5

Click here to load reader

Kafka in Ungarn in Ungarn.pdf · selbst weltberühmt gewordenen ungarischen Schriftsteller Sándor Márai. 1921 veröffentlichte er die Erzählungen A változás (Die Verwandlung)

  • Upload
    dangnga

  • View
    214

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Kafka in Ungarn in Ungarn.pdf · selbst weltberühmt gewordenen ungarischen Schriftsteller Sándor Márai. 1921 veröffentlichte er die Erzählungen A változás (Die Verwandlung)

Kafka-Atlas

Kafka in Ungarn

von Csilla Mihály

I.

Kafka und Ungarn

Obwohl Kafka bis zu ihrer Auflösung

Staatsbürger der Österreichisch-Ungarischen

Monarchie war, hatte er kaum direkten

Kontakt zu Ungarn. Eine erste mittelbare

Verbindung bedeutete Felice Bauer, die 1912

unterwegs von Berlin zu ihrer Schwester in

Ungarn auch entfernte Verwandte in Prag

besuchte. Bei diesem Anlass hatte sie Kafka

bei der Familie Brod kennen gelernt.

Bekanntlich war dieses Treffen der Anfang einer langjährigen Beziehung, gegen deren Ende

es auch noch zu einer Reise nach Budapest kam, wo das einzige gemeinsame Foto von den

beiden im Juli 1917 gemacht wurde. Das war allerdings nicht der erste Ungarn-Besuch von

Kafka, im Jahre 1915 begleitete er seine Schwester Elli in die Ortschaft Nagymihály (heute in

der Slowakei), wo ihr Mann als Soldat stationiert war. Über diese Reise und seine

ungarischen Eindrücke berichtet Kafka detailliert in dem Tagebucheintrag vom 27. April.

Seine letzte Ungarn-Reise machte Kafka 1920, als er, damals schon seit Jahren an

Tuberkulose erkrankt, zu einer Behandlung in das Sanatorium von Matlárháza (heute

Matliary in der Slowakei) fuhr. Dort schloss er im Januar des nächsten Jahres mit Robert

Klopstock, einem ungarischen Medizinstudenten jüdischer Abstammung, Bekanntschaft. Der

junge Mann, den Kafka später durch seine Beziehungen bei der Fortsetzung seines

Medizinstudiums in Berlin unterstützte, machte ihn mit Werken der zeitgenössischen

ungarischen Literatur vertraut. Er las – teilweise in Klopstocks Übersetzung – Frigyes Karinthy

und Endre Ady, mit letzterem, wie er sich seinem Freund in einem Brief mitteilte, fühlte er

sich besonders verwandt.1 Klopstock war es auch, der Kafka in seinen letzten Tagen mit Dora

Diamant im Kierlinger Sanatorium pflegte und auch am 3. Juni 1924 an seinem Sterbebett als

Freund anwesend war.

Im ersten Abschnitt meines Beitrags über Kafkas Beziehung zu Ungarn stütze ich mich teilweise auf den 2008 erschienenen Aufsatz von Miklós Györffy: Kafka és Magyarország. (Kafka und Ungarn) In: Alföld 2008/8. S. 76-85. 1 Franz Kafka: Briefe 1902-1924. Frankfurt am Main: Fischer 1975, S. 422.

Page 2: Kafka in Ungarn in Ungarn.pdf · selbst weltberühmt gewordenen ungarischen Schriftsteller Sándor Márai. 1921 veröffentlichte er die Erzählungen A változás (Die Verwandlung)

Kafka-Atlas

Ausgabe Der Verschollene

Kafka auf Ungarisch

Kafka wurde im literarischen Leben Ungarns verhältnismäßig früh bekannt. Wahrscheinlich

spielten dabei auch die guten deutschen Sprachkenntnisse der ungarischen Literaten und

Intellektuellen eine wichtige Rolle. Die ersten Übersetzungen, die kurz auf die tschechischen

Übertragungen von Milena Jesenská folgten, stammen von dem damals jungen, später auch

selbst weltberühmt gewordenen ungarischen Schriftsteller Sándor Márai. 1921

veröffentlichte er die Erzählungen A változás (Die Verwandlung) und Az ítélet (Das Urteil) in

der Kaschauer Zeitung Szabadság und die Erzählung A gyilkosság (Ein Brudermord) im

Tagesblatt Kassai Napló. Als allerdings Kafka davon erfuhr, bat er seinen Verleger Kurt Wolf

darum, das Recht der ungarischen Übersetzung im Weiteren seinem Freund Robert

Klopstock vorzubehalten.2 Dieser publizierte nach Kafkas Tod 1926 in der Zeitung Prágai

Magyar Hírlap seine Übersetzungen von Auf der Galerie, Zerstreutes Hinausschaun, Die

Bäume und Ein Brudermord. Später erschienen auch noch A fűtő (Der Heizer) 1928 in der

Klausenburger Zeitung Keleti Újság und A törvény előtt (Vor dem Gesetz) 1937 in Újság ohne

die Erwähnung des Übersetzers.

Trotz des anfänglichen Interesses können weitere

Übertragungen aus Kafkas Erzählwerk, offenbar aus politisch-

ideologischen Gründen, erst nach langer Zeit, Ende der 50er

Jahre erscheinen. In der Zeitschrift für Weltliteratur Nagyvilág

wird 1957 Egy falusi orvos (Ein Landarzt) veröffentlicht und

noch im selben Jahr kommt der erste ungarischsprachige

Erzählband von ihm, in der Übersetzung von Iván Boldizsár, mit

dem Titel Az ítélet (Das Urteil) mit neun Erzählungen (Das

Urteil, Die Verwandlung, Ein Landarzt, Auf der Galerie, Vor dem

Gesetz, Elf Söhne, Ein Bericht für eine Akademie, In der

Strafkolonie, Ein Hungerkünstler) heraus. Ab 1963 folgen in der

Übersetzung von Ede Szabó die Werke Levél apámhoz (Brief an

den Vater) und A per (Der Prozeß) in Fortsetzungen in der

Zeitschrift Nagyvilág; letzterer erschien später (1968) auch in

Buchform. Ebenfalls in den 60er Jahren werden die beiden anderen Romane A kastély 1964

(Das Schloß), und Amerika 1967 (Amerika) von György Rónay bzw. István Kristó Nagy ins

Ungarische übertragen. Die 1964-er Ausgabe des Schloß-Romans wurde von dem namhaften

ungarischen Grafiker und Maler Endre Bálint illustriert; eine weitere Ausgabe aus dem Jahre

1979 erschien mit Grafiken des ebenfalls bekannten zeitgenössischen Künstlers Károly Klimó.

Seit den 70er Jahren erscheinen in verschiedenen Verlagen regelmäßig selbständige

Sammelbände mit ausgewählten Erzählungen von Kafka. Besonders hervorzuheben ist der

Európa Verlag, der 1973 eine Erzählsammlung (Elbeszélések) aufgrund der Kafka-Ausgabe

des S. Fischer Verlags herausbrachte. In ihr werden die zu Kafkas Lebzeiten veröffentlichten

Texte und die Erzählungen aus dem Nachlass in gesonderten Kapiteln publiziert. 1978 wurde

2 Franz Kafka: Briefe 1902-1924. Frankfurt am Main: Fischer 1975, S. 421.

Page 3: Kafka in Ungarn in Ungarn.pdf · selbst weltberühmt gewordenen ungarischen Schriftsteller Sándor Márai. 1921 veröffentlichte er die Erzählungen A változás (Die Verwandlung)

Kafka-Atlas

dieselbe ungarischsprachige Sammlung im Rahmen eines Abkommens zwischen der

Volksrepublik Ungarn und der Sozialistischen Republik Rumänien auch vom Bukarester

Kriterion Verlag herausgegeben.1981 folgt im Programm des Európa Verlags eine

einzigartige Auswahl aus Kafkas Briefen und Tagebüchern (Naplók, levelek), in der die

Briefstellen und Tagebucheintragungen chronologisch und nicht nach der jeweiligen

Textsorte geordnet sind. Mit dem auf diese Weise entstandenen virtuellen Kafka-Monolog

wollte der Herausgeber Miklós Györffy Kafkas Laufbahn und Entwicklung umfassend und in

ihrer Kontinuität präsentieren. Auch in den 80er und 90er Jahren sind Erstübersetzungen

von Kafka in der Zeitschrift Nagyvilág zu finden, so Repülőgépek Bresciában (Aeroplane in

Brescia) 1983 und A kriptaőr (Der Gruftwächter) 1994, anlässlich des 70. Todesjahres von

Kafka.

Nach der politischen Wende in Ungarn erscheinen mehrere Neuausgaben hauptsächlich für

Unterrichtszwecke. Seit 1992 wurde die Sammlung Az átváltozás (Die Verwandlung) mit 31

Erzählungen im Európa Verlag in der Reihe Diákkönyvtár (Schülerbibliothek) mehrmals neu

aufgelegt. Auch die zweisprachigen Ausgaben3 und die Ausgaben mit Anmerkungen und

Erläuterungen für Abiturienten sind beliebt. Hervorzuheben ist die von Mária Kajtár edierte

Neuauflage von Der Prozeß 1995 in der Reihe Matúra im Ikon Verlag, die außer dem

Romantext auch Daten zu Kafkas Biographie, zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des

Werkes sowie bibliographische Hinweise und Erklärungsansätze enthält, wobei sie sich in

den Erläuterungen hauptsächlich auf die hermeneutische Deutung von Gerhard Kurz4 stützt.

Von Belang ist auch das Unternehmen des Szegeder Szukits Verlags, der 2001 die drei Kafka-

Romane in einem Band wieder herausgab. Da viele für das Germanistikstudium wichtige

Autoren auch nach der politischen Wende noch lange schwer zugänglich waren, haben

manche Hochschulen und Universitäten eigene deutschsprachige Textsammlungen

publiziert. Es seien hier nur die Deutschsprachigen Erzählungen5 der János-Kodolányi-

Hochschule Székesfehérvár erwähnt, in die von Kafka Ein Hungerkünstler, Ein Bericht für eine

Akademie, Vor dem Gesetz und Betrachtung aufgenommen wurden.

Außerdem sind Erzählungen von Kafka auch in mehreren ungarischsprachigen Anthologien

enthalten. Am bedeutendsten von ihnen ist der 1990 erschienene Band Német elbeszélők

1900-1945 (Deutsche Erzähler 1900-1945) in der renommierten Reihe des Európa Verlags A

Világirodalom Klasszikusai (Klassiker der Weltliteratur), der die Erzählungen Die

Verwandlung, In der Strafkolonie, Ein Landarzt und Ein Hungerkünstler enthält. Im Nachwort

wird Kafka vom Redakteur Miklós Györffy gekennzeichnet als ein von seiner Familie

entfremdeter deutschsprachiger Schriftsteller jüdischer Abstammung, dessen albtraumhafte

3 S. u. a. Franz Kafka: Erzählungen – Elbeszélések. Szeged: Grimm 1997, die In der Strafkolonie, Ein

Hungerkünstler, Ein Bericht für eine Akademie, Auf der Galerie und Der Jäger Gracchus enthalten. Weitere Erzählungen finden sich in der bilingualen Sammlung Franz Kafka: Ein Bericht für eine Akademie. Jelentés az Akadémiának. Budapest: Noran 1997. 4 Gerhard Kurz: Traum-Schrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse. Stuttgart: Metzler 1980.

5 László Kovács (Hg.): Deutschsprachige Erzählungen. Eine Anthologie zum Deutschunterricht in den höheren

Klassen der Gymnasien und an den Hochschulen für die Lehrerausbildung. Székesfehérvár: János-Kodolányi-Hochschule, 1995.

Page 4: Kafka in Ungarn in Ungarn.pdf · selbst weltberühmt gewordenen ungarischen Schriftsteller Sándor Márai. 1921 veröffentlichte er die Erzählungen A változás (Die Verwandlung)

Kafka-Atlas

und beängstigende Geschichten von der existenziellen Einsamkeit und der gesellschaftlichen

Entfremdung handeln. Es enthalten allerdings auch schon frühere Auswahlbände einzelne

Texte von Kafka. In die Az erőd bevétele (Eroberung der Festung)6 überschriebene Sammlung

von Soldatengeschichten aus der Weltliteratur wurde von ihm A sorozás (Die

Truppenaushebung) aufgenommen. In einer anderen Auswahl besonderer Art, in der

zeitgenössische ungarische Autoren jeweils einen literarischen Vorfahren aus dem Ausland

präsentieren, schreibt Tibor Cseres die Einführung zu Kafkas Ein Bericht für eine Akademie.7

Eine dritte Anthologie mit dem Titel A boldogság akarása. Férfi és nő a világirodalomban

(Der Wille zum Glück. Mann und Frau in der Weltliteratur) wird mit Kafkas A szirének

hallgatása (Das Schweigen der Sirenen) eröffnet.

Das großangelegte Projekt des Palatinus Verlags, eine ungarische Kafka-Reihe auf der

Grundlage der Kritischen Ausgabe zu bewerkstelligen, war nur teilweise erfolgreich. Es sind

nur vier Bände erschienen, ein Erzählband (Elbeszélések 2001), die Neuübersetzungen von

Der Prozeß (A per, 2002) und Der Verschollene (Az elkallódott fiú, 2003) sowie die Briefe an

Felice (Levelek Felice-nek, 2009). Die beiden Romanübersetzungen, die die ersten Schritte zu

einer einheitlichen ungarischen Übertragung von Kafka darstellen, enthalten abweichend

von den früheren ungarischen Ausgaben auch die Fragmente. Die Neuübertragung von Der

Prozeß begründete der Übersetzer Miklós Györffy mit dem Argument, dass er dem Roman

inhärente groteske Züge mehr hervorheben wollte als die bisherige ungarische Übersetzung,

welche sich eher auf den albtraumhaften Charakter der Geschichte und ihre ideologische

Bedeutung konzentrierte. Als Grundlage für die Übersetzung dient die Kritische Ausgabe von

Malcolm Pasley, aber die Reihenfolge der einzelnen Kapitel stimmt mit ihr, wie er im

Vorwort und in den Fußnoten bemerkt, nicht gänzlich überein. Außerdem wird noch ein

Fragment (Egy töredék) angefügt, das der Textband der Kritischen Ausgabe nicht enthält.

Geplant wurde auch noch die Übertragung und Edition von Das Schloß, Fragmente und

Aphorismen, Tagebücher, Briefe an Milena, Briefe an die Freunde, Briefe an Ottla und die

Familie und Essays über Kafka. Gleichzeitig gab der Cartaphilus Verlag in drei selbstständigen

Teilen die Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass

heraus: A nyolc oktávfüzet (2000), Töredékek füzetekből és papírlapokból (2001) und Innen el

(2004). Der Európa Verlag veröffentlichte 2008 die Tagebücher (Naplók), in dieser Ausgabe

kann man zum ersten Mal auch die Reisetagebücher lesen. An den Übersetzungsprojekten

der letzten Jahrzehnte wirkten zahlreiche bekannte Übersetzer wie László Antal, István Eörsi,

József Gáli, Miklós Györffy, Péter Rácz, Ferenc Szijj und Dezső Tandori mit. 8

6 Az erőd bevétele. Válogatás a világirodalom legjobb katonaelbeszéléseiből. 1800-1945. Antológia. Hg. von

András Tabák. Budapest: Zrínyi 1980. 7 A kísértethajó utolsó útja. (Die letzte Fahrt des Geisterschiffes) Hg. von Áron Tóbiás. Budapest: Kozmosz 1982.

Der einführende Aufsatz von Tibor Cseres wird anhand der Rezeptionsgeschichte von Kafka in Ungarn behandelt. 8 Eine ausführliche Liste der Übersetzungen bis 2003 findet sich auch in der online Franz Kafka Bibliography

(http://www.pointernet.pds.hu/kissendre/kozep-europa/20080215033934227000000190.html) von Endre Kiss.

Page 5: Kafka in Ungarn in Ungarn.pdf · selbst weltberühmt gewordenen ungarischen Schriftsteller Sándor Márai. 1921 veröffentlichte er die Erzählungen A változás (Die Verwandlung)

Kafka-Atlas

[DIE VORLIEGENDE DARSTELLUNG BILDET DEN ERSTEN TEIL DES ARTIKELS „KAFKA IN UNGARN“, TEIL II FOLGT IN KÜRZE]

Februar 2015

Zur Autorin: Dr. Csilla Mihály, Oberassistentin, Institut für Germanistik, Universität Szeged,

promovierte zum Thema "Figuren und Figurenkonstellationen im 'Theater des Selbst'.

Exemplarische Texterklärungen aus Franz Kafkas mittlerem Erzählwerk", zahlreiche

Veröffentlichungen zu Franz Kafka, Alfred Lichtenstein u. a. Autoren.