstraktion ersetzt durch die einfache Übernahme von allgemeinen Begriffen insbesondere der Strukturwissenschaften, wodurch der grundlegende Unterschied zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften vernachlässigt und formalistischen sowie positivistischen Tendenzen Vorschub geleistet wurde.(84) In der Konsequenz wurde dem gesamten Problem zu wenig Beachtung geschenkt, so daß bis heute das Wesen des philosophischen Abstraktionsprozesses nicht endgültig geklärt ist. Nach der Überwindung der genannten Tendenzen wird jetzt in dieser Hinsicht intensivere Forschungsarbeit geleistet. Lösungsvorschläge bewegen sich aber im Augenblick auf einer noch zu allgemeinen Ebene, als daß sie bereits als wirklich konkrete Ergebnisse gelten könnten. Konsens herrscht in der Frage, daß für den „konkreten Prozeß der philosophischen Verallgemeinerung ... das System der Wissenschaften und die Geschichte des menschlichen Denkens als Grundlage herangezogen werden muß" und dieser Prozeß „über eine Vielzahl von Hypothesen und neue Verallgemeinerungen" verläuft.(85)

E. DIE DIALEKTIK ALS THEORIE, METHODE UND METHODOLOGIE DER EINZELWISSENSCHAFTEN

Die Dialektik als Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang, als Lehre von der Bedingtheit und Bestimmtheit aller Dinge sowie ihren Vermittlungen, von ihrer gesetzmäßigen Veränderung und Entwicklung, läßt sich inhaltlich bestimmen als Einheit von Theorie, Methode und Methodologie.(86) Theorie ist sie als Widerspiegelung der objektiven Realität, als System von Prinzipien, Grundgesetzen und Kategorien. Ihr methodischer Aspekt ist davon nicht zu trennen, denn Inhalt und Methode können nicht auseinander gerissen werden. H. Hörz bestimmt daher die dialektische Methode als „Reflexion über die Art und Weise der inneren Selbstbewegung des Inhalts. Sie ist die Art und Weise zur Erforschung der Objekte, um zu exakten Abbildern der objektiven Realität zu kommen."(87) Aus dieser Bestimmung folgt konsequent, daß konkretes Wissen nicht aus den allgemeinen Kategorien der Dialektik deduktiv abgeleitet werden kann, sondern diese sich vielmehr aus der konkreten Analyse des konkreten Gegenstandes, die mit Hilfe des vorgegebenen Kategoriensystems vorgenommen wird, herausbilden, den Gegenstand und seine Beziehungen zu anderen Gegenständen widerspiegeln und nur auf dieser Basis grundlegende methodische Prinzipien für die Erkenntnistätigkeit der Menschen darstellen können. Zusammen mit ihren methodischen und theoretischen Funktionen erfüllt die Dialektik auch die Funktion als Methodologie der Einzelwissenschaften. Diese kommt besonders darin zum Ausdruck, in der Form auf das gesamte System der spezialwissenschaftlichen Methoden anwendbar zu sein, daß sie den Zusammenhang

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zwischen den Methoden, ihre Veränderung und Entwicklung in Abhängigkeit von ihrem Forschungsgegenstand untersucht und allgemeine Anforderungen und Regeln für den Erkenntnisprozeß formuliert, die von den einzel wissenschaftlichen Methoden bei der Untersuchung ihres speziellen Erkenntnisobjekts zu berücksichtigen sind. Die Dialektik als Methodologie ist also wesentlich Methodenkritik und schafft ein System von „Regeln, Vorschriften und Algorithmen für den Erkenntnisprozeß."(88)

Diese Auffassung bestimmt die weitere Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der Dialektik als Methodologie. Ihre Funktion als Methodenkritik, als Bestimmung der Bedeutung und Grenzen der einzelwissenschaftlichen Methoden, d.h. als Theorie des gesamten Systems dieser Methoden, kann sie nur dann ausüben, wenn die Geschichte der Wissenschaften, ihre Klassifizierung(89) und andere Probleme aufgearbeitet werden, die Dialektik also dem Leninschen Anspruch gerecht wird, Theorie der gesamten Entwicklung und der Zusammenhänge aller menschlichen Erkenntnis zu sein. Zum ändern darf man sich nicht damit begnügen, die Dialektik insgesamt pauschal als Methodologie zu begreifen. Sie ist vielmehr die Grundlage für ein System von Regeln für die Struktur der Erkenntnistätigkeit und besonders der wissenschaftlichen Forschung. Aus dieser Darstellung geht hervor, daß die Dialektik als Methodologie nicht „über" den einzelwissenschaftlichen Methoden existiert, sondern nur in enger Gebundenheit an diese ihre Funktion erfüllen kann. Die Herausbildung der allgemeinen methodologischen Grundlagen ist nur in dialektischer Vermitteltheit mit den Entwicklungsprozessen in den Einzelwissenschaften möglich sowie durch die dadurch geleistete Überprüfung an der objektiven Realität und der gesellschaftlichen Praxis. In diesem Sinn muß das Verhältnis zur Dialektik selbst ein dialektisches sein, ihre Prinzipien müssen auf sie selbst angewendet werden.(90)

Die Charakterisierung der Dialektik als Methode der theoretischen Aneignung und praktischen Veränderung der objektiven Realität kann nicht bedeuten, daß die Ausarbeitung eines spezifischen theoretischen Instrumentariums als methodischer Grundlage für die wissenschaftliche Analyse überflüssig wäre. Dies gilt insbesondere für die Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten, der Methode der wissenschaftlich-theoretischen Reproduktion der objektiven Realität. Im folgenden sollen nur einige wichtige Aspekte dieser Methode kurz berührt werden.

Das wissenschaftlich zu analysierende Objekt bzw. konkrete Ganze wird definiert als „dialektische Einheit von Abstraktem und Konkretem, Einheit der Identität und des Unterschiedes aller ... Momente, Seiten, Existenzformen, Formen ihrer Selbstunterscheidung."(91) Dieses konkrete Ganze muß als Ausgangspunkt der Anschauung - in einer auf dieser Stufe der Erkenntnis unbegriffenen und ungegliederten Form - zum dominierenden erkenntnisleitenden Prinzip der theoretischen Reproduktion, der Erforschung seiner abstrakten Seiten und Momente in ihrem genetischen Zusammenhang werden. Dies erkenntnisleitende Prinzip unterscheidet die dialektisch-wissenschaftliche Methode als Teil der dialektischen Logik grundlegend von rein empirischen Verfahrensweisen.(92)

Die Beachtung der für die Erkenntnis entscheidenden Rolle des konkreten Ganzen als Ausgangspunkt, Endpunkt und methodisch-prägendes Prinzip des wissenschaftlichen Prozesses führt notwendig zur dialektisch-einheitlichen Anwendung von Analyse und Synthese im Forschungsprozeß. Die Analyse als Heraussonderung der abstrakten Momente des konkreten Ganzen ist zugleich immer Vollzug ihres eigenen Gegensatzes, der Synthese, da sie die Momente in der durch die objektive Gliederung des Konkreten vorgegebenen Reihenfolge, in ihrem wirklichen genetischen Zusammenhang und auf Grund ihrer objektiven Stellung innerhalb des Ganzen untersucht.(93) In ihrem Vollzug muß sie bis zum Wesen, zum grundlegendsten und einfachsten Verhältnis des Konkreten vorstoßen, das alle anderen Momente und deren Beziehungen durchdringt und daher zum Ausgangspunkt der Synthese, der Rekonstruktion des Konkreten als komplexes System von Momenten, Elementen und ihren dialektisch-widersprüchlichen Beziehungen werden muß. Die Synthese vollzieht sich zugleich als analytisches Fortschreiten von der einfachsten, wesentlichsten Bestimmung zu immer komplizierteren und konkreteren Erscheinungsformen. Analyse und Synthese verschmelzen hier nicht zu einer unterschiedslosen Einheit. Das Fortschreiten vom in der Anschauung gegebenen Ganzen zur Bestimmung seines Wesens ist vorwiegend analytischer Natur, da hier

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notwendigerweise der Aspekt der gesonderten, „isolierten" Erforschung einzelner Momente im Vordergrund stehen muß, während der Wiederaufstieg zur Erscheinungsebene die Rekonstruktion des Gesamtsystems als komplexes Ganzes einander bedingender und ausschließender Momente und Beziehungen zum Ziel und damit vorwiegend synthetisierenden Charakter hat.

Von entscheidender Bedeutung für die Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten ist die Rolle des Widerspruchs. „Die im Prozesse des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten vorzunehmende Reproduktion eines Systems muß ... notwendig Analyse und Entwicklung des Systems der immanenten Widersprüche sein. Nur so können die Übergänge und die Dynamik des Gegenstandes erfaßt werden."(94) Nur auf diese Weise ist gewährleistet, daß die Beziehungen und Übergänge zwischen den einzelnen Momenten des konkreten Ganzen als Bewegungsform ihrer Selbstunterscheidung, als dadurch objektiver und notwendiger Zusammenhang, erkannt werden und der Widerspruch als das bestimmende Prinzip für die Wechselwirkung innerhalb und die Entwicklung des Systems in dessen theoretischwissenschaftliche Reproduktion eingeht.

Diese nur in ihrer Grundstruktur skizzierte Methode ist eindeutig logischer Natur. Die durch sie erreichte theoretische Reproduktion des konkreten Ganzen ist nicht mit dessen wirklicher historischer Entwicklung zu identifizieren. Sie spiegelt einzig und allein die gesetzmäßige Struktur eines Systems wider, die dieses auf einer relativ hohen Stufe seiner Entwicklung herausgebildet hat. Die logische Methode kann nie isoliert von der historischen Methode angewandt werden, denn erst die konkrete Analyse der historischen Genese und Entwicklung eines Systems mit all ihren zufälligen Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen ermöglicht die Erkenntnis der darin sich durchsetzenden Gesetzmäßigkeiten. Die Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten analysiert die allgemeinsten dialektischen Gesetze der Reproduktion der Realität im Denken. Sie erhebt nicht den Anspruch, direkt auf besondere Problemstellungen anwendbar zu sein und dadurch etwa einzelwissenschaftliche Methoden zu ersetzen.

Die in diesem Artikel beschriebenen allgemeinsten Grundzüge der Theorie der Dialektik, wie sie sich heute in der UdSSR und DDR darstellt, erwecken durch ihren hohen Abstraktionsgrad allzuleicht den Schein einer Einhelligkeit von Positionen, der jedoch selbst bei den aufgezeigten allgemeinsten Theoremen näherer Betrachtung nicht standhält. Berücksichtigt man ferner, daß die dargestellten Bemühungen um Dialektik als philosophisch-weltanschauliches Resultat der Verallgemeinerung einzelwissenschaftlicher Ergebnisse zu bewerten sind - was umgekehrt ihre notwendige Verifizierung im konkreten Prozeß gesellschaftlicher Praxis erfordert -, so wird klar, daß auch ein Benennen grundsätzlicher Positionen nicht isoliert vom realen Prozeß gesellschaftlicher Entwicklung in den sozialistischen Ländern gesehen werden darf. Insofern bleibt der gebotene Überblick notwendig unvollständig. Als Bestandsaufnahme allerdings spiegelt er nach Meinung der Verfasser sowohl Probleme der gegenwärtigen Forschung als auch die weltanschauliche Gebundenheit dieser Theorie der Dialektik wider. Vor allem aber zeigt er an, in welchem Maße die jetzige Konzeption sowohl der Entwicklung bedarf als auch entwicklungsfähig ist.

ANMERKUNGEN

1) Als repräsentativ für diese Positionen mögen gelten: Adorno, Negative Dialektik. Marcuse, Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Negt, „Marxismus als Legitimationswissenschaft," in: Deborin/Bucharin, Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus. Lecourt, Proletarische Wissenschaft? Der „Fall Lyssenko" und der Lyssenkismus und darin Althusser, „Geschichte beendet, endlose Geschichte," S. 7-18. Mao Tsetung, Fünf philosophische Monographien.

2)Diese Position wird vor allem vertreten von der „Frankfurter Schule" und der „Praxis-Gruppe."

3) Darstellung der wirklichen Konzeption der Widerspiegelungstheorie in den

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sozialistischen Ländern auf S. 247 f dieser Arbeit.

4) Zur maoistischen Konzeption der Widersprüche beachte vor allem Mao Tsetung, Fünf philosophische Monographien.

5) Zur kontroversen Diskussion über die Rolle der Widersprüche im Sozialismus vgl. S. 253-258 dieser Arbeit.

6) Bogomolow, „Probleme der materialistischen Dialektik in der Philosophie der DDR," in Klein/Richter/Wrona (Hrsg.), Marxistisch-leninistische Philosophie in der DDR. Resultate/Standpunkte/Ziele, S. 239.

7) Klimaszewsky (Hrsg.), Weltanschauliche und methodologische Probleme der materialistischen Dialektik,S. 13-14.

8) Hahn (Red.), Grundlagen des historischen Materialismus, S. 695.

9) a.a.O., S. 696.

10) Unter „in sich geschlossen" wird die organische Verbundenheit aller Teile des Systems und seine hohe Konsistenz verstanden. Keineswegs etwa ist mit diesem Begriff Abgeschlossenheit oder Losgelöstheit von Prozessen der objektiven Realität intendiert.

11) Klimaszewsky (Hrsg.), Probleme, S. 70.

12) a.a.O., 8.46.

13) Bartsch/KIimaszewsky, Materialistische Dialektik. Ihre Grundgesetze und Kategorien, S. 28.

14) Diese Kritik wird von der „Frankfurter Schule" und besonders von der „Praxis-Gruppe" gegen die Widerspiegelungstheorie gerichtet.

15) Klimaszewsky (Hrsg.), Probleme, S. 49.

16 Gößler, Erkennen als sozialer Prozeß, S. 64.

17) Ebenda.

18) Rochhausen/IIgenfritz, „Schöpfertum" als Form der Widerspiegelung, S. 267.

19) Pawlow, Die Widerspiegelungsthcorie. Grundfragen der dialektisch-materialistischen Erkenntnistheorie,S. 189.

20) Hahn, Theoretische Probleme der marxistischen Soziologie, S. 135.

21) Stiehler, Dialektik und Praxis, S. 317.

22) Kursanow, Definition und Struktur der Wahrheit, S. 103.

23) Lenin, „Philosophische Hefte," Werke, vol. 38, S. 316.

24) a.a.O., S. 343.

25) Kopnin, Das Zusammenfallen von Dialektik, Logik und Erkenntnistheorie.

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26) a.a.O., S. 232.

27) Kumpf, Probleme der Dialektik in Lenins Imperialismus-Analyse. Eine Studie zur dialektischen Logik. Narski, Dialektischer Widerspruch und Erkenntnislogik.

28) Kumpf, Probleme der Dialektik, S. 16.

29) So gilt z.B. das Gesetz der dialektischen Einheit von Analyse und Synthese nur innerhalb der dialektischen Logik.

30) So in Klaus/Buhr (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, S. 656.

31) Vor allem ist zu beachten Kumpf, Probleme der Dialektik.

32) Hörz, Dialektischer Determinismus und allgemeine Systemtheorie, S. 656.

33) Bekanntlich hat F. Engels in der „Dialektik der Natur" den Ansatz für die Ausarbeitung der drei Grundgesetze als Gerüst der dialektisch-materialistischen Entwicklungstheorie gegeben. Die Aufnahme und Weiterentwicklung dieser Konzeption impliziert die kritische Analyse der von G.W.F. Hegel vornehmlich in der „Wissenschaft der Logik" vorgenommenen Bestimmungen der dialektischen Methode, wie sie ausführlich durchgeführt wird z.B. in Rosental (Red.), Geschichte der marxistischen Dialektik, Von der Entstehung des Marxismus bis zur Leninschen Etappe und in Stiehler, Der Idealismus von Kant bis Hegel, Darstellung und Kritik. Als weitere Arbeiten zur Thematik des „theoretischen Erbes" seien genannt Buhr/Irrlitz, Der Anspruch der Vernunft, Die klassische deutsche Philosophie als theoretische Quelle des Marxismus und Kracht/Schneider, Ideen zur Entwicklungsdialektik in Hegels „ Wissenschaft der Logik."

34) Bartsch/Klimaszewsky, Materialistische Dialektik, S. 77.

35) Zur Weiterentwicklung des Gesetzesbegriffs, auf die hier nicht eingegangen werden kann, der Theorie der gesellschaftlichen und der statistischen Gesetze gibt einen kurzen Überblick Hörz, Objektive gesellschaftliche Gesetze und Subjekt-Objekt-Dialektik.

36) Bartsch/Klimaszewsky, Materialistische Dialektik, S. 74.

37) Klimaszewsky (Hrsg.), Probleme, S. 88.

38) a.a.O., S. 87-99.

39) a.a.O., S. 162. ;

40) Stiehler, Der dialektische Widerspruch. Formen und Funktionen, S. 40.

41) Kumpf, Probleme der Dialektik, S. 135.

42) Bartsch/Klimaszewsky, Materialistische Dialektik, S. 108.

43) Stiehler, Widerspruch, S. 28.

44) a.a.O., S. 85.

45) Rosental (Red.), Geschichte, S. 170.

46) a.a.O., S. 164-165.

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47) a.a.O., S. 165.

48) Bartsch/Klimaszewsky, Materialistische Dialektik, S. 119.

49) Stiehler, Widerspruch, S. 93.

50) Dies besagt jedoch nicht, daß alle Entwicklungswidersprüche in Klassengesellschaften antagonistisch sind, wenn sich auch Antagonismen in allen Sphären gesellschaftlichen Lebens finden. Unabdingbares Kriterium des Antagonismus ist seine Abgeleitetheit vom ökonomischen Grundwiderspruch der jeweiligen Gesellschaftsformation.

51) Als Auswahl möge gelten: Bartsch/Klimaszewsky, Materialistische Dialektik, S. 122-141. Fedossejew, Kommunismus und Philosophie. Kursanow (Red.), Geschichte der marxistischen Dialektik. Die Leninsche Etappe, S. 252-303.

52) Kursanow (Red.), Geschichte, S. 155-160.

53) Kurze Darstellungen der Geschichte dieser Fehlentwicklungen sind zu finden in Klimaszewsky (Hrsg.), Probleme, S. 162-174 und Kursanow (Red.), Geschichte, S. 255-280.

54) Schröder/Welskopf, Aspekte der Dialektik von sozialer Einheitlichkeit und Differenziert heil in der sozialistischen Gesellschaft, S. 1069.

55) Eichhorn H/Stiehler, Quelle des Fortschritts. Gleserman, Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklung im Sozialismus. Gleserman/Nagy u.a., Dialektik des Fortschritts. Unabdingbarer Wesenszux des Sozialismus. Inoscmzew, über den Charakter der Widersprüche in unserer Epoche. Namsarai, Zur Frage der Widerspräche im Sozialismus. Wirth, Eine zweieinige Aufgabe.

56) Gleserman/Nagy u.a., Dialektik, S. 452.

57) a.a.O., S. 453 und Gleserman, Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklung, S. 382-388.

58) Schwarz, Zur Differenziertheit des Lösungsprozesses gesellschaftlicher Widersprüche, S. 31-

59) Zur Frage der Widersprüche beim Aufbau des Sozialismus und innerhalb seiner entwickelten Phase in der DDR beachte vor allem Diehl (Hrsg.), Klassenkampf, Tradition, Sozialismus, S. 577-794.

60) Gleserman/Nagy u.a., Dialektik, S. 457.

61) Wirth, Eine zweieinige Aufgabe, S. 205.

62) Stiehler, Gesellschaft und Geschichte. Zu den Grundlagen der sozialen Entwicklung, S. 296.

63) Zu diesem Problem sind zu beachten Klimaszewsky (Hrsg.), Probleme, S. 163-190 und Schulze, Widersprüche als Quelle der Dynamik des Sozialismus. Erste Ansätze zur Klassifizierung der Widersprüche nach ihren verschiedenen Lösungsformen finden sich bei Schwarz, Zur Differenziertheit.

64) Bartsch/Klimaszewsky, Materialistische Dialektik, S. 168.

65) Stiehler, Widerspruch, S. 58-60.

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66) Bartsch/Klimaszewsky, Materialistische Dialektik, S. 175.

67) Dies besagt, daß Quantitäten als für den jeweiligen Analysegegenstandcharakteristische Größen, als Parameter, aufgefaßt werden. Quantitative Bestimmtheiten wirken nicht absolut, sondern funktional als Elemente im jeweiligen Systemzusammenhang und bedingen dessen strukturellen Aufbau mit.

68) Die erkenntnistheoretische Funktion des Maßbegriffs, wie sie im folgenden dargelegt wird, stellt nach Meinung d. Verf. den bisher gelungensten Versuch einer Theorie des Maßes auf materialistischer Grundlage dar. Eine philosophiegeschichtliche Aufarbeitung des Maßbegriffs bei Hegel bzw. bei Marx, Engels und Lenin war im Rahmen dieser Darstellung nicht möglich.

69) Rosental (Red.), Geschichte, S. 157.

70) Bartsch/Klimaszewsky, Materialistische Dialektik, S. 181-187.

71) Rosental (Red.), Geschichte, S. 183.

72) Klimaszewsky (Hrsg.), Probleme, S. 144.

73) Rosental (Red.), Geschichte, S. 205.

74) Einschränkend sei bemerkt, daß das hier aufgezeigte Zusammenwirken der dialektischen Grundgesetze keineswegs als unumstrittene Position angesehen werden darf. Gegenpositionen finden sich z.B. in Kosing (Red.), Marxistische Philosophie, Lehrbuch, S. 42. Die dort zum Ausdruck kommende Überbetonung systemtheoretischer Ansätze können beim heutigen Forschungsstand zwar als überholt, nicht aber als bereits völlig überwunden angesehen werden.

75) Klimaszewsky (Hrsg.), Probleme, S. 92-93.

76) Rosental (Red.), Geschichte, S. 194.

77) Klimaszewsky (Hrsg.), Probleme, S. 148.

78) So in Kursanow (Red.), Geschichte, S. 292-295. Pawelzig, Dialektik der Entwicklung objektiver Systeme, S. 89-90. Gropp, Grundlagen des dialektischen Materialismus, S. 90-93.

79) So in Klimaszewsky (Hrsg.), Probleme, S. 116-136.

80) Klimaszewsky (Hrsg.), Probleme, S. 142.

81) Zu den verschiedenen Ansätzen der Systematisierung der Kategorien beachte Kursanow (Red.), Geschichte, S. 307-309.

82) Klimaszewsky (Hrsg.), Probleme, S. 27. Dies schließt allerdings ein, daß dem Erkenntnisprozeß das System der Kategorien als erkenntnisleitendes Prinzip vorgegeben ist.

83) Klimaszewsky (Hrsg.), Probleme, S. 35.

84) Diese Tendenzen kommen vor allem zum Ausdruck in Kosing (Red.), Marxistische Philosophie und in Ansätzen bei Klaus/Buhr (Hrsg.), Philosophische Wörterbuch.

85) Klimaszewsky (Hrsg.), Probleme, S. 40.

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86) Hörz, Marxistische Philosophie und Naturwissenschaften, S. 333.

87) Hörz, Marxistische Philosophie, S. 333.

88) Kursanow, (Red.), Geschichte, S. 398.

89) Zu diesem Problemkreis sind vor allem zu beachten Kedrow, Klassifizierung der Wissenschaften, 2 vol. und Rochhausen, Die Klassifikation der Wissenschaften als philosophisches Problem.

90) Hörz, Marxistische Philosophie, S. 351. Zur Überprüfung und Entwicklung philosophischer Kategorien an Ergebnissen der Wissenschaften s. z.B. Wollgast/Teinz (Hrsg.), Dialektik in der modernen Naturwissenschaft, Materialien der II. Allunionskonferenz zu philosophischen Fragender Naturwissenschaft Moskau 1970.

91) Rosental (Red.), Geschichte, S. 215.

92) a.a.O., S. 230.

93) Pröhl, Das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten, S. 436. " '

94) Kumpf, Probleme der Dialektik, S. 135.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 11. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 242-271

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MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIKBEITRÁGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von HEINZ KIMMERLE

10/07

trendonlinezeitung

KAPITEL XII

LOUIS ALTHUSSERTheo Brackmann, Steffen Kratz, Beate Verhörst

Zur Kapitelübersicht

A. ALTHUSSERS PROBLEMSTELLUNG: SITUIERUNG SEINER SCHRIFTEN IN IHREM POLITISCH-THEORETISCHEN KONTEXT (1965 FF.)

Ansatz und Intention der Althusserschen Innovation innerhalb der neueren marxistischen Theoriebildung können bei einer ausschließlichen Beschränkung auf seine Dialektikkonzeption nur um den Preis einer entscheidenden Verkürzung seines Denkens

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rezipiert werden. Ohne den Anspruch erheben zu wollen, Althussers Philosophieren hier in seinen Inhalten, seiner Entwicklung und Stoßrichtung darzustellen,(1) soll vor der eigentlichen Diskussion seiner Dialektikkonzeption doch versucht werden, durch eine knappe Skizzierung einiger zentraler Problemstellungen und Resultate seine Schriften zumindest ansatzweise in ihrem politisch-theoretischen Kontext zu situieren.

Althusser versteht seine Texte als Untersuchungen über „die spezitische Natur der Prinzipien der von Marx begründeten Wissenschaft und Philosophie,"(2) betont aber, daß sie „gleichzeitig Eingriffe in eine bestimmte Lage,"(3) eine theoretische, ideologische und politische Konjunktur(4) darstellen mit dem Ziel, eine „Demarkationslinie zu ziehen zwischen der marxistischen Theorie einerseits und den dem Marxismus fremden ideologischen Tendenzen"(5) in ihren verschiedenen Varianten wie Ökonomismus und Humanismus.

Neben der spezifischen Situation in der KPF, deren Mitglied er seit 1948 ist, sieht Althusser diese Konjunktur vor allem bestimmt durch die Krise der kommunistischen Weltbewegung, die Ereignisse des Pariser Mai 1968 sowie die unter dem Namen „Kritik des Personenkults" seit 1956 begonnene zaghafte Entstalinisierung, wobei die ideologischen Folgen des Stalinismus imm.er noch fortbestehen in einer „Version des Dialektischen Materialismus, die den Materialismus in eine Ontologie der Materie verwandelt, deren ,Gesetze' die Dialektik formulieren würde,"(6) um den Preis einer Stillegung des kritisch-schöpferischen und revolutionären Potentials des Materialismus sowie der Dialektik, der „Herabstufung der Philosophie zur praktischen Ideologie, die die politische Ideologie der Partei verdoppelt, indem sie ihr die Garantie dialektischer .Gesetze' liefert."(7)

Neben diesem Mißbrauch der Dialektik zur Verklärung des Bestehenden, der die wirklich marxistische Analyse der Fehler und Abweichungen innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung verhindert und sie damit letzlich perpetuiert, erblickt Althusscr im Gefolge der halbherzigen Liberalisierung nach dem 20. und 22. Parteitag der KPdSU m der marxistischen Theoriebildung eine Tendenz zu einer sich auf die Marxschen Frühschriften stützenden kleinbürgerlichen Interpretation der Marxschen Werke, die er mit dem Begriff „theoretischer Humanismus" bezeichnet.(8)

Diese theoretisch-ideologische Konjunktur führt Althusser zu einer gründlichen Neulektüre der Marxschen Schriften (wie auch derjenigen von Lenin und Mao), deren Ergebnisse zunächst vor allem in „Das Kapital lesen" protokolliert wurden.(9) Dabei wendet er sich gegen eine (letztlich hegelianisch inspirierte) analytisch-ideologische Lektürekonzeption, die die Schriften des reifen Marx durch die Brille der Frühschriften liest bzw. umgekehrt oder aber die innere Einheit eines Textes dadurch zerstört, daß sie danach trachtet, in eklektischer Manier (noch) idealistische und (schon)materialistische Elemente auseinanderzudividieren.(10) Demgegenüber fordert und praktiziert Althusser eine „symptomatische Lektüre,"(11) die die interne Problematik herausarbeitet, die den jeweiligen Diskurs strukturiert. Dazu aber reicht eine buchstabengetreue Interpretation nicht aus, Aufgabe einer solchen Lektüre ist es vielmehr, auch die Leerstellen eines Diskurses aufzuspüren, d.h. seine nicht unmittelbar zugängliche Tiefenstruktur zu rekonstruieren. Das was Marx etwa im „Kapital" praktizierte, aber selbst noch nicht zu denken in der Lage war bzw. nur metaphorisch ausdrücken konnte, gilt es also auf die Ebene rigoroser wissenschaftlicher Begrifflichkeit zu heben.

Eine zentrale Frage in diesem Forschungszusammenhang ist das Problem, worin die Spezifika der Marxschen Dialektik bestehen und wie sie sich im Unterschied zur Hegelschen definiert. Althusser geht davon aus, daß Marx' explizite Äußerungen zu seiner Dialektik und seinem Verhältnis zu Hegel im wesentlichen so pauschal und metaphorisch sind (z.B. das berühmte Diktum: „Sie steht bei ihm auf dem Kopf, man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern Inder mystischen Hülle zu entdecken"),(12) daß die wissenschaftliche Klärung des Marxschen Dialektik-Begriffes immer noch als Desiderat aussteht,(13) zumal die Forschung nach Marx sich im wesentlichen entweder in der Kommentierung seiner spärlichen Äußerungen erschöpft hat oder aber versuchte, die Marxsche Dialektik unbesehen mit Hilfe der Kategorien der Hegelschen „Wissenschaft der Logik" zu bestimmen, ohne die Gefahr zu reflektieren, daß damit die spezifische

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Problematik Hegels in den Marxismus eingeschmuggelt wird.

Bei der Beantwortung der Frage „Worin besteht die .Umstülpung' der Hegelschen Dialektik durch Marx? Welches ist der spezifische Unterschied, der die marxistische Dialektik von der Hegelschen unterscheidet?,"(14) geht Althusser davon aus, daß ihre Lösung in praktischer Form schon vorliegt, einerseits im „Kapital" und anderen theoretischen Werken des Marxismus, andererseits in der Geschichte und den Erfahrungen der internationalen Arbeiterbewegung und den theoretischen Reflexionen darüber. Es handelt sich also nur darum, die „theoretische Formulierung einer in der Praxis existierenden Lösung" zu leisten,(15) „d.h. von dem, was in der Mehrzahl der .berühmten Zitate' praktische Anerkennung einer Existenz ist, zu ihrer theoretischen Erkenntnis fortzuschreiten."(16)

Dabei zeigt sich, daß es, wenn man nicht in vordialektische Fragestellungen zurückfallen will, unmöglich ist wie in Anschluß an bestimmte Äußerungen von Engels(17) behauptet worden ist - das spekulative „System" Hegels von der revolutionären „Methode" zu trennen, denn es ist „unvorstellbar ..., daß die Hegel sche Ideologie nicht das Wesen der Dialektik bei Hegel selbst angesteckt haben sollte."(18) Wenn Marx von der „mystischen Hülle" der Hegelschcn Dialektik spricht, so meint er damit letztlich nichts anderes „als die mystifizierte Form der Dialektik selbst."(19) Es kann sich also nicht darum handeln, den „rationellen Kern" der Hegelschen Dialektik aus ihrer „mystischen Hülle" durch eine schmerzlose Operation herauszuschälen, gefordert ist vielmehr eine „Entmystifizierung," d.h. „ein Eingriff, der das, was er extrahiert, verändert."(20) Damit ist das Problem klar formuliert: „Wenn die marxistische Dialektik ,in ihrer Grundlage' selbst der Gegensatz der Hegelschen Dialektik ist, wenn sie rationell und nicht mystisch-mystifiziert-mystifizierend ist, (dann muß) dieser radikale Unterschied sich in ihrem Wesen, d.h. in ihren eigenen Bestimmungen und Strukturen offenbaren."(21)

Vor der detaillierten Analyse der Strukturunterschiede der Hegelschen und Marxschen Dialektik sollen abschließend noch einige kurze Bemerkungen zur theoretischen Wirkung und Rezeption der Schriften Althussers gemacht werden. Die umfangreichen Diskussionen, die Althussers Beiträge zur Dialektik, zum Historischen Materialismus, zum Ideologieproblem und zur Neubestimmung des marxistischen Philosophiebegriffs in Frankreich ausgelöst haben, können hier nicht referiert werden. Es sei nur daraufhingewiesen, daß seine Forschungen bei seinen Mitarbeitern und von ihm beeinflußten Autoren zu fruchtbaren Ansätzen auf verschiedenen Gebieten der marxistischen Theorie geführt haben. Historischer Materialismus (E. Balibar); Epistemologie (D. Lecourt, M. Fichant); Ideologietheorie (M. Pecheux); Politische Theorie (N. Poulantzas); Sprach- und Literaturwissenschaft (P. Macherey, E. Balibar); Verhältnis von Marxismus und Psychoanalyse (M.Tort)u.v.a.m.

Zur deutschen Situation ist zu sagen, daß eine adäquate Althusser-Rezeption immer noch aussteht, obwohl seine Schriften inzwischen fast vollständig übersetzt wurden.(22) „Die Thesen Althussers, die Analysen, in denen sie entwickelt, und die Begriffe, in denen sie gedacht werden, kollidieren ganz offenbar mit zu vielen ideologischen .Evidenzen,' die für das Selbstverständnis vieler Marxisten immer noch konstitutiv sind, als daß sie ohne nachhaltige Verunsicherung aufgenommen werden können."(23) Die bisher erschienenen Beiträge zu Althusser zeichnen sich vor allem durch Polemik (z.B. Das Argument 94. Antworten auf Althusser) und das Operieren mit einem pauschalen Strukturalismus-Vorwurf (24) (Jaeggi, Schmidt) aus. Da sie sich hauptsächlich mit Althussers Rekonstruktion des Historischen Materialismus beschäftigen bzw. seine Erkenntnis- und Philosophiekonzeption thematisieren, das eigentliche Thema dieses Artikels - sein Dialektikmodell -aber weitgehend ausgeklammert bleibt, muß ein summarischer Hinweis auf einige bisher erschienene Titel an dieser Stelle ausreichen.(25)

B. KONFRONTATION HEGEL-MARX

1. Die Struktur der Hegelschen Dialektik

Althusser gewinnt seinen Begriff der Marxschen Dialektik einerseits und der Hegelschen Dialektik andererseits durch eine permanente Konfrontation beider Standpunkte. Dies ist für Althusser keine beliebige Vorgehensweise, sondern Ausdruck seines

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Philosophieverständnisses. Philosophie, die in letzter Instanz „Klassenkampf in der Theorie"(26) ist, existiert nur durch ihre „konfliktuelle Differenz"(27) zu anderen Positionen. Sie definiert sich nicht aus sich selbst heraus, sondern nur über den „Umweg" anderer Positionen, durch Abgrenzung, durch das Ziehen von Demarkationslinien. Um das Verständnis zu erleichtern, soll hier jedoch erst die Struktur der Hegelschen Dialektik und dann die der Marxschen Dialektik dargestellt werden, um in einem letzten Abschnitt zur Frage des Hegelschen Erbes überzugehen.

Die Darstellung der Hegelschen Dialektik soll mit der vorläufigen Analyse von drei Beispielen aus Hegels „Phänomenologie des Geistes," der „Philosophie der Geschichte" und der „Rechtsphilosophie" begonnen werden.

Die „Phänomenologie" beschreibt die Erfahrungen des Bewußtseins, das durch die Aufhebung seiner früheren Gestalten immer reicher wird, bis es schließlich in das absolute Wissen einmündet. Die Widersprüche im Entwicklungsprozeß des Bewußtseins scheinen zunächst durchaus komplex zu sein, doch erweist sich diese Komplexität letztlich als die einer „kumulativen Verinnerlichung,(28) denn während des ganzen Durchganges durch seine verschiedenen Gestalten und die ihnen latent entsprechenden Welten stellt das Bewußtsein, das strukturell immer die gleiche Erfahrung macht, immer nur sein eigenes Wesen unter Beweis. Die auf jeder Stufe aufgehobenen Gestalten und Welten berühren das gegenwärtige Bewußtsein nicht als effektive, von ihm real unterschiedene Bestimmungen, sie sind nur Erinnerungen dessen, was es geworden ist. Die Vergangenheit existiert prinzipiell nur in der Modalität der Erinnerung, Anspielung oder Antizipation. „Weil die Vergangenheit immer nur das innere Wesen (an sich) der Zukunft ist, die sie einschließt, ist diese Anwesenheit der Vergangenheit das sich selbst gegenwärtige Bewußtsein, und keine echte, außer ihm liegende Bestimmung. Als Kreis der Kreise hat das Bewußtsein nur ein Zentrum, das allein es determiniert."(29). Eine echte Komplexität läge aber nur vor, wenn es außerhalb des Bewußtseins andere Kreise mit anderen Zentren gäbe, die es real determinierten.

Dies wird noch klarer in der „Philosophie der Geschichte." Jede historische Epoche wird hier durch eine Vielzahl von Bestimmungen konstituiert (Ökonomie, Politik, Justiz, Sitten, Religion, Künste, Philosophie etc.), allerdings reflektiert sich „diese Totalität ... in einem einzigen inneren Prinzip ..., das die Wahrheit aller dieser konkreten Bestimmungen ist."(30) Die römische Welt ist z.B. in all ihrer empirischen Mannigfaltigkeit nur die Manifestation des einfachen inneren Prinzips der abstrakten juristischen Persönlichkeit; so kann auch der diesem Prinzip innewohnende Widerspruch nur ein einfacher sein. Sein bewußter Ausdruck ist das stoische Bewußtsein, „das wohl auf die konkrete Welt der Subjektivität zielt, sie aber verfehlt."(31) Dieser Widerspruch hebt das römische Reich zugunsten seiner Zukunft, des mittelalterlichen Christentums, auf.

Betrachten wir noch das Feld der Sittlichkeit, wie es in der „Rechtsphilosophie" thematisiert wird. Die bürgerliche Gesellschaft ist hier wesentlich durch den Widerspruch definiert, denn sie ist die Sphäre der Einzelbedürfnisse, wodurch es notwendig zu widersprüchlichen Beziehungen und zum Kampf zwischen den Einzelnen (den durch ihre Bedürfnisse Vereinzelten) kommen muß. Nun sind diese Widersprüche aber im Staat als ihrer höheren Einheit aufgehoben, ja die sich in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft widersprechenden Elemente sind nichts anders als die notwendigen Erscheinungsformen der Momente ihrer gegebenen Einheit, des Staates, der somit ihr Wesen darstellt.

Diese drei Beispiele sollten zeigen, daß bei Hegel zwar auf den ersten Blick immer eine Fülle von konkreten Bestimmungen und Widersprüchen vorliegt, die aber nie eine wirkliche Komplexität bilden, weil sie immer wieder zurückgeführt werden auf ein einziges Zentrum, ein einfaches inneres Prinzip, eine Einheit, die als „Wahrheit von ...," als Wesen der äußeren Erscheinungen funktioniert.

Wenn man berücksichtigt, daß dieses einfache Prinzip, auf das alle konkreten Realitäten reduziert werden, bei Hegel immer ein geistiges ist, letztlich das Selbstbewußtsein, die Ideologie einer Epoche, wird deutlich, wie sich Idealismus und Strukturen der Dialektik bei Hegel verschränken. Nur so ist es möglich, daß Hegel die gesamte Weltgeschichte als

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kontinuierlichen Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit durchkonstruieren kann.

Für Althusser ist nun der entscheidende Punkt der Zusammenhang zwischen dem einfachen inneren Prinzip und dem einfachen Widerspruch. Auf der Grundlage eines einfachen inneren Prinzips (Einheit) läßt sich der Widerspruch nämlich nur als einfacher fassen, oder: daß der Widerspruch, der auch bei Hegel das entscheidende weil bewegende Element der Dialektik bildet, ausschließlich als einfacher auftritt, wird erst dadurch möglich, daß Hegel von einer einfachen Einheit ausgeht.

Nachdem die zentralen Kategorien des einfachen und einheitlichen inneren Prinzips und des darauf basierenden einfachen Widerspruchs gewonnen sind, läßt sich das Grundmodell der Hegelschen Dialektik konzipieren. Es erweist sich als das Modell eines „einfachen Prozesses mit zwei Gegensätzen." Hegel geht aus von einer ursprünglichen Einheit, die sich in zwei widersprechende Teile, die die Momente der Einheit bilden, trennt. In dieser ihrer Entfremdung bleibt die Einheit aber trotzdem sie selbst, sie ist gewissermaßen die Einheit in zerrissenem Zustand. Schließlich hebt sie diese ihre Entfremdung (Negation) wieder auf, kehrt zur ursprünglichen Einheit zurück, die jedoch eine Einheit höherer Ordnung ist, bereichert durch ihre Negation, ihre Entwicklung durch die Negativität hindurch. Man sieht, wie . dieses Modell der Trias von An-sich, Für-sich und An-und-für-sich folgt und wie die entscheidenden dialektischen Begriffe Hegels eine organische Einheit mit dieser Trias bilden: Ursprung, Einfachheit (Stufe des An-sich); Spaltung, Negation, Entfremdung (Stufe des Für-sich); Negation der Negation, Aufhebung, Versöhnung, Totalität (Stufe des An-und-für-sich).

Althusser faßt diesen Prozeß folgendermaßen zusammen: „Die Hegelsche Dialektik ist ganz und gar da: d.h. vollständig festgemacht an dieser radikalen Voraussetzung einer einfachen ursprünglichen Einheit, die sich durch die Kraft der Negativität in sich selbst entwickelt und die in ihrer ganzen Entwicklung jedesmal in einer .konkreteren' Totalität immer nur diese ursprüngliche Einheit und Einfachheit wiederherstellt."(32)

In diesem Zitat tauchen die Begriffe der Selbstentwicklung und der Totalität auf, die noch der Erklärung bedürfen. Zunächst aber sei gesagt, daß der organische Zusammenhang der dialektischen Begriffe bei Hegel mit dem vorausgesetzten Gedanken einer ursprünglichen Einheit eben auch bedeutet, daß jede Dialektikkonzeption, die sich dieser Begriffe bedient, letztlich die Vorstellung einer Einheit, ihrer Zerrissenheit (Entfremdung) und ihrer schließlichen Wiederherstellung produzieren muß.

Die Kategorie der Totalität taucht auf der Stufe des An-und-für-sich auf, sie wird aber bei Hegel verstanden als der gesamte Prozeß vom An-sich zum An-und-für-sich, sie ist „die entfremdete Entwicklung einer einfachen Einheit, eines einfachen Prinzips, das selbst ein Moment der Entwicklung der Idee ist: Sie ist also, streng genommen, die Erscheinung, die Selbstmanifestation dieses einfachen Prinzips, das in allen seinen Manifestationen fortbesteht, also selbst in der Entfremdung, die seine Wiederherstellung vorbereitet."(33)

Die Totalität ist so bestimmt als der Gesamtprozeß, der die Bestimmungen eben jener Totalität entfaltet. Jene Bestimmungen sind ihr anfängliches Setzen oder die Behauptung, ihre Entwicklung oder ihre Negation und ihre schließliche Rückkehr in den Anfang, in die Einheit durch die Negation der Negation. Erst das prozeßhafte Ganze der drei Momente bildet die Totalität, und wenn Hegel das Ganze als das Wahre faßt, so kann man auch verstehen, in welcher Weise die Totalität als die Wahrheit ihrer Bestimmungen (Momente) gilt. Deren „Wahrheit" dagegen ist nur eine unentwickelte, in Bezug auf die Totalität eine „Unwahrheit."

Hier wird ersichtlich, daß Hegels Totalitätskonzeption die einer expressiven Totalität ist, in der jede konkrete Bestimmung als Ausdruck der Totalität füngiert und eine partielle Realisierung ihres Wesens darstellt. Diese nach Althusser von Leibniz entlehnte Vorstellung der pars totalis macht jede Erscheinung zur Manifestation des Wesens der Totalität, ohne jedoch mit ihr zusammenzufallen. Der Widerspruch hat nur die Funktion, die Totalität zu entwickeln durch die Explizierung eines einfachen Prinzips, er ist nur Mittel der Selbstspaltung und -entwicklung einer einfachen ursprünglichen Einheit. Der Gesamtprozeß der Totalität oder die Selbstentwicklung der Totalität als Prozeß macht auch

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die Figur des Kreises in der Hegelschen Philosophie verständlich. Die Totalität ist nämlich zum einen an keiner Stelle einer effektiven Veränderung unterworfen, ist immer nur der Entfaltungsprozcß eines einfachen Prinzips, das lediglich in verschiedener Form (etwa im entfremdeten Zustand) erscheint, zum anderen aber ist das Prozeßende die Rückkehr in den Anfang. Der Prozeß, die Hegelsche Totalität, hat Kreisform, genauer: sie ist ein Kreis von Kreisen, wenn man die verschiedenen Ebenen der Hegelschen Philosophie in Betracht zieht.

Die griechische Welt hat ebenso wie die römische und christlich-germanische Welt in ihrer Totalität Kreisform, und die Weltgeschichte insgesamt, die alle diese Welten in sich begreift, hat wiederum Kreisform, sie ist der Kreis dieser Kreise, Kreis von Kreisen. Geht man auf die Ebene des Gesamtsystems, d.h. der „Enzyklopädie," wo die Weltgeschichte selbst lediglich ein Moment ist, das den Übergang vom objektiven zum absoluten Geist bewerkstelligt, so hat auch dieses insgesamt Kreisform, ist Kreis von Kreisen (Logik, Naturphilosophie, Geistesphilosophie).

Betrachtet man die Dialektik, die diesen Prozeß als Kreis entstehen läßt, so ist sie wesentlich eine Dialektik der Negativität, ihre Schlüsselbegriffe sind die der Negation und der Negation der Negation, die es erst ermöglichen, die Hegelsche Totalität in ihrer Selbstentwicklung als Prozeß darzustellen. „Die Negativität kann jedoch das bewegende Prinzip der Dialektik, die Negation der Negation, nur als die rigorose Reflexion der Hegelschen theoretischen Voraussetzungen der Einfachheit und des Ursprungs enthalten. Die Dialektik ist Negativität als Abstraktion der Negation der Negation,"(34) die ihrerseits wiederum abstrahiert ist von der Aufhebung der Entfremdung der ursprünglichen Einheit. Kurz: Die Hegelsche Dialektik weist nicht nur an ihrem Rande, sondern in ihrem Zentrum eine Ideologische Struktur auf (vgl. hierzu den Abschnitt D.).

Althusser hat eine solche ideologisch strukturierte Dialektik als absoluten „idealistischen Irrsinn"(35) bezeichnet, da dadurch die Dialektik über die zentrale (Entwicklungs-)Figur der Negation der Negation in die Lage versetzt wird, „ihre eigene Materie zu produzieren."(36)

2. Die Struktur der Marxschen Dialektik

Für Althussers Versuch einer theoretischen Formulierung der materialistischen Dialektik bildet der Widerspruch als zentrale Kategorie der Marxschen Dialektik den Ausgangspunkt seiner Analysen. Lenin, der Dialektik als „Studium des Widerspruchs im Wesen der Dinge selbst" bzw. als „Lehre von der Einheit der Gegensätze"(37) definierte, sowie Mao, der in seiner 1937 verfaßten Schrift „Über den Widerspruch" durch die Unterscheidung von Haupt- und Nebenwiderspruch, Haupt- und Nebenaspekt des Widerspruchs und im Gesetz der ungleichen Entwicklung der Widersprüche die Spezifizität des Widerspruchs materialistisch weiterzudenken versuchte, gelten ihm als die zentralen marxistischen Theoretiker, die die von Marx begründete Methode weiterführten.

In der theoretischen Spezifizierung des bereits bei Marx vorhandenen dialektischen Begriffs des Widerspruchs durch Lenin und Mao wird die Existenz eines komplexen Prozesses aufgewiesen, der nicht einen einfachen, sondern verschiedene komplexe Widcrsprüche in sich enthält. D.h. es gibt, wie Mao richtig gesehen hat, keinen einfachen Prozeß mit bloß einem Gegensatzpaar, sondern immer schon gegebene komplexe Prozesse, deren Struktur durch das Nebeneinanderbestehen von mehreren ungleichen Widersprüchen gekennzeichnet ist. Das „Einfache" kann demnach immer nur als Resultat eines komplexen Prozesses auftreten, d.h. in Form einer im Prozeß der Abstraktion aus der Komplexität des immer-schon-gegebenen-komplex-strukturierten Ganzen herauskristallisierten einfachen Kategorie. Die Einfachheit ist also nicht ursprünglich, sondern erscheint als produzierte Kategorie am Ende des wissenschaftlichen Abstraktionsprozesses; die „komplexen Prozesse sind immer schon gegebene Komplexitäten, deren Reduzierung auf ursprüngliche einfache nie versucht wird, weder faktisch noch potentiell."(38) Althusser rekurriert hierbei auf Marx, der in der „Einleitung" von 1857 über die Anwendung der Begriffe der politischen Ökonomie reflektiert und dabei zeigt, „daß es unmöglich ist, zur Entstehung, zum Ursprung des einfachen Universalen der .Produktion' zurückzugehen";(39) denn jeder im Prozeß der wissenschaftlichen Produktion figurierende einfache Begriff, wie z.B. der Begriff„Arbeit," setzt die Existenz eines

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strukturierten gesellschaftlichen Ganzen immer schon voraus. „Wir haben es also in der Wirklichkeit niemals mit der reinen Existenz der Einfachheit zu tun, ob sie nun Wesen oder Kategorie ist, sondern mit der Existenz von .Konkretem,' von komplexen und strukturierten Prozessen."(40)

Althusser lokalisiert hier die zentrale methodologische Prämisse der Marxschen Theorie der Gesellschaft bzw. seiner Geschichtsauffassung (Historischer Materialismus), nämlich die Anerkennung des immer schon Gegebenen einer „strukturierten komplexen Einheit."(41) Auf dieser Basis läßt sich die materialistische Dialektik allererst begründen, denn die spezifische Struktur des marxistischen Widerspruchs ist „in der Marxschen Geschichtsauffassung begründet."(42) Marx hat die Realität einer Gesellschaftsformation in der Metapher von Basis und Überbau zu denken versucht, hat also reale, distinkte Instanzen unterschieden und ihnen eine Anordnung innerhalb einer Topik gegeben. Damit grenzt er sich bei der Bestimmung des Verhältnisses der verschiedenen gesellschaftlichen Instanzen von dem idealistischen Reduktionsverfahren ab, wonach eine dieser Instanzen (etwa die Basis) bzw. ein außerhalb der gesellschaftlichen Realität angesiedeltes Prinzip als Wahrheit aller Instanzen füngiert.

Die Gebäudemetapher und die Rede von der „letzten Instanz" können dies deutlich machen. In der Determination der Topik erscheint die Determination in letzter Instanz als die wirklich letzte Instanz, die marxistische Topik bedeutet somit nichts anderes, als „daß die Determination in letzter Instanz durch die ökonomische Basis nur gedacht werden kann in einem differenzierten, also komplexen und gegliederten Ganzen, in welchem die Determination in letzter Instanz die reale Differenz der anderen Instanzen, ihre relative Autonomie und ihre eigene Wirksamkeit gegenüber der Basis selbst fixiert."(43)

Die Kategorie der „letzten Instanz" hat also eine doppelte Funktion: Die Determination in letzter Instanz durch die Ökonomie bedeutet die Besetzung einer materialistischer Position gegenüber idealistischen Geschichtsphilosophien, und zugleich bedeutet die Determination durch die Ökonomie in letzter Instanz die Einnahme einer dialektischen Position und die Absetzung von mechanistischen Auffassungen, die die Ökonomie als das einzig Bestimmende ausgeben, was schon nach Engels bedeutet, „jenen Satz (von der Determination in letzter Instanz, d.V.) in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase"(44) zu verwandeln.

Die Ebene, auf der das Problem der marxistischen Dialektik angegangen werden kann, ist damit erreicht; diese hat nämlich die Aufgabe, das Denken der Beziehungen zwischen jenen realen, distinkten Instanzen, ihrer Einheit, Widersprüchlichkeit und spezifischen Wirksamkeit zu ermöglichen. Althusser will dies ausdrücken, wenn er sagt, daß „das Spiel der materialistischen Dialektik abhängt von der Anordnung einer Topik,"(45) wodurch die Hegelsche „Figur des Kreises und der Sphäre zerschlagen wird."(46) Erst die marxistische Topik gestattet „den Gedanken, daß einer Gesellschaftsformation etwas Reales passieren und daß man durch den politischen Klassenkampf in die reale Geschichte eingreifen kann."(47)

Die Spezifik materialistischer Dialektik kann auch durch die Unterscheidung verschiedener Kausalitätsmodelle verdeutlicht werden. Mit seiner Konzeption einer „strukturalen (= dialektischen) Kausalität" versucht Althusser, sich von mechanistischen und hegelianischen Modellen ideologischer Dialektik-Interpretation radikal abzugrenzen: so einerseits von der „linearen Kausalität," die von der Annahme einer einfachen Ursache und ihrer Wirkungen ausgeht, also „marxistisch" gewendet, die Basis als einzige Ursache aller Überbauphänomene erfaßt (Ökonomismus); so andererseits von der „expressiven Kausalität," die ausgehend vom hegelianischen Modell des Verhältnisses von Totalität und ihren Elementen (pars totalis) alle Teile des Ganzen (einschließlich der Ökonomie) als Momente einer Totalität begreift, die sich als einheitliche (als „Prinzip") letztlich in allen ihren einzelnen Bestimmungen nurmehr ausdrückt. Es ist dies die hegelianische Konzeption, die etwa von G. Lukäcs wieder aufgegriffen wird, bei dem das Prinzip der Totalität zwar durch die ökonomischen Verhältnisse, konkret die Warenstruktur, bestimmt wird, dieses Prinzip sich nun aber in allen Momenten der gesellschaftlichen Totalität gleichermaßen ausdrückt. Dialektische Analyse wird so zum Aufsuchen homologer Strukturen (L. Goldmann) bzw. Analogien (G. Lukacs) zwischen dem zugrunde liegenden

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Prinzip und konkreten gesellschaftlichen Phänomenen.

Das immer schon gegebene komplex strukturierte Ganze läßt sich in Modellen linearer und expressiver Kausalität nicht erfassen; das bei Marx aufgeworfene Problem der Determination in letzter Instanz, d.h. der relativen Autonomie des Überbaus, läßt sich weder mechanistisch noch hegelianisch lösen. Althusser versucht diese Problemstellung in der Konzeption einer strukturalen Kausalität einzufangen. Zwar spielt bei Marx die Ökonomie die determinierende Rolle, aber sie spielt diese Rolle nur in einem komplexen Gefüge. Es gilt zu begreifen, wie die ökonomischen Verhältnisse andere reale . Verhältnisse, z.B. die politischen, determinieren und wie diese wiederum auf die ökonomischen Verhältnisse zurückwirken. Mithin geht es um die Problematik der Einwirkung einer Struktur auf ihre Elemente.

Althusser hat an dieser Stelle den Begriff der Überdeterminierung, des überdeterminierten Widerspruchs, eingeführt. Es zeigt sich nämlich, „daß der .Widerspruch' von der Struktur des ganzen sozialen Körpers untrennbar ist, in dem er sich auswirkt, untrennbar von seinen formellen Existenzbedingungen und den Instanzen, die er regiert, daß er also selbst, in seinem Kern, durch sie berührt ist, in einer einzigen und gleichen Bewegung determinierend, aber auch determiniert, und zwar determiniert durch die verschiedenen Ebenen und die verschiedenen Instanzen der Gesellschaftsformation, die er belebt: wir können ihn in seinem Prinzip überdeterminiert nen~ nen."(48) Denn „die Überdeterminierung bezeichnet im Widerspruch folgende wesentliche Qualität: die Reflexion, im Widerspruch selbst, seiner Existenzbedingungen, d.h. seiner Situation in der Struktur mit Dominante des komplexen Ganzen."(49) D.h. die konkrete Bestimmung des Widerspruchs erfolgt aus dem konkreten Verhältnis zwischen seiner potentiellen Situation (d.h. der Stelle, die er prinzipiell in der Hierarchie der Instanzen im Verhältnis zur letzlich determinierenden Instanz: der Ökonomie einnimmt) und seiner faktischen Situation (seiner dominierenden oder untergeordneten Rolle in der aktuellen Konjunktur). Dabei ist das komplexe Ganze den Widersprüchen gegenüber nichts Äußerliches, wie die Hegelsche Totalität ihren Erscheinungen gegenüber „außen" ist, sondern „jeder Widerspruch, jede wesentliche Gliederung der Struktur und das allgemeine Gliederungsverhältnis in der Struktur mit Dominante bilden ebenso viele Existenzbedingungen des komplexen Ganzen selbst."(50) Denn die ganze Existenz der Struktur des komplexen Ganzen „besteht in ihren Wirkungen."(51)

Wenn nun das komplexe Ganze als eine Vielzahl von Instanzen erscheint, in der mehrere Widersprüche wirksam werden, wenn also der Widerspruch immer überdeterminiert ist und die einsame Stunde der letzten Instanz niemals schlägt,(52) dann muß gezeigt werden, in welcher Weise dieses Ganze eine Einheit bildet, damit es sich nicht als bloßer Pluralismus differenter Strukturen darbietet. Das komplexe Ganze bildet erst dadurch eine Einheit, daß es als eine gegliederte Struktur mit Dominante existiert, erst dadurch, daß man im Ganzen ein komplexes Verhältnis von Widersprüchen ausmachen kann, wobei ein Hauptwiderspruch den anderen (Neben)Widersprüchcn ihren Platz anweist, wodurch sich zwischen den Widersprüchen ein Verhältnis von Dominanz und Unterordnung ergibt. „Daß ein Widerspruch die anderen beherrscht, setzt voraus, daß die Komplexität, in der er erscheint, eine strukturierte Einheit ist."(53)

Dieser marxistische Einheitstyp („Ganzes") ist radikal unterschieden vom Einheitstyp Hegels („Totalität"). Hegel kennt auf der Ebene der konkreten Sphären einer Gesellschaft keinen dominierenden Widerspruch, sondern alle Widersprüche sind im Hinblick auf das einheitliche Prinzip ihrer Totalität gleichberechtigt. Eine gegebene gesellschaftliche Komplexität aber als Struktur mit Dominante zu fassen, ist die absolute Bedingung, um diese Komplexität als Einheit zum Gegenstand einer politisch-revolutionären Praxis zu machen. Es ist deshalb auch „kein Zufall, daß die Hegelsche Theorie der sozialen Totalität niemals eine Politik begründet hat, daß keine Hegelsche Politik existiert und existieren kann."(54)

In diesem Zusammenhang erhebt sich das Problem, wie mit der Konzeption des überdeterminierten Widerspruchs die Prozessualität der komplexen Einheit (Gesellschaft) bestimmt werden kann und wie die Grundlagen der politischen Praxis des Proletariats

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analysierbar werden.

Die Gesellschaft als Struktur mit Dominante begreifen heißt, sie als strukturell invariant zu erkennen, bleibt doch die Struktur mit Dominante als solche immer erhalten, denn es existiert in jeder konkreten Situation ein Hauptwiderspruch und eine Dominante. Was sich allerdings verändert, ist die Rolle der Instanzen und Widersprüche dieser Struktur, der Hauptwiderspruch kann zum Nebenwiderspruch, ein Nebenwiderspruch zum Hauptwiderspruch werden. Althusser bezeichnet dieses Phänomen als „Verlagerung", die eine erste Strukturbestimmung der Prozeßdynamik darstellt. Den aktuellen Hauptwiderspruch identifizieren bedeutet, den strategischen Knotenpunkt zu erkennen, an dem revolutionäre Politik ansetzen muß, um die existierende Einheit aufzusprengen.

Damit es aber zu einer explosiven, also revolutionären Situation kommt, bedarf es der „Verdichtung", der Verschmelzung der Widersprüche zu einer tatsächlichen Einheit. Eine solche Verdichtung als Anhäufung und Zuspitzung der historischen Widersprüche war im Rußland von 1917 gegeben. Die russische Revolution wurde erst möglich, „weil Rußland in der von der Menschheit eröffneten revolutionären Periode das schwächste Glied in der Kette der imperialistischen Staaten war .. . weil es gleichzeitig die verspätetste und fortgeschrittenste Nation war, ein ungeheurer Widerspruch, den ihre untereinander uneinigen herrschenden Klassen nicht umgehen, aber auch nicht lösen konnten."(55)

Mit Hilfe dieser im Rahmen seiner Konzeption der Überdeterminierung entwickelten Kategorien, die die jeweilige aktuelle Situation des komplexen Ganzen - den Hauptwiderspruch in ihm und die Art der Verdichtung der Widersprüche - bestimmen sollen, lassen sich die verschiedenen (nichtantagonistischen, antagonistischen und explosiven) Phasen des Prozesses analytisch erfassen:

Nicht-antagonistische Phase: die „Überdeterminierung des Widerspruchs (existiert hier) in der vorherrschenden Form der Verlagerung,"(56) d.h. die Struktur mit Dominante erweist sich in ihrer existierenden Konfiguration als relativ stabil; zwar verlagern sich die Widersprüche, aber sie verdichten sich nicht. Antagonistische Phase: die „Überdeterminierung (existiert hier) in der vorherrschenden Form der Verdichtung,"(57) d.h. die Klassenkonflikte in der Gesellschaft spitzen sich zu und verschmelzen zu einer tatsächlichen Einheit.

Explosive Phase: Althusser bestimmt diese „als den Augenblick der unfesten globalen Verdichtung, der das Zerreißen und das Wiederzusammenfügen des Ganzen hervorruft, d.h. eine Restrukturation des Ganzen auf einer qualitativ neuen Ebene."(58)

C. DAS HEGELSCHE ERBE - RATIONELLER KERN UND MYSTIFIKATION

In seinen ersten Schriften hat Althusser das Verhältnis Hegel-Marx vor allem negativ durch ihre Differenz bestimmt und den Akzent auf die Diskontinuität beider Diskurse gesetzt. So schreibt er 1960 in „Über den jungen Marx" noch sehr allgemein, Marx habe sich im Kontakt mit Hegel Sinn und Praxis der Abstraktion, der theoretischen Synthese und der Prozeßlogik erworben.(59) Der Hegelschen Philosophie mißt er weniger die Funktion einer inhaltlichen „theoretischen Schulung" (formation the"orique) als vielmehr die Funktion einer „Schulung in Theorie" (formation ä la the"orie) bei, „einer Art Pädagogik des theoretischen Geistes vermittels der theoretischen Formation der Ideologie selbst."(60)

Seit „Lenin und die Philosophie" (1968) identifiziert er die Kategorie „Prozeß ohne Subjekt" als das wesentliche Erbe der Hegelschen Dialektik bei Marx.

Eine weitere Präzisierung des Verhältnisses Hegel-Marx leistet Althusser in seinem Habilitationsvortrag (1975). Dort schreibt er: „Ja, Marx stand Hegel nahe, aber zunächst einmal ans Gründen, die man nicht genannt hat, aus Gründen, die noch vor der Dialektik kamen. Gründen, die mit der kritischen Position Hegels gegenüber den theoretischen Voraussetzungen der klassischen bürgerlichen Philosophie - von Descartcs bis Kant - zusammenhingen."(61) Diese Kritik an den theoretischen Prämissen der klassischen bürgerlichen Philosophie macht Althusser vor allem an Hegels Ablehnung jeder

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Philosophie des Ursprungs und des Subjekts fest, die gleichzeitig Prämissen des Marxschen dialektischen Materialismus darstellt. Sie liefert diese Prämissen insofern, als es nach Althusser einen inneren Zusammenhang zwischen der Ablehnung eines Ursprungs, in welcher Form auch immer, der Dialektik und dem Materialismus gibt. Der Materialismus kann sich nämlich nur behaupten, wenn er sich von jeder Ursprungsphilosophie abgrenzt. Wenn aber die Kategorien des Ursprungs und des Subjekts mit allen ihren Implikationen verworfen werden, müssen andere Kategorien in Umlauf gebracht werden, und dies sind diejenigen der Dialektik.

Dies soll nun an der These, daß die Kategorie „Prozeß ohne Subjekt" den rationellen Kern der Hegelschen Dialektik ausmacht, näher erläutert werden.

Zunächst einmal muß konstatiert werden, daß Hegel keine anthropologische Geschichtskonzeption vertritt, wie verschiedene Hegelinterpreten (z.B. A. Kojeve) vor allem in Anschluß an die „Phänomenologie des Geistes" behaupten, daß Geschichte also keineswegs der Entfremdungsprozeß eines Subjekts „Mensch" ist. Der Entfremdungsprozeß und der Geschichtsprozeß haben gewissermaßen verschiedene Extensionen, denn Geschichte selbst ist für Hegel schon die Entfremdung von der Natur. Mithin ist Entfremdung nicht ein ausschließliches Merkmal menschlicher Geschichte. Bei Hegel ist aber nun nicht nur der Mensch nicht das Subjekt des Prozesses, sondern Hegel kennt überhaupt kein Subjekt des Prozesses. Auch der „Geist" nimmt keineswegs diese Stelle ein. Die Abwesenheit des Subjekts als Ursprung muß in der Grundlage der Hegeischen Philosophie, in seiner „Wissenschaft der Logik" aufgezeigt werden, wobei sich zugleich erweisen wird, was Hegel an dessen Stelle setzt.

Die „Logik" ist die Wissenschaft der Idee, die Entfaltung ihres Begriffs. Sie hat keinen Ursprung, der Anfang im Sein wird zugleich ins Nichts aufgelöst, und sie hat kein Subjekt, denn keine ihrer Bestimmungen hält sich durch, sondern jede wird im dialektischen Prozeß aufgehoben und in die nächsthöhere Bestimmung überführt.

Was die „Logik" also beschreibt, ist ein Weg, ein Prozeß als Prozeß, dessen Ende in der absoluten Idee erreicht wird, die nun wiederum in ihrer Totalität betrachtet nichts anderes ist als der zurückgelegte Weg selbst. Der Weg, der Prozeß, ist die Selbstentäußerung der Idee, wodurch es möglich wird, daß Anfang und Ende zusammenfallen, einen Kreis bilden. Der Selbstentäußerungsprozeß der Idee trägt Ideologischen Charakter und er trägt ihn eben deswegen, weil in seinem Anfang schon sein Ende als sein Telos steckt.

Hegel hat nun die absolute Idee als absolute Methode, als Dialektik verstanden, der Selbstentäußerungsprozeß der Idee ist die Entfaltung der Dialektik, und zwar einer Dialektik, die jenen ideologischen Prozeß ermöglicht, indem sie selbst Ideologisch strukturiert ist, nämlich in ihren Kategorien und deren Verknüpfung (Negation der Negation).

Was Hegel also an die Stelle des von ihm kritisierten Ursprungs und Subjekts der klassischen bürgerlichen Philosophie setzt, ist ein ideologischer Entfremdungsprozeß, der gerade als Prozeß wieder die Stelle des verschmähten Subjektseinnimmt, und er kann dies nur, weil er ein ideologischer ist.

Demnach gibt es sehr wohl ein Subjekt des Prozesses bei Hegel, aber dieses „einzige Subjekt des Entfremdungsprozesses ist der Prozeß selbst in seiner Teleologie."(62)

Althusser nennt dies das „ungewöhnliche Paradox" Hegels: „Der subjektlose Entfremdungsprozeß (oder die Dialektik) ist das einzige Subjekt, das Hegel kennt. Der Prozeß selbst hat kein Subjekt: Der Prozeß selbst aber ist Subjekt, gerade insofern er kein Subjekt hat.(63)

Jetzt kann auch verdeutlicht werden, worin die Mystifikation besteht, die die Dialektik in Hegels Händen erleidet. Hegel kritisiert die Ursprungsphilosophie und bringt damit die Dialektik ins Spiel, aber er unterwirft diese dann doch wieder einer Philosophie des Ursprungs (= Idealismus), indem er den „Ursprung doch in das Ziel eines Telos (projiziert),

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welches dann aus seinem eigenen Prozeß seinen eigenen Ursprung, sein eigenes Subjekt macht."(64)

Diese Unterwerfung der Dialektik unter den Idealismus und damit ihre Mystifikation führt letztlich dazu, daß sie eine Ideologische Struktur annimmt. Dies ist natürlich nicht als das Nacheinander einer bewußten Überlegung bei Hegel zu verstehen, sondern die Kritik der Ursprungsphilosophie läuft parallel mit der Erarbeitung einer Dialektikkonzeption, die die Kategorie des Subjekts als Ursprung gerade dadurch ersetzt, daß sie diese Position besetzt. Es zeigt sich, „daß das Paar Subjekt/Ziel die .Mystifikation' der Hegeischen Dialektik ausmacht."(65)

Marx führt dagegen die Ablehnung der Ursprungsphilosophie konsequent zum Materialismus, er unterwirft die Dialektik dem Primat des Materialismus und „untersucht, welche Formen sie annehmen muß, um die Dialektik dieses Materialismus zu sein."(66) Marx erbt also die philosophische Kategorie des Prozesses ohne Subjekt von Hegel, aber auf dem Wege einer Entmystifizierung dieser Kategorie bei Hegel selbst; dies geschieht durch die Eliminierung der Teleologie des Prozesses. „Die Geschichte ist ein Prozeß ohne Subjekt. Und diese Kategorie eines Prozesses ohne Subjekt, die natürlich aus der Hegeischen Teleologie herausgelöst werden muß, ist - wie ich meine -ohne Zweifel das größte theoretische Erbe, das Marx an Hegel bindet."(67)

Die Kategorie des Prozesses ohne Subjekt ist zunächst einmal rein formal. Den entscheidenden Schritt über Hegel hinaus macht Marx, indem er zeigt, „daß es einen Prozeß nur unter der Bedingung von Verhältnissen gehen könne: von Produktionsverhältnissen ..., politischen, ideologischen und anderen Verhältnissen."(68)

Auf der andere Seite aber hat die Kategorie des Prozesses ohne Subjekt eine „negative Stoßrichtung," sie ist ein „Abgrenzungsbegriff," sie zieht eine „Demarkationslinie" zwischen dialektisch-materialistischen Positionen und kleinbürgerlich-idealistischen Positionen,(69) indem sie es verbietet, den Geschichtsprozeß als Entwicklung eines wie auch immer gearteten Subjekts zu fassen.

Anmerkungen: (Die Jahreszahlen in Klammern geben das Erscheinungsdatum des französischen Originals an)

1) Eine instruktive Übersicht bietet Schöttler, „Philosophie/Politik/Wissenschaft. Bemerkungen zum Wandel (in) der theoretischen Problematik bei Louis Althusser," in Alternative 97, August 1974, S. 152-163. Einige Hinweise zu seiner theoretischen Entwicklung liefert Althusser selbst in „Vorwort: Heute" (1965), in Für Marx, Frankfurt/Main 1968, S. 17-30. Siehe hierzu neuerdings Kolkenbrock-Netz/Schöttler, Leninismus - Philosophie -Klassenkampf. Für eine marxistische Althusser-Rezeption in der BRD, in Sandkühler (Hrsg.), Betr.: Althusser. Kontroversen über den „Klassenkampf in der Theorie," Köln 1977.

2) Althusser, „An die deutschen Leser," in Für Marx, S. 7.

3) Ebenda.

4) Der in der deutschen Diskussion ungewohnt klingende Ausdruck „Konjunktur" meint bei Althusser Lenins „gegenwärtigen Augenblick," d.h. ein spezifisches Kräfteverhältnis von Elementen in einer aktuellen Situation, das nicht einfach „abgeleitet" werden kann, sondern der konkreten Analyse bedarf.

5) Althusser, An die deutschen Leser, S.u.

6) Althusser, Geschichte beendet, endlose Geschichte, Vorwort zu Lecourt, Proletarische Wissenschaft ? Der „Fall Lyssenko" und der Lyssenkismus, Westberlin 1976, S. 15.

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7) Ebenda, S. 16-17.

8) Hauptexponent dieser Richtung in der KPF war Roger Caraudy. Vgl. zu dieser Problematik bes. Althussers Aufsätze „Marxismus und Humanismus" (1964) und „Ergänzende Anmerkung über den .realen Humanismus'" (1965) in Für Marx. S. 168-202.

9) Althusser/Balibar, Das Kapital lesen (1965), Reinbek bei Hamburg 1972 (im Folgenden DKL).

10) Die dieser Lektürekonzeption zugrundeliegende Ideologie analysiert Althusser in „Über den jungen Marx" (1960); in Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg/ Westberlin 1977, bes. S. 12-25.

'11) Eine nähere Kennzeichnung der „symptomatischen Lektüre" findet sich in Althussers Einführung zu DKL. Diese Lektüre führt Althusser zu der Annahme eines „epistemologi-schen Einschnitts" im Werk von Marx, der eine noch ideologische Problematik in den Frühschriflen von der wissenschaftlichen Problematik ab 1845 deutlich absetzt. Dieses Problem kann hier nicht näher erörtert werden. Vgl. hierzu etwa Althusser, Vorwort: Heute, S. 30-41.

12) Marx, Nachwort zur 2. Auflage des „Kapital," in MEW, vol. 23, S. 27.

13) Vgl. zu dieser Problematik vor allem Althussers Aufsätze „Widerspruch und Über-determinierung" (1962), in Für Marx., bes. S. 52-57, und „Über die materialistische ' Dialektik" (1963), ebenda, bes. S. 114-124 (im Folgenden WuÜbzw.MD).

14) MD. S. 121.

15) a.a.O., S. 103.

16) a.a.O., S. 122.

17) Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie," in MEW 21,S. 268.

18) WuÜ.S.54.

19) a.a.O., S. 55.

20) a.a.O., S. 56.

21) Ebenda.

22) Die oft unzureichenden und verfälschenden Übersetzungen sind einer adäquaten Rezeption allerdings nicht sonderlich förderlich. Vgl. hierzu Schöttler, „Vorwort" zu Althusser, Elemente der Selbstkritik (im Folgenden Elemente), Westberlin 1975, S. 16-19. Zur bundesdeutschen Althusser-Rezeption siehe auch Kolkenbrock-Netz, „Neue Antworten auf Althusser? Zu einigen Tendenzen der Althusser-Rezeption," in Sozialistische Politik Nr. 37/38, Dez. 1976, S. 107-116.

23) Kolkenbrock-Netz/Schöttler, Leninismus - Philosophie - Klassenkampf, S. 67.

24) Althussers eigene Einschätzung des Strukturalismus findet sich in Elemente (1974), S. 63-70.

25) Jaeggi, Ordnung und Chaos. Strukturalismus als Methode und Mode, Frankfurt/Main 21970. Ders., Theoretische Praxis. Probleme eines strukturalen Marxismus, Frankfurt/Main 1976. Schmidt, „Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte," in

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Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt/Main 1969, S. 194-265. Ders., Geschichte und Struktur. Fragen einer marxistischen Historik, München 1971. Arenz/Bischoff/Jaeggi, „Einleitung" zu Was ist revolutionärer Marxismus?, Westberlin 1973, S. VII-LXIV. Projekt Klassenanalyse, Louis Althusser. Marxistische Kritik am Stalinismus?, Westberlin 1975. Das Argument 94, Antworten auf Althusser, Dez. 1975, S. 921-984. Sozialistische Politik Nr. 37/38, Dez. 1976, „Philosophie und Politik bei Althusser - Kritische Beiträge" (i), S. 73-116. Sozialistische Politik Nr. 39, April 1977, „Philosophie und Politik bei Althusser - Kritische Beiträge" (2), S. 107-143. Sandkühler (Hrsg.), Betr.: Althusser, Köln 1977.

26) Althusser, „Antwort an John Lewis," in, Arenz/Bisschoff/Jaeggi (Hrsg.), Was ist revolutionärer Marxismus?, S. 67.

27) Althusser, „Ist es einfach, in der Philosophie Marxist zu sein?," in ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate, S. 52.

28) WuÜ,S.66.

29) a.a.O., S. 67.

30) Ebenda.

31) WuÜ, S. 68.

32) MD, S. 142.

33) a.a.O., S. 149.

34) a.a.O., S. 162.

35) Elemente, S. 8l.

36) Ebenda.

37) Lenin, „Konspekt zu Hegels .Wissenschaft der Logik,' "in Werke, vol. 38, S. 214.

38) MD, S. 139

39) a.a.O., S. 140. Das französische „universel" wäre hier besser mit „Allgemeines" als mit „Universales" zu übersetzen.

40) a.a.O., S. 141.

41) a.a.O., S. 144.

42) WuÜ, S. 73

43) Ist es einfach, S. 66

44) Engels, „Brief an Bloch," in MEW 37, S.463.

45) Elemente, S. 79.

46) Ist es einfach, S. 66.

47) a.a.O., S. 67.

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48) WuÜ, S. 65-66. 4

49) MD S. 156.

50) a.a.O., S. 151.

51) DKL, S. 254.

52) WuÜ, S. 81.

53) MD, S. 146.

54) a.a.O., S. 150.

55) WuÜ, S. 61.

56) MD, S. 164.

57) a.a.O., S. 165.

58) Ebenda.

59) über den jungen Marx, S. 36.

60) Ebenda.

61) Ist es einfach, S. 62.

62) Althusser, „Über die Beziehung von Marx zu Hegel", in ders., Lenin und die Philosophie, Rcinbek bei Hamburg 1974, S. 65.

63) Ebenda. Die deutsche Übersetzung wurde anhand des französischen Originals korrigiert.

64) Ist es einfach, S. 64.

65) Elemente, S. 79.

66) Ist es einfach, S. 63.

67) Über die Beziehung von Marx zu Hegel, S. 64.

68) a.a.O., S. 66.

69) Althusser, „Bemerkungen zu einer Kategorie: Prozeß ohne Subjekt und ohne Ende/ Ziel," in Was ist revolutionärer Marxismus?, S. 93.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 12. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 273-290

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MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIKBEITRÄGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von HEINZ KIMMERLE

11/07

trendonlinezeitung

NACHWORT: RÜCKBLICK UND AUSBLICKvon Heinz Kimmerle

Zur Kapitelübersicht

Wenn man die Beitrage dieses Bandes rückblickend überschaut, bemerkt man leicht - wegen des Umfangs und wegen des Schwierigkeitsgrades der Beiträge -, daß die didaktische Absicht auf Schwierigkeiten gestoßen ist. Es ist zu fragen, welches die Gründe hierfür sind. Dabei sieht man sich auf die Eigenart des Gegenstandes verwiesen. Die verschiedene Ausrichtung der Beitrage ist nicht einer beliebigen Auswahl oder heterogener Behandlungsart geschuldet. Sie spiegelt den Entwicklungsstand des Problems, denn die Linien der Erforschung und Darstellung der Dialektik sind bislang noch nicht gebündelt. Im Vielerlei der Ansätze, die hier zur Darstellung gebracht werden, stecken Differenzen in der grundsätzlichen Frage, worum es bei diesem Thema überhaupt geht. So ist es angebracht, am Ende dieses Bandes, nach mehr als drei Jahren gemeinsamer Arbeit am Dialektik-Problem einen Ausblick zu versuchen, einige Bedingungen zur Grundlegung einer Wissenschaft der Dialektik, zur Konstituierung ihres Gegenstandes zu umreißen.

A. DIE DIDAKTISCHE ABSICHT UND DIE SCHWIERIGKEITEN IHRER VERWIRKLICHUNG

Einführungen in die Philosophie, wenn sie ernstgenommen werden sollen, haben mit der Schwierigkeit zu kämpfen, daß sie selbst bereits philosophisch sein müssen. Man kann nicht von außen, vom Alltagsdenken aus in die Philosophie einführen. Wenn man beginnt, in sie einzuführen, ist man bereits darin. Man kann den Einzuführenden eigentlich nur einführend in der Philosophie herumführen. Ob er und wie er dadurch in die Philosophie hineinfindet, bleibt ein Problem. Wenn es darum geht, in die Dialektik einzuführen, die einen Teil der gerade einfacher. Dennoch verbindet sich mit der Dialektik ein besonderer Anspruch auf allgemeine Verständlichkeit, allgemeine Zugünglichkeit. Sie tritt im Alltagsdenken bereits auf als das Zusammensehen komplexer Verhältnisse, als der dynamische Effekt der Urteilskraft, durch den schwierige bis dahin unlösbar erscheinende Probleme plötzlich lösbar werden. Ferner erklärt die Dialektik den Zusammenhang von Alltagsdenken und Philosophie selber dialektisch. Sie beansprucht zwischen der Praxis des Lebens und der philosophischen Theorie /.u vermitteln.

Die erneute intensive Beschäftigung mit der Dialektik, die seit einigen Jahren eingesetzt hat,(1) geht in ihrer Motivation, wie auch der vorliegende Versuch, auf die Studentenbewegung zurück, die zumindest für diesen Teil der Bevölkerung die politische Bestimmtheit des Alltagsdenkens bewußt gemacht hat. Über die politische Bedeutsamkeit erwies sich das Alltagsdenken als mit einem Gesamtzusammenhang vermittelt. Die Frage nach der Klärung dieser Vermittlung, nach ihrer Benutzbarkeit im Sinne ihres funktionellen Einsatzes für die Veränderung des Ganzen rief die Dialektik auf den Plan.

Wenn diese Motivation heute weitgehend wieder geschwunden ist, nur noch in kleineren Gruppen als Engagement lebendig blieb, stößt der Versuch der Aufklärung ihrer Hintergründe und Zusammenhänge zunehmend auf Schwierigkeiten. Es muß zunächst einmal deutlich gemacht werden, daß das Interesse an der Dialektik keine Sache von mehr oder weniger kurzlebigen politischen Konstellationen und den daraus erfolgenden Impulsen ist. Die Studentenbewegung hat, wie alle früheren revolutionären Bewegungen, eine grundlegende Struktur des gesellschaftlich-geschichtlichen Lebens für das

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Alltagsdenken bewußt gemacht. Die Einbeziehung des individuellen Handelns in ein Gruppenhandeln, das auf staatliche und überstaatliche politische Zusammenhänge bezogen ist, gilt es zu jeder Zeit für die Handelnden erfaßbar zu machen. Sie bezeichnet die Nahtstelle zwischen Alltagsdenken und Philosophie bzw. Wissenschaft. Über sie wird alle philosophische und wissenschaftliche Theorie auf die Lebenspraxis zurückorientiert.

Aber es ist nicht nur das allgemeine Problem einer Einführung in die Philosophie und nicht nur das der besonderen theoretischen Konjunktur zwischen Utopie und „neuer Sachlichkeit,"(2) welche die didaktische Absicht dieses Bandes auf Schwierigkeiten stoßen ließ. Mit der verschiedenen politischen Orientierung der Mitarbeiter an diesem Band wie auch der dargestellten wissenschaftlich-philosophischen Autoren verbanden sich verschiedene Konzeptionen von Dialektik, die die Identität des Gegenstandes fraglich machten. Deshalb war ein intensiveres Nachfragen nötig; das einfache Weitervermitteln bekannter Modelle befriedigte nicht, als der Zusammen-

hang der Modelle nicht mehr recht sichtbar war. Dies führte in die Forschungsdiskussion über jeden der behandelten Gegenstände hinein. Die Einführungen gerieten fast in jedem Fall zu eigenen Forschungsbeiträgen, ohne daß die didaktische Absicht dabei aufgegeben wurde. Aber nun potenzierte sich die Schwierigkeit, dialektisch-philosophisch in die dialektische Philosophie einführen zu müssen. Da die Philosophie wie jede Wissenschaft ihre eigentliche Erscheinungsform in den weiterdrängenden forscherischen Beiträgen hat, wächst mit der Schwierigkeit der mögliche Gewinn: nicht nur in die Philosophie oder die dialektische Philosophie im allgemeinen eingeführt zu sein, sondern in ihren eigentlichen Vollzug als Forschung.

B. DIE VERSCHIEDENARTIGKEIT DER BEITRAGE ALS SPIEGEL FÜR DEN ENTWICKLUNGSSTAND DES PROBLEMS

Die vertiefende Ausarbeitung der verschiedenen Modelle führte wohl zu einer Anordnung, wie sie im Vorwort begründet wird, nicht aber zu einer Zusammenschau, zum Aufweis allgemeiner, für alle gültiger Strukturen. In aller Vorsicht und in aller Vorläufigkeit

können in einer Rückanknüpfung an das im 1. Kapitel über die „Voraussetzungen" in einer schematischen Zusammenfassung Gesagte folgende Verbindungslinien zwischen den einzelnen Modellen gezeichnet werden, indem eine durchgehende Linie die für die eigene

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Konzeption konstitutivere Bezugnahme, eine unterbrochene Linie die weniger konstitutive angeben soll.

Die Anordnung der Modelle von „links" nach „rechts" ist als besonders provisorisch aufzufassen, soferen sich unter anderen Aspekten als denen der direkten Bezugnahme auf Marx oder Hegel andere Zuordnungen ergeben . können. Kosik ist mit Gramsci nur unter dem oberflächlichen Kriterium regional bedingter Modelle zusammengefaßt. Sie unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht stark voneinander, etwa in Hinsicht auf ihr praktisches Engagement in der Parteiarbeit. So erklärt es sich auch, daß Althusser sich wohl auf Gramsci konstitutiv-kritisch, nicht aber auf Kosik bezieht. Und Bloch spielt innerhalb der Gruppe, die er zusammen mit Lukacs und Korsch bildet, eine Sonderrolle, weil er - als einziger unter den „westlichen" Marxisten, die im übrigen stark auf dem Lukacsschen Modell fußen - eine wichtige positive Beziehung zu Engels entwickelt hat.

Mit diesen Verbindungslinien soll indessen keine Systematik angedeutet sein. Unterschiede und Gemeinsamkeiten lassen sich ganz anders voneinander abgrenzen, indem das Neue oder doch Spezifische der einzelnen Modelle herausgehoben wird. Das ursprüngliche Bemühen, auf die einzelnen Bewegungsformen des dialektischen Denkens abzuheben, die in Hegels „Wissenschaft der Logik" vorgeführt werden und mit denen in Marx' Untersuchungen des „Kapital" gearbeitet wird, ließ sich nur bei der kleineren Zahl der Modelle zur Geltung bringen. Engels macht den Anfang mit einer Wissenschaft der Dialektik, wird aber damit von den meisten späteren marxistischen Dialektikern eher desavouiert. Lenin und Mao zeigen, daß das revolutionäre politische Handeln eine systematische Ausarbeitung der dialektischen Denkweise erfordern würde bzw. legen sie in Ansätzen, für partielle Bereiche (universelle Wendigkeit des Denkens, Widerspruchslehre) selbst vor. Im übrigen wird immer wieder erneut zu begründen versucht, daß Dialektik notwendig ist und worin ihre grundsätzliche Leistung besteht (Totalitätsdenken, Prozeßkategoricn, Negativität). Der Primat der Praxis wird dabei häufig eher postuliert als befolgt. Allenthalben (mit der Ausnahme Maos) wird das Verhältnis zu Hegel aufs Neue bedacht, überprüft, anders bestimmt. Die neueste Entwicklung in der UdSSR und DDR greift schließlich das Programm einer Wissenschaft der Dialektik wieder auf, steht aber ihrer prinzipiellen Erweiterung und Neubestimmung (Mao, Althusser) kritisch gegenüber.

Diesen Entwicklungsstand des Problems konnte die kritische Vertiefung in die Dialektik-Modelle nicht grundsätzlich überwinden. So reproduziert der Band das buntscheckige Bild der verschiedenen Konzeptionen. Als Forschungsertrag des Gesamtunternehmens kommt also schießlich die Frage heraus, was auf dem Boden des gemeinsam vertretenen Begriffs von Dialektik über diesen Gegenstand gesagt werden kann. Oder ist der Zusammenhang eher verbal? Steht womöglich der praktisch-politischen Engführung der Linie von Marx über Engels zu Lenin und Mao Tsetung, die aber immerhin einen neuen Theorietyp konstituiert, auf der Seite der „westlichen" Modelle ein Unterschuß an praktischer Politik gegenüber, der ein Ausweichen und Zurückweichen in traditionelle Denkweisen mit sich bringt? Wird diese doppelte Kalamität vielleicht bei einem der regional sich unterscheidenden Modelle aufgelöst? Diese Fragen lassen sich vom gegenwärtigen Entwicklungsstand der dialektischen Wissenschaft aus nicht befriedigend beantworten.

Eins gilt es freilich festzuhalten: Die Begrenzung auf die materialistischen Dialektik-Modelle ist nicht zufällig. Dieser gemeinsame Boden wurde zu keiner Zeit als schwankend empfunden. Der Ausgangspunkt der gegebenen Wirklichkeit, die indessen in ihrem Gegebensein mit größter Umsicht und äußerster Kritik zu erfassen ist, könnte nur um den Preis einer Regression an Wissenschaftlichkeit der dialektischen Philosophie wieder verlassen werden. Der Weg geht sicher nicht hinter Marx zurück, aber vielleicht auf der „betretenen Bahn" (Bloch) einen grundsätzlichen Schritt weiter. Dieser Schritt würde ins Neuland einer Methodologie führen, die auf dem heutigen Stand der positiven Wissenschaften deren Bezug auf den Zusammenhang der gesellschaftlich-politischen Praxis und die Bedingungen seiner Veränderbarkeit zu klären sucht.

Gegenüber einem solchen Schritt ist der Einwand zu bedenken, daß die „Modelle" gerade von ihrer Standpunktgebundenheit aus ihr Profil und ihre Dynamik gewinnen, daß es nicht zu verwundern ist, wenn die Dialektik in ihrem eigenen Wesen eine streitbare

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Wissenschaft ist. Dies würde bedeuten, daß ein integrativer Versuch diese Vorteile verliert, daß sich dabei - wie es Albrecht Wellmer für die Diskussion der „Frankfurter Schule" diagnostiziert - „die Auseinandersetzung ... in das Schattenreich methodologischer Abstraktionen verlagert."(3) Man wird zugeben müssen, daß diese Gefahr besteht. Ihr kann im Grunde nur begegnet werden, indem die Bündelung und Systematisierung der Dialektik-Konzeptionen zu einer Wissenschaft der Dialektik die praktische Ausrichtung und die damit gegebene Dynamik der Modelle vielleicht nicht zu akkumulieren, aber doch zusammenzufassen sucht. Das Vielversprechende des Projekts, von Marx aus - in genauer Vergewisserung, was das heißt - ins Neuland einer prinzipiell weiter zu bildenden Dialektik-Theorie vorzustoßen, kann zum Risiko dieses Unternehmens den dazu notwendigen Mut machen.

C. ZUR VORBEREITUNG EINER WISSENSCHAFT DER DIALEKTIK.

Die Bestimmung der allgemeinen Forschungsrichtungen einer Wissenschaft der Dialektik kann bei der traditionellen Unterscheidung von historischer und systematischer Forschung in der Philosophie anknüpfen, wenn man diese sowohl als wechselseitig aufeinander bezogen als auch als in sich dialektisch bestimmt betrachtet. Hierüber werden in der heutigen sozial- und geisteswissenschaftlichen Methodologie ausgebreitete Debatten geführt. Der wechselseitige Bezug von historischen Voraussetzungen für das systematische Denken und von systematischen Implikationen für die historischen Fragestellungen ist zunächst von der hermeneutischen Methode ausgearbeitet worden. Diese Methodik wird durch die Einbeziehung der psychoanalytischen Gesetzmäßigkeiten in die Klärung der dabei ablaufenden Bewußtseinsprozesse erweitert und vertieft. Das führt schließlich zum Einschluß der konkreten gesellschaftlich-politischen Dimensionen der Bewußtseinsabläufe durch die Ideologickritik, deren grundlegende Bedingungen bereits von Marx und Engels entwickelt worden sind. Der dialektische Zusammenhang, der Einheit und Unterschiedenheit von „Erkenntnis und Interesse" (Habermas) geltend macht, zeigt auf, in welcher Weise historische Voraussetzungen und systematische Implikationen im Wissenschaftsprozeß notwendig mitspielen, wie sie als mitspielend begriffen und bewußt in Ansatz gebracht werden können.

Aber beide Forschungsrichtungen gilt es nicht nur in ihrem wechselseitigen Bezug, sondern auch als in sich dialektisch strukturiert zu begreifen, wenn man den heutigen Entwicklungsstand der wissenschaftlichen Methoden berücksichtigen will. Daß die „Umkehrung" der Hegeischen Begründung der Dialektik durch Marx besagt, daß das empirische Material Ausgangspunkt, ständiger Bezugspunkt, Falsifikations- und Modifikationsinstanz für die wissenschaftliche Theorie sein muß, ist ohne weiteres ersichtlich, wenn man dessen politische und ökonomische Schriften betrachtet. Dabei werden die Fakten nicht beliebig, d.h. ohne kritische Kontrolle der Voraussetzungen und Implikationen ihrer Auswahl und ihres Verständnisses aufgenommen, sondern unter der strengen Perspektive einer ideologiekritischen Überprüfung der herrschenden Verfahren bei der Faktensammlung und Faktenüberlieferung. Die Geschichte der Philosophie und die Entfaltung ihres aktuellen systematischen Zusammenhanges hat von hier aus die politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse mit zu erfassen, mit denen sie jeweils eine Einheit bildet. Sofern es dabei insbesondere um dialektische Philosophie geht, die sich selbst im Ganzen der politisch-gesellschaftlich bestimmten Lebensverhäknisse der Menschen situiert, kann und muß ihre historische und systematische Erforschung den Widerspruch, der im vermeintlich reinen Faktenwissen steckt, daß es die Fakten aus der herrschenden Sicht auswählt und interpretiert, in vollem Umfang geltend machen und die notwendigen methodischen Gegenmaßnahmen organisieren.

Auch die analytische Methode ist in einem anderen als dem bei Hegel angegebenen Sinn in eine dialektische Wissenschaft der Dialektik einzusetzen. Hierfür gibt das Marxsche Modell maßgebende Grundlinien an. Die stets wiederkehrenden gesetzmäßigen Gegebenheiten der Wirklichkeit sind in größtmöglicher Allgemeinheit und formeller Eindeutigkeit zu erfassen. Sie bilden ein Gerüst von abstrakten Bestimmungen, das in den verschiedenen konkreten Gestaltungen der gesellschaftlich-geschichtlichen Verhältnisse immer aufs Neue aufgesucht und überprüft werden muß, das aber zu keiner Zeit diese Verhältnisse als ein konkretes Ganzes begreifbar macht, da diese jeweils auch von kontingenten besonderen Bedingungen abhängig sind. Die Geschichte und die

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systematische Erforschung der Dialektik haben von daher die analytischen Erkenntnismethoden in ihrem Recht und ihrer Grenze zu bestimmen und zur Geltung zu bringen.

Das Neuland beginnt schließlich mit den modernen strukturalistischen und .systemtheoretischen Methoden. Sie machen es notwendig, den Kontinuitätsbegriff für die geschichtliche Abfolge ausdrücklicher und radikaler in Frage zu stellen, als dies bei Marx und der daran anschließenden philosophischen Theorie geschieht. Diesen Punkt hat Althusser deutlich markiert. Die Möglichkeit einer dialektisch konzipierten Geschichte der Dialektik hängt davon ab, ob das Verhältnis von Kontinuität und Bruch als eine Einheit bestimmt werden kann, wie es Rossana Rossanda in ihrer kritischen Untersuchung „revolutionärer Erfahrungen" in Italien, Frankreich, der Sowjetunion, Polen, China und Chile versucht.(4) Der Gedanke dieser Einheit ist indessen nicht so einfach zu vollziehen. Wenn die „Strukturalität der Struktur" (Derrida) ernstgenommen wird, verlangt sie eine Dekonstruktion von Einheiten wie derjenigen eines geschichtlich bestimmten Kontinuums, das sich auf das Handeln eines göttlichen Subjekts oder der menschlichen Subjekte zurückleitet. Dabei wäre es ebenso falsch, nunmehr den Strukturbegriff als die Selbigkeit der zugrundeliegenden Substanz zu betrachten, der den geschichtlichen Wandel und die Bedingungen, unter denen er abläuft, zum Akzidentellen herabsetzt.

Ähnliches gilt für den Systembegriff. Die Systematik des dialektischen Denkens kann nicht aus einem einfachen Prinzip abgeleitet werden. Das würde auf ein idealistisches Erklärungsmodell hinauslaufen. Der materialistische Charakter der Dialektik schließt ein, auch wenn dies von den bisherigen Vertretern, in dieser Zuspitzung auch von Marx, nicht als notwendige Konsequenz des materialistischen Standpunkts gesehen worden ist, daß die Wirklichkeit zu ihrer angemessenen Erfassung ein mehrschichtiges, in sich gestuftes und variicrbares System von Systemen verlangt. Dabei ist die equi-libristischc Tendenz des systemtheoretischen Denkens kritisch daraufhin zu befragen, ob sie zu Recht bestehende Systeme stabilisiert oder ob ein neues, anders zusammengesetztes Systemgleichgewicht gesucht und angestrebt werden muß.

1. Die Geschichte der Dialektik in der Einheit von Kontinuität und Bruch

Das dialektische Denken hat bis zu Hegel und Marx keinen Traditionszusammenhang begründen können, für den man den Anspruch einer durchgehenden kontinuierlichen Entwicklung hatte erheben können. Und auch für die materialistische Dialektik nach Marx gilt, daß ihre Modelle neben der Linie über Engels und Lenin zu Mao bzw. zur heutigen UdSSR-Philosophie, die ihre eigenen Probleme hat, keine in sich zusammenhängende Tradition aufweisen.

Es lassen sich lediglich, von der Begründung der Systematik des dialektischen Denkens durch Hegel aus gesehen, in der Geschichte der Philosophie einzelne Elemente und Vorformen der Dialektik ausmachen. Dazu gehören: Heraklits „alles fließt," Zenons Paradoxien des Unendlichen, Platons dialogisches Prinzip und seine Lehre vom Geflecht der fünf obersten Gattungen, Aristoteles' Theorien der Möglichkeit und des Werdens, die neuplatonische Konzeption des Einen, aus dem das Viele hervorgeht und zu dem es zurückkehrt, Cusanus' Gedanke der coincidentia oppositorum und dann seit Descartes in den großen Systemen der neuzeitlichen Philosophie bei aller Unterschiedenheit die durchgehende These, „daß Begriffe endlicher Seiender durch einschränkende Determination der Idee des Absoluten gebildet" werden.(5) Kant gibt der Dialektik einen neuen, eher negativen Sinn, daß sich das Denken des Absoluten notwendig in eine unauflösbare Antithetik verstrickt, die zu keiner objektiv gültigen Erkenntnis führt. Dies wird indessen schon bei Fichte wieder ins Positive gewendet, sofern aus der inneren Antithetik des absoluten Ich die Bestimmungen der Wirklichkeit entspringen. Wenn Schelling in diesem Rahmen die objektive Seite des Denkens und der Wirklichkeit anmahnt, die aber nach seiner Auffassung ebenfalls im Bewußtsein ihren Grund hat, erweist er sich als unmittelbarer Vorgänger Hegels, während Schleiermacher in einem tiefergellenden Gegensatz zu Fichte, indem er das Wissen auf einer Doppelheit von Prinzipien aufbaut, die wegen der sprachlichen Verfaßtheit des Wissens nicht hintergehbar ist, ein eigenes, an Platons Dialogik orientiertes Dialektik-Modell entwickelt.

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Diese idealistische Vorgeschichte der Dialektik ist freilich durch eine umfassende Gegenrechnung auszugleichen, die nicht so sehr von Hegels Systematik des dialektischen Denkens als von Marx' Benutzung und Veränderung dieser Systematik ausgeht. Der antike Materialismus Demokrits und Epikurs ist, wie schon Marx' Dissertation zeigt,(6) ebenso wichtig wie die „Aristotelische Linke," auf deren Bestehen Bloch aufmerksam gemacht hat.(7) Die politische Relevanz des Materialismus wird zuerst in der französischen und englischen Aufklärung artikuliert. Dies ist für sich schon ein zentrales Thema dialektischer Theorie; es ruft aber auch noch andere wichtige Elemente des dialektischen Denkens hervor. Ferner werden von Lenin her eigene Voraussetzungen der russischen Geschichte, von Mao her solche der chinesischen Geschichte wichtig, für die aufgrund des nachmarxschen Materialismusverständnisses die Trennung in idealistische und materialistische Traditionszusammenhänge von vornherein zu vermeiden ist.

Für den weiteren Verlauf der Geschichte nach Hegel und Marx ist dann die Einheit und Vielgestaltigkeit der daran anschließenden Dialektik-Auffassungen zu thematisieren, von denen in diesem Nachwort schon die Rede war. Daneben ist das Weiterbestehen eines idealistisch begründeten dialektischen Denkens in der Existenzphilosophie zu beachten, das von Kierkegaard ausgeht, über Jaspers und Heidegger zu Sartre führt und das bei dem letzteren folgerichtig in eine von Marx her weitergedachte materialistische Konzeption einbezogen wird, die den Gegensatz von Idealismus und Materialismus als seiner prinzipiellen Gegenseite überwunden hat.

Da die Dialektik als systematische Aufgabe den Zusammenhang der Philosophie und der Wissenschaften mit dem Leben und Denken des Alltags in seinen politisch-gesellschaftlichen Dimensionen zu klären sucht, kann sie bei der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte die theoretischen Elemente nicht losgelöst von der jeweils gegebenen politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit betrachten. Sie hat für das Auftreten der Elemente und Vorformen des dialektischen Denkens und den Theoriezusammenhang, in dem dies geschieht, die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen aufzuweisen. Ebenso bedarf das Entstehen und die Ausbildung der Systematik des dialektischen Denkens bei Hegel und Marx einer solchen realgeschichtlich, vor allem sozial- und ökonomiegeschichtlich ausgreifenden Erklärung. Die Entwicklungen der Dialektik nach Marx stehen dann selbst vor der Aufgabe, ihren Zusammenhang mit der politischen und gesellschaftlichen Situation deutlich zu machen, und sind daran /u messen, inwieweit sie sich dieser Aufgabe gestellt und zu ihrer Lösung beigetragen haben.

Bei der Interpretation der Elemente und Vorformen des dialektischen Denkens vor Hegel und Marx, für die selbst kein Anspruch kontinuierlicher Entwicklung erhoben wird, stellt sich die Frage, ob sie gewissermaßen in einem kontinuierlichen Strom philosophischer Überlieferungen mitgeführt werden oder ob es voneinander völlig abgetrennte, in sich abgeschlossene Systeme des Wissens sind, in denen sie auftreten. Ebenso ergibt sich für die weiterwirkende Geschichte der Dialektik nach Hegel und Marx, vor allem für die Linie über Engels und Lenin zu Mao bzw. zur heutigen UdSSR-Philosophie das Problem, daß hier durchgehende Linien und Brüche, die aus der vorhergehenden Geschichte nicht erklärt werden können, vorhanden sind und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.

Die Annahme eines Kontinuums von Entwicklungen, die auf Hegel und Marx zulaufen, dort zusammengefaßt und dann als gemeinsame Geschichte der Dialektik weitergeführt werden, verbietet sich schon deshalb, weil ein solches Kontinuum lediglich für die idealistische Vorgeschichte der Dialektik konstruiert werden kann, die materialistische Philosophie ihr gegenüber allenfalls als Unterströmung, als gelegentlich hervortretende Alternative aufgeführt werden kann. Dieses Schema verrät allzu deutlich, daß die herrschenden Ideologien, die vom Idealismus Unterstützung erwarten können, jedenfalls nichts zu befürchten haben, da er seine praktisch-politische Relevanz negiert oder in der Schwebe rein theoretischer Erörterung hält, für die Entstehungsbedingungen des Kontinuitätstheorems verantwortlich zeichnen. Umgekehrt führt die Überakzentuierung der Brüche, bei der die philosophischen Theoreme auf verschiedene Systeme des Wissens zurückgerechnet werden, die untereinander keinen Zusammenhang aufweiscn, zu agnostizistischen Konsequenzen. Wenn das Hervortreten bestimmter Verhältnisse, Sichtweisen oder Wertungen auf keine Weise aus der vorausgehenden Geschichte erklärt werden kann, sind auch die Bedingungen für die Mitwirkung am darauf beruhenden

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Geschichtsprozeß nicht rational ableitbar oder begründbar.

Für den Geschichtsraum der europäisch-abendländischen Philosophie, in dem Entstehung und Wirkung der Dialektik bis heute primär erforscht werden müssen, läßt sich die Einheit von Kontinuitäten und Brüchen im „verstandenen Arbeitsprozeß" (Bloch) festmachen. Die systematische Bearbeitung der Natur durch den Menschen, die auf der Grundlage der prinzipiellen Trennung von materieller und geistiger Arbeit geschieht, bildet den allgemeinen Rahmen im Sinne eines Spielraums von Möglichkeiten, innerhalb dessen verschiedene ökonomische und soziale Grundverhältnisse konstituiert und jeweils zum Ausgangspunkt bestimmter Entwicklungen gemacht werden. In diesen Verhältnissen entstehen wiederum verschiedene theoretische Formationen, die für deren Entfaltung und Erhaltung bestimmte Funktionen bekommen. Die feudale Gesellschaftsordnung mit dem theologisch-philosophischen System des Wissens, das ihr zugehört, muß z.B. von völlig anderen Bedingungen aus erklärt werden als die bürgerliche Produktions- und Lebensweise samt ihren wissenschaftlich-theoretischen Entwicklungen. Aber für beide Gesellschaftsformen gilt, daß sie eine Grundmöglichkeit der Naturbearbeitung durch den Menschen auf der Grundlage der Arbeitsteilung zur Entfaltung bringen.

Die innere Dialektik des allgemeinen Arbeitsprozesses bildet die Strukturierung des Rahmens eines Möglichkeitsspielraums, in dem unterschiedliche, voneinander unabhängige gesellschaftlich-politische und theoretische Systeme als konkrete Ausfüllung des Spielraums entstehen. Von daher spricht Lukacs von der Arbeit als dem „Modell der gesellschaftlichen Praxis" und macht sie zur systematischen Grundlage seiner „Ontotogie des gesellschaftlichen Seins."(8) Ontologie ist dabei freilich ein problematischer Begriff, weil das gesellschaftliche Sein, das auf der beschriebenen Naturbearbeitung durch den Menschen beruht, eine geschichtliche Größe ist, die zwar einen sehr hohen Allgemeinheitsgrad besitzt, aber doch an das in sich dialektisch strukturierte Einheitsprinzip der Grundmöglichkeiten arbeitsteilig organisierter Arbeitsprozesse gebunden ist.

Für eine dialektische Erforschung der Geschichte der Dialektik ergibt sich daraus folgendes Schema:

I. Elemente des dialektischen Denkens .

II. Gesellschaftlicher Lebenszusammenhang III. System des Wissens '' jeweils für die verschiedenen Epochen

1. in der idealistischen Vorgeschichte der Dialektik

2. in der materialistischen Vorgeschichte der Dialektik

3. in der systematischen Grundlegung der Dialektik '

4. in der Wirkungsgeschichte der systematisierten Dialektik.

2. Das System des dialektischen Denkens als Konstituierung eines dynamischen mehrschichtigen Systembegriffs

Den Ausgangspunkt für die Systematisierungsversuche der Dialektik bildet auch heute noch Hegels „Wissenschaft der Logik" im Zusammenhang mit seiner Ausarbeitung realphilosophischer Teile des Systems der Philosophie. Aber man muß diese Texte freilich "gegen den Strich lesen". Die Bestimmungen des reinen Denkenr, ihr Ineinanderübergehen (Logik des Seins), ihre Verhältnismäßigkeit (Logik des Wesens) und ihre Selbstdurchsichtigkeit (Logik des Begriffs) sind daraufhin zu befragen, welcher Realitätsgehalt ihnen zugrundeliegt, in ihnen aufgearbeitet ist. Von daher ist die Argumentation in den Abschnitten F.2 und 3 des I. Kapitels dieses Buches, die primär kritisch gerichtet ist, in eine konstruktive Übernahme und Modifikation des Hegelschen dialektischen Systems umzudenken: Die konkreten Analysen gesellschaftlich-geschichtlicher Verhältnisse in Hegels „Rechtsphilosophie" und in seinen „Vorlesungen zur

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Philosophie der Weltgeschichte," sowie Kritik der darin enthaltenen Motive der Vergottung des Staats und des Mythos des Weltgeists; Die Bewegungsformen des dialektischen Denkens in Hegels „Wissenschaft der Logik" und Kritik ihrer mystifzierten Gestalt. Das bedeutet, in paralleler, aber umgekehrter (und damit unmythologischer) Richtung zu Hegel ist mit den realen Wissenschaften zu beginnen und von ihnen aus zu den allgemeinen Kategorien und Bewegungsformen des dialektischen Denkens vorzustoßen. Die Wissenschaften sind dabei nicht als solche, wie sie von sich aus sind, zu nehmen, sondern als Teil der gesellschaftlich-politischen Gesamtwirklichkeit; und sie müssen zu einer Reflexion ihrer Situierung in dieser Wirklichkeit gebracht werden.

Marx hat diesen Prozeß beispielhaft an der Kritik der politischen Ökonomie(9) vorgeführt. Die Analysen der positiven Wissenschaft führen zurück auf allgemeine abstrakte Bestimmungen, die sich für sich genommen zu „immer dünneren Abstrakta," schließlich zum leeren Formalismus verflüchtigen. Es kommt darauf an, innerhalb der einfachen Bestimmungen dieser Wissenschaft die einfachste Bestimmung auszumachen, die als solche den Weg zu sich hin als zunehmende Vereinfachung strukturiert. Sie kann zugleich den Ausgangspunkt für die Wiederzusammensetzung der einfachen Bestimmungen bilden. Die Konkretion, die durch eine solche Synthese erreicht wird, ist . die theoretische Reproduktion des Konkreten der gegebenen Verhältnisse.

Nun hat Althusser mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß der Ausgangspunkt der materialistischen Dialektik „ein .schon gegebenes' komplexes, strukturiertes Ganzes" ist.(10) Dieser Sachvcrhalt ergibt sich auch aus dem Marxschen Ansatz, wenn man bedenkt, daß es gegebene konkrete Verhältnisse sind, die die dialektische Methode geistig reproduziert. Die einfachste Bestimmung, auf die sich die Bestimmungen der wissenschaftlichen Analyse zurückbringen lassen, ist demgemäß eine Verhältnisbestimmung. Sofern sie widersprüchlichen gegebenen Verhältnissen zugrundeliegt, ist sie auf der Stufe größtmöglicher Einfachheit noch immer ein als widersprüchliches Verhältnisstrukturiertes Ganzes. Die Wicderzusammensetzung der einfachen Bestimmungen bedingt eine fortschreitende Komplexion dieses einfachsten Komplexes (Verhältnisses) zu einem Verhältnis von Verhältnissen. Dies bildet den in der Sache gelegenen Grund für die Konzeption eines Systems von Systemen zur Erfassung gesellschaftlich bestimmter Zusammenhänge.

Die „theoretische Praxis," die von einer ersten über eine zweite zu einer dritten Allgemeinheit führt, bestimmt sich nach Marx - im Unterschied zu den bei Althusser konzipierten Stufen(11) - als der Weg von der chaotischkonkreten Allgemeinheit der gegebenen Verhältnisse zur einfachsten abstrakten Allgemeinheit des denkenden Erfassens dieser Gegebenheit, die in sich als widersprüchliches Verhältnis strukturiert ist, und von dort zur geordnet-konkreten Allgemeinheit der als Verhältnis von Verhältnissen begriffenen Wirklichkeit. Damit ist das Prinzip angegeben, nach dem die Systematik des dialektischen Denkens in Hegels „Wissenschaft der Logik" umgebaut werden muß. Die Bestimmungen der Verhältnisse (die Kategorien der Relation und der Modalität) stehen am Anfang. Die Seinsbestimmungen der einzelnen Dinge (die Kategorien der Qualität, Quantität und des Maßes) sind innerhalb der Verhältnisbestimmungen der Wirklichkeit zu isolieren, ohne daß der Bezug auf die Verhältnisse, in denen sie existieren, dabei verlorengeht. Die Selbstdurchsichtigkeit des theoretischen Prozesses (die Rückkehr des Denkens zu sich), die auf diese Weise erreicht wird, ist keine absolute, sondern eine auf das Umfeld des Handelns bezogene, innerhalb dessen der Theorieprozeß zur praktischen Orientierung verhilft.

Auf der Grundlage des Marxschen Beispiels kann man allgemein festhalten: Von den positiven Wissenschaften aus wird der in ihnen praktizierte Analyse-Prozeß als dialektisch-analytisch strukturiert, indem die gefundenen einfachen Bestimmungen des jeweiligen Sachgebiets in ihrem Gefalle auf die einfachste Bestimmung hin angeordnet werden. Von dieser geht dann ein dialektisch-synthetischer Prozeß aus, der die Ergebnisse der betreffenden Wissenschaft als eine in sich gestufte Systematik darstellt, durch die ihre handlungsorientieende Relevanz einsichtig werden soll. Die Dialektik vollzieht in dieser Funktion eine metawissenschaftlich geleitete Reflexion, die aber auch die Wissenschaften durchdringt. Sie vermag die Wissenschaften, von denen aus und in denen sie diese Reflexion ausführt, auf ein gemeinsames Projekt hin zu orientieren, das man als „Theorie

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der Gegenwart" fassen kann.

Schematisch dargestellt, verläuft die dialektische Denkbewegung im Anschluß an die Wissenschaften und in ihnen folgendermaßen: siehe Seite 304.

Von der modernen Systemtheorie kann die dialektische Wissenschaft Formulierungshilfe für den angemessenen Ausdruck ihrer in sich gestuften Systematik erwarten.

Aber sie kann die Formalisierung und Schematisierung ihrer Ergebnisse nicht als Selbstzweck betrachten. Sie bleibt auf ihren Sachgegenstand bezogen: die Verknüpfung der wissenschaftlichen Probleme mit denen des alltäglichen Lebens in seinen politischen und gesellschaftlichen Dimensionen. Deshalb wird sie die Formalisierungen und Schematisierungen in die politisch-praktischen Zielvorstellungen einbeziehen, zu deren Klärung sie beiträgt.

Die „Theorie der Gegenwart," zu deren Konstitution die Wissenschaften unter dialektischer Perspektive kooperieren, zielt auf die Veränderbarkeit der Gegenwart. Der Aufweis der natürlichen und technischen Bedingungen, die notwendig sind, um im Blick auf die Erhaltung des natürlichen Gleichgewichts, die Sicherung der Energie- und Rohstoffversorgung u. dgl. drohende Katastrophen zu vermeiden, bezeichnet nur die negative Seite der Veränderungsproblematik. Ihre positive Perspektive läßt sich durch die Hilfe der historischen Wissenschaften klären, die mit dem Aufweis der Begrenzung des MöelichkeiKsnielraums der bisherigen Geschichte, der Naturbearbeitung auf der Grundlage der prinzipiellen Teilung von materieller und geistiger Arbeit, die Voraussetzungen für die Überschreitung dieser Grenze sichtbar machen. Hier verflechten sich auch für die Dialektik als Wissenschaft die systematischen und die historischen Forschungsrichtungen. Die Erforschung der Geschichte verdeutlicht für die Gegenwart die Möglichkeiten und Tendenzen ihrer Veränderbarkeit.

ANMERKUNGEN

1) Hier sind nicht nur die historischen Arbeiten zur dialektischen Philosophie zu nennen, sondern auch die systematischen Bemühungen, die indessen bisher divergente Ansätze nebeneinanderstellen oder der Sache mehr oder weniger äußerlich bleiben. Vgl.

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Goldmann/ Harmsen/van Santen/Schweppenhäuser, Diulekliek en maatschappijkritiek (1970); Diemer, Elementarkurs Philosophie. Dialektik (1976); Van Dooren, Duilekliek. Een historische en systematische inleiding (1977).

2) In seinem Beitrag „Tussen Utopie en werkelijkheid" stellt Sperna Weiland einen interessanten Vergleich an zwischen 1918 ff. und der veränderten Situation seit 1923 auf der einen Seite, 1968 (f. und der veränderten Situation in den 7oer Jahren auf der anderen Seite.

3) Wellmer, Kritische Gexellschaftslheorit und Positivismus, S. 8.

4) Rossanda, Über die Dialektik von Kontinuität und Bruch.

5) Röd, Dialektische Philosophie der Neuzeit, vol. i,S. 15.

6)Marx, „Oilfcrcn/der demokritischcn und epikureischen Naturphilosophie," in MEW, vol. i.

7) Bloch, „Avicenna und die Aristotelische Linke," in Das Materialismusproblem, S. 479-546.

8) Lukacs, Zur Ontolonie des gesellschaftlichen Seins. Die Arbeit.

9) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 21-25; vgl. in diesem Band Kapittel II, Abschnitt C.

10) Althusser, Für Marx, S. 137.

11) a.a.O., S. 124-135.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das Nachwort des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 291-305

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MODELLE DER MATERIALISTISCHEN DIALEKTIKBEITRÄGE DER BOCHUMER DIALEKTIK-ARBEITSGEMEINSCHAFT

herausgegeben von HEINZ KIMMERLE

12/07

trendonlinezeitung

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BIBLIOGRAPHIEvon Ruth Grossmass, Lothar Kuhlmann Zur Kapitelübersicht

Vorbemerkung

Die Bibliographie ist alphabetisch nach Verfassernamen geordnet. Bei mehreren Titeln eines Verfassers werden auch die einzelnen Titel in alphabetischer Reihenfolge angeführt.

Um eine zeitliche Einordnung der Literatur zu ermöglichen, werden da, wo dies hilfreich zu sein scheint, die Daten der Ersterscheinung (auch wenn diese nicht deutschsprachig ist) in Klammern mit hochgestellter 1 angegeben.

Die Umschrift aus den slawischen Sprachen folgt im Allgemeinen der üblichen bibliothekarischen Transkription. Abweichende Transkriptionen in Zitaten, Verfassernamen usw. wurden jedoch beibehalten.

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Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist das 1. Kapitel des Buches: Modelle der materialistischen Dialektik - Beiträge der Bochumer Dialektikarbeitsgemeinschaft, hrg. von Heinz Kimmerle, Den Haag 1978, S. 307-325

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