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Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985 17.01.13 (empfohlene Zitierweise: Detlef Zöllner zu Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985, 17.01.2013, in: http://erkenntnisethik.blogspot.de/) 1. Individuell oder singulär? 2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe 3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft 4. Systemisch Unbewußtes 5. Kolonialisierung der Lebenswelten 6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus 7. Transzendenz als Ebenendifferenz 8. Rollen versus Masken 9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß Auf die Parallelen zwischen Habermasens Diagnose einer „Kolonialisierung der Lebenswelten“ (Bd.2: S.470-488) und Christina von Brauns kulturgeschichtlichen Analysen zu gemeinschaftszerstörenden Mechanismen des (nominalistischen) Gel- des habe ich schon in meinem Post vom 15.01.2013 hingewiesen. (Vgl. auch mei- ne Posts vom 28.11. und 04.12.2012) Diese Parallelen bestehen zum einen auf der Ebene des Legitimationsbedürfnisses staatlicher Strukturen (vgl.Bd.2: S.209, 214, 480 u.ö.), die auf intakte symbolische Reproduktionsprozesse der Lebenswelt an- gewiesen sind. Bei von Braun ist hier immer vom „Glauben“ an die Gemeinschaft die Rede, ohne die auch die Gesellschaft nicht funktionieren würde. Zum anderen bestehen die Parallelen auf der Ebene der destruktiven Auswirkungen des ‚Gel- des‘ auf die Lebenswelt bzw. die Gemeinschaft, die Habermas mit dem Begriff der „Kolonialisierung“ beschreibt. Zunächst fällt auf, daß bei beiden Autoren kulturelle und ökonomische Me- chanismen strukturell gleichartig beschrieben werden. Während Habermas sowohl in bezug auf die Kultur wie auch auf die Ökonomie von „Deckungsreserven“ spricht (vgl.Bd.1: S.29 (Anm.18)): das Geld wird von Gold ‚gedeckt‘ (vgl.Bd.2: S.398ff.) und das wechselseitige Verständnis im kommunikativen Handeln von in der Lebenswelt gespeicherten „gute(n) Gründen“ (vgl.Bd.1: S.29 (Anm.18)),

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Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1:Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung,Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischenVernunft, Frankfurt a.M. 3/1985 17.01.13(empfohlene Zitierweise: Detlef Zöllner zu Jürgen Habermas, Theorie deskommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftlicheRationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik derfunktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985, 17.01.2013, in:http://erkenntnisethik.blogspot.de/)

1. Individuell oder singulär?2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft4. Systemisch Unbewußtes5. Kolonialisierung der Lebenswelten6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus7. Transzendenz als Ebenendifferenz8. Rollen versus Masken9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

Auf die Parallelen zwischen Habermasens Diagnose einer „Kolonialisierung derLebenswelten“ (Bd.2: S.470-488) und Christina von Brauns kulturgeschichtlichenAnalysen zu gemeinschaftszerstörenden Mechanismen des (nominalistischen) Gel-des habe ich schon in meinem Post vom 15.01.2013 hingewiesen. (Vgl. auch mei-ne Posts vom 28.11. und 04.12.2012) Diese Parallelen bestehen zum einen auf derEbene des Legitimationsbedürfnisses staatlicher Strukturen (vgl.Bd.2: S.209, 214,480 u.ö.), die auf intakte symbolische Reproduktionsprozesse der Lebenswelt an-gewiesen sind. Bei von Braun ist hier immer vom „Glauben“ an die Gemeinschaftdie Rede, ohne die auch die Gesellschaft nicht funktionieren würde. Zum anderenbestehen die Parallelen auf der Ebene der destruktiven Auswirkungen des ‚Gel-des‘ auf die Lebenswelt bzw. die Gemeinschaft, die Habermas mit dem Begriffder „Kolonialisierung“ beschreibt.

Zunächst fällt auf, daß bei beiden Autoren kulturelle und ökonomische Me-chanismen strukturell gleichartig beschrieben werden. Während Habermas sowohlin bezug auf die Kultur wie auch auf die Ökonomie von „Deckungsreserven“spricht (vgl.Bd.1: S.29 (Anm.18)): das Geld wird von Gold ‚gedeckt‘ (vgl.Bd.2:S.398ff.) und das wechselseitige Verständnis im kommunikativen Handeln von inder Lebenswelt gespeicherten „gute(n) Gründen“ (vgl.Bd.1: S.29 (Anm.18)),

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spricht von Braun vom „Kredit“, der über entsprechende kulturelle und religiöseZurichtungen des männlichen Körpers (Kastration) ‚gedeckt‘ ist. Von Brauns An-alysen reichen in dieser Hinsicht tiefer in das Wesen des Finanzkapitalismus hin-ein als die von Habermas, da letzterer mit dem Verweis auf die Deckungsreservedes Goldes noch nicht bis zum Transsubstantialismus des nominalistischen Gel-des vordringt. (Vgl. meinen Post vom 25.11.2012)

Was nun die destruktive Qualität der ökonomischen und bürokratischen Sub-systeme betrifft – bei Habermas wird die symbolische Reproduktion der Lebens-welt nicht nur durch das ‚Geld‘ (Ökonomie), sondern auch durch die ‚Macht‘(Bürokratie) bedroht (vgl.Bd.2: S.480) –, so setzt sie vor allem an der materiellenReproduktion der Lebenswelt an, die Habermas mit der „Zwecktätigkeit“ (Bd.2:S.209) des Menschen gleichsetzt: „Nicht die wissenschaftliche Rationalität als sol-che, wohl aber ihre Hypostasierung scheint zu den idiosynkratrischen Zügen derwestlichen Kultur zu gehören und auf ein Muster der kulturellen und der gesell-schaftlichen Rationalisierung zu verweisen, das der kognitiv-instrumentellen Ra-tionalität nicht nur im Umgang mit der äußeren Natur, sondern im Weltverständ-nis und in der kommunikativen Alltagspraxis insgesamt zu einseitiger Dominanzverhilft.“ (Bd.1: S.102)

Die kognitiv-instrumentelle Rationalität bildet eine Spezialform der umfas-senden, im vollen Sinne humanen Rationalität des kommunikativen Handelns. An-statt das volle kulturelle, gesellschaftliche und subjektive Potential der Lebens-welt in Anspruch zu nehmen, beschränkt sie sich auf das Finden von Mitteln zuökonomischen und politischen Zwecken, also im Sinne der Kommunikationsme-dien ‚Geld‘ und ‚Macht‘. Die materielle Reproduktion der Lebenswelt ist von die-sem kognitiv-instrumentellen Handeln abhängig und indirekt über diese materiel-le Ebene auch ihre symbolische Reproduktion. Im Sinne Brechts: erst kommt dasFressen und dann die Moral!

Problematisch wird es nur für die ‚Moral‘, wenn alles menschliche Handelnnach den Maßstäben von Geld und Macht bewertet wird. Geld und Macht sindnämlich Kommunikationsmedien, und ‚Medien‘ sind wiederum vor allem „Steu-erungsmedien“. Deren Steuerungsfunktion wird vor allem durch eine „Abkopp-lung der Interaktion von lebensweltlichen Kontexten überhaupt“ sichergestellt.(Vgl.Bd.2: S.394) So verringern sie das „Dissensrisiko“. (Vgl.Bd.1: S.107; Bd.2:S.393) Das ist möglicherweise gemeint, wenn Habermas davon spricht, daß syste-mische Mechanismen zu einer Stabilisierung der „Handlungszusammenhänge so-

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zial integrierter Gruppen“ beitragen. (Vgl.Bd.2, S.301, 349) Allerdings führt die-se recht positive Darstellung von ‚Gesellschaftssystemen‘ nach Habermasens ei-gener Analyse in direkter Linie zu einer Verdrängung bzw. ‚Kolonialisierung‘ dergleichfalls der Stabilisierung kommunikativen Handelns dienenden Lebenswelt.

Die Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Kommunikationsmedien ‚Geld‘und ‚Macht‘ ist unausweichlich. Denn Medien „können nur in dem Maße Aus-tauschbeziehungen zwischen System und Lebenswelt regulieren, wie die Pro-dukte der Lebenswelt mediengerecht zu Faktoreneingaben für das entsprechendeSubsystem, das sich zu seinen Umwelten nur über das eigene Medium in Bezie-hung setzen kann, abstrahiert worden sind.“ (Bd.2: S.476)

Einfacher ausgedrückt: für die gesellschaftlichen Subsysteme der Ökonomieund der Bürokratie bilden alle anderen Formen humaner Selbstbehauptung, alsodie Kultur und die Persönlichkeitsbildung, ‚Umwelten‘. Von diesen Umweltennehmen die genannten Subsysteme nur deren Zwecktätigkeit zur Kenntnis. Alleanderen Äußerungsformen werden einfach ignoriert. Sie sind für die Ökonomieund für die Bürokratie schlichtweg nicht existent.

Die Kommunikationsmedien ‚Geld‘ und ‚Macht‘ setzen sich an die Stelle derSprache, die zwar ebenfalls ein Medium ist, aber eines, in dem sich die „kommu-nikativ Handelnden“ „immer schon vorfinden“. Die Sprache, insbesondere dieMuttersprache bildet die sichtbare, vor allem hörbare Gestalt der Lebenswelt, zuder wir „eine Alternative gar nicht haben, während Geld ein Medium darstellt, dasnicht schon durch sein bloßes Funktionieren hinreichendes ‚Systemvertrauen‘(sprich: ‚Kredit‘ – DZ) weckt“ (vgl.Bd.2: S.398).

Über die materielle Reproduktion der Lebenswelt greifen also funktional be-grenzte Steuerungsmedien auf die symbolische Reproduktion der Lebensweltüber: „Die Umstellung der Handlungskoordinierung von Sprache auf Steuerungs-medien bedeutet eine Abkopplung der Interaktion von lebensweltlichen Kontex-ten überhaupt. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von einer Technisie-rung der Lebenswelt ...“ (Bd.2: S.394)

Wir brauchen dabei nur an die Verarmung der sozialen Beziehungen über dassocial web zu denken. Habermas hat hier schon facebook vorweggenommen: „Me-diengesteuerte Interaktionen können sich in Raum und Zeit zu immer komple-xeren Netzen verknüpfen, ohne daß diese kommunikativen Vernetzungen über-schaut und verantwortet werden müßten, und sei es auch nur in der Art eines kol-lektiv geteilten kulturellen Wissens.“ (Bd.2: S.394)

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Habermas faßt seine Analysen zur Kolonialisierung der Lebenswelt in folgen-dem, wie ich finde nach wie vor hochaktuellen Fazit zusammen, mit dem ich auchdiesen Post beenden will: „Nicht die Entkoppelung der mediengesteuerten Subsy-steme, und ihrer Organisationsformen, von der Lebenswelt führt zu einseitigerRationalisierung oder Verdinglichung der kommunikativen Alltagspraxis, son-dern erst das Eindringen von Formen ökonomischer und administrativer Rationa-lität in Handlungsbereiche, die sich der Umstellung auf die Medien Geld undMacht widersetzen, weil sie auf kulturelle Überlieferung, soziale Integration undErziehung spezialisiert sind und auf Verständigung als Mechanismus der Hand-lungskoordinierung angewiesen bleiben.“ (Bd.2: S.488)