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Kampf um das goldene Vlies

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Nr. 326

Kampf um das GoldeneVlies

Der Wächter der Dunklen Regionsinnt auf Rache

von Horst Hoffmann

Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist nur ein­gedämmt worden, denn der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis.

Atlan und Razamon, der Berserker, haben als einzige den »Wölbmantel« unbe­schadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Herren der FE­STUNG ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Die Männer sind auf einer Welt der Wunder und der Schrecken gelandet. Das Ziel der beiden ist, die Beherrscher von Pthor schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwachse.

Nach vielen gefahrvollen Abenteuern, die am Berg der Magier ihren Anfang nah­men, haben Atlan und Razamon, denen sich inzwischen drei Kampfgefährten ange­schlossen haben, das Emmorko-Tal, das Zentrum der Dunklen Region, erreicht.

Blodgahn, der Wächter dieser Region, mit dem unsere Helden bereits unliebsame Bekanntschaft gemacht hatten, sinnt auf Rache. Um die Eindringlinge zu vernichten, setzt Blodgahn alle ihm zur Verfügung stehenden Machtmittel ein.

Das zeigt der KAMPF UM DAS GOLDENE VLIES …

3 Kampf um das Goldene Vlies

Die Hautpersonen des Romans:Atlan und Razamon - Der Arkonide und der Pthorer auf der Jagd nach dem Goldenen Vlies.Koy, Fenrir und Kolphyr alias »Gloophy« - Atlans und Razamons Begleiter.Wommser - Kolphyrs Symbiont.Blodgahn - Der Herr der Dunklen Region sinnt auf Rache.Blaustrahl - Eine Wesenheit aus fremder Dimension.

1.

Blodgahn hatte es vor Unruhe nicht mehr in der Fahrerkanzel des Pelchwagens ausge­halten. Der ein Meter zwanzig große Gnom war auf die schmutzige Pläne des Gefährts geklettert und wartete auf Phiancha. Er selbst konnte mit seinen Augen die Dunkel­heit nicht durchdringen, da die Nacht herein­gebrochen war. In der Dunklen Region be­deutete das vollkommene Finsternis.

Der Zwerg vertrieb sich die Zeit bis zu Phianchas Rückkehr damit, sich auszuma­len, wie er die Eindringlinge langsam zu To­de quälen wollte. Um die Phantasie anzure­gen, hatte er eine Flasche Kweel unter dem Fahrersitz hervorgeholt und bereits zur Hälf­te geleert.

Irgendwo dort unten, im Emmorko-Tal, steckten die Fremden, die vier seiner Lieb­linge auf dem Gewissen hatten. Sicher machten sie sich in diesem Augenblick Ge­danken darüber, wie sie am besten in die Schloßruine eindringen konnten, in der irri­gen Hoffnung, das Goldene Vlies entführen zu können.

»Ihr werdet euer blaues Wunder erleben«, sagte Blodgahn mit schnarrender Stimme. Er nahm einen weiteren Schluck aus der Fla­sche. Rechts neben ihm lag ein kleiner Be­hälter auf der stinkenden Plane, die dem Pelchwagen das Aussehen einer überdimen­sionalen Raupe verlieh. Blodgahn kannte die Nachwirkungen des Kweels und hatte für den Fall der Fälle vorgesorgt. In dem Behäl­ter befand sich eine Spezialmixtur aus Kräu­tern und scharfen Flüssigkeiten, die er ein­mal von einem Magier erhalten hatte.

»Niemand lehnt sich ungestraft gegen Blodgahn auf«, krächzte der Zwerg.

»Niemand trotzt der Macht des Wächters der Dunklen Region und des Goldenen Vlieses! Wartet nur …«

Blodgahn kicherte leise vor sich hin, als er sich vorstellte, was die Eindringlinge er­wartete. Zuerst würden sie es mit den Mu­tanten zu tun bekommen. Er traute ihnen so­gar zu, daß sie die ersten Angriffe der miß­gestalten Wesen heil überstehen würden. Die Fremden waren harte Burschen.

»Nicht hart genug für mich!« zeterte der Gnom. Mittlerweile machte sich das Kweel immer stärker in ihm bemerkbar. Blodgahn sah bereits kleine, leuchtende Punkte in der Finsternis, die ihn umgab. Solange sie nicht zu kreisen begannen …

»Vielleicht werden sie mit den Mutanten fertig«, spann der Gnom den Faden weiter. »Wenigstens einige von ihnen. Sie werden glauben, am Ziel ihrer Träume zu sein, die Dummköpfe.«

Wieder kicherte Blodgahn vor sich hin. Er hatte eine Reihe herrlicher Überraschungen in Reserve.

Die Flasche war leer. »Die FESTUNG sollte veranlassen, daß

nicht nur die Eingeborenen, die das Kweel brauen, und die Magier, die nichtsahnenden Wesen ihre Teufelskräuter aufdrängen, eli­miniert werden, sondern auch diejenigen, die solch winzige Flaschen herstellen!«

Blodgahn schleuderte die Flasche mit ei­nem Fluch in die Dunkelheit. Durch die hef­tige Bewegung wurde ein erster Schwindel ausgelöst. Die leuchtenden Pünktchen in der Luft begannen, kreiselnde Bewegungen aus­zuführen. Blodgahn wurde übel.

»Eliminieren muß man sie, alle!« Blodgahn griff nach dem Behälter mit der

selbstgemixten Flüssigkeit, die ihn nach ei­nem Kweel-Rausch in der Regel schnell

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wieder auf die Beine brachte. »Wohlan, ihr Magier«, brummte er, als er

den Behälter an die Lippen setzte, »das war euer letzter Streich.«

Er trank das Gebräu in einem Zug aus. Was dann kam, hatte er bereits Dutzende von Malen mitgemacht. Der Blick wurde starr, die Pupillen entwickelten ein unkon­trolliertes Eigenleben, die Nackenhaare rich­teten sich auf, und aus den Ohren schossen ein paar kleine Rauchwölkchen. Ein wenige Meter entfernt stehender Beobachter hätte geschworen, daß Blodgahns Kopf einige Se­kunden lang wie eine dunkelrote Fackel in der Dunkelheit geglüht hätte.

Dann sprang der Zwerg wie von einer Ta­rantel gestochen in die Höhe, stolperte und hielt sich an einem der Stachel fest, die wie Antennen aus der Plane des Pelchwagens ragten. Blodgahn zitterte und strampelte mit den Beinen, bis er vollkommen erschöpft war und sich auf die Plane fallen ließ, die ihn weich auffing.

Blodgahn fühlte sich hundeelend, aber er war wieder nüchtern.

»Wasser!« keuchte der Zwerg. »Einen Ei­mer voll Wasser!«

Aber weit und breit gab es keinen Tropfen der begehrten Flüssigkeit. Blodgahn kreisch­te, zeterte und stieß Flüche und Drohungen gegen die Magier in der Großen Barriere von Oth aus. Außerdem schwor er sich (zum dritten Mal innerhalb von zwei Tagen), nie­mals mehr einen Tropfen Kweel anzurühren.

Blodgahn richtete sich stöhnend auf, als er Phiancha heranrauschen hörte. Die schwarze Riesenfledermaus landete neben ihm auf dem Wagen und kugelte sich ein.

»Warte einen Augenblick, mein Lieb­ling«, ächzte Blodgahn und hockte sich ne­ben sie. »Dein Herr ist das Opfer von ver­brecherischen Eingeborenen und skrupello­sen Magiern.«

Der Zwerg wartete, bis sich seine Sinne wieder einigermaßen geklärt hatten.

»Jetzt kannst du berichten, Phiancha. Was machen die Fremden?«

Phiancha ließ ihren Bewußtseinsinhalt in

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den Gnomen überfließen. Blodgahn »sah« jetzt plastisch vor sich, was Phiancha beob­achtet hatte. Sie konnte die Dunkelheit mü­helos durchdringen.

Vor Blodgahns geistigem Auge erschien der Eingang des Emmorko-Tals, an dessen Rand der Pelchwagen stand. Es ging schnell weiter, tiefer ins Tal hinein, bis die Schloß­ruine auftauchte. Vor der unteren Treppe, die zu einem der Haupteingänge führte, standen die Eindringlinge. Sie waren un­schlüssig und wirkten verängstigt.

Kein Wunder! dachte Blodgahn. Er kann­te das Gefühl, das sich auf das Bewußtsein eines jeden legte, der sich der Ruine näherte.

»Danke, mein Liebling«, sagte Blodgahn und ließ einen Strom warmer Gefühlsimpul­se zu dem schwarzen Monstrum hinüberflie­ßen. Er wußte, daß Phiancha sie empfangen konnte.

»Bald werden sie den Aufstieg über die Treppe wagen«, überlegte er laut. »Sie wer­den schon sehen, was ihnen bevorsteht. Das Goldene Vlies ist das bestgehütete Geheim­nis von Pthor – abgesehen von der FE­STUNG selbst. Wir werden unseren Spaß haben, Phiancha. Und dann greifen wir ein …«

Doch selbst Blodgahn konnte nicht wis­sen, wie gut das Goldene Vlies behütet wur­de. Es war lange her, daß er zum letzten Mal in dem Ruinenschloß gewesen war – die Herren der FESTUNG sahen es nicht gerne, wenn er dem Vlies allzu oft einen Besuch abstattete.

Sie selbst konnten es nicht benutzen – sie würden bei dem Versuch sterben.

Und so hatte auch Blodgahn keine Ah­nung, was seit seinem letzten Besuch im Ruinenschloß vor sich gegangen war …

*

»Wir müssen endlich hinein«, brummte Razamon ungeduldig. »Es ist Nacht, Atlan. Wie lange willst du noch nach verborgenen Eingängen suchen, wo wir die Einladung in Form der Treppe genau vor uns haben?«

5 Kampf um das Goldene Vlies

Atlan antwortete nicht. Vor ihnen lag das Ruinenschloß. Der Arkonide vermutete, daß es das Zentrum des Tales bildete. Große Tei­le des riesigen Komplexes waren von Fackeln erhellt, aber auch deren Licht wurde von dem Dunkel geschluckt, das diesem Landstrich zwischen der Flußebene des Xa­myhr und der Nordostküste von Atlantis sei­nen Namen gab.

Es war mittlerweile fast zwei Stunden her, seitdem sie zum erstenmal vor dieser Treppe gestanden hatten. Erst nach Minuten hatten sie registriert, daß sich mit ihrem Eindringen in das Tal etwas geändert hatte.

Es wehte kein Lufthauch mehr, und alles um sie herum war totenstill. Selbst die klei­nen Tiere, die sie auf ihrem Weg gesehen hatten, waren verschwunden.

Es war, als ob irgend etwas darauf warte­te, daß sie die Stufen hochstiegen. Eine un­ausgesprochene Drohung, die Atlan veran­laßt hatte, zuerst nach verborgenen Neben­eingängen in den Komplex zu suchen.

Jetzt, nach erfolgloser Suche, standen sie wieder an ihrem Ausgangspunkt.

Atlan versuchte, Einzelheiten im Dunkeln auszumachen. Die breite Treppe führte zwi­schen zwei Mauererhebungen bis zu einem Tor hinauf, wahrscheinlich war dies der ei­gentliche Eingang des Schlosses. Links schälten sich die Umrisse von zwei schlan­ken Türmen aus der Finsternis, rechts be­fand sich ein bunkerartiger Wohnturm. Aus den schmalen Öffnungen am oberen Teil drang das fahle Licht von Fackeln.

Die Treppe selbst war verfallen. Überall waren dunkle Stellen zu erkennen, verborge­ne Nischen, in denen alles mögliche auf sie lauern konnte.

Es gab für Atlan keinen Zweifel mehr, daß sich im Innern der Schloßruine das Gol­dene Vlies befand. Sie waren kurz vor ihrem Ziel, aber der Arkonide wollte nicht akzep­tieren, daß sie nur die Stufen hinaufzustei­gen und in das verfallene Bauwerk einzu­dringen brauchten, um zum lang ersehnten Ziel zu kommen.

Ihr Weg war voller Tücken und Gefahren

gewesen. Sollte das alles plötzlich hinter ih­nen liegen?

Du mußt es wagen! meldete sich der Ex­trasinn. Durch unnützes Warten erreichst du nichts. Blodgahn wird nicht untätig herum­sitzen. Denke an die Erde und die Men­schen!

»Also gut«, flüsterte Atlan. »Versuchen wir unser Glück.«

»Es wurde auch Zeit, Arkonide«, meinte Razamon. »Bringen wir es hinter uns, damit Kolphyr in Ruhe sein Junges zur Welt brin­gen kann. Ich habe das Gefühl, daß es bald losgeht.«

Tatsächlich hatte der Bera sich in den letzten beiden Stunden verändert. Er hatte kein Wort mehr gesagt, und seine rechte Hand, die immer noch auf dem angewachse­nen Gespinst auf dem linken Oberarm lag, hatte zu zittern begonnen. Dann und wann schossen grelle Lichtspeere unter den klobi­gen Fingern hervor. Kolphyr, wie die Ge­fährten das Antimateriewesen jetzt anrede­ten, da sie seinen richtigen Namen kannten, litt ohne Zweifel unter starken Schmerzen.

Sie stiegen die ersten Stufen der breiten Treppe hinauf. Fenrir hielt sich, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, dicht bei den Männern und verzichtete auf Ausflüge.

Die Beklemmung wurde stärker, je mehr Stufen sie erklommen. Atlan bemerkte aus den Augenwinkeln heraus, daß Koys Broins zu zittern begannen. Er wußte, daß der Trommler verzweifelt versuchte, seine füh­lerförmigen Vernichtungswaffen zu reakti­vieren – bisher ohne Erfolg.

Ihre Lage hatte sich nicht verändert. Au­ßer Razamons Messer hatten sie keine Waf­fen. Nur ihre grimmige Entschlossenheit hatte sie dazu befähigt, aus Blodgahns Ker­kern und dem Stollenlabyrinth zu entkom­men, in der das Ungeheuer hauste, das mög­licherweise der Ursprung der Minotauros-Sa­ge war.

Atlan mußte sich korrigieren: Daß sie noch lebten, hatten sie wahrscheinlich einzig und allein Gloophys Symbionten zu verdan­ken. Im Augenblick der höchsten Gefahr, als

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sie alle gelähmt in der Felsenhöhle lagen, hatte er zu strahlen begonnen und das Unge­tüm einfach verschwinden lassen.

»Ich habe das Gefühl, als ob wir beobach­tet würden«, sagte Razamon.

»Weiter!« forderte Atlan die Gefährten auf. Erst jetzt bemerkte er, daß der Bera zu­rückgeblieben war. Kolphyr hatte den Kopf geneigt und schien auf etwas zu lauschen, das mit lautloser Stimme zu ihm sprach.

»Nun mach schon, Kolphyr!« »Er läßt sich beraten«, spottete Razamon. »Kolphyr!« Der Bera zuckte zusammen und ruderte

mit dem linken Arm durch die Luft. »Nicht weiter!« rief er schrill. »Hier nicht

unser Weg – hier nur Sterben!« Er hat recht, warnte Atlans Extrasinn. Ihr

befindet euch in Gefahr, aber ihr habt keine Wahl. Je länger du zögerst, desto schlimmer wird eure Lage!

Kolphyr kam langsam auf sie zu. Sie stie­gen weitere Stufen hinauf. Das dunkle Vier­eck des rechteckigen Eingangstors wurde größer. Noch zehn Meter …

»Ruhig bleiben«, flüsterte Razamon, der ganz nahe zu Atlan getreten war. »Zwischen den Türmen zu unserer Linken bewegt sich etwas. Es kommt aus den Nischen. Sie sind auch hinter uns. Laß dir nichts anmerken.«

Atlan drehte den Kopf und versuchte, rechts von ihnen etwas zu erkennen. Die To­tenstille zehrte an ihren Nerven. Sogar Fenr­ir gab nicht einmal ein Winseln von sich. Es war, als ob der riesige Fenriswolf Angst da­vor hatte, sich durch den kleinsten Laut zu verraten.

Razamon hatte sein Messer in der Hand. Noch acht Meter … Irgendwo knirschten kleine Steine. Der

Gegner näherte sich lautlos im Schutz der Dunkelheit.

Sieben Meter. Es wurde heller, je näher sie an den Eingang und die neben ihm auf­gestellten Fackeln kamen.

Irgend jemand mußte die Fackeln ständig erneuern!

Plötzlich erklang direkt hinter Atlan ein

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schriller Schrei, der von den Wänden der Ruine zurückgeworfen wurde. Bevor einer der Gefährten begriff, was vor sich ging, stürmte der Bera an ihnen vorbei und baute sich direkt vor ihnen auf. Er streckte beide Arme aus und hinderte sie so am Weiterge­hen.

»Mein Gott!« entfuhr es Atlan, als er das Gebilde auf Kolphyrs linkem Oberarm sah. Aus dem ursprünglich weißen, dann blutro­ten Gespinst war ein intensiv leuchtender Gewebeklumpen geworden, der heftig pul­sierte. Und irgend etwas schob sich unter dem feinen Häutchen, das seit dem Erlebnis in der Felsenhöhle von einer feinen Narbe überzogen war, hin und her.

»Nicht weitergehen!« schrillte die Stimme des Antimateriewesens. Im gleichen Mo­ment blitzte es an seinem Arm so grell auf, daß Atlan unwillkürlich die Augen schloß. Razamon brüllte laut auf und fuhr auf dem Absatz herum, um die Augen vor der Hellig­keit zu schützen.

Das grelle Licht durchbrach die Finsternis der Dunklen Region und ließ es für einen kurzen Augenblick taghell werden.

Razamon sah die monströsen Körper, die sich von allen Seiten auf sie zuschoben …

*

Phiancha befand sich genau über den Fremden, als es auf der Treppe aufblitzte. Sie hatte keine Chance gegen das Licht. In­nerhalb von Sekundenbruchteilen fielen ihre empfindlichen Sinne aus. Phiancha stieß schrille Schmerzensschreie aus, unhörbar für jedes menschliche Ohr.

Das schwarze Monstrum verlor einige Momente lang die Kontrolle über seinen Flug und wäre fast neben den Fremden auf die Treppenstufen gestürzt – genau in die Horden der heranrückenden Mutanten.

Im letzten Augenblick konnte sie den Sturz abfangen. Phiancha war blind. Instink­tiv fand sie die Richtung, in der ihr Herr wartete. Als sie nahe genug heran war, emp­fing sie seine Mentalströme, an denen sie

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sich orientieren konnte. Wenig später fiel sie wie ein Stein auf die Plane des Pelchwagens. Sie konnte den Fall nicht mehr rechtzeitig abbremsen und riß mit ihren scharfen Klau­en die Plane auf, so daß sie im Innern des Gefährts landete.

Phiancha schrie ihren Schmerz in die Welt hinaus, aber niemand hörte sie. Nur ihr Herr empfing ihre Pein.

*

Blodgahn war nicht mehr zu halten. Der Gnom empfand Phianchas Schmerz, als wä­re er selbst erblindet und taub geworden. Er stieg in den Pelchwagen und strich liebevoll über die ledernen Schwingen der Riesenfle­dermaus.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis er sich soweit beruhigt hatte, daß er wieder klar denken konnte.

In der Nacht traute er sich nicht ins Tal hinab. Der Weg ins Innere der Ruine war selbst für ihn gefährlich. Mit den Mutanten wurde er fertig, wenn er erst einmal seine Spezialpfeife in der Hand hatte, aber die be­fand sich in der Schloßruine.

Er würde bis zum Morgen warten müssen, aber dann sollten die Eindringlinge bitter für ihre Verbrechen büßen.

»Jetzt reicht's«, zeterte der Gnom in ei­nem plötzlichen Anfall von Tobsucht. »Zuerst bringen sie Taros um, dann meine Katzen, und jetzt müssen sie auch noch Phiancha zugrunde richten! Ist euch denn gar nichts heilig, ihr … ihr Bestien?«

Natürlich wußte Blodgahn, daß er seine Raubkatzen auf den unglücklichen Dello Ta­ros gehetzt hatte und daß seine »Lieblinge« nicht von den Fremden, sondern von dem Ungeheuer in der Kammer des Todes zerris­sen und jämmerlich zugerichtet worden wa­ren, aber auch das spielte jetzt keine Rolle.

»Die FESTUNG sollte veranlassen, daß alle Fremden auf schnellstem Wege elimi …« Der Gnom verstummte und stieß einige Flüche aus, als er merkte, welchen Unsinn er redete.

Aber schließlich war es nicht fair von den Herren der FESTUNG, zuzulassen, daß Ein­dringlinge bis zu den Grenzen seines Rei­ches gelangen konnten, die sogar die Frech­heit besaßen, aus seinen Verliesen auszubre­chen!

Das Kweel wirkte immer noch in Blod­gahn, was wohl daran lag, daß er nach dem Gebräu aus den Kräutern der Magier kein Wasser getrunken hatte. Blodgahn hoffte, in der Schloßruine einen Kessel der begehrten Flüssigkeit zu finden.

Noch ein paar Stunden bis zur Dämme­rung.

»Hoffentlich entkommt ihr den Mutanten, ihr Teufel! Und dann sollt ihr Blodgahn ken­nenlernen!«

Der Gnom hockte sich neben Phiancha auf den Holzboden des Pelchwagens und versuchte, tröstende Impulse abzustrahlen. Er spürte Dankbarkeit, aber der Schmerz war übermächtig. Phiancha war ein Krüppel.

Natürlich hatte Blodgahn den Blitz gese­hen. Aber jetzt hatte er keine Zeit, sich dar­über Gedanken zu machen. Hier war er hilf­los, aber in einigen Stunden würde das ganz anders sein.

Die Eindringlinge würden ihm auf die Dauer nicht entkommen.

2.

Razamon brauchte den anderen keine Warnung mehr zuzurufen. Sie hatten es alle gesehen.

Atlan hatte die Augen wieder aufgeschla­gen. Noch immer strahlte der Symbiont an Kolphyrs Arm, aber die Helligkeit blendete nicht mehr. Dafür warf sie ein gespensti­sches Leuchten auf die makabre Szenerie.

Die Gefährten befanden sich etwa in der Mitte der Treppe. Nur noch wenige Meter trennten sie von dem rechteckigen Tor, das ins Innere der Ruine führen mußte. Aber ein einziger Blick genügte, um sie erkennen zu lassen, daß es hier kein Durchkommen für sie gab. Die Horden der verunstalteten We­sen quollen unablässig aus dem dunklen

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Viereck heraus. Es waren schleimige, vielfüßige Wesen,

die an große Schnecken erinnerten. Keines von ihnen glich dem anderen, abgesehen in der groben, äußeren Erscheinung. Atlan er­kannte tentakelbewehrte Exemplare, die fast zwei Meter lang waren, andere hatten über­haupt keine Gliedmaßen, sondern rutschten auf einem schleimigen Gleitteppich über die Stufen auf sie zu, wieder andere besaßen rie­sige Köpfe, aus denen Tentakelaugen ragten.

»Umkehren!« schrillte Gloophys Stimme. »Unten nicht so Gefahr!«

»Er hat recht«, rief Razamon. »Wir müs­sen weg, solange wir noch die Möglichkeit dazu haben.«

Atlan sah sich um. Auch hinter ihnen schob sich die Mauer der glitschigen Leiber unaufhörlich an sie heran.

Es sind Mutationen, meldete sich der Ex­trasinn. Sie sind unberechenbar!

Alles in dem Arkoniden wehrte sich dage­gen, jetzt, so kurz vor dem Ziel, umzukeh­ren, aber er mußte sich den Realitäten beu­gen.

»Versucht euch durchzuschlagen«, rief er den Freunden zu. »Bleibt zusammen und nehmt den Bera in eure Mitte! Ich komme nach!«

»Was hast du vor?« wollte Razamon wis­sen.

»Beeilt euch, wir haben keine Zeit!« Atlan sah, daß sich links von ihnen, zwi­

schen den beiden schlanken Türmen, eine kleine Gasse in der Mauer der anrückenden Leiber befand. In etwa zwei Metern Höhe hing eine Fackel an einem der Türme.

Der Arkonide nahm einen Anlauf und sprang über zwei Angreifer hinweg. Glit­schige Tentakel griffen nach seinen Beinen, verfehlten ihn aber. Er lief auf den Turm zu und griff nach der Fackel.

Razamon hatte begriffen. Er trieb die an­deren vor sich her die Stufen hinab. Auch Kolphyr zögerte jetzt nicht mehr. Trotzdem schien es zu spät für sie zu sein.

Der Ring der Angreifer hatte sich um sie geschlossen. Sie konnten nicht einfach über

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sie hinwegspringen. Sie mußten sich einen Weg durch die Mutationen bahnen.

Wenn sie erst einmal im Freien waren, sollte es ihnen gelingen, die Alptraumge­schöpfe fernzuhalten. Vielleicht mit Feuer …

Atlan sah eine zweite Fackel an dem Turm.

»Razamon!« Der Atlanter, der nur noch einen Meter

vor dem ersten Mutanten stand, fuhr herum. Atlan warf ihm seine Fackel zu. Razamon fing sie mühelos auf.

»Danke, Arkonide, jetzt kommt die Stun­de der Wahrheit!«

Atlan sprang über eine Raupe, die sich unbemerkt bis dicht an seine Stiefel heran­geschoben hatte, und gelangte zu der zwei­ten Fackel. Dann suchte er sich einen Weg durch die Angreifer, die mittlerweile mitbe­kommen hatten, daß die Eindringlinge sich geteilt hatten.

Mit Sicherheit sind das keine Wächter des Vlieses, überlegte der Arkonide. Mutierte Vielfüßer, die sich in der Ruine eingenistet haben.

Atlan schwang die Fackel. Die Schnecken wichen zurück!

»Es wirkt, Razamon!« rief er zu dem At­lanter hinab. »Sie haben Angst vor dem Feu­er!«

Der Atlanter hatte bereits die gleiche Er­fahrung gemacht. Er hielt seine Fackel vor sich hin und schlug auf allzu angriffslustige Tiere ein. Sofort bildete sich eine Gasse. Die Gefährten beeilten sich, die Stufen der ver­fallenen Treppe hinabzusteigen. Sofort schloß sich der Ring der Monstren wieder hinter ihnen.

Niemand wunderte sich mehr darüber, als plötzlich aus Kolphyrs linkem Oberarm ge­bündelte Lichtstrahlen schossen und sich in die Mutationen bohrten.

Wie in der Felsenhöhle! dachte Atlan, der die Szenen beobachtete. Aber die Wirkung der Strahlen war überwältigend. Die Muta­tionen verharrten in ihrer Bewegung und blieben reglos auf den Stufen liegen. Ande­

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re, die sich gerade aus verborgenen Mauer­nischen herausgeschoben hatten, zogen sich schnell zurück.

Atlan sah seine Chance und sprang. Se­kunden später befand er sich wieder auf der Treppe und bei den Gefährten.

Razamon und er bildeten die Spitze. Die Vielfüßer reagierten nicht einmal mehr auf das Feuer. Unbehelligt gelangte die Gruppe hinter die Mauer der Mutanten.

Kolphyrs Symbiont leuchtete nun schwä­cher. Das, was sich an dem Arm des Anti­materiewesens heranbildete, hatte offenbar begriffen, daß im Augenblick keine unmit­telbare Gefahr mehr drohte.

»Wir suchen uns einen Rastplatz und war­ten die Nacht ab«, schlug Atlan vor.

Wenig später hatten sie eine geeignete Stelle gefunden. Koy, der immer noch unter der Tatsache litt, daß er den Gefährten im Moment keine große Hilfe sein konnte, suchte trockenes Reisig zusammen. Raza­mon entzündete mit seiner Fackel ein klei­nes Feuer, das sie während der Stunden bis zur Morgendämmerung vor ungebetenen Gästen schützen sollte.

»Ruh dich aus, Koy«, meinte Atlan. »Irgendwann geht deine Pechsträhne zu En­de. Je eher deine Broins wieder klar zum Gefecht sind, desto besser sind unsere Aus­sichten, heil in die Ruine zu kommen.«

»Du hast gut reden«, murmelte der Trommler. Er sah sich scheu um. »Wo ist der Wolf?«

»Er wird in der Gegend herumstrolchen. Fenrir wird sich früher oder später an dich gewöhnen. Die terranischen Barbaren haben ein Sprichwort: Wölfe, die viel knurren, bei­ßen nicht.«

»Ein großer Trost«, brummte Koy und streckte sich auf dem grasbewachsenen Bo­den ihres Lagerplatzes aus, der ringsherum von undurchdringlichem Dornengestrüpp umgeben war.

Der Bera saß wieder still etwas abseits und lauschte in sich hinein. Atlan kroch zu Razamon, der am Feuer saß und gedanken­verloren in die kleinen Flammen starrte. Der

Atlanter betastete das linke Bein. »Wieder Schmerzen im Zeitklumpen,

Pthorer?« Razamon sah auf. »Es wird immer schlimmer, Atlan. Die

Schmerzen sind ein Signal. Irgend etwas geht vor, irgend etwas, von dem wir noch keine Ahnung haben. Es geschehen Dinge, die ganz Atlantis betreffen. Ich habe Angst vor dem, was kommen wird.«

»Angst? Es kann nur besser werden. Mir geht nicht aus dem Kopf, was der Unbe­kannte sagte, der im Auftrag Sigurds kam, um Bördo zu seinem Vater zu bringen. Ich kann mir nicht helfen, aber ich muß immer wieder an die Odinssöhne denken. Der Un­bekannte redete von uralten Prophezeiun­gen, die sich zu erfüllen beginnen.«

Natürlich konnte Atlan nicht wissen, was sich inzwischen in Sigurds LICHTHAUS er­eignet hatte, und daß die Göttersöhne sich von Süden her der FESTUNG näherten, ent­schlossen, die Herrschaft der mysteriösen Herren der FESTUNG zu brechen.

»Ich möchte wissen, was das Goldene Vlies ist«, flüsterte Razamon, um Koy, der offenbar eingeschlafen war, nicht zu wecken. »Eine Waffe oder ein Schatz? Um­sonst lassen die Herrscher Pthors' das Vlies nicht von einem Teufel wie Blodgahn bewa­chen.«

»Wir werden es bald wissen.« Razamon lehnte sich zurück. »Ich überlege mir, wer diese Anlagen ge­

baut hat. Zuerst Blodgahns Festung, dann dieses Ruinenschloß. Sicher gibt es noch viel mehr Überreste dieser Art, denke an den Brunnen. Das alles ist uralt. Bisher haben wir nichts zu Gesicht bekommen als Muta­tionen und den Gnomen, keine Spur von den Erbauern der Ruinen.«

Atlan nickte. Er hatte sich bereits Gedan­ken darüber gemacht, nachdem sie aus dem Brunnen an die Oberfläche gelangt waren. Die Bauwerke zeugten von einer einstmals hochstehenden Kultur in diesem Teil von Atlantis. Hatte es einmal eine Zeit gegeben, als dieser Landstrich nicht von Dunkelheit

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überzogen gewesen war? War die Dunkle Region möglicherweise

künstlich geschaffen worden, etwa von den Herren der FESTUNG? Und wenn ja, zu welchem Zweck?

Atlan dachte an die Teufelsfurche, aus der die Dunkelheit unablässig aufstieg und sich über das Land zwischen dem Xamyhr und der Nordostküste ergoß.

Er redete mit Razamon über seine Überle­gungen.

»Möglich, daß du recht hast«, brummte der Pthorer. »Vielleicht erfahren wir eines Tages, was sich hier zugetragen hat. Zuerst aber rechnen wir mit der FESTUNG ab. Wenn sich die Suche nach dem Goldenen Vlies als Fehlschlag erweisen sollte, führt unser Weg – zumindest meiner – auf direk­tem Weg dorthin. Ich werde keinen Umweg mehr machen, Atlan, und wenn wir uns tren­nen müßten. Wir haben bereits zuviel Zeit verloren.«

»Wir haben in dieser Zeit Freunde gefun­den, deren Unterstützung vielleicht den Aus­schlag geben wird, wenn wir zum entschei­denden Schlag ausholen wollen«, wider­sprach der Arkonide.

»Freunde, ja«, versetzte Razamon sarka­stisch. »Einer von ihnen leidet unter Kom­plexen, der zweite ist schwanger und schleppt etwas mit sich herum, das ihn zu ei­ner lebenden Bombe machen kann, und der dritte …«

»… redet Unsinn und leidet unter seinem Zeitklumpen.«

Razamons Kopf fuhr herum. Einen Au­genblick lang sah er den Arkoniden wild an, dann grinste er.

»Schon gut, Atlan, wahrscheinlich hast du recht. Aber ich bleibe dabei. Irgend etwas geschieht in diesem Augenblick auf Pthor. Etwas, das den ganzen Kontinent ins Chaos stürzen kann. Ich spüre, daß die Macht der FESTUNG zu zerbröckeln beginnt, und wenn sie fällt, will ich dabei sein, ganz egal, wie unser Abenteuer hier ausgeht.«

»Vorausgesetzt, daß wir es lebend über­stehen«, korrigierte Atlan.

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»So ist es«, stimmte der Pthorer grimmig zu. »Deshalb schlage ich vor, daß wir uns jetzt ein paar Stunden aufs Ohr legen, damit wir bei Kräften sind, wenn's losgeht – ob­wohl ich keine Ahnung habe, wie du an den Kreaturen auf der Treppe vorbeikommen willst.«

»Kommt Zeit, kommt Rat. Versuche zu schlafen, ich fühle mich noch einigermaßen frisch und halte Wache.«

»Du entwickelst eine ausgesprochene Vorliebe für Sprichwörter, den Spruch mit den Wölfen habe ich allerdings ein wenig anders in Erinnerung …«

Atlan schmunzelte. Der Atlanter legte sich hin und drehte sich auf die Seite.

Noch wenige Stunden bis zur Dämme­rung. Sie mußten einen Weg ins Innere der Schloßruine finden, vielleicht gab es doch einen versteckten Nebeneingang.

Atlan legte Reisig aufs Feuer und beob­achtete den Bera. Dann dachte er an Blod­gahn und fragte sich, wie groß ihr Vor­sprung noch war.

*

Kolphyr lauschte auf das Wispern seines Symbionten. Es war jetzt kaum wahrnehm­bar. Kolphyr spürte, daß die Abwehr der Angreifer auf der Treppe viel Kraft gekostet hatte.

Der Bera sah den Hellhaarigen, der sich »Atlan« nannte, allein am Feuer sitzen. Er versuchte immer wieder, diese Wesen zu be­greifen. Eigentlich war es nicht mehr als Sympathie, die sie miteinander verband. Sympathie und der Wunsch, der Herrschaft jener Wesen ein Ende zu bereiten, die die Geschöpfe dieser Welt quälten und andere Welten ins Verderben stürzten.

All das wußte Kolphyr aus der Unterhal­tung mit seinen neuen Freunden. Er wußte auch, daß er nur durch den Velst-Schleier, der sich wie eine zweite Haut um ihn gelegt hatte, in dieser Umgebung existieren konnte, die für ihn aus Antimaterie bestand.

Aber all das war unwichtig geworden,

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seitdem Kolphyr das aufkeimende Leben an seinem Arm zum erstenmal gespürt hatte.

Das neue Wesen würde ihn bald verlas­sen, aber nicht für immer. Die Bindung war bereits so stark, daß es in der vollkommenen Isolierung zugrunde gehen würde. Es war ein Teil von Kolphyr – und umgekehrt.

Trotzdem war der Bera von Trauer erfüllt. Das zweieinhalb Meter große, fünf Zentner schwere Wesen verfügte über ein sehr aus­geprägtes Gefühlsleben. Die Liebe zu sei­nem Symbionten, der schon bald ein separa­tes Wesen sein würde, drohte ihn oft zu überwältigen. Kolphyr ahnte, daß er in sol­chen Augenblicken zu einer Gefahr für seine Freunde wurde. Andererseits hatte der Sym­biont sie schon zweimal aus ausweglosen Si­tuationen gerettet – auf eine Art und Weise, die auch Kolphyr nicht begriff.

Nur manchmal hörte er seine feine Stim­me, wenn sie ihn vor einer Gefahr warnte, die ihm und den Freunden noch verborgen war. In solchen Momenten bekam Kolphyr fast Angst vor ihm.

*

Als die Dämmerung hereinbrach, schlug Blodgahn die Plane des Pelchwagens zurück und stieg aus. Draußen angekommen, beugte er sich noch einmal über das Chassis, das ihm bis zur Brust reichte. Das faltenreiche, weiße Gesicht, das von langen, über die Schulter fallenden grauen Haarsträhnen um­rahmt war, wirkte traurig, als der Gnom die Hand ausstreckte und über Phiancha strich, die halb eingekugelt im Innern des Wagens lag.

Phiancha litt noch immer. Blodgahn wuß­te jetzt, daß sie nie mehr durch die Lüfte kreisen und die Dunkle Region mit ihren mutierten Sinnen nach Opfern absuchen würde. Phiancha war zum Krüppel gewor­den. Sie würde nicht sterben, aber das trost­lose Dasein, das ihr bevorstand, war viel­leicht schlimmer als der Tod.

»Ich werde dich bitter rächen, mein Lieb­ling«, flüsterte Blodgahn. »Dich und die an­

deren. Sie werden bezahlen, das verspreche ich dir. Wenn ich zurückkomme, lebt nie­mand von ihnen mehr.«

Als der Haß übermächtig zu werden droh­te, schlug der Zwerg die Plane wieder herun­ter und versiegelte den Pelchwagen. Blod­gahn hatte innerhalb weniger Stunden alles verloren, dem er so etwas wie Liebe entge­genbringen konnte. Sein Haß auf alles Le­bende war grenzenlos, und das nicht erst seit seiner Verbannung aus der FESTUNG. Blodgahn, ehemals Hofnarr seiner Herren, war immer schon böse gewesen.

Blodgahn langte in die Fahrerkanzel des Wagens, die von außen wie ein schwarzer Schild wirkte, und holte einen Beutel heraus, in dem sich eine Reihe von Utensilien be­fand, die ihm vielleicht in dem Ruinen­schloß von Nutzen sein konnten. Zwar ver­fügte er in der Ruine über ein beträchtliches Arsenal, aber gewisse Dinge pflegte er im­mer bei sich zu tragen, so etwa die Lebens­kapseln. Natürlich nahm er auch einen wei­teren Behälter der Mixtur mit, die ihn nach übermäßigem Kweel-Genuß wieder auf die Beine bringen sollte. In seinem Vorratsraum in der Ruine befand sich noch eine große Flasche …

Der Gnom hängte sich die Tasche über sein in allen Farben schillerndes Gewand und verschloß auch die Fahrerkanzel.

Er holte noch einmal tief Luft und zog ei­ne grimmige Grimasse.

»Nun gnade euch der Himmel über Pthor!« krächzte er schließlich und setzte sich in Bewegung. Die Sicht reichte mittler­weile fast fünfundzwanzig Meter weit.

Blodgahn gelangte ins Tal und bahnte sich seinen Weg durch die Dornbüsche. Er sah keine Tiere. Sie schienen zu ahnen, daß er unterwegs war, um Rache zu nehmen.

»Bittere Rache!« preßte der Gnom leise hervor, um seine Gegner nicht unnötig zu warnen. Immerhin wußte er nicht, wo sie sich verbargen.

»Sie sollen glauben, ganz kurz vor ihrem Ziel zu stehen, das ist gut. Um so böser wird die Überraschung für sie sein, wenn ich vor

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ihnen auftauche. Sie werden vor mir zit­tern!«

Ein kleines Nagetier, das wohl noch nicht begriffen hatte, daß der gnadenlose Rächer unterwegs zur Schloßruine war, steckte den Kopf aus einem Dornenbusch heraus und starrte Blodgahn aus großen Augen an. Der Zwerg trat nach dem Nager und fluchte.

»Die FESTUNG sollte veranlassen, daß ganz Pthor Zeuge ist, wenn Blodgahns Fein­de zur Strecke gebracht werden, und nicht nur ein paar niedere Kreaturen!«

Wieder wurde er sich des Unsinns, den er redete, bewußt, was ihn nur noch wütender machte. Er konnte von Glück reden, wenn die FESTUNG niemals erfuhr, daß ihm die Eindringlinge entkommen waren. Zu seinem Glück hatte er noch keine Erfolgsmeldung gemacht und um neue Lebenskapseln gebe­ten.

Vorerst hatte er noch genug davon. Nach seinem Triumph würde er ein rauschendes Fest feiern, mit viel Kweel und genügend Wasser in Reserve.

Blodgahn konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Plötzlich spürte er, wie sich die Beklemmung auf ihn legte, je näher er der Schloßruine kam. Er kannte das.

Manchmal glaubte er, die Geister der ehe­maligen Herren dieses Tals zu spüren. Sie mußten einstmals die ganze jetzige Dunkle Region bewohnt haben, bevor eine furchtba­re Explosion das Tal schuf. Es hieß, daß die letzten Überlebenden dieser längst vergesse­nen Kultur das Schloß als Zufluchtsstätte er­bauten. Aber auch sie hatten schließlich vor der FESTUNG kapitulieren müssen.

Das einzige, was von ihnen geblieben war, waren die Mutanten. Sie waren die ent­arteten Nachkommen einer halbintelligenten Vielfüßerart, die von den ehemaligen Be­wohnern der Ruine als Haustiere gehalten wurden. Normalerweise hatte Blodgahn von den Mutanten nichts zu befürchten. Mit Hil­fe seiner Spezialpfeife konnte er sie sogar beeinflussen. Er konnte sie ohne weiteres auf die Fremden hetzen – wo immer sie sich aufhielten.

Horst Hoffmann

Die Pfeife befand sich in seinem Vorrats­raum, in dem er sich eine kleine Zentrale eingerichtet hatte, von wo aus die ganze Ruine kontrollierbar war, in der Hauptsache natürlich die Halle mit dem Goldenen Vlies.

Blodgahn hoffte, daß die Kreaturen sich beruhigt hatten. Wenn sie aufgeregt waren, konnten sie sogar ihm gefährlich werden, solange er auf seine Pfeife verzichten mußte.

Die Lichter der Fackeln schälten sich aus der Dunkelheit. Es war totenstill, und kein Lufthauch rührte sich. Blodgahn ging vor­sichtig auf die Treppe zu. Er sah sich immer wieder um. Phiancha hatte ihm noch berich­ten können, wie die Fremden von den Hor­den der Mutanten angegriffen worden wa­ren. Er hatte allerdings keine Ahnung, wo sie sich jetzt befanden.

Der Gnom unterschätzte seine Gegner nicht. Wenn sie nicht tot auf den Treppen­stufen lagen, waren sie entkommen und würden früher oder später einen der ver­steckten Stollen entdecken, die in die Ruine führten. Nach ihren Erfahrungen mit den Mutationen würden sie kaum mehr Lust ver­spüren, einen zweiten Versuch über die Haupttreppe zu wagen.

Der Gnom betrat die ersten Stufen. Er fand keine Spur von den Gejagten. Auch die Vielfüßer hatten sich verzogen.

Erst als Blodgahn fast den rechteckigen Eingang erreicht hatte, zeigten sie sich. Sie waren immer noch erregt, das spürte der Zwerg sofort. Zwei von ihnen kamen ihm gefährlich nahe und fuhren schleimige Ten­takel aus.

»Verschwindet!« zischte er den Monstren zu. »Seht ihr nicht, daß ich es bin, euer Herr?«

Sie schienen es tatsächlich nicht zu sehen. Der erste der Vielfüßer glitt auf ihn zu und wollte ihn mit einem Tentakel packen. Au­ßer sich vor Wut über soviel Respektlosig­keit packte Blodgahn zu und riß den Aus­wuchs mit einer Gewalt ab, die dem Zwerg niemand zugetraut hätte. Die Kreatur wich zurück und wand sich vor Schmerzen.

»Laßt euch das eine Lehre sein!« zischte

13 Kampf um das Goldene Vlies

Blodgahn den anderen zu, die mittlerweile aus den Mauernischen gekrochen waren und einen Halbkreis um ihn gebildet hatten.

»Die FESTUNG sollte veranlassen, daß alle überflüssigen und widerspenstigen Mu­tationen in der Dunklen Region schnellstens beseitigt werden.«

Blodgahn ging weiter, als er sah, daß die Vielfüßer sich still verhielten. Er erreichte den Eingang in die unteren Etagen und at­mete auf.

Nach wenigen Minuten befand er sich in seinem Vorratsraum. Blodgahn sah sich um. Seit seinem letzten Hiersein hatte sich nichts verändert. Er überprüfte die Beobachtungs­monitore und die Steuerungselemente seiner Fallen. Alles befand sich in bestem Zustand.

»Nun können sie kommen«, frohlockte der Gnom und ließ sich in seinen gepolster­ten Sessel vor den Monitoren fallen. Er akti­vierte einige Schirme, aber von den Frem­den war nichts zu sehen.

»Sollten sie doch schon tot sein? Das wä­re nicht fair!«

Blodgahn fühlte sich stark. Hier verfügte er über eine um ein Vielfaches größere Machtfülle als in seiner alten Festung. Lei­der gestatten es seine Herren nicht, daß er sich allzuoft hier aufhielt. Hatten sie am En­de Angst davor, daß er das Goldene Vlies entweihen würde?

Das Goldene Vlies! Blodgahn nahm eine Schaltung vor. Se­

kunden später flammte ein kleiner Bild­schirm auf und zeigte die Halle, in deren Mitte sich der Schrein mit dem größten Schatz der Herren der FESTUNG befand.

Blodgahn stockte der Atem. »Im Namen der FESTUNG – was ist

das?« stieß er aus, als er den riesigen Kri­stall sah, der etwa zwei Meter über dem Schrein in der Luft hing.

Der Gnom schloß die Augen und schüttel­te ein paarmal den Kopf, um sicherzugehen, daß er nicht mehr unter dem Einfluß des Kweels litt.

Als er sie wieder öffnete und auf den Schirm starrte, war der Kristall immer noch

da. Sein Durchmesser betrug mindestens ein Meter, und er strahlte in einem tiefen Blau.

Um ihn herum schien sich eine transpa­rente, leicht schimmernde Wand aufzuwöl­ben, die den Schrein mit dem Goldenen Vlies umschloß.

Blodgahn spürte, daß in der Schloßruine etwas Ungeheuerliches vorging, aber bevor er dazu kam, sich Gedanken darüber zu ma­chen, entdeckte er die Fremden.

3.

Atlans Gruppe wußte nichts davon, daß Blodgahn bei Anbruch der Dämmerung in das Ruinenschloß eingedrungen war. Die fünf ahnten noch nicht einmal, daß Blod­gahn bereits hier war, obwohl sie jeden Au­genblick mit seinem Auftauchen rechneten.

Koy und Razamon hatten tatsächlich eini­ge Stunden geschlafen. Beide wirkten frisch, und Koy war wie verwandelt, obwohl Fenrir ihn mit einem Knurren begrüßte, als er von einem seiner Streifzüge zurückkehrte.

»Ich spüre meine Broins wieder«, verkün­dete der Trommler. »Es wird nicht mehr lan­ge dauern, bis ich sie wieder einsetzen kann.«

»Gott sei Dank«, sagte Atlan erleichtert. »Ich habe das Gefühl, daß wir sie bald gut gebrauchen können.«

»Willst du es noch einmal über die Trep­pe versuchen?« wollte Razamon wissen.

Der Arkonide schüttelte den Kopf. »Das wäre zwecklos. Wir werden noch

einmal um die ganze Anlage herumgehen. Jetzt haben wir wenigstens etwas Licht, und es sollte mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht einen Zugang finden.«

»Worauf warten wir dann noch? Zu Essen haben wir nichts, und Blodgahn wird bald hier eintreffen. Machen wir uns auf den Weg.«

Kolphyr hatte den Männern zugehört und stand auf. Fenrir lief voller Tatendurst vor ihnen her.

Razamon sprang von seinem Lager auf. Im nächsten Augenblick sank er stöhnend

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wieder zu Boden. Er unterdrückte einen Schrei, aber das schmerzverzerrte Gesicht und die Hand, die zum linken Bein fuhr, sagten dem Arkoniden alles.

Der unsichtbare Zeitklumpen mußte ihm unerträgliche Schmerzen bereiten.

Irgend etwas geschieht auf Pthor – in diesem Augenblick, aber du darfst dich nicht irritieren lassen. Das Goldene Vlies!

Atlan hatte einen Fluch auf den Lippen. Er sehnte sich nach Ruhe, nach seinen alten Freunden jenseits der Prallschirme, die At­lantis von der Erde isolierten und verhinder­ten, daß die Horden der Nacht Terra über­schwemmten und dem Erdboden gleich­machten. Atlan war unsterblich, aber er hatte Gefühle und Bedürfnisse wie jeder »normale« Mensch. Ausspannen, das Grau­en vergessen, das sie in der Zeit ihrer Odys­see auf Pthor erlebt hatten, wieder frische Luft atmen und den Weltraum sehen, der zu seinem zweiten Zuhause geworden war.

Atlan sehnte sich nach einer Frau, nach ein paar kurzen Stunden des Glücks. Mehr war es nie, denn er war trotz allem ein Au­ßenseiter. Dieses Schicksal teilte er mit zwei Dutzend Frauen und Männern auf der Erde und den terranischen Stützpunkten im Welt­raum. Es war der schreckliche Fluch der Un­sterblichkeit. Atlan hatte sich oft gefragt, wie er sich entscheiden würde, wenn er plötzlich vor die Wahl gestellt wäre, als Un­sterblicher weiterzuleben oder für vielleicht einhundert Jahre, höchstens zweihundert, das kurze Glück eines »normalen« Lebens zu erleben.

Er würde immer die gleiche Antwort ge­ben. Er war zu einem Teil jener Entwicklung geworden, die die Menschheit zu den Ster­nen getragen hatte. Atlan fühlte sich verant­wortlich für die terranischen »Barbaren«, die sich immer neuen Bedrohungen aus den un­endlichen Tiefen des Alls gegenüber sahen. Mit jedem Sieg trat man nach einer kurzen Pause der Ruhe einer neuen Gefahr entge­gen.

War der Weg der Menschheit bis hin in die fernste Zukunft von Kriegen, Raum-

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schlachten und Intoleranz zwischen den Rassen gezeichnet?

Atlan verdrängte die quälenden Gedan­ken. Sein Problem war Pthor. Er wußte nicht, wie es außerhalb der Schutzschirme aussah, aber alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß es den Herren dieses Dimensions­fahrstuhls bisher nicht gelungen war, die Abschirmungen zu durchbrechen. Razamon hatte von einer Zeitverzerrung gesprochen. Vielleicht war »draußen« auf Terra nicht einmal ein Tag seit dem Zeitpunkt vergan­gen, an dem Razamon und er die Küste Pthors erreicht hatten.

Razamon hatte sich aufgerichtet und hum­pelte in die Richtung, in der Fenrir zwischen den Dornenbüschen verschwunden war. At­lan gab Koy und Kolphyr ein Zeichen.

»Ich glaube fast, Fenrir hat etwas ent­deckt«, rief der Atlanter. »Er war immerhin die ganze Nacht über unterwegs.«

»Hoffen wir's.« Der Wolf blieb stehen und wartete auf die

anderen. Immer, wenn sie sich bis auf weni­ge Meter genähert hatten, lief er weiter.

Sie umgingen die Ruine in einem Halbbo­gen. Es war ein riesiger Komplex und legte Zeugnis von der hochstehenden Zivilisation ab, die ihn einst erbaut hatte.

Fenrir wartete wieder auf sie. Er wedelte mit dem Schweif, bis sie heran waren.

»Dort vorne«, sagte Atlan. »Ich glaube, wir haben Glück.«

»Abwarten«, meinte Razamon skeptisch. Fenrir lief auf das dunkle Loch in der Au­

ßenwand eines Turmes zu, der der eigentli­chen Anlage vorgelagert, aber mit ihr ver­bunden war.

»Es ist tatsächlich eine Öffnung«, flüster­te Razamon. »Groß genug sogar für Gloo­phy.«

»Kolphyr!« schrillte der Bera sofort. »Kolphyr – nicht Gloophy.«

»Pardon, Monsieur Kolphyr, es wird nicht wieder vorkommen.«

Fenrir war in der Öffnung verschwunden. Atlan folgte ihm. Das Loch war irgendwann in die Rundmauer des Turmes gebrochen

15 Kampf um das Goldene Vlies

worden, nachdem der Mörtel zwischen den Steinen verwittert war. Er fand sich auf ei­nem nassen, dunklen Gang wieder, der ins Ungewisse führte.

»Brennt unser Feuer noch?« fragte er Koy, der nach ihm eingetreten war.

»Ich denke schon.« »Dann hole eine von unseren beiden

Fackeln. Wir brauchen Licht.« Der Trommler verschwand. Mittlerweile

waren auch Razamon und Kolphyr in dem Gang. Nach wenigen Minuten war Koy zu­rück.

Atlan ließ ihn an sich vorbei. Wenn Koy die Führung übernahm, würden seine Min­derwertigkeitsgefühle schnell vergehen. Au­ßerdem war der Arkonide davon überzeugt, daß seine Broins wieder funktionieren wür­den, wenn sie sich plötzlich einer Gefahr ge­genübersahen. Es war nicht ausgeschlossen, daß die Mutanten sich über die ganze Ruine ausgebreitet hatten.

Der Gang verengte sich und verlief in Windungen. Manchmal wurde es fast zu eng für den Bera. Sie mußten Treppen hinauf­klettern und sich durch Schächte zwängen, über aufgetürmte Hindernisse steigen und Pausen einlegen, um wieder zu Atem zu kommen.

Die Luft war schwül und stickig. »Es scheint, als ob wir Glück hätten«,

meinte Atlan, als Razamon dicht hinter ihm ging. »Vielleicht üben die Raupen tatsäch­lich nur eine Art Wächterfunktion an der Treppe aus.«

»Das bezweifle ich. Außerdem habe ich das Gefühl, beobachtet zu werden.«

Atlan fuhr herum. »Du auch? Ist es so, als ob irgend etwas

mitten unter uns wäre und abwartete, was wir als nächstes tun werden? Kein greifbarer Gegner, der sich hinter irgendwelchen Beob­achtungsinstrumenten verbirgt und irgendwo auf uns lauert – etwas …« Atlan fand keine geeigneten Worte, um das auszudrücken, was er nur ganz vage fühlte.

»Etwas, das da ist und doch auch wieder nicht«, sagte Razamon. »Früher redete man

von Spukschlössern …« »Vielleicht sind es nur die alten Mauern,

die unsere Phantasie übermäßig anregen. Trotzdem – wir sollten vorsichtig sein.«

Sie marschierten weiter. Koy blieb immer wieder stehen und leuchtete die Wände ab, wenn er etwas entdeckt zu haben glaubte, meist jedoch waren es nur Unregelmäßigkei­ten im Gemäuer, die durch den Lichtschein der Fackel wechselnde Formen annahmen und gespenstische Schatten warfen.

Sie mochten etwa eine halbe Stunde durch Gänge und Schächte ins Innere der Ruine vorgedrungen sein, als sie die erste Halle er­reichten, einen großen, viereckigen Raum mit gewölbter Decke.

»Ein Kellergewölbe«, vermutete Atlan. »Unser Ziel liegt über uns.«

Razamon nickte. Wahrscheinlich befan­den sie sich in einem ehemaligen Vorrats­raum, der vor langer Zeit ausgeräumt wor­den war. Der Staub lag zentimeterdick auf dem Steinboden und den Wandregalen. Nur hier und da standen noch einige Glasbehäl­ter, in denen sich verschimmelte Konserven befanden.

An den Wänden klebten kleine Kokons, zwischen denen spinnenähnliche Tiere her­umkrochen.

»Wie weit mögen wir gekommen sein?« fragte Koy. »Immerhin ist es möglich, daß wir im Kreis gehen oder gar eine völlig falsche Richtung genommen haben.«

»Wir müssen sehen, daß wir nach oben gelangen. Dort werden wir uns besser orien­tieren können.«

Sie verließen den Vorratsraum, und nach einigen Minuten fanden sie, wonach sie suchten.

»Eine Wendeltreppe«, stellte Atlan fest. »Sie führt nach oben. Hier ist unser Weg, Freunde!«

Fenrir lief voraus, Koy folgte mit der Fackel in der Hand. Wie immer marschier­ten Atlan und Razamon dicht hintereinander, und Kolphyr bildete den Abschluß.

Die Stufen waren breit genug für den Be­ra. Von Fenrir war nichts zu sehen. Solange

16

der Wolf vor ihnen herlief, hatten sie keine Gefahr zu befürchten.

Keine greifbare Gefahr! Nichts, das das Tier wittern oder auf das Kolphyrs Symbiont auf seine unbegreifbare Art und Weise rea­gieren konnte.

Aber es war da – lautlos, unsichtbar und rational nicht faßbar. Es war wie der Hauch einer anderen Welt …

»Verdammt!« stöhnte Razamon. »Mein Bein!«

Atlan sah mit Sorge, wie der Atlanter sich von einer Stufe zur anderen quälte.

Endlich erreichten sie das Ende der Trep­pe. Sie standen vor einer Tür aus massivem Holz. Fenrir lief unruhig davor auf und ab. Koy ließ die anderen an sich vorbei, um dem Wolf nicht zu nahe zu kommen.

»Zu«, fluchte Atlan. »Kein Schloß – nichts! Sie muß von der anderen Seite ver­riegelt sein.«

Razamon trat an ihm vorbei und warf sich mit der Schulter gegen die Tür, ohne daß sie merklich nachgab.

Von hinten drängte sich Kolphyr an den Freunden vorbei. Als gäbe es nichts Selbst­verständlicheres auf der Welt, nahm er einen kurzen Anlauf über drei Stufen und krachte mit der ganzen Last seines fünf Zentner schweren Körpers gegen das Holz. Die Tür zersplitterte unter ohrenbetäubendem Lärm. Kolphyr vergrößerte das entstandene Loch mit ein paar Schlägen, als ob das Material aus Pappe bestünde.

Atlan und Razamon sahen sich erstaunt an. So hatten sie den Bera noch nie erlebt. Erst jetzt wurde ihnen bewußt, über welche Kräfte das Antimateriewesen verfügen muß­te.

»Weg ist frei«, schrillte Kolphyrs Stim­me. »Jetzt weitergehen.«

»Wenn sich jemand in der Ruine befindet, weiß er spätestens jetzt, daß er Besuch be­kommt«, meinte Razamon. »Der Krach war nicht zu überhören.«

»Ein Grund mehr, uns zu beeilen.« Atlan übernahm jetzt die Führung. Sie ge­

langten mühelos durch das Loch in der mas-

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siven Tür auf einen breiten Gang, der im Gegensatz zu den Stollen, die sie bisher ken­nengelernt hatten, sauber und gepflegt wirk­te, als ob er in regelmäßigen Abständen ge­reinigt würde.

Überall zweigten kleine Korridore ab. In den Wänden befanden sich abstrakte Reliefs, mit denen die Gefährten nichts anfangen konnten.

»Die Bewohner des Schlosses scheinen ähnliche Auffassungen von moderner Kunst gehabt zu haben wie gewisse Kulturbeflisse­ne auf der Erde«, meinte Atlan spöttisch. »Vielleicht haben wir Glück, und es gab auch bei ihnen noch einige altmodische Bildhauer, die sich dem Realismus ver­schrieben hatten.«

»Mein Bein ist mir Realismus genug«, knurrte Razamon.

Schneller als erwartet erreichten sie das Ende des Ganges. Wieder standen sie vor ei­ner Tür, auch wenn diese ungleich größer war als die vorige. Sie war mindestens drei Meter breit und vier Meter hoch.

Atlan beobachtete grinsend, wie Kolphyr Anlauf nahm. Diesmal war der Schwung so groß, daß der Bera durch die berstende Tür in den dahinterliegenden Raum stürzte. Die Freunde wurden plötzlich von einer Hellig­keit umflutet, die einen Moment lang schmerzte, bis sich die Augen an das Licht gewöhnt hatten.

»Wohlan denn«, versuchte Razamon zu scherzen. »Wir sind im Schloß, oder bezwei­felt das noch jemand?«

Vorsichtig traten sie durch die Trümmer des Portals. Vor ihnen lag eine riesige Halle. Überall an den Wänden hingen Fackeln. Mehrere Tische und Sesselgruppen vermit­telten den Eindruck, als hätten die Bewohner dieser Anlage ihre Räumlichkeiten erst vor wenigen Stunden verlassen.

»Ich frage mich, wer die Fackeln erneuert, die Gänge säubert und den Staub entfernt«, sagte Atlan in fast andächtigem Tonfall. Wer immer dieses Schloß gebaut hatte – er hatte Geschmack bewiesen. Wieder betraten sie eine Welt, die nicht in die Trostlosigkeit

17 Kampf um das Goldene Vlies

der Dunklen Region zu passen schien. Etwas Ähnliches hatte Atlan eigentlich nur in Ho­nirs Schloß Komyr gesehen.

»Immerhin scheinen wir auf dem richti­gen Weg zu sein«, meinte Razamon. »Nun gilt es, das Goldene Vlies zu finden. Wir sollten das Zentrum dieses Komplexes su­chen.«

In der gegenüberliegenden Wand befan­den sich zwei weitere Türen.

Sie ließen sich ohne Mühe öffnen. Atlan und Koy traten durch die linke, während Razamon und Kolphyr den Korridor hinter der anderen untersuchten.

»Hier sind Fenster«, rief Koy. Atlan war sofort bei dem Androidenab­

kömmling. Die »Fenster« waren rechteckige Löcher in der Wand des Ganges. Der Arko­nide beugte sich hinaus und sah die Treppe unter sich, auf der sie in der Nacht den Mu­tationen entkommen waren. Er versuchte, sich an das zu erinnern, was sie von außen von der Schloßruine hatten sehen können, und kam zu der Überzeugung, daß sie sich bereits über dem rechteckigen Eingang be­fanden, wahrscheinlich in einem der Türme im hinteren Teil der Anlage.

»Das hilft uns nicht viel«, murmelte At­lan. »Wir wissen nicht, wie der Gesamtkom­plex aufgebaut ist, obwohl einiges darauf hindeutet, daß die Konstruktion pyramiden­ähnlich ist. Die Treppe liegt ein wenig rechts unter uns, also müssen wir weiter in dieser Richtung gehen, um zum Zentrum zu gelan­gen.«

Razamon tauchte in der Tür zur Halle auf. »Habt ihr etwas gefunden?« Atlan teilte dem Pthorer seine Überlegun­

gen mit. Razamon nickte. »Wo ist Kol­phyr?«

»In der Halle«, meinte Razamon. »Ich ho­le ihn.«

Nur Sekunden später war der Atlanter zu­rück. Er machte ein betroffenes Gesicht.

»Er … er ist weg – verschwunden!« Atlan rannte in die Halle und suchte in

dem anderen Korridor nach dem Bera, aber Kolphyr blieb verschwunden. Er antwortete

nicht auf die Rufe der Freunde. Auch Fenrir benahm sich eigenartig. Er begann zu knur­ren, als Atlan weitersuchen wollte.

»Du weißt, was das bedeutet?« fragte Razamon.

Atlan wußte es. Der Bera hatte sich von ihnen abgesetzt,

um irgendwo in Ruhe die »Geburt« seines Symbionten abzuwarten.

»Wir können ihn nicht seinem Schicksal überlassen!« sagte Atlan verzweifelt. »Vielleicht wird er sterben!«

In diesem Augenblick erklang ein schril­les Lachen. Es schien von den Wänden tau­sendfach zurückgeworfen zu werden.

»Blodgahn!« preßte Razamon hervor. »Der Giftzwerg ist hier …«

*

Blodgahn war in seinem Element. Wie er­wartet waren die Fremden durch einen der verfallenen Zugänge teilweise unterirdisch ins Schloß gelangt. Die Korridore waren so angelegt, daß sie sternförmig auf das Zen­trum des Komplexes zuliefen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie vor dem Goldenen Vlies standen.

Der Gnom kicherte leise vor sich hin. Al­les verlief wie nach Plan. Sie lebten, und er würde sie bis an ihr Ziel gelangen lassen, um sie dann langsam zu Tode zu quälen.

Blodgahn hatte seine Spezialpfeife her­vorgeholt. Über einen Teil der Monitore konnte er jene Teile des Schlosses beobach­ten, in denen sich die Mutanten eingenistet hatten.

»Nun tanzt, meine Lieben!« krächzte der Zwerg voller Vergnügen und Vorfreude und blies in die Pfeife. Er konnte die Töne, die er produzierte, nicht wahrnehmen, aber an der Reaktion der schleimigen Wesen sah er, daß sie auf sie wirkten. Die Vielfüßer gerieten in Bewegung, manche fuhren ihre Tentakel aus und ließen sie durch die Luft baumeln, ande­re richteten den Oberkörper auf und voll­führten seltsame Bewegungen.

Blodgahn blies weiter. Nach einer Weile

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beruhigten sich die Kreaturen. Der Gnom wußte, daß sie jetzt aufnahmebereit waren.

Blodgahn konzentrierte sich und dachte seine Befehle. Dadurch, daß er dabei unauf­hörlich auf der Pfeife spielen mußte, verlor er oft den Faden. Das Ergebnis war, daß die Mutanten, die sich schon in den zum Zen­trum führenden Korridoren befanden, wie wild durcheinanderliefen und an den Wän­den hochzukriechen begannen. Immer, wenn Blodgahn sich zusammenriß und sie weiter ins Innere der Schloßruine dirigierte, fielen sie von den Mauern herab auf ihre am Bo­den befindlichen Artgenossen, die ihrerseits schnell ihre Tentakel ausfuhren, um sich zu schützen. Es kostete Blodgahn immer wie­der einige Anstrengungen, so auf die Wesen einzuwirken, daß sich das Knäuel der schlei­migen Körper löste.

Nach fast einer halben Stunde hatte er die Mutanten so um das Zentrum des Schlosses postiert, in dem sich der Schrein mit dem Goldenen Vlies befand, daß sie, zunächst verborgen, jederzeit losschlagen konnten.

Blodgahn legte die Pfeife zur Seite und atmete erleichtert auf.

Das wäre geschafft! Mit Vergnügen beob­achtete er, wie sich das große Monstrum von den anderen Fremden entfernte und sich in den Korridor stürzte, der in einen der klei­nen Beobachtungstürme führte.

Seine Freude steigerte sich noch, als er die betroffenen Gesichter der restlichen vier sah. Blodgahn konnte nicht anders – er schlug mit der Faust auf eine Taste und akti­vierte damit die überall in der Schloßruine verborgenen Lautsprecher. Dann lachte er los.

Natürlich wußten sie nun, daß er in ihrer Nähe war, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Im Gegenteil – sie würden sich ihre Köpfe zerbrechen und unsicher werden. Sie sollten wissen, daß er, der unerbittliche Rä­cher, sie beobachtete, um im entscheidenden Moment zuzuschlagen.

Blodgahns Blick fiel wieder auf den Bild­schirm, der das Goldene Vlies zeigte – und den Kristall.

Horst Hoffmann

Der Gnom war nach reiflicher Überle­gung zu der Überzeugung gelangt, daß es sich bei dem Gebilde um eine neue Schutz­vorrichtung handelte, die die Herren der FE­STUNG installiert hatten. Das war nicht ge­rade dazu geeignet, Blodgahns Laune zu bessern. Wieso hatten sie ihn nicht infor­miert?

Immerhin, so räumte er in Gedanken ein, war das Goldene Vlies ein unermeßlich wertvoller Schatz und eine gefährliche Waf­fe. Die Herren der FESTUNG konnten es selbst nicht benutzen. Sie würden beim er­sten Versuch sterben. Und es war nicht aus­zudenken, was geschehen würde, wenn an­dere das Vlies in die Hand bekämen, Frem­de, die nichts anderes im Kopf hatten, als die Macht der FESTUNG zu brechen. Diese fünf Wesen, die seine Lieblinge auf dem Ge­wissen hatten, machten ganz den Eindruck, als ob auch sie etwas Ähnliches im Sinn hat­ten. Mittlerweile war der Gnom zur Über­zeugung gelangt, daß er es bei ihnen nicht mit normalen Glücksrittern zu tun hatte, wie sie immer wieder auftauchten, um das Gol­dene Vlies zu rauben.

Blodgahn widmete seine Aufmerksamkeit wieder den Fremden. Sie waren zweifellos verwirrt – fast wirkten sie hilflos.

Der Anblick amüsierte den Zwerg so sehr, daß er alle Vorsätze vergaß und sich auf die Suche nach der Kweel-Flasche machte. Bei seinem letzten Besuch in seiner kleinen Zen­trale hatte er sie versteckt, weil er sich in ei­nem Anflug geistiger Umnachtung wieder einmal geschworen hatte, nie wieder einen Tropfen anzurühren.

Blodgahns zu einer technischen Kontroll­zentrale umgebauter Vorratsraum war etwa fünf mal fünf Meter groß und knapp zwei Meter hoch. Die technischen Geräte waren durch Diener der FESTUNG, vermutlich Dellos, herbeigebracht und installiert wor­den. Als Blodgahn den Raum danach zum erstenmal wieder betrat, verfiel er in eine Art Trance. Als er aufwachte, wußte er, wie er mit den Geräten umzugehen hatte.

An den Wänden hingen immer noch die

19 Kampf um das Goldene Vlies

alten Regale, auf denen verschiedene Ge­genstände lagen, die Blodgahn hierherge­schleppt hatte. Und irgendwo hinter den Ki­sten mußte sich die Flasche befinden …

»Es würde mich nicht wundern, wenn die Unbekannten, die regelmäßig die Fackeln erneuern und das Schloß sauberhalten, sich über das Kweel hergemacht hätten!« schimpfte Blodgahn.

Nach fünf Minuten hatte er endlich den Behälter gefunden. Beim letzten Rausch hat­te er, wie so oft, die Erinnerung verloren. Es mußte ihn ziemlich stark erwischt haben, denn er hatte die Flasche in einem Kokon der auch hier hausenden Spinnenwesen ver­steckt. Angeekelt säuberte er sie und öffnete den Verschluß.

»Halt«, murmelte Blodgahn. Er sah sich um und fand einen großen, mit Wasser ge­füllten Kübel. Beruhigt nahm er einen großen Schluck.

Sofort spürte er die Wirkung. Der Gnom nahm einen weiteren Schluck.

Er setzte sich wieder in seinen Sessel und beobachtete die Fremden, wie sie sich in ei­nem Korridor auf das Zentrum der Anlage zu bewegten. Weshalb sollte er nicht schon jetzt seinen Spaß haben? Sie wußten sowie­so, daß er in der Ruine war.

Blodgahn machte sich an einem Schalt­pult zu schaffen. Er hatte eine Menge Über­raschungen für sie auf Lager. Blodgahn wußte nicht, ob die raffinierten Fallen von der FESTUNG installiert worden waren oder noch von den Erbauern des Schlosses stammten. Aber das war letzten Endes egal, solange sie ihren Zweck erfüllten.

Der Zwerg kicherte in sich hinein und wartete auf den geeigneten Augenblick.

Blodgahn war verrückt. Die unheimliche Machtfülle, die ihm durch das ihm zur Ver­fügung stehenden Instrumentarium gegeben war, machte ihn zur tödlichen Bedrohung für alle Wesen, die in seine Hände fielen.

Was für Blodgahn ein höllischer Spaß war, bedeutete in der Regel den Tod für sei­ne Gegner.

Atlans Gruppe lief ahnungslos in seine

Fallen …

*

Sie hatten sich nach langem Hin und Her darauf geeinigt, Kolphyr nicht weiter zu su­chen und allein weiterzugehen. Der Bera war intelligent genug, um zu wissen, was er tat, das hatten seine Reaktionen in den letz­ten Tagen bewiesen – auch, wenn er im Mo­ment vielleicht nur vermindert zurechnungs­fähig war.

Er würde wieder zu ihnen stoßen, wenn er das überstanden hatte, was scheinbar unmit­telbar bevorstand.

Wenn! Koy, der auch nur wenig von jenen vogel­

ähnlichen Wesen wußte, die ihren Samen unter die Haut anderer Wesen legten, hatte ungeschminkt zugegeben, daß sich das Er­gebnis der seltsamen Symbiose nicht vor­aussehen ließ. Materie und Antimaterie! Al­lein der Umstand, daß das Wesen an Kol­phyrs Arm überhaupt noch lebte, war ver­wunderlich genug. Und dann die phantasti­schen Fähigkeiten, die sich bereits jetzt, so­zusagen im Embryonalstadium, offenbarten …

Es war absolut nicht auszuschließen, daß Gloophy, wie Atlan den Bera im stillen im­mer noch nannte, sterben würde.

Sie konnten ihm nicht helfen – im Gegen­teil: Gloophy wollte keine Hilfe.

»Ich habe ein verdammt schlechtes Ge­fühl«, brummte Razamon. »Dieser Teufel hat irgend etwas vor. Er wird bestimmt nicht untätig zusehen, wie wir uns das Goldene Vlies unter den Nagel reißen.«

»Wir sind gewarnt«, sagte Atlan. »Außerdem haben wir einen Trumpf im Är­mel, von dem unser Freund nichts wissen kann.«

Razamon sah ihn fragend an. »Koy«, rief Atlan. Der Trommler, der

jetzt wieder die Spitze übernommen hatte, blieb stehen.

»Deine Broins – glaubst du, daß du sie einsetzen kannst?«

20

»Soll ich's versuchen? Gleich hier?« Der Androidenabkömmling zeigte aus einer der Fensternischen. »Vielleicht erwische ich einen der Vielfüßer.«

»Rede keinen Unsinn«, sagte der Arkoni­de eine Spur zu heftig. »Erstens würde Blod­gahn gewarnt und zweitens haben wir kei­nen Grund, anzunehmen, daß diese Wesen bösartig sind. Wir werden kämpfen, wenn wir angegriffen werden, ansonsten lassen wir sie in Ruhe, auch wenn wir Ekel vor ih­nen empfinden. Sie kennen nichts anderes als diese finstere, feindliche Welt und haben sich ihr angepaßt. Vielleicht sind wir in ih­ren Augen die Aggressoren.«

»Eine lange Rede«, meinte Razamon. »Aber du hast recht. Ich habe, ebenso wie du, lange genug unter Barbaren leben müs­sen, um zu wissen, was Vorurteile ausrich­ten können.«

»Das freut mich«, meinte Atlan. »Aber nachdem wir jetzt unsere philosophische Phase hatten, sollten wir zusehen, daß wir weiterkommen.«

Sie machten sich auf den Weg. Fenrir wartete bereits ungeduldig.

Nach wenigen Minuten hatten sie das En­de des Ganges erreicht. Diesmal versperrte ihnen keine Tür den Weg. Sie traten direkt ins Freie.

Sie standen vor einer Treppe, die zu ei­nem Bauwerk führte, das Atlan unwillkür­lich an die Akropolis erinnerte. Natürlich hinkte der Vergleich, denn der Eindruck von gewaltigen Säulen trog. In Wirklichkeit han­delte es sich um eine Mauer, die durch läng­liche Nischen unterbrochen war.

Die Umrisse des tempelartigen Bauwerks waren gerade noch zu erkennen, dann be­gann wieder das Reich der Dunkelheit. Trotzdem war Atlan sicher, daß sie vor dem höchsten Punkt des Schloßkomplexes stan­den.

Und dort oben mußte sich das Goldene Vlies befinden!

»Jetzt gilt's«, rief der Arkonide den Freunden zu. »Los, über die Treppe, ehe die Mutationen auftauchen.« Sie gelangten ohne

Horst Hoffmann

Zwischenfall zu einer kleinen Tür in dem Gebäude, die sich ohne weiteres öffnen ließ. Sie standen wieder auf einem Korridor.

»Allmählich wird mir das zu dumm«, brummte Razamon. »Früher oder später ent­wickele ich einen Gang, Korridor oder Stol­lenkomplex.«

»Wir sind nahe am Ziel, Razamon, ich fühle es!«

Aber Atlan fühlte auch etwas anderes. Die Beklommenheit wurde stärker. Irgend etwas oder irgend jemand befand sich mitten unter ihnen, und wieder glaubte er, nur die Hände ausstrecken zu müssen, um direkt in eine an­dere Dimension greifen zu können.

Was hatte Razamon gesagt? Sie befanden sich in einem Spukschloß?

Unsinn! protestierte der Extrasinn. Es gibt keinen Spuk, und das solltest du alter Narr wissen! Es gibt für alles eine rationale Er­klärung!

»Du redest Unsinn!« stieß Atlan laut her­vor. Razamon und Koy fuhren herum und starrten ihn verwirrt an.

»Euch meinte ich nicht, keine Angst«, sagte der Arkonide und zeigte gegen seine Stirn.

Auf Atlantis herrschte nicht die Ratio! Atlan ging hinter Razamon und Koy her.

Fenrir war bereits wieder weit vor ihnen. Der Arkonide dachte immer noch über das Phänomen nach, als er sah, wie sich in der rechten Wand eine Öffnung bildete.

»Vorsicht!« rief er den Freunden zu, aber da war es schon zu spät.

*

Der Strahl traf Razamon voll. Aus einer verborgenen Düse spritzte eine dunkelbrau­ne Flüssigkeit, die ihn innerhalb von Sekun­den total durchnäßt hatte. Ein ätzender Ge­ruch stieg Atlan in die Nase. Koy und Raza­mon waren so verblüfft, daß sie unfähig wa­ren, zu reagieren.

Atlan sah, wie sich in der gegenüberlie­genden Wand ebenfalls eine Öffnung bilde­te. Ohne zu überlegen, stürzte er vorwärts

21 Kampf um das Goldene Vlies

und stieß die beiden Gefährten so heftig in den Rücken, daß sie einige Meter nach vor­ne geschleudert wurden. Er selbst sprang in­stinktiv zurück, als er aus den Augenwin­keln heraus ein dunkelrotes Glühen in der Wand wahrnahm.

Im gleichen Augenblick schoß eine Feu­erkugel aus der Wand und klatschte gegen die gegenüberliegende Mauer. Sie fiel flackernd auf den Boden des Korridors, der sofort überall da in Flammen aufging, wo er von der braunen Flüssigkeit bedeckt war.

Wenn Koy und Razamon noch hier ge­standen hätten und Razamon, von der Flüs­sigkeit übergossen, von der Feuerkugel ge­troffen worden wäre …

»Eine verdammte Falle dieses Teufels!« schrie Razamon hinter der Feuerwand, die sich über den ganzen Gang zwischen ihm und Atlan ausgebreitet hatte. Die Flammen schlugen bis zur Decke hinauf. »Das Zeug stinkt wie die Pest!«

»Macht, daß ihr wegkommt!« rief Atlan. »Ich bin sofort bei euch!«

Der Arkonide trat einige Schritte zurück und nahm einen gewaltigen Anlauf. Dann sprang er durch das Feuer. Zusammen mit den Freunden rannte er dem Ende des Korri­dors entgegen. Alle drei mußten aufpassen, daß sie nicht in der glitschigen Flüssigkeit ausrutschten, die an Razamons Körper her­abtropfte.

Es stank wirklich bestialisch. »Nach ihren Möbeln zu urteilen, müssen

die Bewohner dieses Prunkschlosses huma­noid gewesen sein«, rief Razamon, während sie auf das gewaltige Portal zuliefen, zu dem der Gang führte. »Ich kann nur hoffen, daß sie kultiviert genug waren, um über ausrei­chende sanitäre Anlagen zu verfügen. Ich brauche ein Bad und neue Kleidung.«

Atlan sah unwillkürlich an sich herab. Sie konnten wirklich neue Kleidung gebrau­chen. Die Leinenkleidung war zerrissen und schmutzig. Vielleicht fanden sie in der Rui­ne brauchbaren Ersatz.

»Ich schlage diesem Zwerg eigenhändig den Schädel ein, wenn ich ihn erwische!« er­

eiferte sich Razamon. Fenrir kümmerte sich nicht um die Pro­

bleme der Männer. Er stand vor dem Portal und sprang immer wieder erregt daran em­por.

Atlan wußte plötzlich, daß sie am Ziel waren.

Hinter dieser Tür lag das Goldene Vlies.

4.

Blodgahns Lachen erfüllte den Raum. Der Gnom wollte sich kaum beruhigen. Immer, wenn sein Blick auf den Monitor fiel, der die Fremden zeigte, brach das Gelächter er­neut los.

Der Hagere war vollkommen naß. Der Grocha-Strahl hatte ihn voll getroffen. Die Falle hatte funktioniert. Um ein Haar wäre der Hagere zu einer lebenden Fackel gewor­den. Daß er noch einmal davongekommen war, lag nur an dem Hellhaarigen.

Blodgahn nahm sich vor, ganz besonders auf ihn zu achten.

Er griff nach dem Kweel. Mittlerweile war die Flasche halb leer. Blodgahn fühlte sich wieder sehr stark, ja, geradezu un­schlagbar.

Alle Vorsätze waren vergessen, ebenso das schlechte Gewissen den Herren der FE­STUNG gegenüber. Natürlich durfte er die Eindringlinge nicht so nahe ans Goldene Vlies gelangen lassen, aber Haß, Größen­wahn und Kweel berauschten seine Sinne.

Sie standen vor dem Portal, hinter dem sich die große Halle mit dem Schrein be­fand. Gleich würden sie eintreten.

Blodgahn nahm die Spezialpfeife und di­rigierte die Mutanten zu den anderen drei Portalen, die die Halle von den übrigen Zu­gängen abschlossen. Sobald die Fremden vor dem Schrein standen, würden sie in den Raum stürzen und sie angreifen. Blodgahn hatte seine Haßimpulse auf die Mutanten übertragen. Sie würden kurzen Prozeß mit ihnen machen.

»Die FESTUNG sollte veranlassen, daß Blodgahns große Taten in Wort und Bild

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festgehalten und auf ganz Pthor verbreitet werden, damit alle wissen, wer der Herr der Dunklen Region ist!«

Der Gnom nahm einen weiteren Schluck. Es ging ihm immer besser.

»Die FESTUNG sollte darüber hinaus veranlassen, daß die Eingeborenen, die das Kweel herstellen, für ihre Dienste fürstlich belohnt werden!«

Er setzte die Flasche ab. Der Hellhaarige trat vor das Portal und fand den Öffnungs­mechanismus.

Blodgahn fuhr herum, als es auf dem Schirm, der das Innere der Halle zeigte, auf­blitzte.

Er traute seinen Augen nicht. Der Kristall über dem Schrein leuchtete jetzt weiß und so hell, daß die Augen schmerzten. Die ganze Halle schien zu flimmern. Dann war der Spuk vorbei.

Das Gebilde strahlte wieder tiefblau. Und jetzt wurde das Portal, hinter dem die

Fremden standen, von außen geöffnet! Blodgahn war so verwirrt, daß er vergaß,

die Mutanten mit der Pfeife in die Halle zu dirigieren. Als er die Benommenheit abge­schüttelt hatte, fuhr er so schnell herum, daß die Umgebung sich in wilden Kreiselbewe­gungen um ihn zu drehen begann. Blodgahn wartete ab, bis sich die Wände, Instrumente und Bildschirme wieder stabilisiert hatten, dann erst griff er nach der Pfeife und blies die Vielfüßer zum Angriff.

Wenn es nicht zu spät war! Die Fremden standen schon fast vor dem Vlies! Immerhin starrten sie so lange den Kristall an, daß sie nur zögernd näherkamen.

Blodgahn mußte unwillkürlich kichern, als er daran dachte, daß sie vielleicht den Kristall für das Goldene Vlies hielten.

Der Gnom blies kräftiger in die Spezial­pfeife. Wo blieben die Mutanten?

Sie rührten sich nicht. Blodgahn sah eine Horde von ihnen auf einem der Bildschirme, die die anderen Zugänge zur Zentralhalle zeigten.

Er blies so fest in die Pfeife, daß ihm der Kopf zu platzen drohte. Immer noch keine

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Reaktion. Was war in die Kreaturen gefah­ren?

Blodgahn zeterte und fluchte, als der Hellhaarige nur noch etwa zwei Meter von dem Schrein entfernt war.

Rein zufällig fiel der Blick des Zwerges auf die Pfeife in seiner Hand. Blodgahn fluchte so laut, daß die Kokons an den Wän­den zu zittern begannen und ihre Bewohner fluchtartig ihre Unterkünfte verließen.

Er hatte die ganze Zeit über ins falsche Ende geblasen!

Der Gnom drehte die Pfeife um und blies wie besessen. Jetzt kam endlich Bewegung in die Mutanten.

»Na bitte!« krächzte Blodgahn. Aber in seinem Innern brodelte der Ärger über sein peinliches Mißgeschick. Er kam natürlich in seinem momentanen Zustand nicht auf den Gedanken, daß er es in erster Linie dem übermäßigen Kweelgenuß zu verdanken hat­te. Im Gegenteil!

Er mußte den Ärger hinunterspülen. Blod­gahn nahm sich die Flasche und achtete nicht auf die leuchtenden Pünktchen, die schon wieder vor seinen Augen kreisten …

*

Das erste, was sie sahen, war der Kristall. Sie sahen ihn nicht nur – sie spürten ihn, nahmen ihn auf eine Art und Weise wahr, die jenseits der Möglichkeiten ihrer fünf Sinne lag.

Der Schock war so groß, daß die vier (auch Fenrir stand wie angewurzelt im Rah­men des Portals und gab ein leises Winseln von sich) eine Weile brauchten, um zu sich zu kommen.

Koy und Razamon faßten sich als erste wieder.

Der Pthorer stieß Atlan an und zeigte auf das Zentrum der Halle.

»Der Schrein – wir haben es geschafft, Atlan!«

Der Arkonide zwang sich, den Blick von dem blauen Kristall zu lösen. Langsam schritt er auf den Schrein zu.

23 Kampf um das Goldene Vlies

Er war transparent. Irgend etwas lag dar­in. Sie mußten näher heran, um Einzelheiten ausmachen zu können, aber schon jetzt sa­hen sie den goldenen Schimmer, der von dem Gegenstand ausging.

Das Goldene Vlies! Sie waren am Ziel! Du weißt, daß es nicht so ist! meldete sich

der Extrasinn mit ungewohnter Heftigkeit. Du weißt, daß in dem Kristall Leben ist!

»Es sind Millionen«, flüsterte Atlan Raza­mon und Koy zu. »Sie sind überall, unsicht­bar und lautlos, aber sie sind mitten unter uns, vielleicht sogar in uns …«

»Ich spüre sie auch«, sagte Razamon. Koy zeigte keine Reaktion. Er wußte offenbar nicht, wovon die Freunde redeten.

»Es hat keinen Zweck«, meinte Razamon. »Wir haben das Goldene Vlies vor uns. Wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren, bevor Blod­gahn zum nächsten Schlag ausholt.«

Der Gnom war plötzlich nebensächlich für den Arkoniden geworden. Er spürte, daß sich etwas viel Ungeheuerlicheres in der Ruine befand, in der Halle – im Kristall!

Atlan riß sich zusammen. Razamon hatte recht. Es ging darum, das Goldene Vlies an sich zu nehmen, um es gegen die FESTUNG einzusetzen, was immer es auch sein mochte und bewirken konnte. Alles deutete darauf hin, daß der Kampf um die FESTUNG un­mittelbar bevorstand, denn anders waren Razamons Schmerzen am Zeitklumpen und die Worte von Sigurds Boten nicht zu deu­ten.

Atlan gab sich einen Ruck und überwand die Scheu. Er trat bis auf wenige Schritte an den Schrein heran, und da erkannte er, um was es sich bei dem goldschimmernden Ge­genstand handelte.

»Ein … ein Raumanzug!« stieß er ungläu­big aus.

Razamon hatte es die Sprache verschla­gen. Er trat neben den Arkoniden und be­trachtete die Montur, die in dem transparen­ten Behälter lag.

»Es ist ein Raumanzug oder ein besonde­rer Schutzanzug. Auf jeden Fall muß es da­mit eine besondere Bewandtnis haben, wenn

die Herren der FESTUNG das Ding wie ih­ren Augapfel behüten.«

Kurz fuhr ihm die Argonautensage durch den Sinn. Atlan hatte alles mögliche erwar­tet, aber nicht einen Anzug. Das Goldene Vlies, wie es sich ihren Augen hier bot, schi­en also keine Beziehung zu der Sage zu be­sitzen.

Oder doch? Razamon hatte recht, sie hatten keine Mi­

nute zu verlieren. Fenrir lief unruhig auf und ab und knurrte wütend die drei anderen Tü­ren an, die in die prunkvoll eingerichtete Halle führten.

»Los!« rief der Arkonide. Er machte zwei Schritte auf den Schrein zu und prallte ge­gen eine unsichtbare Mauer.

Im gleichen Augenblick begann der Kri­stall zu flackern. Grellweiße Blitze fuhren quer durch die Halle. Erst als Atlan zurück­trat, strahlte das Gebilde wieder tiefblau.

Atlan nahm das gar nicht wahr. Er drehte sich zu Razamon um und suchte nach Wor­ten.

»Hast du es auch gehört?« Razamon wollte etwas sagen, als die drei

Türen gleichzeitig aufgestoßen wurden. Dut­zende der mutierten Vielfüßer quollen durch die Eingänge in die Halle.

Atlan fuhr herum und sah, daß auch über den Gang, durch den sie hierhergelangt wa­ren, ganze Horden der Kreaturen heranka­men. Sie waren eingekreist.

»Jetzt haben wir die Bescherung«, knurrte Razamon. »Und Gloophy ist der einzige, der uns vielleicht helfen könnte.«

Sie sahen sich nach allen Seiten hin um, aber es gab keine Lücke mehr.

Diesmal saßen sie wirklich fest, und die schleimigen Vielfüßer ließen keinen Zweifel an ihren Absichten.

Ein markerschütterndes Gelächter erfüllte die Halle – Blodgahn.

Diesmal hatte der Gnom gewonnen, und wenn nicht ein Wunder geschah, war sein Sieg endgültig. Sie hatten den Zwerg unter­schätzt.

24

*

Koy war so erregt, daß er zu zittern be­gonnen hatte. Bis zum letzten Moment hatte er gehofft, daß Kolphyr zurückkehren wür­de, bevor der Angriff erfolgte, mit dem jeder der Gefährten gerechnet hatte.

Aber der Bera blieb verschwunden. Es wurden immer mehr. Ohne Gewaltanwen­dung kamen die Freunde und er nicht lebend hier heraus. Vielleicht hätten sie mit dem Goldenen Vlies eine größere Chance gehabt, Koy war sogar überzeugt davon. Aber der Weg zum Schrein war versperrt – durch den Kristall und die unsichtbare Mauer, die ihn umgab.

Koy sah, daß Razamon sprungbereit da­stand, um sich mit dem Messer gegen die Angreifer zu verteidigen. Ein solcher Ver­such war angesichts der immer größer wer­denden Übermacht geradezu lächerlich.

Atlan sah immer wieder von den Mon­stren zum Kristall, als ob er noch einmal einen Versuch wagen wollte, an den Schrein zu gelangen.

Die Mutationen ließen ihm keine Zeit. Sie griffen an, als ob sie von irgendwoher ein Signal bekommen hätten.

Wieder ertönte das Gelächter, und dann hörten sie aus unsichtbaren Lautsprechern eine verzerrte Stimme.

»Jetzt vollzieht sich Blodgahns Rache«, dröhnte es in ihren Ohren. »Ihr sollt büßen für das, was ihr meinen Lieblingen und mir angetan habt. Ich sehe eure angsterfüllten Gesichter und werde euren Todeskampf ge­nießen. Es wird lange dauern, ihr Bestien, hihihi!«

Aus den Lautsprechern drang ein lautes Rülpsen.

»Der Kerl ist betrunken!« stieß Razamon aus.

Die Gefährten standen dicht zusammen­gedrängt Rücken an Rücken. Als die Tenta­kel der Vielfüßer heranschossen, verlor Raz­amon die Beherrschung. Mit einem wilden Schrei griff er nach dem erstbesten Tentakel

Horst Hoffmann

und hieb ihn mit dem Messer ab. Das war der Beginn des Chaos.

Die Kreaturen rückten so schnell heran, daß keine Zeit mehr blieb, sich über das weitere Vorgehen Gedanken zu machen. Razamon wurde von einem Dutzend Tenta­kel gepackt und zu Boden gerissen, und Fenrir sprang mitten in die glitschigen Lei­ber hinein. Er kämpfte wie besessen, aber in wenigen Sekunden würde auch er der Über­macht unterliegen.

Koy wich zwei der Mutanten aus und ver­suchte, sich zu konzentrieren. Alles hing jetzt von ihm ab. Wenn seine Broins versag­ten, würde sie nichts und niemand mehr ret­ten können.

Auch Atlan schien dies begriffen zu ha­ben. Er stand plötzlich neben Koy und sorg­te nach besten Kräften dafür, daß ihm die Mutationen vom Leibe blieben.

»Ganz ruhig, Koy. Du mußt es versuchen, hörst du?«

Koy wußte, daß der Arkonide ihm Mut machen wollte.

Die Broins begannen leicht zu zittern, dann stärker. Nach einigen Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, schlugen sie leicht gegeneinander.

»Du schaffst es, Koy!« rief Atlan, bevor er von drei Tentakeln gepackt und zu Boden gerissen wurde. Von Razamon war nichts mehr zu sehen – er befand sich unter einem Knäuel der Vielfüßler. Fenrir war ein furcht­barer Kämpfer und riß die Schnecken im wahrsten Sinne des Wortes in Stücke, aber jetzt bildeten sie einen hohen Wall aus auf­einandergetürmten Leibern um ihn herum, um den Wolf unter sich zu begraben.

Plötzlich breitete sich eine fast unerträgli­che Hitze in Koys ganzem Körper aus. Sie stieg in die Brust, den Kopf, in die Broins …

Koy konzentrierte sich auf die Schnecken, die Razamon unter sich begraben hatten. Er wußte, daß er damit das Leben des Atlanters gefährdete, wenn er überhaupt noch am Le­ben war.

Die Broins schlugen gegeneinander. Nach einigen furchtbaren Sekunden der Ungewiß­

25 Kampf um das Goldene Vlies

heit bäumten sich die Leiber der Mutanten auf und begannen, heftig zu zucken.

Und dann explodierten sie, gleich ein hal­bes Dutzend auf einmal.

Schleimige Fetzen flogen durch die Luft, aber Koy ließ sich nicht ablenken. Ein un­sägliches Triumphgefühl durchfuhr den An­droidenabkömmling. Er trommelte weiter mit den Broins. Wieder explodierten einige der Kreaturen. Razamons Kopf tauchte, über und über mit Schleim beschmiert, aus dem Knäuel der sich windenden Leiber auf, dann der Oberkörper, die Arme …

Der Atlanter wälzte sich herum, bis er die teilweise bis zu zwei Meter langen Mutanten von sich abgeschüttet hatte. Koy befand sich in einem wahren Rausch. Der Jäger brach wieder in ihm durch.

Er ließ einige Angreifer explodieren, die Atlan in arge Bedrängnis gebracht hatten. Der Arkonide schrie ihm etwas zu, das er nicht verstand. Die Mutanten kamen zum Stillstand. Sie schienen verwirrt zu sein, und Koy nutzte die Chance erbarmungslos.

Fenrir war noch nicht in akuter Lebensge­fahr, deshalb konzentrierte Koy sich auf den Gang, durch den sie die Halle betreten hat­ten. Dort befanden sich die wenigsten Geg­ner.

Sie explodierten einer nach dem anderen. Innerhalb weniger Minuten hatte der Trommler eine Bresche für die Gefährten geschlagen. Überall an den Wänden klebten Hautfetzen der auseinandergerissenen Tiere. Immer wieder flackerte der Kristall, wenn Stücke gegen die Energiemauer prallten. Sie fielen mitten in der Luft zu Boden, als hätten sie plötzlich jegliche Bewegungsenergie ver­loren.

»Fenrir!« schrie Atlan, während er mit Razamon hinausstürmte.

Koy hatte längst die Broins gegen die den Wolf umringenden Gegner gerichtet. Er brauchte aber nicht mehr zu trommeln – die Vielfüßer ergriffen in wilder Panik die Flucht.

»Jetzt weg hier!« rief der Arkonide, und Koy zögerte nicht lange. Fenrir war mit eini­

gen schnellen Sprüngen bei ihnen. Der Gang war vollkommen leer. An

Schleimspuren konnten die Freunde erken­nen, daß die Mutanten geflohen waren. Es gab in den teilweise verfallenen Wänden ge­nug Nischen, in die sie sich zurückziehen konnten.

»Ihr Teufel werdet mir nicht entkom­men!« schrillte Blodgahns Stimme. »Ihr ver­längert eure Qualen nur!«

Sekunden später schien die Erde zu be­ben. Die Schloßruine wurde von heftigen Vibrationen durchlaufen. Wenige Meter vor den Freunden kam ein Stück der Decke her­ab und versperrte ihnen den Weg.

»Dort hinein!« rief Razamon, der über und über mit Schleim bedeckt war und auf­passen mußte, daß er nicht ausrutschte. »Hier kommen wir nicht weiter!«

Sie drangen in einen Seitengang ein, der tiefer in die Ruine führte. In der Mitte des Ganges befanden sich schlanke Säulen, die die Decke stützten.

Hinter ihnen brachen weitere Teile der Decke ein. Dichte Staubwolken verdeckten zeitweise die Sicht. Das Geräusch der einfal­lenden Wände wurde durch Blodgahns dä­monisches Lachen übertönt.

Die ersten Säulen brachen, aber die Decke hielt. Endlich fanden die Flüchtlinge einen relativ kleinen Raum, der einen stabilen Ein­druck machte.

»Hier sind wir vorerst sicher«, meinte At­lan und zog Koy, der noch zögerte, hinein.

Sie hatten keine Ahnung von den Tricks, die Blodgahn noch auf Lager hatte, aber dar­über machte Atlan sich im Augenblick keine Gedanken. Sein Blick haftete auf den mit teilweise noch farbigen Reliefs verzierten Wänden.

*

Blodgahn war wieder einmal außer sich. Sie waren nicht nur widerspenstig, besessen und respektlos – die Fremden waren auch noch hinterhältig!

Blodgahn empfand es als eine Unver­

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schämtheit ersten Grades, daß sie ihm diese schreckliche Waffe, über die sie verfügten, bisher verborgen hatten. Kein Zweifel – der kleine Bursche mit den Fühlern war für die Katastrophe verantwortlich!

Das war aber nicht das einzige, das den Gnom aufregte. Er hatte beobachtet, wie der Kristall heftig zu flackern begann, als der Hellhaarige sich dem Schrein nähern wollte. Was hatten die Herren der FESTUNG sich da nun wieder einfallen lassen?

Blodgahn war ein ergebener Diener der FESTUNG, obwohl er vor langer Zeit ver­bannt worden war. Natürlich empfand er deswegen Wut auf die Herren, aber er wußte ebenso, daß er ohne ihre Macht auf verlore­nem Posten stünde. Von den Lebenskapseln ganz abgesehen! Sollte er einmal das Miß­fallen der FESTUNG erregen, so würden sie ihm einfach keine neuen Kapseln schicken, und er würde innerhalb weniger Monate elendig zugrunde gehen.

Blodgahn hielt die Art und Weise, wie die FESTUNG mit Widerspenstigen und Rebel­len umsprang, für die einzig richtige. Trotz­dem ärgerte er sich darüber, daß sie ihn nicht über den Kristall informiert hatten. Er fühlte sich übergangen.

So war es kein Wunder, daß er seine Selbstbestätigung auf anderem, viel näher­liegendem Weg suchte. Blodgahn drosch wie besessen auf ein Schaltpult ein und löste damit einen kleinen Weltuntergang aus. Er riskierte sogar, daß die ganze Schloßruine dabei in sich zusammenstürzte. Ihm konnte nichts geschehen. Seine kleine Zentrale war, ebenso wie die Halle mit dem Goldenen Vlies, durch besondere Vorrichtungen ge­schützt.

»Sie werden Blodgahn nicht entkommen. Sie werden …«, wieder mußte er heftig rülp­sen, »… sie werden ihre Strafe bekommen!«

Der Gnom kicherte und griff nach der Flasche. Sie war fast leer. Sein Rausch strebte langsam, aber sicher dem Höhepunkt entgegen. Blodgahn fühlte sich trotz seiner Wut prächtig. Die flimmernden Pünktchen störten ihn nicht, und auch die immer

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schneller kreisenden Wände konnten ihm die Stimmung nicht verderben.

Noch nicht, aber das würde sich schnell ändern, wenn der Rausch vorbei war. Aber solange noch ein Tropfen in der Flasche war …

»Vorher werden sie ihre Strafe erhalten haben«, kicherte der Gnom. »Ich habe das Goldene Vlies gerettet, jawohl! Und ich werde den Herren der FESTUNG von mei­nen Taten berichten, dann werden sie erken­nen, wie sehr sie mir unrecht getan haben, vielleicht holen sie mich sogar zurück.«

Blodgahn beobachtete, wie die vier Frem­den sich vor den einstürzenden Deckenteilen in Sicherheit zu bringen versuchten. Sollten sie! Sie zögerten ihren Tod nur hinaus.

Blodgahn trank. »Pah!« grölte er so laut, daß die Spinnen

sich erschreckt in ihre Kokons begaben, »sie werden mich nicht nur zurückholen. Nein, meine Herren, ihr werdet Blodgahn bitten müssen, zurück in die FESTUNG zu kom­men, anflehen!«

Jetzt begann das Kweel erst richtig zu wirken. Blodgahn trank die Flasche leer und schleuderte sie gegen eine Wand.

Er schwelgte in seinen Träumen. »Nein, das genügt nicht, um meine heroi­

schen Taten zu vergelten. Ich werde einer von ihnen sein! Ein Herr der FESTUNG, nicht nur ihr Hofnarr. Und dann werde ich dafür sorgen, daß sich auf Pthor einiges än­dert!«

Der Gnom drehte den Kopf, und jetzt be­gann die Umwelt rebellisch zu werden. Sie drehte sich so schnell, daß Blodgahn sich ächzend an den Lehnen seines Sessels fest­klammerte und abwartete, bis sie zum Still­stand kam.

Er wollte nach der Flasche greifen, aber sie war nicht mehr da. Blodgahn war so be­nebelt, daß er bereits vergessen hatte, daß er sie gegen die Wand geworfen hatte.

»Sie haben sie gestohlen!« zeterte er au­ßer sich. »Ich weiß, daß ihr da seid, ihr un­sichtbaren Teufel. Aber wartet, ihr ent­kommt mir nicht!«

27 Kampf um das Goldene Vlies

Das Wort »entkommen« erinnerte ihn an die Fremden. Es dauerte eine Weile, bis Blodgahn sich daran erinnerte, daß sie auf der Flucht vor den einstürzenden Wänden und Decken waren. Vorsichtig drehte er sich wieder den Bildschirmen zu. Nach einer Mi­nute war es ihm gelungen, den richtigen zu finden.

»Das könnt ihr mit mir nicht machen!« schrie der Zwerg, als er sah, wie sie sich in einen kleinen Raum flüchteten. »Nicht mit Blodgahn!«

In seiner Wut entschloß er sich, zum äu­ßersten Mittel zu greifen. Blodgahn achtete nicht auf die Tücken der Umgebung, die sich wieder einmal gegen ihn verschworen zu haben schien und holte mit der rechten Faust weit aus.

Er sah den Knopf ganz deutlich vor sich, der die Mikroroboter aktivieren würde. Aber noch während er zielte, wurden zwei Knöpfe daraus, dann drei, vier …

Er traf irgendeinen von ihnen. Zu seinem Pech war es der falsche.

Unter Blodgahns Sessel öffnete sich eine Spalte im Boden, und im nächsten Augen­blick sauste er in die Tiefe.

»Das ist das Werk der Magier!« erklang es aus dem Schacht. »Die FESTUNG sollte endlich veranlassen, daß …«

Leider erfuhren die in Blodgahns Phanta­sie unsichtbar anwesenden Magier nicht mehr, was die FESTUNG mit ihnen machen sollte, denn die Stimme des Gnomen wurde von dem ohrenbetäubenden Krachen des Aufschlags übertönt.

Blodgahn sah nicht mehr, wie einer der kleinen Wachtürme, die auf den Bildschir­men zu sehen waren, plötzlich zu strahlen begann …

5.

Kolphyr litt unter der Trennung von sei­nen neuen Freunden. Sie würden sich Sor­gen machen, sicher waren sie böse auf ihn, denn wenn sie in eine bedrohliche Situation gerieten, waren sie ohne ihn hilflos.

Aber das, was ihn geleitet hatte, war stär­ker als die Bindung zu ihnen. Er hatte sich führen lassen, denn Kolphyr wußte, daß das, was ihn lenkte, von dem Wesen an seinem Arm ausging.

Die Trennung stand kurz bevor. Der Bera spürte, wie der Druck am Arm sich verstärk­te. Es brannte in der Haut!

Kolphyr war sich vollkommen im klaren darüber, daß es zu einer alles vernichtenden Katastrophe kommen konnte, wenn der Velst-Schleier bei dem, was bald geschehen würde, zerriß. Daß das Wesen nicht nur an dem Schleier klebte, sondern seine Lebens­energie aus Kolphyr bezog, bewies, daß es teilweise unter dem Schleier wucherte. Noch verhinderte das feine Häutchen, das sich über das Gewebe spannte, daß es zum Schlimmsten kam.

Aber was würde geschehen, wenn das Häutchen zerriß?

Kolphyr hatte keine Angst vor seinem Symbionten, denn er spürte seit langem, daß das Wesen gutartig war. Es war ein Teil von ihm. Sie konnten sich auf gedanklicher Ba­sis verständigen, wenn auch nur gefühlsmä­ßig. Der Bera empfing Warnungen des Sym­bionten, seine Angstgefühle, aber auch das Glück darüber, bald ein Individuum zu sein.

In Gedanken hatte Kolphyr sich bereits einen Namen für sein »Kind« zurechtgelegt. Er hatte es »Wommser« genannt.

Die Angst, ein Monstrum an seinem Kör­per großzuziehen, hatte Kolphyr längst ab­gelegt. Es widersprach allen Naturgesetzen, daß Wommser Materie und Antimaterie in sich verband. Der Samen eines Vogelwesens aus der in dieser Welt »normalen« Materie (was für Kolphyr Antimaterie war) hatte sich mit ihm, Kolphyr vereinigt.

Egal, wie das neue Wesen einmal ausse­hen würde – es war so fremdartig, daß es sich vielleicht niemals in diese Umwelt ein­fügen würde. Mit großer Trauer dachte Kol­phyr daran, daß es wahrscheinlich sofort nach der »Geburt« sterben würde.

Mache dir keine Sorgen, ich werde leben! Der Bera fuhr zusammen und blieb ste­

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hen. Der Kontakt war noch nie so intensiv gewesen!

Bitte geh weiter, es wird gleich gesche­hen!

Kolphyr schritt weiter durch unbekannte Gänge und lange Korridore, Treppen hinauf und durch verschlossene Türen, die er mit einer einzigen Bewegung des rechten Armes aus dem Weg räumte.

Als er den runden Raum betrat, wußte er, daß er den Ort erreicht hatte, an dem sich die Trennung vollziehen würde. In den Wänden befanden sich schmale, längliche Nischen und Öffnungen. Ein Blick nach draußen ver­riet dem Bera, daß er sich in einem Turm be­fand.

Kolphyr setzte sich auf den harten, staubi­gen Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Wand.

Jetzt mußte er warten. Es ist gut, hörte er die lautlose Stimme in

sich. Wenn es nur nicht so furchtbar brennen

würde! Es ist alles gut. Bald ist es vorüber, ich

möchte nicht, daß du leidest … Plötzlich begriff der Bera, daß sein

»Kind« längst erwachsen war. Er und seine Freunde würden es nicht nur niemals begrei­fen – es war ihnen bereits jetzt an geistiger Potenz weit überlegen.

Ich bin ein Stück von dir, für immer, Kol­phyr …

Irgend etwas lähmte seine Sinne. Das Brennen im Arm ließ nach.

Im gleichen Maße, wie es um ihn herum heller wurde, ließ die Sehfähigkeit des Beras nach. So merkte er nicht, was vor sich ging. Es war, als ob sich ein Filter vor seine Au­gen geschoben hätte.

Kolphyrs linker Arm pulsierte und blähte sich auf …

6.

»Das müssen sie gewesen sein«, flüsterte Atlan fast andächtig. »Die Erbauer des Schlosses – vielleicht die ehemaligen Herren

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des ganzen Gebiets, das jetzt die Dunkle Re­gion bildet.«

»Ich kann nur hoffen, daß sie Toiletten einbauen ließen«, fluchte Razamon, der ver­geblich versuchte, sich den gelben Schleim abzuwischen, mit dem ihn die Vielfüßer überzogen hatten.

Fenrir war ebenso schleimbeschmiert. Nach dem ersten Versuch, sich die zähe Flüssigkeit abzulecken, hatte er es aufgege­ben.

»Draußen ist der Teufel los«, sagte Koy, der jetzt gelöster wirkte. »Wir sind hier nicht sicher.«

»Sicherer als auf dem Gang«, sagte Atlan, ohne den Blick von den Bildern an der Wand zu nehmen.

Was faszinierte ihn so sehr an den Erbau­ern der Anlage? Waren sie nicht überall auf Pthor auf teilweise uralte Kulturen gesto­ßen? Weshalb ausgerechnet diese?

Atlan fuhr herum. »Razamon – du hast es auch gehört, als

wir vor dem Kristall standen, oder? Es wa­ren Stimmen, unzählige wispernde Stimmen …«

»Natürlich habe ich's gehört«, knurrte der Pthorer. »Und wenn du's genau wissen willst: Ich weiß, daß sie aus dem Kristall ka­men und das gleiche Gefühl in mir erweck­ten wie die Phantome, die scheinbar überall in der Ruine umherschweben, die Gespen­ster dieses Schlosses. Aber verlange nicht von mir, daß ich mir mit dir zusammen die Wandbilder ansehe. Ich weiß auch so, daß sie zu den Stimmen und den Gespenstern gehören.«

»Das wollte ich nur hören«, sagte Atlan. Er ging an einer Wand entlang und bemerk­te, daß die Bilder in einem ganz bestimmten Zusammenhang zueinander standen. Sie er­zählten eine Geschichte.

Die Geschichte dieses Volkes? Der Arkonide spürte die aufsteigende Er­

regung. In diesem Augenblick hätte Blod­gahn das ganze Schloß in die Luft jagen können – Atlan hätte sich nicht darum ge­kümmert.

29 Kampf um das Goldene Vlies

Die Bilder, der Kristall – das Goldene Vlies!

Atlan spürte, daß es eine Verbindung gab. Immer noch lag das Goldene Vlies in uner­reichbarer Ferne für sie, obwohl sie jetzt nur durch weniger als hundert Meter davon ge­trennt waren.

Waren die Bilder der Schlüssel? Der Arkonide bezweifelte, daß das Golde­

ne Vlies eine Konstruktion der verschwun­denen Erbauer dieser riesigen Anlage war. Alles sprach dafür, daß es von der FE­STUNG aus hierhergebracht worden war. Es mußte ein unermeßlicher Schatz sein. Wäre es ein Produkt der Unbekannten gewesen, so hätten sie es kaum nach ihrem Verschwin­den zurückgelassen.

Atlan kümmerte sich nicht um die Gefähr­ten und betrachtete die Bilderfolge. Er sah einige hochgewachsene Humanoide, zwei­fellos Männer, Frauen und Kinder, die vor einer fruchtbaren Ebene abgebildet waren. An vielen Stellen war die Farbe von der Wand abgebröckelt, und Atlan konnte nur ahnen, was sich dort befunden hatte.

Er sah riesige Paläste, eine Sonne, die vom wolkenlosen Himmel herabbrannte, in prächtige Gewänder gehüllte Menschen.

Die nächste Wand: Neue Bauwerke, ein verfinsterter Him­

mel. Immer dichtere Wolken und triste Far­ben. Die Menschen lachten nicht mehr, es gab keine Kinder mehr auf den Bildern.

Die Darstellungen wurden immer beklem­mender. Atlan sah verlassene Felder, ver­schlossene Burgen und Schlösser, dann leuchtende Objekte am Himmel, aus denen Blitze auf das Land herabfuhren und die dunkel gewordene Landschaft zerstörten. Aus den Schlössern wurde das Feuer erwi­dert – feine, helle Linien, die nur die Strahl­bahnen von Energiegeschützen darstellen konnten.

Die dritte Wand: Eine furchtbare Explosion, dann ein

großer Krater, schmerzverzerrte Gesichter der Männer und Frauen, die aus einstürzen­den Bauwerken strömten.

Männer, die ein Schloß bauten … »Die Schloßruine«, murmelte der Arkoni­

de. »Sie bauen das Schloß, in dem wir uns befinden!«

Dann schienen die Bilder zu verschwim­men. Atlan mußte genauer hinsehen, um zu erkennen, daß es sich um die Humanoiden handelte, die sich langsam, von Bild zu Bild, auflösten!

Die letzte Darstellung zeigte einen Kopf mit geschlossenen Augen, der von einem Strahlenkranz umgeben war. Unter dem Kopf war ein fremdartiges Symbol abgebil­det: ein großer Kreis, aus dem ein Pfeil rag­te, der auf den Kopf zeigte.

»Das ist ihre Geschichte«, sagte Atlan. Er drehte sich zu den anderen um. »Es gab also wirklich einmal eine Zeit, als die Dunkle Region ein wahres Paradies war.«

»Das nützt uns jetzt verdammt wenig«, brummte Razamon. »Vielleicht war ganz Pthor einmal eine paradiesische Welt, bevor die Verbrecher aus der FESTUNG sie zu dem Alptraum machten, den es heute dar­stellt. Wir müssen hier heraus, Atlan! Mein Zeitklumpen bringt mich fast um. Auf Pthor geht etwas vor, und ich will dabei sein!«

»Du weißt genau, daß ich mindestens ge­nausoviel Interesse am Sturz der Herren der FESTUNG habe wie du«, fuhr Atlan auf. »Es geht um Terra, um die Erde, die meine Heimat geworden ist. Aber wir müssen das sogenannte Goldene Vlies mitnehmen. Fra­ge mich nicht, wieso, aber ich weiß, daß wir es brauchen werden. Es geht jetzt nur dar­um, hier lebend herauszukommen. Blodgahn brütet bestimmt schon wieder an einer neuen Teufelei, um uns aus dem Weg zu räumen. Zumindest müssen wir abwarten, bis das Be­ben aufhört.«

»Er hat recht«, meinte Koy. »Draußen werden wir von den Steinbrocken erschla­gen.«

»Ich frage mich nur, weshalb wir hier Ru­he haben«, sagte Razamon. Niemand konnte ihm eine Antwort geben.

»Wenn nur Kolphyr hier wäre«, sagte At­lan. »Ich habe Angst um ihn, und um uns.

30

Wenn sein Velst-Schleier reißt, kann nicht nur Pthor in einer Kettenreaktion vergehen, sondern die ganze Erde!«

»Wir müssen warten«, sagte Koy. Er­staunlicherweise verhielt Fenrir sich ihm ge­genüber jetzt friedlich. Spürte der Wolf, daß Koy ihn gerettet hatte?

Atlan schüttelte den Kopf. »Warten hat keinen Zweck. Vielleicht

hört das Beben nie auf. Wir holen uns das Vlies. Irgendwie werden wir es schon schaf­fen. Koy, du hältst uns die Mutanten vom Hals.«

»Endlich!« stöhnte Razamon. Atlan verschwieg, daß der wahre Grund

für seine plötzliche Ungeduld ein ganz ande­rer war.

Aber sie kamen nicht dazu, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Blodgahn holte zum nächsten Schlag aus – auf eine Art und Wei­se, die niemand von ihnen erwartet hatte.

*

Ächzend und über und über mit Schmutz bedeckt, kletterte Blodgahn aus der Öffnung des Schachts, der geradewegs in ein Keller­gewölbe führte, das seit Jahrtausenden nicht mehr gesäubert worden war. Der Gnom wußte natürlich, daß die Dellos, die ihm sei­ne kleine Zentrale eingerichtet hatten, den Schacht als Fluchtweg eingerichtet hatten. Ein Knopfdruck genügte, und ein eventuel­ler Angreifer griff ins Leere, wenn Blodgahn in der Tiefe versank.

Der Sessel war zu Bruch gegangen, wäh­rend Blodgahn relativ unverletzt geblieben war. Er hatte sich lediglich den rechten Fuß verstaucht und humpelte auf die Kontrollen zu. Nach langem Suchen fand er den Knopf, der den Schacht wieder verschloß. Beim dritten Anlauf gelang es ihm, ihn niederzu­drücken. Das Loch im Boden verschwand.

Blodgahn spürte, wie ihm schwindlig wurde – und übel. Die Umgebung tanzte vor seinen Augen, selbst die Spinnen an den Wänden schienen ihn schadenfroh anzuse­hen.

Horst Hoffmann

Der Gnom war so berauscht vom Kweel, daß er einige Minuten brauchte, um heraus­zufinden, weshalb er eigentlich hier war. Dann entdeckte er die Fremden. Mit fast übermenschlicher Anstrengung schob er sein Gesicht so dicht vor den Monitor, daß er ein klares Bild gewann.

Die Mixtur! Er mußte nüchtern werden! Aber vorher mußte er die Mikroroboter

aktivieren. Wieder begann die Suche nach dem entsprechenden Knopf. Blodgahn war diesmal gewarnt und drückte ihn ganz vor­sichtig in das Kontrollpult.

Eine Leuchtanzeige bestätigte die Akti­vierung. Sie würden den Fremden innerhalb weniger Sekunden die Hölle heiß machen. Das konnten sie nicht überleben!

Die Mixtur! »Zur Hölle mit allen Magiern!« fluchte

Blodgahn, als er an die bevorstehende Pro­zedur dachte. Aber wenigstens hatte er jetzt genügend Wasser.

Irgendwo hatte er die kleine Flasche abge­stellt, er wußte es ganz genau.

»Zeigt euch, ihr Magier, und rückt sie heraus, oder ihr werdet es bitter bereuen. Bald gehöre ich zu den Herren der FE­STUNG, und dann werde ich als erstes ver­anlassen, daß ihr mit Stumpf und Stiel aus­gerottet werdet – alle!«

Die nicht vorhandenen Magier schienen von seinen Worten eingeschüchtert worden zu sein, denn plötzlich entdeckte er den Be­hälter auf einem Regal. Natürlich hatte er ihn selbst dort abgestellt, aber so weit reich­te seine Erinnerung in seinem jetzigen Zu­stand nicht mehr zurück.

»Es muß sein«, sprach der Gnom sich Trost zu. »Bringen wir's hinter uns!«

Er trank die Flasche in einem Zug leer. Blodgahn stand wie angewurzelt vor sei­

nem Instrumentenpult. Seine Pupillen in den weit aufgerissenen Augen machten sich selbständig, die Nase begann zu zittern, und aus den Ohren stiegen kleine Dampfwölk­chen.

Nach einer Minute der inneren Einkehr begann die zweite Phase der Ernüchterungs­

31 Kampf um das Goldene Vlies

prozedur. Blodgahn bekam einen fürchterli­chen Hustenanfall, stieß einen markerschüt­ternden Schrei aus und sprang einen halben Meter hoch in die Luft. Dann rannte er in dem Vorratsraum auf und ab, kletterte an den Regalen empor und schlug solange mit dem Kopf gegen die Steindecke, bis sie zu bröckeln begann.

Die dritte Phase: Blodgahn fiel auf den harten Boden und

blieb eine halbe Minute lang röchelnd lie­gen. Sein Kopf wurde abwechselnd gelb und rot.

»Wasser!« krächzte der Gnom. »Wasser! Ein ganzer See voll Wasser!«

Er sprang schreiend auf und rannte zu dem bereitgestellten Kübel. Blodgahn ließ sich auf den Boden fallen und trank, bis der Eimer leer war.

Er richtete sich auf und sah sich um. Langsam, aber sicher, kehrten die Lebens­geister zurück.

»Aaah!« stöhnte der Zwerg. »Das tat gut.«

Er empfand eine seltsame Euphorie und steigerte sich in eine so blendende Laune hinein, daß er sogar zu Zugeständnissen an seine ärgsten Feinde bereit war.

»Die FESTUNG sollte nicht so hart mit ihnen sein«, sagte er. »Sie sollten die Magier schonen – zumindest einige von ihnen.«

Blodgahn begann zu kichern. »Aber ich werde die Fremden nicht scho­

nen. Die Roboter werden leichtes Spiel mit ihnen haben.«

Ein Blick auf den entsprechenden Bild­schirm genügte. Überall explodierten die Mikroroboter. Die Fremden hatten keine Chance mehr.

Aber was war das? Blodgahn bemerkte erst jetzt den strahlen­

den Turm auf einem der kleineren Schirme. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von

den Augen. Der fünfte Eindringling! Das große Mon­

strum! Er hatte es völlig vergessen. Nur es konnte für das unerklärliche Phänomen ver­antwortlich sein!

Blodgahn war wieder völlig klar bei Sin­nen. Er fand ohne Mühe den Knopf zur Steuerung der Roboter und beorderte ein paar von ihnen zu dem Turm.

Niemand sollte ihm entkommen!

*

Sie kamen lautlos. Die Roboter waren so klein, daß man sie erst erkannte, wenn sie bis auf wenige Meter heran waren. Und dann war es meistens schon zu spät.

Atlan war bereits auf den Gang hinausge­laufen, als die erste Explosion erfolgte. Etwa in Kopfhöhe entstand ein greller Blitz wie aus dem Nichts. Die Druckwelle schleuderte den Arkoniden zurück. Er spürte, wie ihn et­was am Arm packte und in den Raum zog, in dem sie Schutz vor dem mittlerweile fast abgeklungenen Beben gefunden hatten.

Auf dem Gang entstanden drei weitere Lichtbälle, die sich schnell nach allen Seiten hin ausbreiteten und Löcher in die Wände rissen.

»Das war knapp«, stöhnte Atlan benom­men. »Danke, Razamon.«

»Halte keine langen Reden, sondern ver­rate mir, wie wir jetzt hier herauskommen sollen. Verdammt, sie kommen auf uns zu!«

Jetzt sah Atlan die winzigen, glänzenden Punkte, die auf die Tür zuschwebten.

»Roboter«, sagte der Pthorer. »Ferngesteuerte Mikrobomben.«

Eine Explosion übertönte seine weiteren Worte. Sie zogen sich in den Raum zurück, vollkommen ratlos, wie sie Blodgahns neuer Waffe entgegentreten wollten.

»Koy, kannst du sie zerstören?« Der Trommler konzentrierte sich. Die

nächsten Kugeln schwebten von draußen herein. Die erste von ihnen flog durch die Tür …

Koys Broins schlugen gegeneinander. Fast gleichzeitig explodierte der Roboter. Atlans Warnung kam zu spät. Die Kugel hatte sich genau in der Türöffnung befun­den.

Mit ohrenbetäubendem Krachen stürzte

32

die Wand ein und begrub zwei weitere Mi­kroroboter unter sich.

»Hinlegen!« schrie Atlan. Sekundenbruchteile später flogen die

Steinbrocken auseinander. Fenrir jaulte vor Schmerzen auf, als er an einem Hinterlauf getroffen wurde.

»Was nun?« stöhnte Razamon, der, eben­so wie Atlan und Koy, flach auf dem Boden lag und den Kopf mit den Händen schützte.

Atlan hob vorsichtig den Kopf. »Sie reagieren auf Berührung«, sagte er.

»Sie explodieren, sobald sie gegen etwas stoßen.«

»Wenn's nur das wäre«, widersprach Raz­amon. »Der erste Roboter ging in die Luft, bevor er dich berühren konnte, sonst wärst du tot. Sie müssen mit Sensoren ausgerüstet sein, die auf die Wärmeabstrahlung unserer Körper reagieren. Wir dürfen sie nicht näher als ein paar Meter herankommen lassen!«

»Schlauberger«, brummte Atlan. Ein halbes Dutzend der kleinen Kugeln

schälte sich aus den Staubwolken am Ein­gang und näherte sich ihnen.

»Schnell, Koy!« Atlan preßte sich gegen den Boden, wäh­

rend der Trommler sich konzentrierte. »Sobald sie explodieren, brechen wir aus.

Wir sitzen hier wie die Maus in der Falle.« »Es ist zu riskant!« fuhr Razamon auf.

»Sie werden alle auf einmal explodieren, wenn Koy einen von ihnen aufs Korn nimmt. Das hält das Gemäuer nicht …«

Seine Worte gingen in der Detonation un­ter. Eine grellweiße Lichtflut drang durch die geschlossenen Augenlider der Männer. Teile der Decke kamen herab und begruben sie unter einer Lawine von Steinen und Staub. Ein großes Stück wurde aus der Tür der gegenüberliegenden Wand gerissen. Das rettete ihnen wahrscheinlich das Leben.

Die Wucht der Explosion entlud sich nach außen. Hinter der Wand war nichts mehr. Atlan, Koy und Razamon lagen plötzlich an einem mehrere Meter tiefen Abgrund. Unter sich konnten sie die große Treppe sehen, über der die Fackeln brannten.

Horst Hoffmann

»Los jetzt!« Atlan raffte sich auf und schüttelte den

Staub ab. Ohne lange zu warten, rannte er auf den Eingang zu und arbeitete sich über die fast einen Meter hohe Halde aus Steinen und Staub hinaus auf den Gang. Von links kamen die nächsten Kugeln heran.

Atlan blieb stehen und sah zurück. Raza­mon tauchte mit Koy aus dem Staub auf. Der Atlanter sah aus wie eine zum Leben er­wachte Mumie. Der Staub klebte am ganzen Körper, der immer noch vom Schleim der Mutanten überzogen war.

»Beeilt euch, wir haben …« Eine Gruppe der Mikroroboter war bis auf

wenige Meter an ihn herangekommen. Sie befand sich schon zwischen ihm und den Freunden.

Atlan sprang zurück. Aus den Augenwin­keln heraus sah er, wie Koys Broins gegen­einanderschlugen.

Wieder schien die Welt in einem grellen Blitz zu vergehen. Die Druckwelle schleu­derte den Arkoniden zu Boden. Die Decke stürzte ein, und diesmal kamen nicht nur Steinbrocken herunter, sondern das ganze Mobiliar des darüber gelegenen Raumes. Der Gang war binnen Sekunden zugeschüt­tet.

»Razamon!« rief Atlan aus Leibeskräften. »Koy! Hört ihr mich?« Razamons Stimme drang wie aus weiter Ferne dumpf an seine Ohren. »Flieh, Atlan! Hole das Goldene Vlies. Wir schaffen es schon. Wir treffen uns in der Halle!«

»Aber …« »Hörst du nicht? Du kannst uns nicht hel­

fen. Koy wird mit ihnen fertig! Lauf, so schnell du kannst, bevor Blodgahn sich et­was Neues ausdenkt, es ist deine Chance!«

Atlan zögerte nicht mehr. Er taumelte durch den Gang, der jetzt wieder heftiger bebte. Überall um ihn herum sah er Bilder der Verwüstung.

Er ließ sie im Stich! Natürlich wollte Raz­amon ihn beruhigen. Wenn die Kugeln im­mer mehr wurden.

Zum Goldenen Vlies! Du wirst nie mehr

33 Kampf um das Goldene Vlies

eine solche Gelegenheit bekommen! drängte der Extrasinn.

Atlan rannte weiter. Hinter ihm explodier­ten weitere Kugeln. Aber je näher der Arko­nide der großen Halle mit dem Schrein kam, desto sicherer wurde er, daß er richtig han­delte.

Der Kristall, die unbegreiflichen Schwin­gungen, die Erbauer des Schlosses – plötz­lich glaubte Atlan, die Lösung des Rätsels gefunden zu haben. Der Gedanke war zu phantastisch …

Blodgahns Stimme erfüllte die Korridore, aber Atlan hörte nicht auf das wütende Ge­krächze.

Er hing seinen Spekulationen nach, wäh­rend er sich über Schuttberge und an großen Löchern im Gangboden vorbei auf die Halle zubewegte. Er mochte sich täuschen, was die geheimnisvollen ehemaligen Bewohner der Ruine anging, aber eines stand für ihn jetzt fest:

Der Weg zum Goldenen Vlies führte über den Kristall.

Und dann stand er vor dem Portal. Es war, als ob er mit der Halle eine andere Welt be­trat. Das Beben hatte von einem Augenblick zum anderen aufgehört. Soweit das Auge reichte, konnte er keine Verwüstungen ent­decken, abgesehen von den Spuren des Kampfes mit den Mutationen.

Atlan atmete heftig. Das Blut hämmerte in seinen Schläfen, als er sich dem Schrein näherte – und dem blauen Riesenkristall.

*

Blodgahn fluchte und zeterte. »Dieser verdammte Hellhaarige! Ich wuß­

te doch, daß er der schlimmste von ihnen ist!«

Blodgahn mußte tatenlos zusehen, wie der Fremde sich der Halle näherte. Die Roboter befanden sich alle entweder bei den drei an­deren Eindringlingen oder bei dem großen Monstrum im strahlenden Turm. Die Kugeln im verschütteten Gang konnte er nicht um­manövrieren, sie sollten darüber hinaus auch

endlich den Fremden den Garaus machen. Und diejenigen, die er zum Turm dirigiert hatte, reagierten nicht auf die Steuerungsim­pulse. Noch viel schlimmer: Die Kontrollan­zeigen waren plötzlich ausgefallen. Der Gnom hatte keine Ahnung, was mit ihnen geschehen war. Aber er spürte, daß in dem strahlenden Turm irgend etwas Unheimli­ches vorging.

Es gab keine Möglichkeit, den Hellhaari­gen aufzuhalten. Zu allem Überfluß ge­horchten Blodgahn die Mutanten nicht mehr, seitdem ein großer Teil von ihnen der heim­tückischen Waffe der Fremden zum Opfer gefallen war!

Auch das Beben schien den Hellhaarigen gar nicht zu beeindrucken. Er war bereits vor der Halle angelangt!

Der Gnom mußte erkennen, daß er keine Möglichkeit mehr hatte, ihn aufzuhalten. Plötzlich begann er vor Angst zu zittern. Wenn es dem Fremden gelang, das Goldene Vlies zu rauben, würden die Herren der FE­STUNG furchtbare Rache an Blodgahn neh­men.

Es gab nur noch einen Ausweg aus der drohenden Katastrophe.

Blodgahn wußte, daß das, was er nun zu tun hatte, seinen Tod bedeuten konnte. An­dererseits war es sein sicherer Tod, wenn der Fremde das Goldene Vlies entweihte.

Die fünf hatten bisher allen Angriffen ge­trotzt. Der Gnom fand nur eine Erklärung: Sie mußten über gewisse magische Fähig­keiten verfügen.

Blodgahn bezweifelte nicht, daß es dem Hellhaarigen gelingen würde, auch den Kri­stall zu überwinden. Dann lag der Schrein schutzlos vor ihm.

Blodgahn mußte das verhindern, oder er würde nie mehr Lebenskapseln aus der FE­STUNG bekommen.

Er mußte selbst in die Halle gehen und den Fremden zur Strecke bringen.

Blodgahn faßte seinen Entschluß. Alles in ihm bäumte sich gegen die Einsicht ins Un­vermeidbare auf, aber die Angst vor der Ra­che der FESTUNG siegte.

34

In diesem Augenblick hatte der Gnom nichts mehr mit dem zeternden Wicht ge­mein, der noch vor Minuten im Kweel-Rausch als zukünftiger Herr der FESTUNG die Magier verflucht und unsichtbare Feinde gesehen hatte.

Blodgahn griff nach seinem Beutel und nahm die Lebenskapseln heraus. Es waren noch zwölf Stück in dem kleinen Behälter. Zwölf Kapseln, die er sich als Reserve für magere Zeiten aufbewahrt hatte, in denen er der FESTUNG keine Erfolgsmeldungen ma­chen konnte.

Er ging ein hohes Risiko ein. Wenn er versagte, würden keine neuen Kapseln kom­men. Siegte er aber, so würde er fürstlich be­lohnt werden.

Blodgahn schluckte alle zwölf auf einmal. Der Gnom stand vor den Schirmen und

wartete ab, bis er die Wirkung spürte. Jede der Kapseln, die die Herren der FESTUNG von dem Lebensmagier aus der Großen Bar­riere von Oth bezogen, enthielt die Lebens­energie von vielen Monaten. In Mengen ge­nommen, potenzierte sich der Effekt der Kapseln.

Blodgahn würde für einige Stunden über die Lebensenergie und die Körperkraft von insgesamt zehn Jahren verfügen. Danach würde er ausgebrannt sein und innerhalb ei­ner Woche sterben, wenn er keine neuen Kapseln erhielt.

Er spürte die neuen Energien, die seinen Körper durchflossen. Blodgahn verließ seine kleine Zentrale und machte sich auf den Weg.

Für die nächsten Stunden war er ein un­schlagbarer Gegner, und diesmal war es kei­ne Einbildung, die ihm sein vom Kweel zer­fressenes Gehirn vorgaukelte.

*

Drei Meter vor dem Schrein blieb Atlan stehen.

Im Gegensatz zu vorhin, als sie zum er­stenmal die Halle betreten hatten, konzen­trierte der Arkonide sich auf den Kristall. Es

Horst Hoffmann

war ihm so, als ob er eine leise Stimme hör­te, die ihn bat, nicht weiterzugehen.

Die Bildfolgen an den Wänden ihrer Zu­flucht kamen ihm in den Sinn. Atlan dachte intensiv an jedes Bild.

Du mußt dich ganz öffnen! riet der Extra­sinn. Lasse dich führen! Du bist auf dem richtigen Weg. Wenn deine Vermutung zu­trifft, werden sie die Initiative ergreifen. Denke immer an das Goldene Vlies und dar­an, daß die Herren der FESTUNG deine Feinde sind!

Atlan stand vor dem Schrein. Er hatte die Augen geschlossen. Die Welt um ihn herum hörte plötzlich auf zu existieren. Blodgahn, die Mutanten, die Roboter – das alles schien auf einmal in weiter Ferne zu liegen. Selbst die Freunde waren vergessen …

Als nach fünf Minuten nichts geschehen war, war Atlan nahe daran, zu resignieren. Er wußte nicht, was er eigentlich erwartete. Er begann zu glauben, daß er einem Hirnge­spinst zum Opfer gefallen war.

Willst du aufgeben, jetzt, kurz vor dem Ziel?

Atlan öffnete die Augen und sah in den Kristall.

In diesem Augenblick breitete sich eine gleißende Helligkeit um ihn herum aus. Der Arkonide wurde in eine Aura aus flimmern-der Energie gehüllt. Gleichzeitig hörte er wieder die wispernden Stimmen. Sie waren überall, und sie wurden lauter, kamen auf ihn zu, drangen in sein Gehirn, füllten sein Denken aus …

Der Kristall verschwamm vor seinen Au­gen. Eine blaue Lichtflut kam auf Atlan zu und löste sämtliche Konturen auf. Der Schrein war verschwunden. Instinktiv blick­te der Arkonide an sich herab. Er sah seinen Körper nicht mehr!

Überall war nur das blaue Licht. Und dann kamen die Bilder …

*

Blaustrahl: Wir bewohnten diesen Landstrich zwi­

35 Kampf um das Goldene Vlies

schen dem Fluß und der Küste. Wir lebten glücklich und zufrieden und hatten eine Kul­tur entwickelt, die ohne Beispiel auf ganz Pthor war. Immer wieder kamen Fremde und baten uns um Rat, einige von ihnen blie­ben lange Zeit bei uns und lernten. Zu dieser Zeit war unsere Welt ein Paradies.

Bilder: Fruchtbare Felder, hochgewachsene Hu­

manoide, die die Felder bestellten, Freuden­feuer auf den Plätzen malerischer Dörfer, tanzende Menschen, freudestrahlende Ge­sichter, Prozessionen zu Burgen und Schlös­sern, die in unvorstellbarer Pracht erstrahl­ten …

Blaustrahl: Dann erschienen die neuen Herren. Un­

ser Land wurde mit Dunkelheit überzogen, nicht von jener Dunkelheit, wie sie jetzt un­sere Welt erstickt, sondern Dunkelheit des Geistes. Die Freude am Leben, an den Kün­sten und dem Wachsen der Natur schwand. Unser Volk verfiel in Lethargie, und die Schönheit verkümmerte. Es kamen keine Gä­ste mehr in unsere Schlösser. Viele von uns starben, als der Lebensfunke zu verglimmen drohte.

Bilder: Verlassene Felder, Totenfeuer und aus­

gestorbene Dörfer. Trauerprozessionen, Dunkelheit.

Goldstrahl: Einige von uns beugten sich dem grausa­

men Schicksal, andere weigerten sich, ihr bitteres Los hinzunehmen. Wir verstanden nicht, was plötzlich über uns gekommen war, aber wir begannen, uns zu wehren. Wir begannen zu kämpfen, aber da wir noch nie einen Grund gehabt hatten, Kriege zu füh­ren, waren wir von vorneherein zum Schei­tern verurteilt. Die neuen Herren schlugen unbarmherzig zu. Wir wehrten uns, so gut es ging, aber sie hatten die stärkeren Waffen. Durch einige andere Volksstämme von jen­seits des Flusses erfuhren wir, daß die Her­ren mächtige Verbündete in der Großen Barriere von Oth hatten, die über magische Kräfte verfügten.

Bilder: Männer und Frauen, die sich in die Bur­

gen zurückgezogen hatten, bewaffnete Grup­pen, die in südlicher Richtung gegen die Feinde zogen, strahlende Gebilde, die wie aus dem Nichts über den Festungen auf­tauchten und sie in Schutt und Asche legten.

Blaustrahl: Dann folgte der entscheidende Schlag

der Verbrecher. Ihre Sphären erschienen über dem Zentrum unserer Welt, in das sich die letzten unseres Volkes zurückgezogen hatten. Wir flohen in die Wildnis, die sich ausgebreitet hatte, seitdem wir unsere Arbeit auf den Feldern eingestellt hatten. Eine furchtbare Explosion vernichtete unsere Burgen und riß einen gewaltigen Krater in das Land. Es entstand das Tal, das ihr »Emmorko-Tal« nennt.

Bilder: Gleißendhelle Energieblasen über den

Schlössern, um ihr Leben rennende Huma­noide, weiße Energiestrahlen, die sich in das Land fraßen, eine Explosion von unvorstell­barem Ausmaß, dunkle Dampfschwaden, die den Himmel verfinsterten, dann ein mehrere Kilometer durchmessender Krater …

Rotstrahl: Nur wenige von uns kamen mit dem Le­

ben davon. Nach vielen Mondwechseln kehr­ten wir zurück und erbauten genau im Zen­trum des Kraters ein gewaltiges Schloß, das unserem Volk ein ewiges Andenken sein soll­te, denn wir wußten, daß wir nicht mehr lan­ge zu leben hatten.

Dann kam es zum Streit. Die meisten von uns waren entschlossen,

in einer anderen Welt Zuflucht zu suchen, denn die Dunkelheit begann sich auf unser Land zu legen. Einige aber wollten versu­chen, hier weiterzuleben. Nach einer Aus­einandersetzung in unserem Rat wurden sie verstoßen. Sie starben innerhalb kurzer Zeit – mit Ausnahme von zwei Männern und ei­ner Frau. Einer der Männer zeugte mit ihr einen Sohn, aber das Kind war ein Mon­strum, mutiert unter dem Einfluß der unheil­bringenden Strahlung, die sich mit der Dun­

36

kelheit über unsere ehemals blühende Welt gelegt hatte. Die Verstoßenen starben bald darauf, aber ihr Kind überlebte. Es fand sei­ne Zuflucht in den unterirdischen Katakom­ben unserer alten Schlösser.

Wir gingen unseren Weg. Nach und nach gelang es uns, durch eine immer vollkomme­ner werdende Art der Meditation unsere Körper aufzugeben und jene andere Welt zu erreichen, die wir bisher nur aus unseren Träumen kannten. Wir schlossen uns zu ei­nem Geistesblock zusammen und ließen un­sere Hüllen zurück.

Blaustrahl, Goldstrahl und Rotstrahl: Wir trieben in die Unendlichkeit und

wurden eins. Die Individuen vereinigten sich zu einem einzigen Wesen, ohne daß sie ihre persönliche Sphäre ganz aufgaben. Im Ge­genteil: Wir vermehrten uns wie die Zellen eines entstehenden Lebewesens im Embryo­nalstadium. Wir fanden neue Welten jenseits aller Grenzen von Raum und Zeit …

Bilder: Etwa zwanzig Humanoiden, die einen

Halbkreis um eine von innen heraus schim­mernde Kugel bildeten. Die Männer und Frauen starrten in die Kugel, viele Stunden lang.

Die Körper wurden schlaff, als alles Le­ben langsam aus ihnen wich. Noch einmal begannen sie zu zucken. Die Köpfe schienen sich aufzublähen und strahlten jeder in einer anderen Farbe, blau, gelb, golden, rot, grün, orange …

Dann zogen die Strahlenkränze sich zu­sammen und bildeten eine Art schimmernder Wolken, die sich schnell auf die Kugel zube­wegten und von ihr aufgesogen wurden.

Die Körper zerfielen innerhalb von weni­gen Sekunden.

Viele hundert Strahlen: Wir verließen unsere Körper und gingen

in einem neuen, unfaßbaren Kosmos auf; es war die zweite Geburt unseres Volkes, eine neue Schöpfung …

Bilder und Eindrücke: Ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Un­

endliche Weiten, ein farbiger Weltraum mit

Horst Hoffmann

Sonnen, Planeten und undefinierbaren Ob­jekten, die sich fließend von einer Welt zur anderen bewegten und ihren Atem über den Kosmos legten; überall war Leben, das die neue Wesenheit in sich aufnahm. Bewußt­seinsströme flossen von einem Weltenkörper zum anderen, die neue Wesenheit korrespon­dierte mit anderen, die niemals wirklich fremd waren. Sie war eingebettet in einen ewigen Strom des Lebens.

Blaustrahl: Aber die Erinnerung an unsere einstige

Heimat war übermächtig. Wir hatten jegli­chen Begriff für die Zeit verloren – sie exi­stierte nicht mehr für uns. Was blieb, war die Erinnerung und die Sehnsucht.

Wir lernten den neuen Kosmos kennen und fanden Freunde, aber wir konnten nie­mals vergessen. So beschlossen wir, auf den Tag zu warten, an dem wir wieder in unsere Welt zurückkehren konnten, auf jenen Tag, an dem wir wieder frei atmen konnten und die Macht der Herren gebrochen war. Wir hatten gelernt, daß die Zeit ein relativer Be­griff war und das Warten nicht endlos sein konnte …

Aber es gab keine Möglichkeit, in unserer früheren Gestalt zurückzukehren. Wir sam­melten uns und schlossen uns erneut zusam­men, obwohl wir niemals wirklich voneinan­der getrennt gewesen waren.

Wir materialisierten in der Form, die du vor dir siehst. Es dauerte eine Weile, bis wir begriffen, daß es niemals mehr eine wirkli­che Rückkehr für uns geben würde, obwohl die Tage der Eroberer gezählt zu sein schei­nen …

Atlan fühlte, wie die Helligkeit nachzulas­sen begann. Der Kristall nahm wieder For­men an, und die Stimmen verstummten.

Er verstand, daß sie warteten. Nun war die Reihe an ihm. Der Arkonide tat das, was sein Gefühl ihm riet. Er öffnete sich voll­kommen und ließ die vorsichtig tastenden mentalen Fühler in sein Bewußtsein eindrin­gen.

Er spürte, daß Blodgahn hinter ihm stand und wütend versuchte, zu ihm vorzudringen,

37 Kampf um das Goldene Vlies

aber das war jetzt nebensächlich.

*

Blodgahn fühlte sich unbesiegbar – er war unbesiegbar.

Um so schlimmer war es für ihn, daß er trotz seiner ungeheuren körperlichen Überle­genheit überhaupt nichts gegen den Hellhaa­rigen ausrichten konnte.

Blodgahn stand nur wenige Meter von dem Fremden entfernt, der wie erstarrt wirk­te. Es wäre für den Gnomen ein leichtes ge­wesen, ihn zur Strecke zu bringen, aber eine unsichtbare Wand schirmte ihn von ihm ab.

So sehr er sich auch bemühte, er kam kei­nen Zentimeter näher an ihn heran. Jedes­mal, wenn Blodgahn versuchte, die Wand zu durchbrechen, flackerte der blaue Kristall über dem Schrein, und der Zwerg verspürte ein schmerzhaftes Ziehen im Kopf.

Es gab nur eine Erklärung: Der Fremde verfügte über magische Kräfte. Blodgahn mußte warten, bis sich die unsichtbare Mau­er auflöste.

Der Fremde bemerkte ihn nicht einmal! Blodgahn fühlte, wie die Wut in ihm auf­

stieg. War denn alles umsonst gewesen? Hatte er umsonst zehn Jahre seines Lebens geopfert?

Blodgahn wartete. Sein Haß steigerte sich ins Unermeßliche. Er fühlte, wie sich die Energie in ihm aufstaute, zu explodieren drohte …

In einem Anfall von Tobsucht lief der Gnom auf eine Wand zu und schlug zu. Die Wand gab nach, und ein kleines Loch ent­stand unter der Wucht des Schlages. Aber da nur Blodgahns Körperkräfte potenziert wor­den waren, sein Metabolismus sich jedoch nicht verändert hatte, wurde seine rechte Faust arg in Mitleidenschaft gezogen. Einige Fingerknochen waren gebrochen.

Der Gnom vollführte vor lauter Schmer­zen einen Veitstanz und schrie so laut, daß der Kristall zu flackern begann, ohne daß er die unsichtbare Mauer berührt hatte.

Sekunden später ließ der Schmerz nach.

Die Lebenskapseln sorgten dafür, daß Blod­gahn sofort wieder in Euphorie verfiel, ohne dabei die eigenen Kräfte zu überschätzen.

Die Rechte war kaum noch zu gebrau­chen, obwohl auch hier die Kraft der Kap­seln für eine schnelle Heilung sorgte. Blod­gahn brauchte sie nicht, um mit dem Hell­haarigen fertig zu werden. Immerhin hatte der Energiestau sich gelöst.

Blodgahn wartete ungeduldig auf seine Stunde.

Sie würde kommen, das wußte er. Trotz­dem beobachtete er den Hellhaarigen voller Unbehagen und Mißtrauen. Er war vollkom­men in das unsichtbare Feld eingehüllt, und dort ging irgend etwas vor, das Blodgahn nicht verstand.

Zum erstenmal kam ihm der Gedanke, daß der Kristall nicht von den Dienern der FESTUNG installiert worden war.

*

Atlan spürte, daß sie nun alles über ihn wußten – über die Erde, über die plötzlich aufgetauchte Bedrohung durch Atlantis, sei­nen Weg durch Pthor und über den Kampf gegen die FESTUNG und ihre Helfershelfer.

Nach endlos erscheinenden Minuten formte sich ein neues Bild in seinem Be­wußtsein. Mittlerweile war Atlan in der La­ge, die dominierenden Elemente der im Kri­stall vereinigten Wesenheit zu unterschei­den.

Blaustrahl sprach zu ihm. Wir wissen jetzt, daß du ein Feind der

Eroberer bist. Wir wissen ebenso, daß unser Traum sich

nie erfüllen wird. Wir haben uns zu weit von den Ursprüngen entfernt, und wir werden für immer in jenen Räumen leben, die uns zur Heimat geworden sind. Doch die Tren­nung schmerzt uns nun nicht mehr, denn wir wissen, daß sich alles zum Guten wenden wird, wenn ihr all eure Energie gegen die neuen Herren einsetzt. Euer Weg wird schwer sein, und es ist nicht sicher, daß ihr am Ende die Sieger sein werdet, aber wir

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sind zuversichtlich. Wir versuchten, in unserer Ursprungs­

welt zu materialisieren, und es gelang uns nicht. Der Kristall, den du vor dir siehst – das ist alles, was wir in die alte Dimension projizieren konnten. Er gestattet uns, mit dir zu reden.

Atlan fühlte seinen Körper wieder. Die »Unterhaltung« war nicht länger einseitig. Die Bewußtseinsinhalte der entstofflichten ehemaligen Herren der jetzigen Dunklen Re­gion warteten auf seine Fragen.

Dennoch brauchte der Arkonide eine Weile, um das Erfahrene zu verarbeiten. Er ahnte, daß er einer überlegenen Macht ge­genüberstand, einem geistigen Extrakt der Hochkultur, deren Spuren auch heute noch überall in der Dunklen Region zu finden wa­ren.

Das Goldene Vlies! erinnerte der Extra­sinn. Vergiß nicht, weshalb du hier bist!

Atlan dachte eine entsprechende Frage. Goldstrahl antwortete: Wir wissen, daß ihr den Anzug begehrt,

und daß ihr ihn, bei dem, was auf euch zu­kommt, brauchen werdet. Du wirst ihn er­halten, denn wir glauben an dich und deine Freunde. Der Anzug wird euch eine große Hilfe in den bevorstehenden Kämpfen sein, aber auch seine Macht hat Grenzen. Er darf euch nicht zum Leichtsinn oder gar zur Überheblichkeit verleiten.

Atlan spürte tiefe Verbundenheit zu den Wesen, die gezwungen worden waren, ihre Heimat zu verlassen und ein Exil in anderen Dimensionen zu suchen.

Blaustrahl: Du brauchst dir unseretwegen keine Sor­

gen zu machen. Wir sind glücklich, denn wir fanden unsere Erfüllung. Jetzt, da wir wis­sen, daß das Ende der Gewaltherrscher be­vorsteht, werden wir unsere Ruhe finden.

Was wird aus euch? Blaustrahl, Goldstrahl und Rotstrahl: Wir verlassen diese Welt, und zwar für

immer. Es wird für dich nicht viel Zeit ver­gehen, dann wird der Kristall verschwunden sein. Wir wünschen dir und deinen Freun-

Horst Hoffmann

den das Glück, das ihr brauchen werdet. Ei­ner von euch ist mit uns artverwandt – viel­leicht begegnen wir uns irgendwann einmal in unseren Räumen …

Noch eine Frage, dachte Atlan. Wieso steht der Kristall genau über dem Schrein?

Blaustrahl: Er war ein energetischer Bezugspunkt.

Erst später fanden wir heraus, daß er wäh­rend unserer Abwesenheit von den Herren der FESTUNG hierhergeschafft worden war. Du mußt wissen, daß wir erst vor einer kurzen Zeitspanne materialisierten. Als wir begriffen, um welches Machtinstrument es sich handelt, umgaben wir den Schrein mit einem energetischen Schild, damit kein Un­befugter den Anzug erhalten und mißbrau­chen konnte.

Wir lesen deine Fragen aus deinen Ge­danken. Sei nochmals gewarnt. Du wirst den Anzug tragen und bald feststellen, daß er dir eine nie gekannte Machtfülle verleiht, aber hüte dich vor Leichtsinn. Das, was ihr »das Goldene Vlies« nennt, ist ein Anzug der Ver­nichtung. Trage ihn und benutze ihn weise!

Atlan starrte in den Kristall, der sich auf­zublähen schien. Feine Strahlen schossen in alle Richtungen, durch den Arkoniden hin­durch, ohne Schaden anzurichten.

Blaustrahl! dachte Atlan konzentriert, aber er hielt keine Antwort mehr.

Der Kristall dehnte sich immer weiter aus, umschloß den Arkoniden, wurde transparent …

Blaustrahl! Und dann ließ das blaue Leuchten nach.

Atlan stand vor dem Schrein, in dem sich der goldschimmernde Anzug befand.

Der Kristall war verschwunden und mit ihm die Wesenheit, die aus einer fremden Dimension gekommen war, um in die Hei­mat zurückzugelangen.

Die Halle war leer. Atlan fröstelte. Lang­sam ging er auf den Schrein zu. Es gab keine unsichtbare Barriere mehr.

Aber er erreichte ihn nicht. Ein ohrenbe­täubendes Gebrüll ertönte hinter seinem Rücken. Atlan fuhr herum. Er sah direkt in

39 Kampf um das Goldene Vlies

das haßerfüllte Gesicht des Gnomen. Bevor er zu einer Gegenwehr fähig war, war Blod­gahn heran.

Atlan wurde von einem furchtbaren Schlag getroffen und einige Meter durch die Halle geschleudert. Sekundenlang tanzten dunkle Schemen vor seinen Augen. Als er wieder sehen konnte, stand der Zwerg über ihm, einen schweren Holzbalken schwin­gend.

Blodgahn holte zum tödlichen Schlag aus.

7.

Kolphyr wurde immer schläfriger. Er spürte das Brennen im Arm nicht mehr – seine ganze linke Körperhälfte schien nicht mehr zu ihm zu gehören.

Der Bera versank in eine tiefe Bewußtlo­sigkeit, während das Gebilde an seinem lin­ken Arm dunkelviolett zu strahlen begann.

Allmählich verschwammen die Konturen. Kolphyrs Arm schien sich in nichts aufzulö­sen.

Und dann war es soweit. Die Luft neben dem Bera begann zu flimmern. Der sichtba­re Teil von Kolphyrs Körper war plötzlich von einem energetischen Schleier eingehüllt.

Das flimmernde Gebilde neben dem be­wußtlosen Riesen nahm Formen an …

8.

Es sah aus wie nach einem Bombenan­griff.

Razamon, Koy und Fenrir standen dicht aneinandergedrängt in dem von Trümmern übersäten Säulengang und warteten auf den nächsten Schub der Mikroroboter. Blodgahn schien über ein unerschöpfliches Reservoir zu verfügen. Immer, wenn sie einen Pulk der winzigen Kugeln zur Explosion gebracht hatten, tauchten zwischen den Trümmern neue auf.

»Noch eine Detonation, und wir stehen im Freien«, brummte Razamon. Er zeigte zur Decke. Sie waren einige Dutzend Meter weit in den Gang hinein geflohen, ohne einen ge­

eigneten Fluchtweg zu finden, der sie in Si­cherheit brachte. Im Gegensatz zu vorhin sa­hen sie nun direkt in den dunklen Himmel, wenn Stücke der Decke herunterkamen. Über ihnen befanden sich keine weiteren Stockwerke mehr.

»Vielleicht ist das unsere Rettung«, sagte Koy, der den Gang vor ihnen nach weiteren Robotern absuchte. Die Broins vibrierten und waren sofort einsatzbereit, wenn neue Angreifer auftauchten.

Razamon stieß einen Pfiff aus. »Du hast recht, Koy. Wenn wir erst ein­

mal im Freien sind, kann uns wenigstens nichts mehr den Schädel zertrümmern.«

Inzwischen hatte jeder von ihnen einige Beulen. Gott sei Dank waren die Steine, von denen sie getroffen worden waren, relativ kleine Brocken gewesen. Aber das konnte sich jederzeit ändern.

Vorsichtig arbeiteten sie sich über Trüm­mer und Balken weiter in den Gang vor. Vielleicht fanden sie doch noch eine Ab­zweigung.

»Ich möchte wissen, ob Atlan Glück hat­te«, murmelte der Pthorer, während er sich mit dem Handrücken über das Gesicht fuhr, um den festklebenden Staub abzuwischen. »Irgendwie müssen wir den Weg zu der Hal­le finden.«

»Und Kolphyr«, erinnerte Koy. »Wir können von Glück reden, wenn wir

ihn lebend wiedersehen. Ich habe ein ver­dammt ungutes Gefühl. Uns hat's diesmal ganz schön erwischt«, Razamon beugte sich zu Fenrir hinab, der am Boden lag und leise winselte. Die Wunde am Hinterlauf war schlimmer, als sie zuerst angenommen hat­ten. Der Wolf brauchte unbedingt Ruhe.

Razamon lachte rauh. »Wir haben uns ein paar geruhsame Stun­

den redlich verdient«, sagte er, als Koy ihn fragend ansah. »Ich fühle mich wie gerädert, Fenrir ist verletzt, dir sieht man die Erschöp­fung von weitem an, und unsere beiden Freunde …«

Der Atlanter sprach nicht aus, als er daran dachte, daß vielleicht auch Atlan inzwischen

40

nicht mehr am Leben war. »Außerdem verlasse ich diesen Prachtbau

nicht, bevor ich ein gründliches Bad genom­men habe und neue Kleider am Körper tra­ge.«

Koy winkte heftig ab. »Dort vorne!« Razamon strengte seine Augen an, aber er

sah die Kugeln erst, als sie schon wieder bis auf wenige Meter heran waren. Er warf sich neben Koy auf den Boden.

Die Explosion brachte die gesamte Decke zum Einsturz. Wieder hagelten die Stein­brocken auf die Freunde herab. Fenrir jaulte gequält. Eine dichte Staubwolke nahm die Sicht.

»Alles in Ordnung, Razamon?« »Mit mir schon, ich glaube es jedenfalls.

Aber Fenrir hat etwas abbekommen.« Vorsichtig richtete der Pthorer sich auf. Der Staub legte sich allmählich. Sie wa­

ren nach allen Seiten hin abgeschlossen. Der Gang war eingestürzt, nur über ihnen klaffte ein mehrere Meter durchmessendes Loch.

»Wir werden klettern«, sagte Razamon. Er zeigte auf eine Trümmerhalde, die sich bis zu einem Rand des Loches in der Decke auftürmt.

»Geh du als erster, Koy, ich kümmere mich um Fenrir!«

Der Androidenabkömmling stellte keine Fragen und lief auf die Trümmer zu. Zwei Minuten später war er oben.

»Was siehst du?« »Nicht viel, Razamon. Wir befinden uns

fast am Rand des Zentralkomplexes. Das Dach ist flach. Wenn wir uns zur Mitte hin orientieren, müssen wir auf die höherliegen­den Stockwerke stoßen.«

»Auf das, was von ihnen übriggeblieben ist«, korrigierte der Atlanter. »Wir kom­men!«

Razamon kniete sich neben den Fenris­wolf, der mit bebenden Flanken am Boden lag und aus einer weiteren Wunde an der Schulter blutete.

Razamon wurde von unbändiger Wut er­faßt. Hätte er Blodgahn jetzt vor sich gehabt

Horst Hoffmann

– er hätte keine Sekunde gezögert, den Gno­men zu töten.

»Dieser Mistkerl«, knurrte er. »Er wird für alles büßen, das verspreche ich dir, mein Guter. Kannst du laufen?«

Fenrir winselte lauter. Er wälzte sich her­um und kam zitternd auf die Beine. Der Wolf humpelte ein paar Meter und brach zu­sammen.

»Ich werde dir helfen, Fenrir. Gemeinsam schaffen wir's!«

Razamon machte sich keine Illusionen darüber, wie schwer es sein würde, Fenrir über die Trümmer nach oben ins Freie zu tragen. Er war neben Kolphyr der einzige, der den schweren Körper des riesigen Wolfes heben konnte.

Fenrir richtete sich erneut auf. Razamon stützte ihn und führte ihn auf die Trümmer­halde zu. Meter für Meter arbeiteten sie sich nach oben.

»Pack ihn!« rief der Pthorer Koy zu, als sie sich nur noch Zentimeter unter dem Rand der eingestürzten Decke befanden. Er selbst schob von unten, während Fenrir mühsam versuchte, das Gleichgewicht zu halten.

»Ich … ich weiß nicht …« rief Koy leise. Er hatte die Angst vor Fenrir immer noch nicht abgelegt.

»Na los! Er beißt dich nicht!« Endlich griff Koy zu und zog den Wolf

am Nackenfell zu sich herauf. Gemeinsam schafften die beiden Freunde es schließlich, ihn auf das. Flachdach zu befördern.

Razamon war außer Atem. Er mußte sich setzen, um zu neuen Kräften zu kommen.

»Wir müssen weiter«, sagte Koy. »Atlan braucht unsere Hilfe.«

»Immer langsam«, wehrte Razamon ab. »Mein Bein brennt wie Feuer. Außerdem scheinen keine Kugeln mehr zu kommen.«

Koy war unruhig. Er sah sich immer wie­der nach allen Seiten um. Der Blick reichte kaum weiter als zwanzig Meter.

»Also gut«, sagte Razamon schließlich. »Versuchen wir unser Glück!«

Fenrir war auf den Beinen. Er humpelte

41 Kampf um das Goldene Vlies

zwischen den Männern über das Dach, bis sich die Umrisse eines rechteckigen Aufbaus aus der Dunkelheit herausschälten.

In den Außenmauern befanden sich etwa drei Meter hohe und einen Meter breite Öff­nungen, die den Eindruck einer großen Säu­lenhalle erweckten. Mehrere Fackeln er­leuchteten einen dahinterliegenden Säulen­gang, der offensichtlich um den ganzen Komplex herumführte.

»Wir können einsteigen«, meinte Raza­mon aufatmend. »Jetzt müssen wir nur noch einen Weg finden, der nach unten führt. Ich schätze, daß wir uns fast genau über der Halle mit dem Schrein befinden.«

»Hoffen wir's«, murmelte Koy. Plötzlich fuhr ein Blitz durch die Dunkel­

heit. Die Männer schlossen geblendet die Augen.

»Was war das?« fragte Razamon benom­men.

»Dort vorne«, rief Koy und zeigte auf ein unnatürlich wirkendes Licht, das sie erst jetzt, als sie sich seitlich von dem Aufbau befanden, sehen konnten.

»Das ist einer der Türme«, sagte der At­lanter. »Aber er ist mindestens fünfzig Me­ter von uns entfernt. Wieso schluckt die Dunkelheit das Licht nicht? Der Turm strahlt!«

»Kolphyr«, murmelte Koy. »Das ist Kol­phyr …«

*

Atlan sah den Balken auf sich zukommen. Für Sekundenbruchteile war er starr vor Schrecken. Blodgahns Grimasse hatte nichts mehr mit einem auch nur entfernt menschli­chen Gesichtsausdruck zu tun.

Im letzten Augenblick warf der Arkonide sich zur Seite. Nur Zentimeter neben seinem Kopf zersplitterte der Balken auf dem harten Boden.

Atlan kam auf die Beine. Mit ein paar Sprüngen brachte er sich in Sicherheit, aber Blodgahn reagierte sofort. Mit gesenktem Kopf rannte er auf ihn zu und rammte Atlan

den Schädel in den Magen. Der Arkonide wurde in die Luft geschleudert und landete auf dem Rücken. Er bekam keine Luft.

Blodgahn erschien über ihm. Der Gnom hob die Faust und holte aus.

»Nein!« krächzte der Zwerg und ließ den Arm sinken. »Du wirst langsam sterben. Ge­nau wie deine Freunde, denn Blodgahn ent­geht niemand!«

Der Gnom hatte plötzlich ein Messer in der Hand. Er kniete über Atlan. Langsam näherte sich die Hand mit der Waffe Atlans Hals.

Woher verfügt der Gnom über diese unge­heuren Kräfte? fragte sich der Arkonide. Blodgahn wirkt wie ein Bündel aus reiner Energie!

»Büßen sollst du für alles, was ihr meinen Lieblingen angetan habt. Die Mutanten wer­den ihre Freude an euren Leichen haben!«

Blodgahn lachte schallend. Das Gefühl des sicheren Erfolgs machte ihn für einige Augenblicke leichtsinnig.

Atlan sah seine Chance und nutzte sie. Ruckartig zog er die Beine an und rammte

die Knie in den Rücken des Zwerges. Blod­gahn schrie wütend auf und verlor die Ba­lance. Atlan schlug ihm die rechte Faust mit aller Wucht ins Gesicht und bäumte sich auf. Blodgahn stürzte zur Seite.

»Das nützt dir gar nichts, du Teufel!« ze­terte der Zwerg, während Atlan auf den Schrein zurannte. Blodgahn war wieder knapp hinter ihm, als er ihn erreichte. Der Arkonide lief um den transparenten Behälter herum und brachte ihn zwischen sich und Blodgahn.

Er sah in die Augen eines Monstrums! Noch nie in seinem langen Leben hatte er soviel Haß im Blick eines Lebewesens gese­hen.

Blodgahn war nicht mehr bei Sinnen! »Du wirst das Goldene Vlies nicht rau­

ben«, krächzte der Gnom außer sich. »Du wirst gar nichts mehr tun!«

Atlan ließ Blodgahn nicht aus den Augen, als er über den Deckel des Schreins tastete. Der Zwerg war sich seiner Sache vollkom­

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men sicher. »Du verlängerst die Qualen nur, Hellhaa­

riger!« Atlan fand den Öffnungsmechanismus.

Ein schneller Blick zeigte ihm, daß sich auf Blodgahns Seite zwei Scharniere befanden. Der Gnom stand direkt vor dem Schrein und holte mit dem Messer aus …

Das Schloß schnappte auf. Ohne zu über­legen, riß der Arkonide den Deckel hoch und schlug ihn Blodgahn vor die Stirn. Der Zwerg war im Handumdrehen wieder auf den Beinen. Atlan griff in den Schrein und zog den Anzug der Vernichtung heraus.

»Nein!« schrie Blodgahn. »Laß ihn los!« Der Gnom stieß den Schrein zur Seite und

sprang Atlan an. Der Arkonide ließ den An­zug fallen und fiel wieder auf den Rücken. Er versuchte, Blodgahns Hände von seinem Körper zu lösen. Die langen Finger des Buckligen krallten sich in seine Haut und rissen tiefe Wunden in das Fleisch. Das Blut schien den Zwerg erst richtig in Raserei zu versetzen. Atlan schlug um sich, aber Blod­gahn ließ sich nicht abschütteln. Er hatte das Messer zwischen die Zähne geklemmt. Die Hände näherten sich Atlans Hals.

Der Arkonide bäumte sich auf, aber Blod­gahn ließ sich nicht noch einmal abschüt­teln.

Atlan hatte es sich im Laufe seines langen Lebens abgewöhnt, Menschen und Angehö­rige fremder Rassen einfach als »gut« oder »böse« einzustufen, auch wenn sie seine Feinde waren. Aber Blodgahn war das Böse selbst.

Atlan hatte keine Skrupel mehr. Mit einer blitzschnellen Bewegung zog er einen Arm unter dem zappelnden Körper des Gnomen hervor und riß ihm das Messer aus dem Mund. Blodgahn schrie schrill auf und warf sich herum, aber das Messer saß bereits in seinem Rücken.

»Hund!« kreischte der Zwerg. »Ich werde …«

Seine Augen verdrehten sich. Blodgahn begann zu zittern. Atlan stieß ihn mit all sei­ner Kraft zur Seite und sprang auf. Er griff

Horst Hoffmann

nach dem Anzug und streifte ihn sich über. Zu seinem Erstaunen schmiegte das leichte Material sich sofort eng an seinen Körper. Der Arkonide fühlte sich schlagartig besser. Neue Kräfte durchzogen seinen geschunde­nen Körper.

Aber auch Blodgahn verfügte über un­glaubliche Reserven. Er zog das Messer, das bis zum Heft in seinem Rücken steckte, her­aus und kam langsam auf den Arkoniden zu.

Er müßte tot sein! durchfuhr es Atlan. Was gibt ihm diese unnatürliche Kraft?

Etwas in Blodgahns Blick ließ Atlan trotz der neuen Energien, die er zweifellos dem Anzug zu verdanken hatte, zurückweichen. Die mahnenden »Worte« Blaustrahls fielen ihm wieder ein.

Hüte dich vor Leichtsinn! Der Gnom näherte sich langsam wie eine

Katze, die sich an ihr Opfer heranschlich. Er sprach kein Wort mehr, aber aus seinen Au­gen sprach der Haß – und noch etwas ande­res: die Entschlossenheit eines Wesens, das nichts mehr zu verlieren hatte.

Achtung! warnte der Extrasinn. Du hast das Goldene Vlies entweiht. Blodgahn hat als Wächter versagt. Er wird bestraft wer­den, wenn es ihm nicht gelingt, dir den An­zug wieder zu entreißen. Er ist jetzt noch ge­fährlicher!

Atlan hatte eines der Portale erreicht. Er sah sich schnell um. Der Gang hinter ihm war verschüttet. Überall lagen herabgestürz­te Steinbrocken, Balken und Eisenstücke herum.

Blodgahn kam näher, langsam, unaufhalt­sam …

»Also schön«, rief der Arkonide und blieb stehen. Blitzschnell bückte er sich und hob eine etwa einen Meter lange Eisenstange auf. »Ich warte auf dich, Blodgahn!«

Der Gnom schrie wild auf und stürmte auf ihn los. Das blutbeschmierte Messer blinkte im Licht der Fackeln.

Atlan holte mit der Stange aus und schlug zu, als der Zwerg heran war.

Blodgahn fing sie mit der Linken auf und riß Atlan zu Boden!

43 Kampf um das Goldene Vlies

Zum dritten Mal kniete der Bucklige auf ihm. Blodgahn riß das Messer in die Höhe und holte aus. Atlan sah das blitzende Eisen über sich. Er warf sich herum, und diesmal wurde der Gnom weit in die Höhe geschleu­dert. Der Anzug verlieh Atlan Riesenkräfte, aber nur langsam gewöhnte der Arkonide sich an die neuen Energien, die ihm zur Ver­fügung standen.

Er fuhr herum, um Blodgahns nächste At­tacke abzufangen.

Es war nicht mehr nötig. Blodgahn lag auf einem der Trümmerhau­

fen und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Aus seinem Mund lief Blut und tropfte auf das bunte Gewand herab.

Er stirbt, meldete sich der Extrasinn. Laß ihn!

Erst jetzt sah Atlan das Spitzeisen, das aus der Brust des Gnomen hervorstach. Blod­gahn hatte sich selbst aufgespießt. Atlan stand fast ratlos vor dem Zwerg. Plötzlich packte ihn das Mitleid – Mitleid mit einem Gestalt gewordenen Teufel.

»Meine Lieblinge«, stieß Blodgahn rö­chelnd hervor. »Wo seid ihr? Meine Lieblin­ge … ich lasse euch nicht im Stich … ich werde euch bitter rächen … die Fremden werden …«

Blodgahn verdrehte die Augen. Seine Hand fuhr zu dem Messer, das einen Meter neben ihm am Boden lag. Er erreichte es nicht mehr.

Der Gnom starrte Atlan an. Er starb so, wie er gelebt hatte: haßerfüllt und einsam.

Fast schlafwandlerisch streifte Atlan den Anzug der Vernichtung ab. Er hatte plötzlich Angst vor dem, was die Bewohner Pthors das Goldene Vlies nannten.

Im gleichen Augenblick gaben seine Bei-ne nach. Der Arkonide sank kraftlos zu Bo­den.

*

»Um Himmels willen«, preßte Razamon hervor, als er den markerschütternden Schrei hörte. Seine schlimmsten Befürchtungen

schienen sich zu erfüllen. »Es kommt von unten«, sagte Koy. »Wir

müssen hinunter, um Atlan zu helfen!« Razamon wirkte unsicher. Er betrachtete

Fenrir, der schweratmend am Boden lag. Sie befanden sich im Innern des Zentralbaus, aber bisher hatten sie keine Treppe finden können, die nach unten führte.

»Wir müssen ihn zurücklassen«, sagte er. Dann beugte er sich zu dem Wolf hinab. »Hab Geduld, Fenrir. Wir kommen zurück, und bald wirst du gesund sein. Wir lassen dich nicht im Stich.«

Der Fenriswolf sah ihn aus seinen uner­gründlichen Augen an und winselte leise. Razamon war sicher, daß er ihn verstand.

»Los, Koy!« Sie liefen los, und nach zwei Minuten hat­

ten sie eine Treppe gefunden. Sie rannten die Stufen hinunter und kamen auf einem breiten Korridor heraus.

»Es ist ruhig«, sagte Koy. »Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.«

Die beiden Freunde lauschten. Plötzlich hörten sie ein dumpfes Geräusch.

»Es kommt von dort!« rief Koy und lief los. Sie erreichten einen Säulengang, der zu einem großen Portal führte.

»Die Halle, Koy! Wir haben es ge­schafft!«

Nur Sekunden später standen sie in dem riesigen Raum, ohne daß sie von neuen Fal­len überrascht worden wären.

Die Halle war leer. »Der Kristall ist verschwunden!« sagte

Koy. »Und der Schrein – er ist umgestürzt und offen!«

Aber Razamon war schon auf dem Weg zu dem links liegenden Portal. Als Koy ihn erreichte, stand er vor Atlan, der wie leblos am Boden lag. In seiner Hand hatte er das Goldene Vlies.

»Blodgahn«, flüsterte Razamon und zeig­te auf den Toten.

Koy kniete neben dem Arkoniden. »Er lebt, Razamon, aber er ist schwach.

Sein Puls geht kaum noch.« »Wie ich bereits sagte«, meinte der Atlan­

44

ter und grinste plötzlich. »Wir alle brauchen Erholung.«

»Und Kolphyr?« fragte Koy. »Wir werden ihn suchen.«

9.

Kolphyr kam nur langsam zu sich. Er schlug die Augen auf und sah sich benom­men um.

Es dauerte eine Weile, bis er begriff, wo er sich befand. Der Turm, die zersplitterte Tür, der lange Korridor …

Schlagartig kehrte die Erinnerung zurück. Kolphyr fuhr sich über den linken Arm.

Nichts! Der Bera kam mit einem schrillen Laut in

die Höhe. Er war noch schwach und taumel­te auf die gegenüberliegende Wand zu, um sich zu stützen.

Wommser! Wo war sein Symbiont? Noch einmal tastete er vorsichtig über den

Arm. Er fühlte nur den rauhen Velst-Schleier. Keine Spur von dem Symbionten. Es war, als hätte er niemals neues Leben an seinem Arm großgezogen.

Kolphyr erinnerte sich daran, wie er in tranceartigem Zustand in den Turm gegan­gen war und sich hingesetzt hatte. Er dachte an das Brennen in seinem Arm, an die wis­pernde Stimme, an das pulsierende Etwas unter dem feinen Häutchen …

Wo war Wommser? Kolphyr ging unruhig in dem runden

Raum auf und ab. Plötzlich wurde er von tiefer Trauer befallen. Er ahnte, daß die Trennung stattgefunden hatte, ohne daß er sie bewußt miterlebt hatte. Vielleicht würde er sein »Kind« niemals wiedersehen. Wohin war Wommser gegangen?

Wohin konnte ein Wesen, das aus Normal und Antimaterie bestand, gehen?

Wommers Worte fielen dem Bera ein: Ich bin ein Stück von dir, für immer, Kol­

phyr … Der Schmerz der Trennung wurde über­

mächtig und unterdrückte jedes rationale

Horst Hoffmann

Denken. Kolphyr trat auf den Korridor hin­aus und suchte nach etwas, von dem er wuß­te, daß er es nicht finden konnte.

Nur sechs Tage waren seit der Begegnung mit dem Vogelwesen vergangen, das seinen Samen in Kolphyrs Velst-Schleier abgelegt hatte. Sechs Tage, in denen ein neues, unbe­greifliches Lebewesen herangewachsen war, ein Wesen, das eigentlich gar nicht existie­ren durfte.

In dem Unterbewußtsein des Beras ent­standen die Bilder seiner Freunde. Er wußte nicht, wo sie sich jetzt befanden, nicht ein­mal, ob sie überhaupt noch am Leben waren.

Die Sehnsucht nach seinem Symbionten überschattete alle anderen Gedanken und Gefühle. Kolphyr setzte einen Fuß vor den anderen, ohne zu wissen, wohin er ging. Er irrte durch teilweise erleuchtete Gänge, ging Treppenstufen hinauf und starrte in die Dun­kelheit, wenn er an ein Fenster kam.

Das Leben des Beras schien plötzlich sinnlos geworden zu sein. Er hatte ein Stück von sich verloren, denn mit dem Symbion­ten war ein Stück seiner geistigen Substanz verlorengegangen.

Kolphyr hatte nie einen Sinn für die Zeit besessen, wie sie von den Geschöpfen dieser Welt gemessen wurde. Trotzdem glaubte er, daß eine Ewigkeit vergangen war, als er das Flimmern bemerkte.

Direkt vor ihm schälte sich eine vertraute Gestalt aus der Luft. Sie erinnerte ihn an das Vogelwesen auf dem Floß.

Wommser! Die Umrisse des Wesens blieben seltsam

verschwommen, als fände es keinen Bezugs­punkt in dieser Welt. Aber plötzlich hörte Kolphyr eine leise Stimme.

Es ist alles gut, wisperte es in Kolphyrs Bewußtsein. Die Trennung ist vollzogen, aber wir werden für alle Zeit verbunden bleiben.

Der Bera war nicht fähig, eine Frage zu stellen.

Du gehörst zu deinen Freunden, sie brau­chen dich! Ich werde bei euch sein, wann immer die Gesetze es zulassen. Suche sie

45 Kampf um das Goldene Vlies

und geh mit ihnen euren gemeinsamen Weg zu Ende. Das ist deine Aufgabe!

Kolphyr wollte nach dem Schemen grei­fen, aber seine Hände fuhren durch die halb­stoffliche Erscheinung hindurch. Sekunden später war Wommser verschwunden. Kol­phyr war wieder allein.

Schmerz und Trauer ergriffen das Anti­materiewesen. Die Gefühle drohten über­mächtig zu werden. Kolphyr trat an eines der Fenster, eine in die Außenmauer gemei­ßelte Öffnung. Viele Meter unter ihm befand sich die breite Treppe. Wenn er jetzt hin­austrat und sich hinunterstürzte …

Du gehörst zu deinen Freunden … Von irgendwoher drang eine bekannte

Stimme an seine Ohren. Es war Razamon. Er rief nach ihm.

Kolphyr setzte sich in Bewegung.

*

Phiancha spürte, wie die mentalen Ströme ihres Herrn nachließen und schließlich voll­kommen versiegten. Sie wußte, daß er tot war.

Phiancha würde ihm folgen. Im Lauf der Zeit hatten die beiden so unterschiedlichen Wesen eine Abhängigkeit voneinander ent­wickelt, die einem Außenstehenden niemals begreifbar sein würde.

Vereinfacht ausgedrückt, brauchte Phian­cha einen Teil der geistigen Substanz ihres Herren, seitdem sie ihn zum erstenmal »angezapft« hatte. Dafür hatte sie ihm treu gedient und war zu seinem verlängerten Arm geworden. Ohne Phiancha hätte Blod­gahn niemals seine Position als Wächter der Dunklen Region festigen können. Er wäre binnen kurzer Zeit ein Opfer der Geschöpfe dieses Landstrichs geworden.

Phiancha spürte, daß mit dem Tod ihres Herrn das Ende einer Epoche gekommen war, wenn sie auch die übergeordneten Zu­sammenhänge nicht begriff.

Das Gefühl unendlicher Trauer drohte die schwarze Riesenfledermaus, die immer noch halb eingekugelt unter der Plane des Pelch­

wagens lag, zu ersticken. Phiancha fühlte, wie die Kraft aus ihr wich.

Sie durfte noch nicht sterben, nicht, bevor die Fremden kamen, die ihren Herrn getötet hatten. Nur sie konnten in der Lage gewesen sein, ihn zu besiegen!

Und sie würden hier erscheinen, um den Pelchwagen zu rauben. Solange mußte Phiancha noch durchhalten.

Das schwarze Monstrum zerriß mit dem spitzen Schnabel einen Teil der Plane und schob sich auf die Fahrerkanzel zu. Direkt über den Sitzen wartete sie. Nur eine zweite, dünnere Plane trennte sie von der Kanzel …

*

Du mußt den Anzug tragen! Noch ist die Gefahr nicht vorbei!

Atlan schlug die Augen auf und sah sich benommen um. Die Erschöpfung ließ schnell nach. Der Arkonide spürte die bele­benden Ströme des Zellaktivators.

Razamon saß neben ihm und grinste. »Gut geschlafen?« fragte er ironisch. Atlan sah Koy und Kolphyr, die hinter

dem Pthorer standen und ihn besorgt muster­ten.

»Sehr geistreich, Atlanter. Wie siehst du denn aus?«

Razamon sah an sich herab. Das Grinsen verschwand von seinem Gesicht.

»Ich brauche ein Bad, und ich schwöre dir, ich werde eins finden, und wenn ich die ganze Ruine durchkämmen muß. Das Beben hat aufgehört, und Blodgahn kann keinen Schaden mehr anrichten.«

Blodgahn! Atlan mußte sich erst an den Gedanken

gewöhnen, daß der Gnom tot war. Er richte­te sich auf und nahm den golden schim­mernden Anzug in beide Hände. Er betrach­tete ihn wie einen unermeßlich wertvollen Schatz.

Die Montur bestand aus vielen kleinen quadratischen Segmenten, die elastisch an­einandergefügt waren und so dafür sorgten, daß der Anzug sich um den Körper des je­

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weiligen Trägers schmiegen konnte. Atlans Hände fuhren über das Material. Es fühlte sich weich und geschmeidig an.

In Höhe der Hüften ragte auf beiden Sei­ten je ein ballförmiger Stummel hervor. Im Gegensatz zu den anderen Teilen der Mon­tur waren sie silbergrau und hart. Atlan hatte noch keine Ahnung, wozu sie dienten. Das gleiche galt für die auf den Schultern sitzen­den antennenförmigen Höcker, die etwa zwanzig Zentimeter lang waren.

Der Helm bestand aus einer Art transpa­rentem, leicht silbern schimmernden Ge­spinst, das äußerst zerbrechlich wirkte, aber, wie Atlan inzwischen wußte, sehr haltbar war. Klobig aussehende Schuhe und Hand­schuhe rundeten das Bild ab – auch sie be­standen aus den kleinen goldfarbenen Seg­menten.

Der Anzug mußte sehr alt sein. Vielleicht, so überlegte Atlan, handelte es sich über­haupt um ein einzigartiges Stück.

Ein Anzug der Vernichtung! Was verbarg sich hinter dieser Bezeich­

nung? »Ich habe das Gefühl, daß du uns eine

Menge zu erzählen hast«, bemerkte Raza­mon ungeduldig.

»Das fürchte ich auch«, stöhnte Atlan. Dann berichtete er von seinem Weg zur Hal­le und von seiner »Unterhaltung« mit der im Kristall materialisierten Wesenheit. Er schil­derte den Kampf mit Blodgahn und das En­de des Zwerges, wobei er nicht verschwieg, daß er nur durch den Anzug die Kraft hatte, ihn zu besiegen.

»Woher hatte der Bucklige diese Kräfte?« fragte Razamon. »Nachdem Kolphyr seinen Stab zerbrochen hatte, wirkte er fast hilflos. Er mußte sich technischer Anlagen und der Mutanten bedienen, um uns in Bedrängnis zu bringen.«

»Ich gehe jede Wette ein, daß er unter dem Einfluß von Drogen stand. Ihr hättet seine Augen sehen sollen. Es war fast wie bei unserer ersten Begegnung mit ihm, als er uns in die Verliese führte. Wir waren unfä­hig, uns gegen ihn aufzulehnen, von ein paar

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jämmerlichen Versuchen abgesehen. Blod­gahn schien etwas auszustrahlen, das unsere Entschlußkraft lähmte. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, daß er nicht über verbor­gene PSIKräfte verfügte. Ich nehme an, daß der Stab für das Phänomen verantwortlich war. Als er mir in der Halle gegenüberstand, hatte ich ein ähnliches Gefühl.«

Razamon schwieg eine Weile. Dann frag­te er:

»Sie teilten dir mit, daß einige von ihnen in der Dunklen Region zurückblieben, als sie ihren Weg in andere Dimensionen antra­ten. Zwei von ihnen überlebten und hatten einen Sohn, eine Mutation …«

Atlan nickte. »Ich weiß, woran du denkst, Razamon,

und ich glaube, du hast recht. Wir sind ihm begegnet, in den Stollen.«

»Dann muß das Monstrum viele hundert, vielleicht einige tausend Jahre alt sein.«

»Vielleicht noch viel älter! Es wird weiter morden, und wenn der Nachschub aus Blod­gahns Verliesen ausbleibt, wird das Unge­heuer eines Tages an die Oberfläche gelan­gen und sich über die Geschöpfe der Dunklen Region hermachen.«

»Das ist unmöglich«, warf Koy ein. »Wir stellten fest, daß die einzelnen Teile des un­terirdischen Stollensystems durch unsichtba­re Barrieren voneinander isoliert sind, Gren­zen, die uns und die Valjaren in den Kerkern nicht betreffen, wohl aber Blodgahn und das Ungeheuer.«

»Hoffen wir, daß du recht hast, Koy.« Razamon war aufgestanden und ging un­

ruhig hin und her, wobei er das linke Bein etwas nachzog.

»Wieder Schmerzen im Zeitklumpen?« »Verdammte Schmerzen«, brummte der

Atlanter. »Es wird Zeit, daß wir von hier verschwinden. Ich nehme an, daß Blodgahn mit dem Pelchwagen hierhergekommen ist. Wir sollten nach ihm suchen.«

»Ich dachte, du wolltest ein Bad nehmen …«

»Das werde ich auch, und zwar sofort. Ihr seht mich erst wieder, wenn ich dieses

47 Kampf um das Goldene Vlies

schmierige Zeug und den Staub los bin. Fenrir kann wieder einigermaßen laufen, ich nehme ihn mit.«

»Und bringe uns neue Kleider mit, wenn du die Garderobe findest! Du kennst ja unse­re Konfektionsgröße!«

Razamon murmelte eine Verwünschung und verschwand. Atlan hörte, wie er eine Treppe hinunterlief.

Er blickte an sich herab. Was sie jetzt am Leib hatten, waren nur noch Lumpen.

Atlan stand auf und zwinkerte Koy zu. »Es sieht so aus, als ginge es langsam,

aber sicher bergauf mit uns. Wir …« Der Arkonide fuhr herum. Erst jetzt be­

merkte er, daß das Gebilde auf Kolphyrs lin­kem Arm fehlte.

»Dein Symbiont, Kolphyr! Ist er …?« »Wommser ist weg, aber da«, sagte der

Bera traurig. Mittlerweile war Atlan in der Lage, Stimmungen aus der schrillen Stimme des fremdartigen Wesens herauszuhören.

»Was soll das heißen: ›ist weg, aber da‹? Und wer ist Wommser?«

Kolphyr gab einen klagenden Laut von sich und begann zu erzählen. Er sprach nun fast perfekt Pthora, die Universalsprache auf Atlantis.

Der Bera berichtete über das, was mit ihm geschehen war, so gut er konnte. Natürlich konnte er nichts über die Zeit aussagen, während er ohne Bewußtsein gewesen war.

Atlan und Koy sahen sich betroffen an. Sie begriffen, was in dem Riesen vorgehen mußte.

Plötzlich war der Bera nicht mehr zu hal­ten. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Atlan und Koy erfuhren, auf welche Weise es das Antimateriewesen hierher ver­schlagen hatte und wie Kolphyr in die Ge­walt der Herren der FESTUNG geriet, die ihn in der Eiszitadelle, der ehemaligen Burg der Zyklopen, neutralisierten und mit einem ausgedehnten Gürtel von Gravitationsfel­dern zusätzlich von der Außenwelt ab­schirmten.

»Du hast uns einige Male vor drohenden Gefahren gewarnt«, überlegte Atlan laut.

»Ich nehme an, daß dein Symbiont, Womm­ser, dafür verantwortlich war …«

»Wommser!« bestätigte der Bera. Atlan zeigte seine Enttäuschung nicht. Wenn Kol­phyr ein Gespür für Gefahren gehabt hätte, wäre er ihnen eine unschätzbare Hilfe gewe­sen, wenn es gegen die FESTUNG ging.

Atlan dachte an Razamons Zeitklumpen, an Bördo und die Worte von Sigurds Boten. Er preßte den Anzug der Vernichtung an sei­ne Brust. Sie waren so nahe an ihrem Ziel wie nie zuvor. Die FESTUNG befand sich nicht mehr weit von ihnen, im Süden. Immer noch wußten sie nicht, wie dieses Machtge­bilde aussah und wer es befehligte.

Es gab keinen Aufschub mehr. Morgen würden sie auf dem Weg nach dem Süden sein.

Atlan wurde bei dem Gedanken an die be­vorstehende Auseinandersetzung unruhig. Er spürte, daß sie mit dem Anzug der Vernich­tung in der Lage waren, den entscheidenden Angriff zu wagen.

Atlantis mußte von der Erde weggeschafft werden. Atlan war sich längst darüber im klaren, was das für ihn bedeutete.

Er würde mit dem Dimensionsfahrstuhl von Terra weggerissen werden, vielleicht zu anderen Welten, vielleicht ins Nichts zwi­schen den Dimensionen.

Es war mehr als fraglich, ob er seine alten Freunde jemals wiedersehen würde – Rho­dan, Tifflor, Gucky, all die Menschen und deren Verbündete, mit denen ein neues Le­ben für ihn begonnen hatte.

Das grausame Schicksal verlangte ein fast übermenschliches Opfer von ihm, aber er hatte keine andere Wahl, wenn er verhindern wollte, daß Pthor seinen grausamen Auftrag erfüllen und die Erde mit Tod und Verder­ben überziehen würde.

Du Narr! schimpfte der Extrasinn. Du bist in Gedanken bereits bei der FESTUNG, und dabei seid ihr noch nicht einmal heil hier heraus. Denke an die Mutanten – und denke daran, daß Blodgahn einen Verbündeten ha­ben mußte, der ihm eure Ankunft an der Teufelsfurche mitteilte und im verriet, wohin

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ihr geflohen wart! Die Mahnung machte dem Arkoniden

klar, daß seine plötzliche Unruhe nicht nur der Aussicht zuzuschreiben war, die Verant­wortlichen in der FESTUNG bald zur Re­chenschaft ziehen zu können. Die Schloßrui­ne begann ihm unheimlich zu werden. Im­mer noch lag Blodgahns Leiche vor den Trümmern, und irgendwo zwischen den Rui­nen hielten sich die Horden der Mutanten auf.

»Wir müssen warten, bis Razamon zurück ist«, brummte der Arkonide. Einem plötzli­chen Impuls folgend, legte er den Anzug der Vernichtung an. So modern die Montur auch wirkte – sie mußte vorne mit Haken und Ösen geschlossen werden, legte sich aber sofort wieder eng an Atlans Körper an.

Die Zeit würde zeigen, was der Anzug zu leisten vermochte. Atlan konnte nicht ahnen, daß er viele hundert Jahre später wieder ei­nem solchen Anzug gegenüberstehen würde, wenn auch unter völlig anderen Vorausset­zungen. Ein Mann namens Alaska Saedelae­re würde ihn tragen, und Atlan würde sich nicht mehr an seinen Anzug erinnern kön­nen.

Atlan spürte augenblicklich die neuen Kräfte, die ihn durchflossen. Sie übertrafen sogar die belebenden Ströme des Zellaktiva­tors.

»Ich kann nur hoffen, daß er sein Bad bald bekommt. Wir könnten's alle gebrau­chen, aber wir haben keine Zeit zu verlie­ren.«

Rein zufällig fing der Arkonide Kolphyrs Blick auf.

»Nein!« stöhnte Atlan. »Nicht schon wie­der!«

»Ich begreife nicht«, sagte Koy. »Sieh dir unseren Freund an. Kaum ist er

nicht mehr schwanger, da entwickelt er auch schon wieder Gefühlsleben. Siehst du nicht, daß er jeden Augenblick auf einen von uns losgehen wird, um zu schmusen?«

»Nein, danke«, stöhnte nun auch Koy. Er trat an das Portal, durch das der Atlanter mit Fenrir verschwunden war und schrie aus

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voller Lunge nach Razamon. In diesem Augenblick flimmerte die Luft

neben Kolphyr. Der Bera fuhr zusammen und strahlte plötzlich über das ganze Ge­sicht.

Direkt neben ihm materialisierte eine halbstoffliche Gestalt, die Atlan sofort an das Vogelwesen auf dem Floß erinnerte. Der Schnabel näherte sich Kolphyrs Ohr und schien ihm etwas zuzuflüstern.

Der Spuk dauerte nur einige Sekunden, dann war die Gestalt verschwunden, als hät­te sie niemals existiert.

»Das war … Wommser?« Kolphyr nickte. Er eignete sich mit der

Zeit auch die Gesten der Gefährten an. »Wommser! Wir müssen heraus. Gefahr,

aber auch Gefahr draußen, im Wagen …« Damit konnte nur der Pelchwagen ge­

meint sein. »Du willst damit sagen, daß Wommser

dich gewarnt hat, Kolphyr?« »Wommser ist immer bei mir, auch wenn

nicht zu sehen. Wommser ist Teil von Kol­phyr!«

Atlans Unbehagen steigerte sich ins Uner­meßliche. Er wußte nur eines: Wenn Raza­mon nicht bald zurück war, würden sie in Teufels Küche geraten.

*

Phiancha kämpfte gegen die Schwäche. Der Schmerz über den Verlust ihrer Sinne war längst der Trauer über den Tod ihres Herrn gewichen. Sie wußte, daß sie ihm fol­gen würde.

Aber der Haß auf seine Mörder erhielt sie am Leben. Sie kämpfte um dieses Leben, denn immer öfter drohten sich andere Ge­fühle in ihr Bewußtsein zu schieben. In sol­chen Augenblicken zweifelte sie daran, daß die Rache noch einen Zweck hatte. Manch­mal war es ihr, als ob mit dem Tod ihres Herrn eine furchtbare Last von ihr abgefal­len war, als ob ihr ganzes Leben verfehlt ge­wesen wäre.

Vielleicht befanden sich die Fremden gar

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nicht im Unrecht, vielleicht waren sie nicht die Mörder, für die sie sie hielt.

Es gelang Phiancha immer wieder, diese Anwandlungen zu unterdrücken, aber es ko­stete sie viel von ihrer Lebensenergie.

Wann endlich würden die Mörder am Pelchwagen erscheinen?

*

Atlan schätzte, daß eine gute Stunde ver­gangen war, seitdem Razamon mit Fenrir auf die Suche nach einem »Bad« und neuen Kleidern gegangen war. Er wurde zuneh­mend ungeduldig.

Dementsprechend war seine Laune. Als er dann den Atlanter vor sich stehen sah, war aller Gram vergessen. Atlan starrte Razamon ungläubig an. Natürlich hatte er nie im Ernst damit gerechnet, daß er das Gesuchte finden würde.

Razamon strahlte förmlich vor Sauberkeit und trug ein braunes Lederwams, dazu enge schwarze Tuchhosen mit einem breiten Le­dergürtel und hochschäftige dunkelbraune Lederschnürstiefel. An der linken Hüfte bau­melte ein kurzes Breitschwert.

»Das darf nicht wahr sein!« stieß der Ar­konide hervor.

Razamon grinste. »Nur kein Neid!« Er öffnete das Leinen­

bündel, das er in der rechten Hand hielt, und warf Atlan ein paar Kleidungsstücke zu.

»Für dich habe ich auch etwas, Koy!« Der Androidenabkömmling machte eine

abwehrende Geste. »Nein, danke, meine Sachen sind noch ei­

nigermaßen in Ordnung.« »Na, dann nicht«, meinte der Atlanter und

zuckte die Schultern. Atlan zog den Anzug der Vernichtung aus

und entledigte sich seiner Lumpen. Minuten später trug er die neue Kleidung. Die einzel­nen Stücke glichen denen Razamons aufs Haar. Atlan legte dann den Anzug der Ver­nichtung sofort wieder an.

»Wir fanden einen Brunnen in einem ver­borgenen Innenhof der Ruine«, erklärte Raz­

amon. »Fenrir und ich wuschen uns den Schleim und den daran klebenden Staub ab. Es war reiner Zufall, daß wir auf dem Rück­weg die Kleider und das Schwert fanden.«

»Dann hält uns hier nichts mehr«, vermu­tete Atlan mit leicht sarkastischem Unterton.

»Nichts mehr, wir können aufbrechen, bald wird es Nacht werden«, sagte der Ptho­rer. »Fenrirs Wunden sind versorgt, so gut es ging. Nun müssen wir nur noch den Pelchwagen finden.«

»Und heil hier herauskommen«, fügte At­lan hinzu.

»Zweifelst du daran?« Atlan murmelte etwas Unverständliches.

*

Es war Nacht in der Dunklen Region, und die Dunkelheit war vollkommen.

Atlan, Razamon, Koy und Kolphyr hatten jeder eine Fackel in der Hand. Die Sicht reichte kaum zehn Meter weit.

»Es ist wahrscheinlich, daß Blodgahn uns folgte«, vermutete Atlan. »Das heißt, daß er den Pelchwagen am Eingang des Tales ab­gestellt hat, wo auch wir in die Senke ein­drangen.«

»Wir können uns an der Treppe orientie­ren«, sagte Razamon. Die Freunde redeten nur soviel, wie unbedingt nötig war. Sie hat­ten zwar ohne Zwischenfall die Ruine ver­lassen können, aber wieder legte sich dieser seltsame Bann einer von allem Leben verlas­senen Landschaft auf ihr Bewußtsein.

Hin und wieder fanden sie Formationen in der Landschaft, die ihnen bekannt vorka­men, sie befanden sich auf einem Pfad, aber ohne deutliche Anhaltspunkte würden sie früher oder später von ihrem Weg abkom­men.

Razamon hatte die Führung übernommen. Langsam stieg das Gelände an. Die Bü­

sche und Ranken warfen im spärlichen Licht der Fackeln gespenstische Schatten.

»Wir sind auf dem richtigen Weg«, ver­kündete der Pthorer. »Wenn unsere Annah­me stimmt, werden wir bald den Pelchwa­

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gen sehen.« »Traust du dir zu, das Ding zu steuern?« »Das werden wir sehen, wenn wir ihn ge­

funden haben.« Sie marschierten weiter durch die Dunkel­

heit. Endlich erreichten sie das Ende des Ta­les. Sie mußten klettern, rutschten auf glit­schigen Steinen aus und rappelten sich wie­der auf.

»Dort ist er!« stieß Razamon aus. »Wir hatten recht!«

Atlan dachte an das, was Kolphyr sagte, nachdem Wommser neben ihm materialisiert war.

Gefahr, aber auch Gefahr draußen, im Wagen …

Der Pelchwagen schälte sich aus der Dun­kelheit. Er glich mit der über das Chassis ge­spannten Plane einer überdimensionalen Raupe.

»Seid vorsichtig«, warnte Atlan die Ge­fährten.

*

Phiancha spürte ihre Nähe. Noch einmal kehrten die Lebensgeister zurück.

Der Kampf der widerstrebenden Gefühle wurde immer heftiger.

In wenigen Augenblicken würden sie hier sein und versuchen, die Fahrerkanzel aufzu­brechen. Phiancha zweifelte nicht daran, daß es ihnen gelingen würde.

Wieder drohten die Zweifel den Willen zur Rache zu lähmen. Phiancha wehrte sich mit ihren letzten Energien dagegen.

Sie hatten die Katzen getötet und ihrem Herrn unvorstellbare Schmerzen zugefügt, sie hatten sie, Phiancha, zum Krüppel ge­macht, und sie hatten ihren Herrn getötet.

Aber war es nicht so, daß ihnen keine an­dere Wahl geblieben war? Hatten sie den Kampf nicht aufnehmen müssen, um zu überleben? Die Gedanken waren furchtbar. Je müder sie wurde, desto stärker wurden die Zweifel. Längst vergessene Erinnerun­gen drangen an die Oberfläche ihres Be­wußtseins, Erinnerungen aus der Zeit, als sie

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Blodgahn, ihren Herrn, noch nicht gekannt hatte …

*

»Verdammt!« knurrte Razamon. »Er ist verschlossen. Ich kann weder die Plane hochziehen noch die Kanzel öffnen, wenn es eine Kanzel ist.«

»Du mußt es versuchen«, drängte Atlan. »Der Mechanismus muß irgendwo versteckt sein.«

Nach etwa zehn Minuten hatte Razamon Glück. Er sprang zurück, als der schwarze Schild am Kopf des Wagens aufschwang. Lichter flammten auf und beleuchteten das Innere der Kanzel. Atlan trat hinzu und sah eine breite Sitzbank, die ihm, Razamon und Koy bequem Platz bot. Kolphyr und Fenrir würden unter der Plane mitfahren müssen.

»Wir brauchen keine Rücksicht mehr zu nehmen«, sagte Atlan und zeigte auf die Pla­ne. »Nimm das Schwert.«

»Mit Vergnügen!« Razamon schnitt das leinenartige, stinkende Material auf und schaffte einen Einstieg für Kolphyr und Fenrir. Kolphyr zog den Wolf ins Innere des Wagens.

Sie stiegen in die Kanzel und nahmen hin­ter den Kontrollinstrumenten Platz. Von in­nen war das, was von draußen wie ein schwarzer Schild aussah, transparent. Die Landschaft vor ihnen war in unnatürliches Licht getaucht, das sie draußen nicht wahr­genommen hatten.

»Strahlen«, vermutete Razamon, »vergleichbar mit unserem Infrarotlicht, aber sie durchdringen selbst die Dunkelheit dieser Region.«

»Warte noch«, flüsterte Atlan, als Raza­mon sich an den Kontrollen zu schaffen machte. Die Anordnung der Steuerungsele­mente glich der auf der Kontrollsäule eines Zugors. »Wir sind nicht allein, ich spüre es …«

»Verdammt, du …« Hinter ihnen drang etwas durch die Plane,

die die Kanzel vom eigentlichen Innenraum

51 Kampf um das Goldene Vlies

des Pelchwagens abtrennte. Der Stoff wurde von oben nach unten aufgeritzt.

Eine schwarze Klaue schob sich in die Kanzel, dann eine Art Arm, an dem ein Stück lederartige Haut schlaff herabhing.

Die Klaue zitterte heftig. Koy und Raza­mon fuhren zur Seite und wichen dem aus, was sie für einen Arm gehalten hatten. Jetzt schoben sich weitere Spreizknochen aus der Plane, und der riesige schwarze Flügel einer Fledermaus kam zum Vorschein.

Razamon hatte das Schwert in der Hand, aber Atlan hielt ihn zurück.

»Warte, ich glaube … es stirbt!« Ein weiterer Ruck ging durch die Klaue,

dann fiel der Lederflügel schlaff auf die Sitzbank. Die Plane teilte sich, und ein schwarzes Monstrum fiel in die Kanzel.

Koy drängte sich angeekelt zur Seite. »Es ist tot, Koy«, versuchte der Arkonide,

ihn zu beruhigen. »Es hat auf uns gewartet, und ich möchte wetten, daß es Blodgahns geheimnisvoller Helfer war.«

»Wir werfen die Fledermaus hinaus«, brummte Razamon und griff zu.

Phiancha landete zwischen Dornenbü­schen und Steinen. Weder Atlan noch Raza­mon oder Koy ahnten etwas von dem inne­ren Kampf, den die Mutation mit sich ausge­tragen hatte. Haß und Zweifel hatten sich bis zuletzt die Waage gehalten, und am Ende war es jene seltsame Aura gewesen, die von dem hellhaarigen Fremden ausging, die Phiancha die Kraft zur Rache genommen hatte. Im Gegenteil hatte sie plötzlich nur noch das Bedürfnis gehabt, mit ihnen Kon­takt aufzunehmen, denn sie fühlte, daß sie viele Jahre lang im Dienst ihres Herrn großes Unrecht begangen und vielen Kreatu­ren Leid zugefügt hatte.

Aber die Fremden reagierten nicht auf ih­re mentalen Anrufe.

Phiancha starb nicht als Monstrum. Sie war davon überzeugt, den Atem einer neuen Epoche gespürt zu haben.

Der Pelchwagen setzte sich in Bewegung, nachdem Razamon herausgefunden hatte, wie er zu steuern war. Der Atlanter hielt das Gefährt an, als sie die Kuppe eines Hügels erreichten.

In der Ferne sahen die Freunde ein dun­kelrotes Glühen. Es erstreckte sich im Süden über den ganzen Horizont.

»Das ist das entscheidende Signal«, ver­kündete der Atlanter.

»Du weißt, was für ein Licht das ist?« fragte Atlan erstaunt. »Es durchdringt die Dunkelheit dieser Region …«

»Die Straße der Mächtigen«, murmelte Razamon. »Es ist das Zeichen. Ragnarök hat begonnen, die Götterdämmerung …«

Eine Weile lang betrachteten sie schwei­gend das Licht, und Atlan versuchte, sich auszumalen, was in diesen Augenblicken bei der Straße der Mächtigen vorging.

»Wir warten bis zum Morgen«, entschied er schließlich. »Dann brechen wir in Rich­tung der FESTUNG auf. Wir werden den Angriff wagen.«

Razamon nickte. »Wir werden nicht allein sein, Atlan.« Der Arkonide versuchte, ihn zum Reden

zu bringen, aber Razamon schwieg beharr­lich.

Atlan dachte an die Odinssöhne, obwohl er nicht wissen konnte, daß sie sich der FE­STUNG von der anderen Seite her näherten.

Aber auch anderswo bahnten sich wichti­ge Entscheidungen an. Ganz Pthor war in Aufruhr, aber die entscheidende Weiche im Kampf um die FESTUNG wurde vielleicht dort gestellt, wo man am wenigsten damit rechnete:

In der Großen Barriere von Oth, dem Sitz der Magier …

ENDE

E N D E