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Valerie Fritsch Herz- klappen von Johnson & Johnson Roman Suhrkamp

kap01 1. - Suhrkamp Verlag · ein Schweigen beibringen konnte. Und immer gab es zum Abschluss Kaffee und Torte, so fett, dass die Sahne beinahe schon Butter war, oder so trocken,

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Valerie Fritsch

Herz- klappen von Johnson & Johnson

Roman Suhrkamp

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Valerie Fritsch

Herzklappen vonJohnson & Johnson

Roman

Suhrkamp

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Die Arbeit am Roman wurde durch das Grenzgänger-Programm der Robert Bosch Stiftung und des Literarischen

Colloquiums Berlin gefördert.

Erste Auflage © Suhrkamp Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

ISBN ----

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Zum Gedenken an Ilse

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Die Geschichte der Menschheitist die Geschichte des Schmerzes.

Vladimir Nabokov

Tomorrow belongs to those who can hear it coming.David Bowie

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I

Alma war ein ungeduldiges Kind, das nicht verlierenkonnte, bei Brettspielen betrog, lieber schrie als schwieg,die Hände oft zu Fäusten ballte, die auch im Schlaf seltenaufgingen. Das Elternhaus war immer leer, kathedralisch,zu groß für einen kleinen Menschen. In der Wohnstubehing ein riesenhaftes Gemälde mit Weintrauben, so le-bensecht, dass im Sommer die Vögel durch die offenenFenster in den Raum flogen und versuchten, sie von derLeinwand zu picken. So still war es, dass einen schon dasleiseste Geräusch erschreckte, und wenn das Telefon klin-gelte, dachteman stets, es läutete im eigenenKopf. An denheißen Tagen beschäftigten Alma die Vogelstimmen imGarten, dann stand sie draußenunter denBäumenund hör-te dem unsichtbaren Orchester mit angehaltenem Atemzu, aber sooft sie es auch probierte, zum Nachsingen wa-ren die Tonfolgen nicht geeignet. Mit jedem Jahr, das sieälter wurde, erschien siemehr auf derWelt.Mit jedem Jahrwurde sie sichtbarer auf ihr, wuchs in die eigenen Formen,nahm ihren Platz ein, hineingeboren ins Fragen und in dieLücke, die auf der Welt war, bevor ein Mensch sie füllte.DieWirklichkeit des Hauses, in dem sie wohnte, erschienihr bald als eine, auf die man sich nicht verlassen konnte.Sie beobachtete, wie die Eltern durch die Räume geister-ten,malMutter undVater spielten, dann das liebende Ehe-paar gabenundhinundwiederBesuch empfingen, für den

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sie lachten. Mit demGroßvater aß man sonntags manchesMal gemeinsam imGarten zuMittag, bei stockenden Ge-sprächen, mit Spritzwein und kleinen Käfern, die aus dengroßenBäumen in die Suppe fielenwiePfefferkörner.Wannimmer Alma ihre Eltern mit dem alten Mann sah, dachtesie, dass man den Menschen anstelle einer Sprache auchein Schweigen beibringen konnte. Und immer gab eszum Abschluss Kaffee und Torte, so fett, dass die Sahnebeinahe schon Butter war, oder so trocken, dass manscherzte, das Gebackene würde einem zu den Ohren her-ausstauben, je nachdem, ob es aus der Küche der Mutteroder aus der Konditorei kam; und es gab Kinderspiele.Noch viele Jahre später erinnerte sich Alma, wie sie an trä-gen Sonntagnachmittagen die Finger und nackten Zehender Anwesenden mit einem Reim abzählte und stets insStolpern geriet und verwirrt innehielt,wenn sie beimGroß-vater angekommen war, weil sie an seinem rechten Fußbloß drei Zehen fand. Dass womöglich nicht nur an demalten Mann etwas fehlte, aber es überall mehr gab, als mansie sehen ließ, wurde für Alma ein vager Gedanke, ein un-bestimmtes Kindheitsgefühl, dem sie sich nicht entziehenkonnte. Stets fühlte sie sich um etwas betrogen, von demsie nicht recht wusste, was es war – als prallte sie ab ander Wirklichkeit. Selbst die Früchte in den Schalen desgroßen Zimmers waren aus Kristall, durchsichtig und sohart, dass man sich die Zähne ausbeißen konnte an ihnen.Ihr Zuhause schien ihr mitunter beängstigend kulissen-haft, es war keine Scheinwelt, aber brüchig zusammenge-zimmert,wackelig und unstimmig in denEinzelheiten, alswären sie nur geborgt. In jeder Ecke stieß sie auf Kleinig-keiten, die nicht zueinanderpassten und dem prüfenden

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Blick nicht standhielten, leise umfielen, wenn man sie zulange ansah. Manche verschwanden ganz, andere kamenwieder in veränderter Gestalt oder ungenügend maskiert.Man schwieg mit offenem Mund. Unterhaltungen erstar-ben, wählte man auch nur ein einziges falsches Wort, dasman nochMinuten zuvor für unverdächtig gehalten hatte.Eine Sorge tauchte plötzlich als Ärger auf, eine Geste derZuneigung lief ins Leere, ein harmloser Satz wurde zumVorwurf, ein Lachen misslang und verwandelte sich ineinenweggedrehtenKopf.Manches verschob sich beinaheunmerklich, blieb sich selbst aber ähnlich genug, so dassman nur kurz stutzte und dann darüber hinwegsah. DieGefühle schienen künstlichundunbeständig und ärgertenden Kinderblick. Es war, als hätten alle Menschen in Al-mas Leben etwas zu verbergen, die Eltern und die Groß-eltern, deren Verhältnis untereinander und zurWelt so ge-spannt war, dass man es gerade noch ertrug. Alma wurdedie Idee nicht los, dass man für sie Theater spielte. In je-dem Zimmer war eine Bühne errichtet für die endlosenVorstellungen, in denen alle ihr Bestes gaben und stetsheimlich enttäuscht davonwaren, dass der Applaus für ih-re Mühen ausblieb. Die Rollen waren von unsichtbarenKräften zugewiesenworden, undUnsicherheiten kompen-siertemanmit Vehemenz. AlsAlma größer wurde, dachtesie, wie erschöpfend es sein musste, im eigenen Lebens-werk nicht Regie zu führen, sondern darin nur mitzuspie-len, in einem Lehrstück ohne Pause, die einen erlöste, oh-ne Vorhang, der je fiel. Maschinen der eigenen Biographie,die Lebenslügen produzierten, sich mal als diese, mal alsjene Version ihrer selbst ausgaben. Müde Marionetten miteinem schwarzenFleck auf demHerzen, die um ihrLeben

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spielten, sich immerzu bückten, aber sich nie verbeugendurften.

Die Eltern stritten nur in der Nacht, im Schutz der Dun-kelheit, als würden sie glauben, die späten Stunden verbär-gen sie vor der Welt. Oft stand Alma lauschend an derTür, ein kleines Gespenst mit bloßen Füßen, ein blassesKind in blassen Kleidern, das erst laute Schritte oder jeneMüdigkeit, die einen innen und außen frieren ließ, zurückins Bett trieb. Sie verstand nichts und riss die Augen auf,so weit sie konnte, um besser zu hören, aber vernahmdoch nur das erstickte Auf und Ab der Stimmen und dieAtemlosigkeit, wennman einander dasGesagte nicht glau-ben wollte. Die Eltern sprachen wie Fremde hinter ver-schlossenen Türen, und gerne hätte sie die weißen Holz-flügel aufgerissen und nachgesehen, ob sie mit den neuenRedeweisen auch ein anderes Gesicht trugen. Denn in derNacht waren die Regeln des Tages aufgehoben.War AlmasVater tagsüber ein unauffälliger Mann, der sich den Ord-nungssystemen der Mutter mit einer irritierenden Dank-barkeit unterwarf, stets lieber Knecht als Herr, so dasses einem leichter fiel, ihn zu vergessen, als an ihn zu den-ken, so wurde er nachts laut und traurig. Die Mutterschwieg zur Verteidigung, und man hörte ihre Schmallip-pigkeit durch die Wände. Sie war eine penible Person ineinem klinisch sauberen Haus, in dem sie jeden Dienstagdie Regale abstaubte, bevor die Putzfrau jeden Mittwochkam. Eine Frau, stets kontrolliert und immer so freund-lich, als müsste sie etwas nicht nur gut, aber wiedergutma-chen, ungeeignet für jeden Streit, denn Vorwürfe und an-dereMeinungenmachten sie erst untröstlich, dann krank,

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und wie zur Strafe hungerte sie und schluckte für Tagenur ihre Seufzer hinunter, ansonsten keinen Bissen. DieWelt um sie herum war so sorgfältig organisiert, dass Un-vorhergesehenes darin keinen Platz fand und darum erstgar nicht geschah. So kam es, dass Alma nicht nur dieNächte voll Streit aufmerkwürdigeArt undWeisemochte,aber auch jene seltenen, in denen dieMutter schlafwandel-te. Es waren magische Momente der Unordnung,Verstö-ße gegen die von ihr selbst aufgestellten Gesetzmäßigkei-ten, die Alma mit eigenartiger Befriedigung beobachtete.Die reservierte, stets kontrollierte Mutter wurde zur Ir-ren imNachthemd, derAlma, aufgeschreckt von einemun-gewöhnlichen Geräusch, staunend folgte. Das Weiß desStoffes leuchtete ihr denWeg. Es war eine hemmungsloseVerwandlung. Der Mutter stieg in dunklen Nächten derMond zu Kopf, durchbrach ihre Gefasstheit und machtesie planetensüchtig, fiebrig und außerirdisch. Er öffneteihr die Augen und zog ihr die Lider an den Wimpernhoch, bis ein starrer Blick hervorkam, der ins Leere sah.Er ließ sie aufstehen aus dem Ehebett und führte sie wieeine Mondpuppe an unsichtbaren Fäden durch das nächt-liche Haus, auf labyrinthischen Bahnen und die Teppich-muster in denKorridoren entlang. Auf seinGeheiß öffnetesie Türen und stand in Schränken, nahm sie die Kuchen-teller aus der Vitrine und ließ sie im Kreis um sich herumfallen, als deckte sie einen Tisch. Sie griff nach jedemLichtschein, wanderte durch den eigenen Garten und je-nen des Nachbarn, holte man sie nicht schnell genug zu-rück. Sie gingmit sicheremTritt, stieß unbeeindruckt gegenMauerkanten und Regentonnen, Obstbäume und Zaun-pfähle, stürzte manchmal die Treppen und manchmal die

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Straßehinunter und kehrte erst an derHanddes Vaters insBett zurück. Einmal lief sie bis zum Friedhof und standvor einem fremden Grab, weiß wie eine Kerze, bis einnächtlicher Spaziergänger sich zu Tode erschrocken andie Polizei wandte, die sie nach Hause begleitete. Stetsschlief sie weiter, als wäre nichts geschehen, und kammorgens zu sich, mit winzigen Kratzern und blauen Fle-cken, aber ohne Erinnerung. Als Kind jubelte Alma überdie kleinen nächtlichen Vorstellungen, klatschte in dieHände über die verrückteMutter, die sich selbst ähnlicherschien unter Mondeinfluss, unverkrampft, beinahe fröh-lich und selbstbestimmt. Auch mochte Alma die Schauer-geschichten des Vaters, die er ihr ein ums andere Mal er-zählte, um sie zu gruseln, und auch seine Enttäuschung,wenn sie sich nicht genug fürchtete. Mit großem Ernst be-richtete er von den schlaftrunkenenNachbarn seinesKind-heitsortes, die meinten Gespenster zu sehen, wenn sienachts, geweckt von den Schritten der Somnambulen, amFenster standen und in ihrer Angst zum Gewehr griffenund auf die weißen Gestalten im Mondschein schossen,so dass man mit dem ersten Licht des Tages einen Totenim Schlafanzug am Wegesrand fand. Einen Nachtikarus,sagte der Vater am Ende jeder Geschichte missbilligend,einen, der demMond zu nahe gekommenwar.AberAlmamochte dieMondsucht der Mutter und auch ihre Vergess-lichkeit und war froh, dass sie am Tag nach ihren lunati-schenWanderungen stets lebte, wenn auch zurückverwan-delt und beschämt von den Taten, die man ihr berichtete.Nur einmal verschwieg man sie ihr, als Alma mitten inder Nacht aufwachte, weil das dunkle Haus erfüllt warvon Musik. Im Wohnzimmer saß die Mutter nackt am

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Klavier und spielte Der Lindenbaum aus Schuberts Win-terreise, mit großen Augen und Gänsehaut auf den Brüs-ten, die Beine weit gespreizt.

Ansonsten hörteman seltenGeschichten im großenHaus,es wurde nicht viel gesprochen und nicht viel gefragt.Wenn doch, gab es in diesen frühen Jahren anstelle vonEr-klärungen stets Stille als Reflex, als wäre sie eine gültigeAntwort auf alle Kinderfragen. Es herrschte ein Schwei-gen, dasman entlarvenwollte, eine Stille, die zornigmach-te. Jedes Kind spürt die Lüge im Ungesagten. Und dieAngst.Wenn man klein ist, fürchtet man sich vor der un-sichtbaren Welt, dem Verborgenen und Verstellten, vordiesem einen Ort, den man sich ausdenkt und hinter ver-schlossenenTüren vermutet, vollerGeister,Monster, Frem-der, dieman nicht beweisen kann, undVertrauter, die mannicht wiedererkennt. In jeden Spalt und in jede Dunkel-heit füllt man das Vorgestellte. Die Schlüssellöcher sinddie Schatten der weitaufgerissenen Münder der Kinder,die hinter den Türen auf die Geheimnisse der Erwachse-nen warten. Man wird mit einerWirklichkeit ausgestattetals Kind, die man nicht mehr loswird. Alma war ein unge-duldiges Kind, das die angebotenen Erzählungen mit ih-ren Fehlern und Widersprüchen oft nicht überzeugten.Die Lebensgeschichten ihrer Großeltern und Eltern ver-wirrten sie vor allem anderen, es warenundeutliche, unver-ständliche Biographien voller Lücken, ein inkohärenterZeitstrahl, auf dem sie sich nicht zurechtfand. Sie fühlteeine innere Erfahrung, die nicht mit der äußeren Wirk-lichkeit übereinstimmte, ein fremdes, unleugbaresWissenvon Dingen, die ihr selbst nicht widerfahren waren. Zu

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schüchtern, um Fragen zu stellen, hielt sie in jedem Ge-spräch Ausschau nach einem Baustein, einer Einzelheit,einem Stück Welt, mit dem sie die Zwischenräume füllenund die Brüche erklären könnte. Der Ehe der Elternmiss-traute siemit den Jahrenmehr undmehr, beargwöhnte de-ren schonenden, aber gleichgültigen Umgang miteinan-der, und immer war sie sich unsicher, ob die Mutter undder Vater zu viel oder zu wenig voneinander wussten.Nur in den nächtlichen Auseinandersetzungen erahntesie eine Art Liebe – das, was sie gewesen, und das, wassie geworden war. Der Großvater kam sonntags zu Be-such, wie es sich gehörte, ließ die Nähe mit aufeinan-dergepressten Lippen über sich ergehen und bekam zu je-dem Abschied für die zu Hause gebliebene Großmutterein Stück Kuchen eingepackt. Der Grat zwischen einemSchweigen und dem, was man noch sagen durfte, warschmal. Seine Geschichte war der Krieg, und sie wurdenur erzählt, wenn es sich nicht vermeiden ließ, hinter vor-gehaltener Hand, in ritualisierter Form, einer verdrehtenChronik folgend, die es mit dem Anfang und dem Endenicht so genau nahm. Sie klang immer falsch und war soverwirrend, dass man die Opfer und die Täter verwech-seln konnte und die Tage- mit den Geschichtsbüchern,wenn man nicht scharf mitdachte. Seine Geschichte be-gannmal hier und mal dort und klang, als wäre der Groß-vater kein aktiver Teil davon gewesen, als hätte er die be-schwerlichen Zeiten nicht selbst gelebt und als wäre ihmder Krieg, der immer noch nicht richtig zu Ende schien,bloß zugestoßen.Wie ihm die Zehen fehlten am Körper,fehlten dem Bericht die Einzelheiten und die Jahreszah-len. Nichts wünschte sich Alma mehr in diesen Gesprä-

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chen als einenAugenblick derKlarheit und hoffte ein umsandere Mal, dass jemand aus der Rolle fiele und brüllendaufspringen würde, um in höchster Erregung zu fragen,wie es denn nun wirklich gewesen war, und ahnte schon,dass dieserWunsch wohl nicht in Erfüllung gehen würde.Am besten merkte sich Alma die großen, gleichgültigenWörter des Krieges, sie waren im Übermaß vorhanden,wurden wie Versatzstücke herumgeschoben, waren schwerwie Steine, wennman sie imKopf abwog.AlsKind saß sieunter dem Tisch und hörte zu, später saß sie so still dabei,dass sie die Erwachsenen nicht bemerkten, sammelte Be-griffe ein, Gewehr und Bombe und Soldat und Frieden,und führte in Gedanken ein kleines Wörterbuch der ent-rückten Vergangenheit, in dem sie manchmal nachschlug,wenn sie die Gegenwart nicht gut genug verstand. Esdauerte viele Jahre, bis das Gehörte Sinn ergab, und wäh-rend Alma während des Tages über Zusammenhänge nach-dachte oder sie vergaß, träumte sie nachts von diesemKrieg in klaren und klirrenden Bildern. Es war, als hättenihr die Großeltern ihr eigenes Schicksal in den Doppel-helixsträngen der DNA weitergegeben, als hätten sie ihrdas Dunkel der Luftschutzkeller und die Kälte der Frontin denLeib gepflanzt, als hätten sie imKörper derEnkelindie komatöse Stille der Kriegstage zwischen den Bomben-angriffen haltbar gemacht, einen unbestimmten Hunger,eine unbestimmte Last. Als hätte ihr die Großmutter eineingestürztes Haus vermacht und der Großvater die Erin-nerungen seiner Soldatenjahre und seinerGefangenenjah-re vererbt. Und auch tagsüber kam es vor, dass sie voreinem grauenHimmelmeinte die Bomben von damals fal-len zu sehen, für eine Sekunde nur, alswären sie ihr auf die

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Netzhaut tätowiert.Manchmal schien ihr, sie habe unfrei-willig ein Erbe angetreten, von dem sie nicht genau wuss-te, worin es bestand.

Jahre später, als sie lange erwachsen war, las sie beim Zahn-arzt in einemMagazin von einem Experiment, in demmanMäusen beibrachte, sich vor dem Geruch von Kirschblü-ten zu fürchten; die wiederum gaben ihre Angst vor demBlütenduft an ihre Jungen weiter. Sie kamen mit erfah-rungsbasiertem Wissen ohne Erfahrung zur Welt. Nichtnur die Erbsubstanz, aber die Erinnerungen ihrer Elternsteckten ihnen in den Knochen, einem genetischen Ge-dächtnis gleich. Alma stellte sich vor, wie die neugebore-nen Mäuschen in einem Labor vor den prächtigen Blütensaßen und bangten, ohne zu wissen, warum, als bereite ih-nen nur deren Schönheit Entsetzen.

Auch von der Kindheit und Jugend der Eltern hörte Almanur inNebensätzen, auf den Topos der müdenMütter undcholerischen Väter stieß sie erst später in den Geschichts-büchern. Sie waren aufgewachsen in einem Krieg, den esnicht mehr gab, der auf der Welt, aber nicht in den Men-schen zu Ende gegangen war, in einem Schattenkrieg,einer verrutschten Wirklichkeit, die man nicht loswurde.Sie waren groß geworden in Haushalten der Unverfüg-barkeit, in denen jedes Kinderleid zu klein war, um ernstgenommen zu werden, weil es nicht heranreichte an dieschmerzhaften Erfahrungen der Kriegsgeneration. Einverbrannter Finger, ein aufgeschlagenesKnie, einAlptraumwaren nicht der Rede wert gewesen, für dergleichen hattees nur zerstreutes Unverständnis und im besten Fall halb-

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herzigen Trost gegeben, wurde die Mutter nicht müde zuerklären, wann immer sie sich pflichtbewusst über die ge-schundenen Finger, Knie und Träume ihres Kindes beugte.Als Alma größer wurde, erkannte sie, dass in der Kindheitder Eltern die Erwachsenen immer fern gewesen waren.Der Vater war früh Waise geworden, ohne Erinnerungenan die leiblichen Eltern, aber mit vielen Verwandten, durchderen Hände er gegangen war. Den Ort des Heranwach-sens derMutter stellte sich Alma vor wie ein Puppenhaus,ein Wimmelbild der Sorge. Sie schaute von oben herab indie kleinen Zimmer mit den großen Menschen, die selbstauf engstem Raum weit weg voneinander schienen, mitnach innen gerichtetem Blick, sah es hell und dunkel wer-den um sie herum, sah den Großvater ohne Zehen, wieihm die Kinder eine FlascheWein brachten, die Großmut-ter, wie sie in einer Ecke saß und unter Kopfschmerzenlitt, die nie vergingen. Sie sah, wie sie die Kinder zu vor-sichtigen, stillen Wesen heranzog, die nicht stören solltenin dieserWelt, kleinenMenschen, diemit großer Ernsthaf-tigkeit vermieden, eine Last zu sein, aber versuchten, jenediffuse Traurigkeit auszugleichen, die stets in der Luft lag.Sie sah, wie die Mutter als kleines Kind sich für ein frem-des Lächeln die abenteuerlichsten Geschichten ausdachte.Wie sie rot wurde vor Anstrengung, das Richtige zu tun.Wie sie sich fürchtete, dass es das Falsche war.Wie sie soviele Blumen für die Eltern pflückte, dass die Sträuße kei-nen Platz fanden in den Vasen.Wie sie die Erwachsenenscheu berührte, wenn sie schliefen, weil sie es sich sonstnicht traute.Wie sie spürte, dass das Wichtigste in ihremLeben sich zugetragen hatte, bevor sie auf dieWelt gekom-men war.