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JOSHUA FOER Alles im Kopf behalten

Joshua Foer alles im Kopf behalten - bücher.de · 2019-12-19 · Die amerikanische originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Moonwalking With einstein« bei The Penguin Press,

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Joshua Foer

alles im Kopf behalten

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Buch

Wie können sich manche Kellner ellenlange Bestellungen merken, ohne sie aufzuschreiben? Warum fällt es dagegen vielen schülern schwer, eine Ballade

von schiller auswendig zu lernen? auf seiner suche nach antworten auf diese Fragen trifft der selbst ziemlich vergessliche Joshua Foer zahlreiche Geistesakrobaten und schachmeister, amnesiepatienten und Wissenschaftler. Je mehr er darüber erfährt, wie das Gehirn funktioniert, wie es Informationen aufnimmt und warum es sie wieder verliert, desto mehr wird klar: sensationelle Gedächtnisleistungen

sind keine hexerei. Mit hilfe verschiedener Techniken und mit der unterstützung eines Ge-dächtnisgroßmeisters siegt er schließlich selbst bei den usa Memory Championships und stellt sogar einen neuen rekord auf: es gelingt ihm, die zufällige reihenfolge von 52 spielkarten nach nur knapp 2 Minuten korrekt wiederzugeben! Damit beweist er: Mit ein bisschen Fleiß und der richtigen

Technik kann dies jeder schaffen. »alles im Kopf behalten« ist die spannende und informative Geschichte dieser

sehr persönlichen reise zu den Quellen unseres Gedächtnisses.

Autor

Joshua Foer ist in Washington, D. C., geboren und studierte Wissenschafts-journalismus in Yale. er arbeitet als freier Journalist u. a. für die New York Times, Washington Post und Slate. er ist der jüngere Bruder der erfolgreichen autoren Franklin Foer und Jonathan safran Foer. als Joshua Foer die usa Memory Championships als Journalist begleitete, konnte er beobachten, dass nicht besondere Gedächtnisgaben ausschlaggebend für den erfolg der Wettkämpfer waren, sondern ihre Techniken des Memorierens. so kam ihm die Idee, selbst sein Gedächtnis zu trainieren und an den Championships

teilzunehmen – und er gewann.

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Joshua Foeralles im

Kopf behaltenMit lockerem hirnjogging

zur Gedächtnismeisterschaft

Mit einem Vorwort von Dr. Gunther Karsten

aus dem englischen

von ursula rahn-huber

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Die amerikanische originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Moonwalking With einstein«

bei The Penguin Press, New York.

Verlagsgruppe random house FsC-Deu-0100

Das FsC®-zertifizierte Papier Holmen Book Cream für dieses Buch liefert holmen Paper, hallstavik, schweden.

1. auflageTaschenbuchausgabe Dezember 2012Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe random house Gmbh© der deutschsprachigen ausgabe 2011

by riemann Verlag, München,in der Verlagsgruppe random house Gmbh

unter dem Titel »Moonwalk mit einstein«© 2011 Joshua Foer

Lektorat: ralf Lay, Mönchengladbachumschlaggestaltung: uNo Werbeagentur, München

umschlagabbildung: © FinePic®, MünchenJs · herstellung: str.

Druck und einband: GGP Media Gmbh, PößneckPrinted in Germany

IsBN: 978-3-442-15738-9

www.goldmann-verlag.de

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Für Dinah: alles.

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Inhalt

Vorwort von Dr. Gunther Karsten · 9

1 Der klügste Kopf ist schwer zu finden · 15

2 Der Mann, der sich zu viel merkte · 37

3 Der vergesslichste Mensch der Welt · 70

4 Der experten-experte · 94

5 Der Gedächtnispalast · 118

6 Wie man Gedichte auswendig lernt · 139

7 Das ende des erinnerns · 174

8 Das o. K.-Plateau · 206

9 Das talentierte Zehntel · 236

10 Der kleine »rain Man« in jedem von uns · 265

11 Die us-Gedächtnismeisterschaft · 298

epilog · 325

Dank · 341

anmerkungen · 343

Bibliografie · 359

register · 371

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Vorwort Von Dr . Gunther Karsten

Dieses Buch beschreibt eine unglaubliche erfolgsstory. eine authentische Geschichte, die ganz harmlos begann, aber dann ein furioses ende hatte. Ich selbst war als mehrfacher Deutscher Gedächtnismeister (und Gedächtniswelt-meister 2007) Teil dieser »erfolgsstory des Geistes« und konnte somit von anfang an alles mitverfolgen. und so fing es an:

ein 22-jähriger amerikanischer Journalist bekommt den auf-trag, über die us-Gedächtnismeisterschaft zu berichten. also fliegt er nach New York, beobachtet, interviewt und schreibt darüber – und lässt sich schließlich in den Bann dieses faszinie-renden neuen Mentalsports ziehen. er möchte einfach mehr darüber erfahren, wie die schier unglaublichen Gedächtniswelt-rekorde zu erreichen sind, die (seit einführung des Gedächt-nissports im Jahr 1991) von Jahr zu Jahr weiter hochgeschraubt werden. so ist es für ihn noch völlig unverständlich, wie man z. B. fast 200 Vor- und Nachnamen und die zugehörigen Gesich-ter in 15 Minuten abspeichern kann, bis zu 300 Wörter in der richtigen reihenfolge in 15 Minuten behält, 2000 Ziffern in 1 stunde zu memorieren in der Lage ist oder – so verrückt es klingen mag – mehr als 4000 Binärzahlen korrekt in nur 30 Minuten auswendig lernen kann.

er begeistert einen Buchagenten von seiner Idee, diesen Ge-dächtnishöchstleistungen auf den Grund zu gehen und »opfert« ein Jahr seines Lebens diesem Thema (denn obgleich er ein studium an der berühmten Yale-universität abschließen konn-

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te, schienen die Gedächtnistechniken, in die er nun einblicke gewinnen konnte, noch ungeahnte Möglichkeiten zu schaffen). also legt er los und reist im Zuge seiner recherche zu den führenden Gedächtnissportlern in der ganzen Welt (auch zu mir nach erfurt), löchert sie mit unzähligen Fragen und besucht über viele Monate hinweg nationale Meisterschaften sowie die Gedächtnisweltmeisterschaft in oxford, um die weltbesten Mentalathleten dort aufs genaueste zu studieren und ihre Tech-niken, strategien, aber auch psychologischen Tricks und Kniffe zu erfahren (was hat es mich genervt, als ich bei der Weltmeis-terschaft nach einer verpatzten Disziplin detailliert in seinen Kassettenrekorder sprechen sollte, welche Fehler ich gemacht habe und warum …). und dann fing er selber an zu trainie-ren. Zwar anfangs widerstrebend, dann doch hartnäckig und schließlich erfolgreich: Denn nur einige Monate später konnte er die us-amerikanische Gedächtnismeisterschaft gewinnen!

unterdessen war ganz erstaunliches zu erfahren: ein ame-rikanischer Verlag hatte nicht nur sein Buch für 1,2 Millionen us-Dollar gekauft, sondern auch die Filmrechte waren bereits von Columbia Picture erworben worden – dabei hatte er erst wenige Zeilen des Buches zu Papier gebracht!

und tatsächlich: Das Buch wurde ein riesenerfolg – ein »New York Times«-Bestseller mit Übersetzungen in viele spra-chen – und das nicht zu unrecht. Denn es ist eine wunderbare Geschichte, bei der man nicht nur auf eine persönliche erfolgs-reise in unterhaltsamer, lustiger und spannender Weise mitge-nommen wird, sondern dabei einen intensiven einblick in die Welt des Gedächtnisses erhält. so erzählt Joshua Foer z. B. über sein Treffen mit einem Mann, dessen erinnerungen der gesam-ten letzten 50 Jahre gelöscht sind und der nichts mehr langfris-tig speichern kann (seinen langjährigen Nachbarn begrüßt er immer so, als sehe er ihn zum ersten Mal im Leben); schreibt

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ergreifend über seinen Besuch des weltbekannten autisten Kim Peak (nach dem der Film »rain Man« entstand), der den Inhalt von über 9000 Büchern im Gedächtnis abgespeichert hatte und der zwei Buchseiten gleichzeitig lesen konnte (jeweils mit ei-nem auge!); vermittelt dem Leser faszinierende einsichten u. a. über die entwicklung unserer schrift oder den historischen Werdegang der Gedächtniskunst; oder er berichtet in humor-voll authentischer art über die spektakulären aufnahmerituale des »exklusiven« KL7-Gedächtnisklubs sowie über dreiste Täuschungsmanöver, bei denen sogar renommierte Professoren durch ihre unkenntnis der verblüffenden Gedächtnistechniken an der Nase herumgeführt wurden.

Das Buch ist somit keineswegs ein Lehrbuch über Gedächt-nistechniken und Lernstrategien. Dies will es auch nicht sein. Vielmehr werden die erstaunlichen Merkmethoden der Ge-dächtnischampions in die einzelnen erzählstränge des autors auf unaufdringliche art eingewoben und mit kleinen Übungen dem Leser nahegebracht. so erfährt er am »eigenen Geiste«, dass sie tatsächlich – für jeden – funktionieren.

und wer das Buch am ende zuschlägt, hat bestimmt Lust auf mehr bekommen, denn er/sie weiß spätestens dann, dass man so manche unserer etwa 100 Milliarden Gehirnzellen besser nutzen kann!

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Es gab keine Überlebenden.angehörige strömten zu dem Festsaal, der damals, im 5. Jahr-

hundert v. Chr., zum Katastrophenschauplatz geworden war. Mit bloßen händen wühlten sie in den Trümmern, um etwas zu finden, was zur Identifizierung der Verschütteten dienen könnte – einen ring, eine sandale, irgendetwas, was eine Zuordnung der Leichen und damit deren Bestattung ermöglichen würde.

Wenige Minuten zuvor hatte der griechische Lyriker simo-nides von Keos eine ode an skopas, einen thessalischen edlen, vorgetragen. er war kaum an seinen Platz zurückgekehrt, als ihm ein Bote auf die schulter klopfte. Zwei junge reiter seien gekommen. sie würden draußen auf ihn warten und hätten eine dringende Nachricht für ihn. er erhob sich und trat ins Freie. Just in dem augenblick, als er die schwelle überschritt, stürzte das Dach des Festsaals ein, und alles verschwand in einer donnernden Wolke aus Marmorbrocken und staub.

Von einem Moment zum anderen sah sich simonides ei-nem Meer aus schutt gegenüber, das alles Leben unter sich begraben hatte. Wo eben noch fröhliches Lachen gewesen war, blieb nichts als schall und rauch. scharen von helfern fingen frenetisch zu graben an. Die Leichen, die sie aus den Trümmern zogen, waren bis zur unkenntlichkeit zermalmt. Keiner konnte mit sicherheit sagen, wer wirklich im saal gewesen war. Die Tragödie spitzte sich immer weiter zu.

Dann geschah etwas Bemerkenswertes, was die menschliche

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auffassung vom Gedächtnis für immer verändern sollte. simo-nides verschloss seine sinne für das Chaos ringsum und drehte die Zeit im Geiste zurück. aus dem Marmorschutt wuchsen die alten säulen empor, und über ihm fügten sich die gebors-tenen Deckenfriese wieder zusammen. aus dem in scherben liegenden steinzeug formten sich schalen; die holzsplitter, die aus den Trümmern ragten, wurden wieder zum Tisch. und si-monides sah jeden einzelnen der Festgäste an seinem Platz vor sich sitzen. In dem fröhlichen Treiben hatte niemand etwas von der bevorstehenden Katastrophe geahnt. Da saß skopas lachend am Kopfende des Tisches, ihm gegenüber wischte einer seiner Dichterkollegen die reste seines essens mit einem stück Brot vom Teller. Daneben ein edler mit feixendem Gesicht. simoni-des wandte sich zum Fenster und sah die Boten auf sich zukom-men. Wie es aussah, hatten sie eine wichtige Nachricht für ihn.

als er schließlich die augen aufschlug, nahm er die am Bo-den zerstörten angehörigen einen nach dem anderen bei der hand und führte sie, vorsichtig über die Trümmer steigend, exakt an die stelle, an der ihr Verwandter gesessen hatte.

Der Legende zufolge war dies die Geburtsstunde der Ge-dächtniskunst.

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Kapitel 1

Der KlüGste Kopf I st schwer zu f InDen

Dom DeLuise, der Fettwanst vom Dienst (und Kreuz-Fünf), ließ sich vor meinem geistigen auge zu folgenden ungewöhnlichen handlungen hinreißen: er schleuderte einen dicken spuckebatzen (Kreuz-Neun) in albert einsteins weißes Wuschelhaar (Karo-Drei) und landete einen vernichtenden Karate-Tritt (Pik-Fünf) exakt zwischen die Beine von Papst Benedikt XVI. (Karo-sechs). Michael Jackson (herz-König) trieb es noch bizarrer. er entleerte seinen Darm (Kreuz-Zwei) auf ein Lachsbrötchen (Kreuz-König) und sammelte seine Fürze (Kreuz-Dame) in einem Ballon (Pik-sechs). rhea Perlman, die kleinwüchsige Barfrau aus der TV-serie »Cheers« (und Pik-Dame), wurde in flagranti erwischt, wie sie mit dem 2,30 Meter großen sudanesischen Basketballstar Manute Bol (Kreuz-sieben) zugange war – und zwar bei dem unzweideutigen (und in diesem Fall anatomisch höchst unwahrscheinlichen) akt mit zwei Ziffern (Kreuz-Zwei).

Diese zwielichtige szenerie, die ich hier ohne sonderlichen stolz zu Papier bringe, sagt viel über die ungewöhnliche si-tuation aus, in der ich mich momentan befinde. Links neben mir sitzt ram Kolli, ein unrasierter 25-jähriger unternehmens-berater aus richmond, Virginia, der zugleich Titelverteidiger der us-Gedächtnismeisterschaft ist. Von rechts starrt mich die Fernsehkamera eines überregionalen (wenn auch wenig ge-schauten) Kabelfernsehsenders an. hinter mir, außerhalb meines Blickfelds, damit sie mich nicht stören können, haben sich etwa

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hundert Zuschauer und ein paar Fernsehreporter eingefunden, die den Wettkampf Zug um Zug analysieren. einer von ihnen ist Kenny rice, ein altgedienter Boxkommentator mit Föhnfrisur, dessen sonore Märchenvorleserstimme nicht über die Tatsache hinwegzutäuschen vermag, dass ihn diese Zusammenkunft von sonderlingen reichlich zu verwirren scheint. Der andere, scott hagwood, ist der Pelé des us-Gedächtnissports, ein bärtiger 43-jähriger Chemieingenieur und viermaliger Gewinner der Meisterschaften in Fayetteville, North Carolina. In einer ecke des saals steht das objekt meiner Begierde bereit: ein kitschiger säulenpokal, auf dessen sockel eine silberne hand mit gold-lackierten Nägeln einen royal Flush in die höhe hält. Drei um sie herum drapierte kahlköpfige adler geben dem Ganzen ein patriotisches Gepräge. Die Preistrophäe ist größer als meine zweijährige Nichte (und wiegt weniger als die meisten ihrer stofftiere).

Das Publikum ist gehalten, keine Fotos mit Blitz zu schießen und absolute stille zu bewahren. Wobei sowieso keine Chan-ce besteht, dass ram und ich jemanden hören könnten. Wir tragen nämlich beide ohrstöpsel. Ich habe zusätzlich einen industrietauglichen Gehörschutz-Kopfhörer auf, wie er vom Bodenpersonal eines Flugzeugträgers stammen könnte (denn im eifer einer Gedächtnismeisterschaft kann es so etwas wie »taub genug« gar nicht geben). Ich habe die augen geschlos-sen. Vor mir auf dem Tisch liegen zwei gemischte Kartenspiele mit verdecktem Blatt. In wenigen Momenten wird der ober-schiedsrichter auf die stoppuhr drücken, und von da an bleiben mir fünf Minuten Zeit, um mir die reihenfolge der Karten in beiden stapeln einzuprägen.

Die ungewöhnliche Geschichte, die mich ins Finale der us-Gedächtnismeisterschaft geführt hat und mich jetzt schweißge-

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badet und wie angewurzelt auf diesem Platz sitzen lässt, hat ein Jahr zuvor auf einer verschneiten Landstraße irgendwo in Penn-sylvania begonnen. Von meinem Wohnort Washington, D. C., aus war ich unterwegs nach Lehigh Valley in Pennsylvania, um für die Zeitschrift Discover an der universität Kutztown ein Inter-view mit einem Physiktheoretiker zu führen, der ein Vakuum-kammergerät entwickelt hatte, mit dem sich angeblich das größ-te Popcorn der Welt produzieren ließ. Mein Weg führte durch das städtchen York, den sitz des Gewichthebermuseums, zu dem auch eine »ehrenhalle« gehörte; und ich meinte, mir das vor meinem ableben unbedingt noch ansehen zu müssen. au-ßerdem hatte ich eine stunde Zeit totzuschlagen.

Wie sich herausstellte, handelte es sich bei der ehrenhalle um nichts anderes als ein liebloses sammelsurium von alten Fotos und erinnerungsstücken, ausgestellt im erdgeschoss vom Büro-gebäude des größten us-amerikanischen hantelherstellers. Vom musealen standpunkt aus betrachtet war es reiner Müll. und doch sah ich hier zum ersten Mal ein schwarzweißfoto von Joe Greenstein, einem 1,65-Meter-Mann jüdisch-amerikanisch er herkunft, dem in den zwanziger Jahren diverse Großtaten den Beinamen »The Mighty atom« (etwa »das gewaltige atom«) eingebracht hatten, so beispielsweise das Zerbeißen von Viertel-dollarmünzen, während er auf einem Nagelbett lag und auf seiner Brust eine vierzehnköpfige Dixielandband spielte. ein andermal wechselte er alle vier reifen eines autos ohne jedes Werkzeug. Neben Greensteins Foto prangte ein schild mit der aufschrift »Der stärkste Mann der Welt«.

Beim Betrachten des Fotos stellte ich mir vor, dass es ziem-lich interessant sein dürfte, wenn sich der stärkste und der klügste Mensch der Welt einmal begegneten. Das »gewaltige atom« und einstein arm in arm: ein episches Nebeneinander von Muskeln und Geist. Zumindest aber würde ein hübsches

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Foto herausspringen, das sich gut an der Wand über meinem schreibtisch machte. Ich fragte mich, ob es je von irgendwem aufgenommen worden war. Nach meiner rückkehr ging ich ins Internet und fing an zu googeln. Der stärkste Mann der Welt war relativ leicht zu finden: er hieß Mariusz Pudzianowski, leb-te im polnischen Biala rawska und schaffte beim Kreuzheben 419 Kilo (etwa dreißig meiner Nichten).

Die suche nach dem klügsten Menschen der Welt gestalte-te sich komplizierter. Ich gab suchbegriffe ein wie »höchster IQ«, »Intelligenz-Champion«, »Begabtester Mensch der Welt«. Dabei erfuhr ich, dass es in New York City jemanden gab, bei dem ein IQ von 228 gemessen worden war. In ungarn lebte ein schachspieler, der schon einmal mit verbundenen augen 52 spiele gleichzeitig gespielt hatte. eine Inderin war in der Lage, innerhalb von fünfzig sekunden im Kopf die 23. Wurzel aus einer zweihundertstelligen Zahl zu ziehen. und von einem wurde behauptet, dass er einen vierdimensionalen rubikwürfel beherrschte (was immer das sein mochte). und natürlich stieß ich auf eine Vielzahl von Kandidaten, die eher in richtung stephen hawking gingen. so ist es eben: Geistiges Potenzial ist schwerer zu quantifizieren als Muskelkraft.

Meine suche im Netz führte mich jedoch zu einem fas-zinierenden Kandidaten, der wenn auch nicht der klügste Kopf der Welt, so doch zumindest eine art genialer Freak zu sein schien. er hieß Ben Pridmore und konnte sich in einer stunde die exakte reihenfolge einer Zahl mit 1528 Ziffern einprä-gen. Diejenigen unter uns, die einen hang zur humanistischen Bildung haben, dürfte beeindrucken, dass er sich zudem jedes Gedicht merkte, das man ihm vorlegte. er war der amtierende Gedächtnisweltmeister.

In den darauffolgenden Tagen wanderten meine Gedanken immer wieder zu Ben Pridmore. Mein eigenes Gedächtnis

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war allenfalls mittelmäßig. Ich vergaß regelmäßig, wo meine autoschlüssel waren (apropos auto: Wo hatte ich das eigentlich abgestellt?), dass ich etwas im Backofen hatte, den Geburtstag meiner Freundin, seit wann wir zusammen sind, den Valentins-tag, bei meinen eltern den Kellervorraum auszumisten (puh!), die Telefonnummern meiner Freunde, warum ich gerade den Kühlschrank aufgemacht habe, mein handy aufzuladen, den Namen des stabschefs im Weißen haus, wann am New Jer-sey Turnpike welches rasthaus kommt, in welchem Jahr die redskins zuletzt den super Bowl gewonnen haben – oder den WC-Deckel zuzumachen.

Ben Pridmore hingegen konnte sich in 32 sekunden die reihenfolge der spielkarten in einem gut durchgemischten Deck merken. Fünf Minuten reichten ihm, um 96 Geschichts-zahlen samt den dazugehörigen ereignissen dauerhaft in sei-nem Gedächtnis zu verankern. er hatte 50 000 stellen von Pi im Kopf. Beneidenswert! In jeder hinsicht! Ich hatte einmal gelesen, dass der normale Mensch etwa vierzig Tage im Jahr verplempert, um Dinge zu kompensieren, die er vergessen hat. um wie viel produktiver musste da Ben Pridmore sein – einmal abgesehen davon, dass er vorübergehend arbeitslos war?!

Von Tag zu Tag scheint der Berg der Informationen zu wachsen, die wir im Kopf behalten müssen: mehr Namen, mehr Passwörter, mehr Termine. Mit einem Gedächtnis wie dem von Ben Pridmore, so stellte ich mir vor, würde das Leben eine neue, eine bessere Qualität gewinnen. In unserem Kulturkreis werden wir permanent mit Botschaften überschwemmt, doch unser Gehirn nimmt so wenig davon auf. Das meiste geht zum einen ohr rein und zum anderen wieder raus. Läge der sinn des Lesens einzig im einprägen von Wissen, wäre es für mich mit sicherheit die ineffizienteste aktivität von allen. es kann vor-kommen, dass ich sechs stunden mit der Lektüre eines Buchs

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zubringe und am ende immer noch eine wolkige Vorstellung von seinem Inhalt habe. all diese Fakten und anekdoten, selbst die sätze, die so interessant sind, dass man sie unterstreichen sollte, haben es irgendwie an sich, mich kurzfristig zu beein-drucken, um dann wer weiß wohin zu verschwinden. Ich habe Bücher im regal, von denen ich nicht einmal weiß, ob ich sie gelesen habe oder nicht.

Was würde es wohl bedeuten, einfach so auf dieses ansonsten verlorene Wissen zugreifen zu können? Ich kam unweigerlich zu dem schluss, dass ich dadurch überzeugender, selbstbe-wusster und auf eine grundlegende Weise intelligenter werden würde. Gewiss wäre ich ein besserer Journalist, Freund und Lebensgefährte. Doch nicht nur das: Ich stellte mir vor, dass ich mit einem Gedächtnis wie dem von Ben Pridmore insgesamt achtsamer, vielleicht sogar weiser wäre. Nach der Devise, dass erfahrung die summe unserer erinnerungen und Weisheit die summe unserer erfahrungen ist, würde ein besseres Ge-dächtnis bedeuten, nicht nur mehr von der Welt, sondern auch mehr über mich selbst zu wissen. Mit sicherheit ist ein Teil des Vergessens, mit dem wir uns anscheinend abzufinden haben, durchaus gesund und notwendig. Wenn mir nicht etliche von den Dummheiten entfallen wären, die ich begangen habe, wäre ich wahrscheinlich ein unerträglicher Neurotiker. Doch wie viele wertvolle Ideen habe ich nicht weiterverfolgt, wie viele schlüsse nicht gezogen, bloß weil mein Gedächtnis lückenhaft gewesen ist?

Immer wieder ging mir etwas durch den sinn, was Ben Pridmore in einem Zeitungsinterview gesagt hatte und mich zu der Frage führte, inwiefern sein und mein Gedächtnis sich wirklich unterschieden. »es ist alles eine Frage der Technik. Man muss wissen, wie das Gedächtnis funktioniert«, hatte er dem reporter gesagt. »Im Prinzip kann das jeder schaffen.«

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Wenige Wochen nach meinem Besuch in der ehrenhalle der Gewichtheber fand ich mich in der neunzehnten etage des Fir-mensitzes von Con edison unweit des union square in Man-hattan wieder. Ich stand ganz hinten im Zuschauerraum und verfolgte mit eigenen augen die us-Gedächtnismeisterschaft des Jahres 2005. Inspiriert durch meine Faszination für Ben Pridmore, hatte ich beschlossen, in einem kurzen artikel für die Zeitschrift Slate von einer Veranstaltung zu berichten, die ich mir als eine art super Bowl der Gedächtnisgenies vorstellte.

Die szene, in die ich da hineinstolperte, war jedoch meilen-weit von einem Kampf der Titanen entfernt: eine handvoll Männer (und ein paar wenige Frauen) unterschiedlichen alters und hygienezustands brüteten über seiten mit zufällig ausge-wählten Zahlen und langen Wörterlisten. sie bezeichneten sich selbst als »Gedächtnissportler« oder »Mentalathleten«.

Fünf Punkte standen auf dem Programm: als erstes mussten die Teilnehmer ein 50-zeiliges unveröffentlichtes Gedicht mit dem Titel »The Tapestry of Me« (etwa »so bin ich gestrickt«) auswendig lernen. Dann legte man ihnen 99 Porträtfotos vor, die jeweils mit dem Vor- und Nachnamen des Betreffenden ver-sehen waren. Die aufgabe lautete, in fünfzehn Minuten so viele wie möglich davon zu behalten. ebenfalls in fünfzehn Minuten sollte eine Liste mit 300 zufällig zusammengestellten Wörtern, in weiteren fünf Minuten eine seite mit einer Zufallszahlen-folge von 1000 Ziffern (25 reihen à 40 Ziffern) und schließlich in noch einmal fünf Minuten die reihenfolge der spielkarten in einem gemischten Deck eingeprägt werden. unter den Kon-trahenten befanden sich zwei der 36 Gedächtnisgroßmeister der Welt, ein rang, der durch das Memorieren von tausend Zufalls-ziffern und der reihenfolge von zehn Kartenspielen in jeweils unter einer stunde sowie von einem Kartenspiel in unter zwei Minuten erlangt wird.

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Wenn Leistungen wie diese auf den ersten Blick wie völlig abgefahrene Partytricks erscheinen und sinnlos, wenn nicht gar leicht pathetisch wirken mögen, kam in meinen Gesprächen mit den Teilnehmern doch etwas wesentlich ernsthafteres zum Vorschein – eine Geschichte, die mich die Begrenztheit meines eigenen Geistes ebenso wie die grundsätzliche ausrichtung meiner schul- und universitätsbildung hinterfragen ließ.

Ich interviewte ed Cooke, einen jungen britischen Groß-meister, der eigens angereist war, um im Frühling schon einmal für die im sommer stattfindende Weltmeisterschaft zu trainieren (da er kein amerikaner war, wurden seine Leistungen hier nicht bewertet). unter anderem wollte ich von ihm wissen, wann er gemerkt habe, dass er ein savant sei.

»Ich bin doch kein savant«, entgegnete er lachend.»Fotografisches Gedächtnis?«, fragte ich.Wieder lachte er. »Das mit dem fotografischen Gedächtnis

ist ein grässlicher Mythos«, antwortete er. »so etwas gibt es gar nicht. Genau genommen ist mein Gedächtnis ziemlich durch-schnittlich. Wir alle hier haben ein Durchschnittsgedächtnis.«

Ziemlich starker Tobak angesichts der Tatsache, dass ich gera-de selbst miterlebt hatte, wie er 252 zufällig ausgewählte Ziffern ebenso mühelos aufgesagt hatte, als handelte es sich um seine eigene Telefonnummer.

»Du musst verstehen, dass selbst ein Durchschnittsgedächtnis zu bemerkenswerten Leistungen fähig ist, wenn man es richtig einsetzt«, erklärte er mir. ed hatte ein breites Gesicht und einen schulterlangen braunen Wuschelkopf. unter den Teilnehmern gehörte er sicherlich zum Kreis jener, die sich um ihr äußeres erscheinungsbild am wenigsten scheren. er trug einen anzug mit loser Krawatte und dazu völlig unpassend ein Paar mit der britischen Fahne bedruckte Flipflops. obwohl er erst 24 war, wirkte er körperlich dreimal so alt. er hinkte und hatte immer

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seinen – wie er es nannte – »Talisman« dabei, einen stock, auf den er wegen einer wieder aufgeflammten chronischen juve-nilen arthritis angewiesen war. Wie alle anderen Gedächtnis-sportler, mit denen ich sprach, und wie Ben Pridmore in seinem Interview bestand er darauf, dass jeder Mensch in der Lage sei, es ihnen gleichzutun. es gehe lediglich darum zu lernen, »gedächtnisfreundlicher zu denken« und die »außerordentlich einfache«, 2500 Jahre alte mnemotechnische Methode des »Ge-dächtnispalasts« anzuwenden, die simonides von Keos damals in den Trümmern der Festhalle erfunden haben soll.

Die Technik des Gedächtnispalasts – auch als »routen-« oder »Loci-Methode« und im weiteren sinne als »ars memorativa« oder »Gedächtniskunst« bekannt – wurde von römern wie Cicero und Quintilian in umfassenden regularien und an-leitungsbüchern ausformuliert. Im Mittelalter erlebte sie eine Blüte, galt sie hier doch als frommes Mittel, um sich von Pre-digten und Gebeten bis hin zu den strafen, die Übeltäter in der hölle erwarteten, alles einzuprägen, was als erinnerungswürdig erachtet wurde. es waren immer die gleichen Tricks, die an-gewandt wurden – ob von römischen senatoren, um sich ihre reden einzuprägen, vom athener staatsmann Themistokles, der der Überlieferung zufolge die Namen von 20 000 Bürgern im Kopf hatte, oder von mittelalterlichen Gelehrten, die damit ganze Bücher auswendig lernten.

Wie ed mir erklärte, betrachteten sich die Wettkämpfer als »Teilnehmer eines amateurforschungsprogramms« mit dem Ziel, eine uralte Tradition von Gedächtnisschulung zu retten, die vor hunderten von Jahren in Vergessenheit geraten sei. es gab Zeiten, so ed, in denen das erinnern alles bedeutete. ein trainiertes Gedächtnis war nicht nur ein praktisches Werkzeug, sondern eine elementare Facette eines jeden weltoffenen Geis-tes. Darüber hinaus galt die entwicklung des Gedächtnisses

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als eine Form von Charakterbildung – eine Möglichkeit, die Kardinaltugend der umsicht und im weiteren sinne der ethik zu entwickeln. Nur durch das erinnern, so die weitverbrei-tete Meinung, konnten Vorstellungen in der eigenen Psyche etabliert und deren Werte in sich aufgenommen werden. Die damaligen Techniken dienten nicht nur dazu, sinnlose Informa-tionen wie die reihenfolge von spielkarten abzuspeichern. sie waren vielmehr geeignet, wichtige schriften und Vorstellungen im Gehirn zu verankern.

Dann aber trat im 15. Jahrhundert Gutenberg auf den Plan und machte Bücher zu Massenerzeugnissen, sodass es mit der Zeit immer unwichtiger wurde, Fakten im Gedächtnis zu behalten, die sich ebenso gut auf einer gedruckten seite vor dem Vergessen bewahren ließen. Gedächtnistechniken, die einst eine säule der klassischen und mittelalterlichen Kultur gewesen waren, wurden in der renaissance mit den okkulten und esoterischen Traditionen der hermetik in einen Topf ge-worfen. Im Zeitalter der aufklärung waren sie in den rang bloßer Jahrmarkttricks gesunken und allenfalls in halbseidenen ratgeberbüchern zu finden. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts schließlich wurden sie aus der Versenkung geholt, um für exzentrische, singuläre Wettbewerbe wie diesen hier herzuhalten.

Die Leitfigur dieser renaissance des Gedächtnistrainings ist ein geschniegelter 67-jähriger britischer Lehrer und selbst-ernannter Guru namens Tony Buzan, der (wie es aussieht, ohne jede selbstironie) von sich behauptet, den höchsten »Kreativi-tätsquotienten« der Welt zu besitzen. als ich ihn in der Con-edison-Cafeteria traf, trug er einen marineblauen anzug mit fünf riesigen goldgeränderten Knöpfen. Mit dem zusätzlichen großen Knopf an seinem kragenlosen hemd sah er aus wie der Priester irgendeiner fernöstlichen Weltanschauung. am

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revers trug er eine anstecknadel in Form eines Neurons, und auf seiner uhr entdeckte ich die reproduktion von Dalís »Die Beständigkeit der erinnerung« (das Gemälde mit den zerflie-ßenden uhren). Die Teilnehmer des Wettbewerbs bezeichnete er als »Geisteskrieger«.

Mit seinem unrasierten, faltigen und an manchen stellen abschuppenden Gesicht sah Buzan ein Jahrzehnt älter aus als 67, doch sein übriger Körper wirkte so fit wie der eines Dreißig-jährigen. Wie er mir erzählte, ruderte er jeden Morgen 6 bis 10 Kilometer auf der Themse und achtete darauf, jede Menge »Ge-hirnfutter« in Form von Gemüse und Fisch zu sich zu nehmen. seine Devise lautete: »Wer Junkfood isst, hat Junk im Kopf. Wer gesund isst, ist auch gesund im Kopf.«

Buzan ging nicht, er glitt eher wie ein hockeypuck dahin (wie er mir später verriet, war dies das ergebnis aus vierzig-jähriger anwendung der alexander-Technik). Beim sprechen untermalte er seine Worte mit einer eleganten, stakkatoartig präzisen Gestik, die er sich nur vor dem spiegel angeeignet haben konnte. seine schlüsselaussagen unterstrich er gern, in-dem er die Finger explosionsartig aus der geschlossenen hand herausschießen ließ.

Im Jahr 1991 hatte Buzan die Gedächtnisweltmeisterschaft gegründet, und seither rief er in über einem Dutzend Ländern von China über südafrika bis Mexiko nationale Meisterschaf-ten ins Leben. seinen eigenen aussagen zufolge war er seit den siebziger Jahren mit missionarischem eifer dabei, die von ihm propagierten Gedächtnistechniken an schulen rings um den Globus zum unterrichtsgegenstand zu machen. er sprach in diesem Zusammenhang von einer »globalen Bildungsrevolu-tion hin zum Lernen, wie man lernt«. und ganz nebenbei hatte er dabei ein ziemliches Vermögen angehäuft (Presseberichten zufolge soll Michael Jackson bei Buzan kurz vor seinem Tod

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hirnleistungssteigernde Dienste für 343 000 Dollar in anspruch genommen haben).

Buzan war der Meinung, dass man in schulen nach völlig falschen Methoden unterrichtete. Man würde schülerköpfe mit riesigen Mengen von Informationen vollstopfen, ohne ihnen zu vermitteln, wie sie sich das alles merken sollten. Das auswendiglernen sei zu einer sinnlosen Beschäftigung verkom-men, bei der es lediglich darum ginge, sich Fakten lange genug einzuprägen, um die nächste Prüfung zu bestehen. Doch nicht das auswendiglernen an sich sei schlecht, sagte er. es sei die Tra-dition des langweiligen routinepaukens, die das schulsystem der westlichen Kulturnationen korrumpiert habe. »Wir sind im letzten Jahrhundert zu einer falschen Definition dessen gelangt, was Gedächtnis ist. unser Verständnis davon ist mangelhaft. Wir wenden es nicht richtig an und schimpfen dann darauf, weil es nicht richtig funktioniert und es uns keine Freude bereitet, es einzusetzen«, argumentierte Buzan. Wenn auswendiglernen nichts anderes sei, als uns durch brutales Wiederholen irgend-welche Daten ins Gehirn zu donnern – gewissermaßen mit der alten holzhammermethode –, dann sei Gedächtniskunst eine elegantere Form des technisch ausgefeilten Memorierens: schneller, weniger qualvoll und mit länger anhaltenden ergeb-nissen.

»Das Gehirn ist wie ein Muskel«, behauptete er, und Ge-dächtnistraining sei eine art »mentales Konditionstraining«. Im Laufe der Zeit würde das Gehirn wie durch jede art Übung fitter, schneller und beweglicher – ein Gedanke, der auf die ursprünge des Gedächtnistrainings zurückgeht. schon die oratoren im alten rom sahen in der Gedächtniskunst – dem richtigen Bewahren und ordnen von Wissen – eine unabding-bare Voraussetzung für die erfindung neuer Ideen. Mittlerweile hat dieses »geistige Konditionstraining« in der breiten Öffent-

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lichkeit ziemlich Furore gemacht. Institute für mentale Fitness und Gedächtnistrainingslager erleben einen regelrechten Boom, und 2008 wurden mit software zur Verbesserung der Gedächt-nisleistung 265 Millionen Dollar umgesetzt.1 ein Grund dafür ist sicher, dass Forschungen zufolge ältere Menschen, die ih-ren Geist mit Kreuzworträtseln und schachspielen fit halten, besser vor alzheimer- und Demenzerkrankungen geschützt sind. hauptsächlich aber liegt es an der angst der Babyboomer-Generation, dass sich bei ihnen irgendwann ein schräubchen im Kopf lockern könnte. Während es jedoch fundierte wissen-schaftliche Belege für die anti-Demenz-Wirkung eines akti-ven Gehirns gibt, hielt ich gegenüber Buzans überzogeneren Behauptungen bezüglich der weitreichenden Wirkungen des Gehirntrainings (zumindest) ein gewisses Maß an skepsis für angebracht. Dennoch kam ich nicht an den ergebnissen vorbei. soeben hatte ich miterlebt, wie ein 47-jähriger Teilnehmer eine Liste von hundert Zufallswörtern, die er ein paar Minuten zuvor memoriert hatte, in korrekter reihenfolge wiedergab.

Buzan wollte mir unbedingt verkaufen, dass sein Gedächtnis ungeachtet des alterungsprozesses im Lauf der Jahre immer besser geworden sei. »Die Leute glauben, das Nachlassen der erinnerungsleistung wäre im menschlichen Gehirn begründet und folglich normal«, sagte er. »aber das ist ein logischer Feh-ler, weil ›normal‹ nicht zwangsläufig ›natürlich‹ bedeutet. Der Grund für den konstatierten Gedächtnisverfall liegt darin, dass wir in Wirklichkeit ein antiolympisches Training absolvieren. Was wir mit unserem Gehirn machen, ist in etwa so, als würde jemand als Vorbereitung für die olympiade zehn Dosen Bier am Tag in sich hineinschütten, fünfzig Zigaretten rauchen, mit dem auto zur arbeit fahren, vielleicht einmal im Monat eine anstrengende Übung absolvieren, die mehr schadet als nützt, und den rest seiner Zeit vor dem Fernseher verbringen. und

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dann wundern wir uns, warum dieser Mensch im Wettkampf nicht gut abschneidet? Genau so gehen wir mit unserem Ge-dächtnis um.«

Ich bombardierte Buzan mit meinen Fragen: Wie schwer war es, diese Techniken zu erlernen? Wie sah das Training der Teilnehmer aus? Wie schnell verbesserte sich ihr Gedächtnis? Wandten sie die Techniken auch im alltag an? Wenn sie so ef-fizient und leicht erlernbar waren, wie er behauptete, warum hatte ich dann noch nie etwas davon gehört? Warum nutzte sie nicht jeder?

»Wissen sie«, antwortete er, »statt mir all diese Fragen zu stellen, sollten sie es einfach selbst ausprobieren.«

»Was müsste denn einer wie ich theoretisch tun, um bei den us-Gedächtnismeisterschaften mitmachen zu können?«, fragte ich ihn.

»Wenn sie es bei den us-Meisterschaften unter die ersten drei schaffen wollten, wäre es nicht schlecht, an sechs Tagen in der Woche eine stunde täglich zu trainieren. Damit würden sie ziemlich gut wegkommen. Für eine Teilnahme an der Welt-meisterschaft müssten sie in den letzten sechs Monaten vor dem Wettkampf drei bis vier stunden täglich investieren. Da wird es ganz schön heftig.«

am selben Vormittag – die Teilnehmer waren gerade dabei, »The Tapestry of Me« auswendig zu lernen – nahm Buzan mich zur seite und legte mir die hand auf die schulter.

»erinnern sie sich noch daran, worüber wir eben geredet haben? Denken sie darüber nach. Das könnten sie sein, da oben auf der Bühne: der nächste Gedächtnismeister der usa.«

In einer Pause zwischen dem Gedichtlernen und dem Pro-grammpunkt »Namen und Gesichter« trat ich vor die Tür, um der stickigen Luft im Inneren des Gebäudes zu entkommen. Dort lief ich ed Cooke über den Weg, dem am stock gehenden

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Briten mit dem Wuschelkopf, und seinem schlaksigen Begleiter, dem österreichischen Großmeister Lukas amsüß. sie waren gerade dabei, sich Zigaretten zu drehen.

ed hatte im vorigen Frühling in oxford einen erstklassigen abschluss in Psychologie und Philosophie gemacht. Daneben spielte er, wie er erzählte, mit dem Gedanken, ein Buch unter dem Titel The Art of Introspection (etwa »Die Kunst der Innen-schau«) zu schreiben. Zudem arbeitete er an der universität von Paris auf seine Promotion in kognitiven Wissenschaften hin, wo er extravagante Forschungen dahingehend betrieb, »Menschen das Gefühl zu geben, als wäre ihr Körper auf ein Zehntel seiner normalen Größe zusammengeschrumpft«. und außerdem war er dabei, eine neue Farbe zu erfinden – »nicht nur eine neue Farbe, sondern eine völlig neue art und Weise, Farben zu se-hen«.

Lukas, der an der universität Wien Jura studierte und als autor eines kleinen Pamphlets mit dem Titel »so werden sie dreimal cleverer als Ihr IQ« in erscheinung getreten war, lehnte sich gegen die hausmauer und versuchte, sich vor ed für seinen miserablen auftritt beim Wörterlauf zu rechtfertigen: »englische Begriffe wie yawn, ulcer oder aisle habe ich nie gehört«, beklagte er sich mit starkem österreichischem akzent. »Wie soll ich mir so was merken?«

Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs belegten ed und Lukas den elften bzw. neunten Platz der Weltrangliste. sie waren die einzigen beiden Großmeister, die an der Veranstaltung teilnah-men, und die einzigen, die in schlips und Kragen erschienen waren. sie wollten mir (wie jedem anderen) unbedingt von ihrem Plan erzählen, ihren mnemonischen ruhm durch Gründung eines Gedächtnistrainingszentrums mit dem Namen »oxford Mind academy« (etwa »oxforder Denk-akademie«) in bare Münze zu verwandeln. Ihre Idee war, abonnenten –

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überwiegend Manager, so ihre hoffnung – zu finden, die bereit waren, sich einen persönlichen Mentaltrainer zu leisten. hätten sich die Vorteile des Gedächtnistrainings erst einmal in der Welt herumgesprochen, würde ihnen das Geld in den schoß fallen. »Letztlich geht es uns darum, der Bildung und erziehung in der westlichen Welt wieder zu ihrem verdienten rang zu verhel-fen«, erklärte mir ed.

»Die wir für degeneriert halten«, fügte Lukas hinzu.ed bezeichnete seine Teilnahme an Wettkämpfen wie die-

sem als Teil seines Versuchs, die Geheimnisse des menschlichen Gedächtnisses zu entschlüsseln. »Ich stelle mir vor, dass es zwei Möglichkeiten gibt, der Funktionsweise des Gehirns auf die spur zu kommen«, sagte er. »Die erste entspricht der herange-hensweise der empirischen Psychologie; das heißt, man guckt von außen und nimmt an allerhand Leuten eine Vielzahl von Messungen vor. Die zweite folgt der Logik, dass man ausgehend von der optimalen Leistung eines systems auf seinen aufbau schließen kann. Die wohl beste art, das menschliche Gedächtnis zu verstehen, liegt darin, dass man alles daransetzt, um es zu optimieren – und zwar im Idealfall gemeinsam mit vielen intel-ligenten Menschen und unter Bedingungen, die konsequente, objektive rückmeldungen ermöglichen. und genau dies bietet die Gedächtnissportszene.«

Bei dem Wettbewerb herrschte etwa die gleiche angespannte atmosphäre wie beim studienzulassungstest einer renommier-ten universität. Die Teilnehmer saßen still an ihren Tischen, starrten auf ihre Blätter und kritzelten dann die antworten auf irgendwelche Blätter, die sie bei der Jury abgaben. Nach jeder Prüfungseinheit wurden sofort die ergebnisse berechnet und auf einem Bildschirm vorn im raum angezeigt. Doch sehr zum Leidwesen eines Journalisten, der versuchte, einen artikel über die nationale Gedächtnismeisterschaft zu Papier

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zu bringen, hatte dieser »sport« nichts von der allgemeinen aufregung, wie sie etwa mit einem Basketballspiel oder auch nur einem Buchstabierwettbewerb einhergeht. Manchmal war es schwer zu sagen, ob die Teilnehmer in Gedanken versunken oder eingeschlafen waren. Mag sein, dass es zu manch theatrali-schem schläfenmassieren und nervösem Fußgescharre kam und gelegentlich ein leerer Blick der Verzweiflung zu beobachten war, doch die eigentlichen Dramen vollzogen sich im Kopf der Teilnehmer und blieben den Zuschauern verborgen.

Wie ich hinten im Con-edison-saal stand und diese angeb-lich normalen Menschen bei der ausübung ihrer beinah unfass-baren Mentalakrobatik beobachtete, sickerte ein beunruhigen-der Gedanke in mein Vorderhirn durch: Ich hatte keine ahnung, wie mein eigenes Gedächtnis funktionierte. Gab es überhaupt so etwas wie ein Vorderhirn in meinem Kopf? Langsam schwappte eine Welle von Fragen über mich hinweg – Dinge, über die ich mir nie Gedanken gemacht hatte, erschienen mir auf einmal überaus wichtig. Was genau ist eine erinnerung? Wie entsteht sie? Wie wird sie gespeichert? Ich hatte die ersten zweieinhalb Jahrzehnte meines Lebens mit einem Gedächtnis zugebracht, das so reibungslos funktionierte, dass ich nie anlass hatte, inne-zuhalten und mich näher mit seiner arbeitsweise zu befassen. und doch erkannte ich jetzt, wo ich darüber nachdachte, dass es eben doch nicht ganz so reibungslos funktionierte. In bestimm-ten Bereichen versagte es völlig, in anderen arbeitete es viel zu gut. und es hatte so viele unerklärliche Macken. Noch am Morgen vor der Veranstaltung war mein Gehirn in den Bann eines unerträglichen Britney-spears-songs geraten, und ich hatte die halbe u-Bahn-Fahrt damit zugebracht, Chanukka-refrains zu summen, um den ohrwurm loszuwerden. Was war das für ein Phänomen? ein paar Tage zuvor wollte ich einem Freund von einem schriftsteller erzählen, den ich sehr bewun-

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Joshua Foer

Alles im Kopf behaltenMit lockerem Hirnjogging zur Gedächtnismeisterschaft - Miteinem Vorwort von Dr. Gunther Karsten

Taschenbuch, Broschur, 384 Seiten, 12,5 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-15738-9

Goldmann

Erscheinungstermin: November 2012

Hochzeitstag vergessen? Schlüssel verlegt? Joshua Foer verrät, wie er durch einen einfachen Trick zum Gedächtnismeister wurde: Erverpackt Zahlen und Daten in derart aufregende Geschichten, dass er sie einfach nicht mehrvergessen kann. Auch seine eigene Erfolgsstory ist so irrwitzig und brillant erzählt, dass man sienie wieder vergisst. Foer entführt uns dabei in die Welt der Gedächtnis-Freaks, berichtet Neuesaus Psychologie und Neurobiologie und rekapituliert ganz nebenbei noch die Geschichte derGedächtniskunst von der Antike bis heute. Doch das Beste ist: Nach der Lektüre vergisst mangarantiert nie wieder eine Telefonnummer.