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Kapitel VIII: Die Anfänge der Jesusüberlieferung M it dem Galaterbrief haben wir die Besprechung des corpus Paulinum im letz- ten Kapitel abgeschlossen. Damit haben wir alle 13 Schriften im Kanon des Neuen Testaments kennengelernt, die unter dem Namen des Paulus verfaßt sind (ganz unabhängig davon, ob sie nun von Paulus stammen oder nicht). Mit dem Tod des Paulus und des Petrus in Rom – möglicherweise 64 n.Chr. im Zusam- menhang mit dem Brand Roms 1 – endet das sogenannte »apostolische Zeitalter«, und es beginnt das »nachapostolische Zeitalter«. Damit ändern sich für die christ- lichen Gemeinden die Rahmenbedingungen: Mit dem Aussterben der Apostel und insbesondere der Jünger Jesu fehlen nun solche Personen, die selbst noch Kontakt zu Jesus gehabt hatten, mehr und mehr. Mögen einige dieser Jünger auch ein ho- hes Alter erreicht und über die sechziger Jahre hinaus gelebt haben, das betraf nur noch eine verschwindende Minderheit der Gemeinden. In allen andern machte sich nun ein Bedürfnis fühlbar, das es so bisher nicht gegeben hatte: Man wollte Informationen über Jesus in schriftlicher Form. Hinzu kommt ein zweites Ereignis, das einen entscheidenden Wendepunkt für die jüdische Geschichte, aber auch ein wichtiges Datum für die Geschichte des frühen Christentums darstellt: Die Eroberung und Zerstörung Jerusalems im Jahr 70. Die Bedeutung für die jüdische Geschichte ist hier nicht unser Thema. Für die christlichen Gemeinden bedeutet das Datum das faktische Aus für die Urgemeinde in Jerusalem 2 und damit eine völlig neue Situation: Das Verbindungsglied nach Palästina fehlte auch in dieser Hinsicht, und damit auch das Verbindungsglied zu Jesus und seiner Welt. Umso dringender mußte in dieser Zeit die schriftliche Fixierung der bis dahin mündlich tradierten Nachrichten von Jesus erscheinen. 1 Zum Brand Roms vgl. oben im Kapitel IV in dem Paragraphen 28 über den Kaiser Nero (54–68), S. 215–219. 2 Zur Auswanderung der Urgemeinde nach dem Tod des Herrenbruders Jakobus und noch vor dem Beginn der Belagerung Jerusalems im Jahr 68 vgl. oben in Kapitel III, Paragraph 11 die Seiten 90–91. Eine Darstellung des jüdischen Krieges mit reichen Quellenbelegen bietet Schürer I in § 20: „The Great War with Rome“ auf den Seiten 484–513.

Kapitel VIII: Die Anfänge der Jesusüberlieferung · 3 Im Original steht irrtümlich Intens tät. 4 Erich Gräßer: Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien

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  • Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    Mit dem Galaterbrief haben wir die Besprechung des corpus Paulinum im letz-ten Kapitel abgeschlossen. Damit haben wir alle 13 Schriften im Kanon desNeuen Testaments kennengelernt, die unter dem Namen des Paulus verfat sind(ganz unabhngig davon, ob sie nun von Paulus stammen oder nicht). Mit demTod des Paulus und des Petrus in Rom mglicherweise 64 n. Chr. im Zusam-menhang mit dem Brand Roms1 endet das sogenannte apostolische Zeitalter,und es beginnt das nachapostolische Zeitalter. Damit ndern sich fr die christ-lichen Gemeinden die Rahmenbedingungen: Mit dem Aussterben der Apostel undinsbesondere der Jnger Jesu fehlen nun solche Personen, die selbst noch Kontaktzu Jesus gehabt hatten, mehr und mehr. Mgen einige dieser Jnger auch ein ho-hes Alter erreicht und ber die sechziger Jahre hinaus gelebt haben, das betraf nurnoch eine verschwindende Minderheit der Gemeinden. In allen andern machtesich nun ein Bedrfnis fhlbar, das es so bisher nicht gegeben hatte: Man wollteInformationen ber Jesus in schriftlicher Form.

    Hinzu kommt ein zweites Ereignis, das einen entscheidenden Wendepunkt frdie jdische Geschichte, aber auch ein wichtiges Datum fr die Geschichte desfrhen Christentums darstellt: Die Eroberung und Zerstrung Jerusalems im Jahr70. Die Bedeutung fr die jdische Geschichte ist hier nicht unser Thema. Fr diechristlichen Gemeinden bedeutet das Datum das faktische Aus fr die Urgemeindein Jerusalem2 und damit eine vllig neue Situation: Das Verbindungsglied nachPalstina fehlte auch in dieser Hinsicht, und damit auch das Verbindungsgliedzu Jesus und seiner Welt. Umso dringender mute in dieser Zeit die schriftlicheFixierung der bis dahin mndlich tradierten Nachrichten von Jesus erscheinen.

    1 Zum Brand Roms vgl. oben im Kapitel IV in dem Paragraphen 28 ber den Kaiser Nero(5468), S. 215219.

    2 Zur Auswanderung der Urgemeinde nach dem Tod des Herrenbruders Jakobus und noch vordem Beginn der Belagerung Jerusalems im Jahr 68 vgl. oben in Kapitel III, Paragraph 11 die Seiten9091. Eine Darstellung des jdischen Krieges mit reichen Quellenbelegen bietet Schrer I in 20:The Great War with Rome auf den Seiten 484513.

  • 328 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    Damit kommen wir zu einem dritten Phnomen, der sogenannten Parusiever-zgerung : Jesus hatte mit seiner Predigt vom nahen Ende die eschatologischenErwartungen seiner Anhnger aufs uerste gesteigert. Es ist klar, da in dem Au-genblick, in dem die Erfllung dieser Erwartungen nach Jesu Tod mehr und mehrverzog, der Gemeinde daraus ein drckendes Problem erwachsen mute, das umso beunruhigender war, als ja Jesu Predigt in erster Linie und mit ungeheurer In-tensitt3 mit dem nahen Weltende konfrontiert hatte. Die Ereignisse von Osternund Pfingsten mgen die eschatologisch-apokalyptischen Erwartungen noch umeiniges gesteigert haben. In dieser eschatologischen Hochstimmung lebte die l-teste Gemeinde eine Weile fort. Das Ende aber blieb aus! Dann meldete sich dieaus solcher fehlgeschlagenen Erwartung erwachsende Problematik zu Wort, erstzgernd, dann immer deutlicher.4

    Wir werden in diesem Kapitel daher in Paragraph 43 die Zerstrung Jerusalemsbehandeln, sodann in dem Paragraphen 44 unsere Kaiser auf den aktuellen Standbringen, indem wir uns mit Vespasian befassen, bevor wir uns dann kurz in Para-graph 45 der Geschichte der Erforschung des synoptischen Problems zuwenden,um schlielich die Spruchquelle Q ( 46) und das Markusevangelium ( 47) zubehandeln.

    43 Die Zerstrung Jerusalems

    Die Zerstrung Jerusalems im Jahr 70 ist eine Folge des Kriegs, der unter demKaiser Nero im Jahr 66 begann.5 Dieser Krieg gegen die Rmer wiederumwar eine spte Folge des berhmten census des Quirinius, den Lukas in seinemEvangelium mit der Geburt Jesu in Bethlehem in Zusammenhang bringt.6 Beidiesem census formierte sich der Widerstand gegen Rom in Form der von Josephusbeschnigend so genannten vierten Philosophie, der radikalen Partei der Zeloten,die im Jahr 66 mit dem Beginn des Krieges gegen die Rmer endlich ihr Zielerreichen.7

    3 Im Original steht irrtmlich Intens tt.4 Erich Grer: Das Problem der Parusieverzgerung in den synoptischen Evangelien und in der

    Apostelgeschichte, BZNW 22, Berlin/New York 31977 (erste Auflage 1956), S. 216.5 Nero war damals in Griechenland auf seiner berhmten Reise unterwegs, vgl. oben in Kapitel

    IV den Paragraphen 28 ber Nero, hier die Seiten 219221.6 Zu den lukanischen Synchronismen und zu dem census des Quirinius vgl. oben im Kapitel II,

    Paragraph 5, besonders die Seiten 2930.7 Wir haben uns mit dieser Gruppe schon in Kapitel II ber Jesus genauer befat, vgl. den

    Paragraphen 6 ber die jdischen Gruppen in Palstina, Seite 4950.

  • 43 Die Zerstrung Jerusalems 329

    Die Zeloten waren der Auffassung, da man Steuern an den Kaiser nicht zah-len drfe. Schon der Grnder der Zeloten hielt den census fr Knechtschaft undmeinte, es [sei] eine Schande . . . fr den Juden, einen anderen Herrn ber sichzu erkennen als den Herrn Zebaoth; dieser aber helfe nur denen, die sich selberhlfen. Wenn nicht viele seinem Ruf zu den Waffen folgten, und er nach wenigenMonaten auf dem Blutgerst endigte, so war der heilige Tote den unheiligen Sie-gern gefhrlicher als der Lebende. Er und die Seinigen gelten den spteren Juden. . . als die vierte Schule; damals hieen sie die Eiferer, spter nennen sie sich dieSicarier, die Messermnner. Ihre Lehre ist einfach: Gott allein ist Herr, der Todgleichgltig, die Freiheit eines und alles. Diese Lehre blieb, und des Judas Kinderund Enkel wurden die Fhrer der spteren Insurrektionen.8

    Wir knnen im Rahmen dieser Vorlesung die geschichtliche Entwicklung nichtim einzelnen verfolgen, die schlielich in dem Krieg mndete, der im Jahr 66begann, sondern mssen uns auf die Zerstrung Jerusalems beschrnken.9

    Den Anla des Krieges bot Gessius Florus, ein Nachfolger des Pontius Pilatus,der letzte der Procuratoren in Juda (6466).10 Wre er ein Braunbr gewesen, ht-te der Ministerprsident dieses schnen Landes ihn wohl als Problembren einge-stuft;11 man tritt ihm jedenfalls nicht zu nahe, wenn man ihn als Problemstatthal-ter bezeichnet. Er hatte nach all seinen Rubereien zuletzt auch den Tempelschatzum die betrchtliche Summe von 17 Talenten erleichtert und damit eine Reakti-on der Jerusalemer Bevlkerung herausgefordert: Sofort ergriff tiefe Bestrzungdas Volk. Es lief im Tempel zusammen, rief mit durchdringendem Geschrei denNamen des Kaisers an und bat instndig um Befreiung von der Gewaltherrschaftdes Florus. Einige aber von den aufrhrerisch Gesinnten brachen in schlimmsteBeschimpfungen gegen Florus aus, sie reichten einen Korb herum und betteltendamit um milde Gaben fr den ach, so armen und elenden Florus.12

    8 Theodor Mommsen: Rmische Geschichte V 515 (Theodor Mommsen: Rmische Geschichte.Vollstndige Ausgabe in acht Bnden. Achtes Buch: Lnder und Leute von Caesar bis Diocleti-an. Zweiter Teil. Boden- und Geldwirtschaft der rmischen Kaiserzeit, Band 7, Darmstadt 31984,S. 215).

    9 Eine immer noch lesenswerte Darstellung bietet Mommsen im zitierten Band V seiner rmi-schen Geschichte: 11. Kapitel: Juda und die Juden (a. a. O., S. 188250).

    10 Zu Gessius Florus vgl. Schrer I 470: The last of the procurators, Gessius Florus (A.D. 6466)was also the worst. . . . Josephus is at a loss for words to describe the baseness which characterizedhis administration.

    11 Die Anspielungen stammen aus der ersten Auflage dieser Vorlesung aus dem Jahr 2006; derim Text erwhnte Ministerprsident dieses schnen Landes ist mithin nicht mit dem gegenwrtigenMinisterprsidenten identisch, wie sich dem Kenner der bayerischen Geschichte leicht erschliet . . .

    12 Josephus: Bellum Iudaicum II 294295. Im griechischen Original: ,

  • 330 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    Der Statthalter reagierte wie die amerikanischen Truppen im Irak: Er lie Tei-le von Jerusalem vernichten, setzte zufllig ausgewhlte Bewohner gefangen undlie sie am Kreuz hinrichten, um ein abschreckendes Exempel zu statuieren. Wirkennen das aus den tglichen Nachrichten aus dem Irak zur Genge: Die Ge-samtzahl derer, die an jenem Tag ums Leben kamen, betrug einschlielich Frauenund Kinder denn auch vor dem Kindesalter machte man nicht Halt ungefhr630. Was das Unglck erschwerte, war die bis dahin unbekannte Grausamkeit derRmer; denn Florus vollbrachte damals, was vor ihm keiner gewagt hatte: er lieMnner von ritterlichem Stand vor seinem Richterstuhl geieln und ans Kreuz na-geln, die zwar ihrer Abstammung nach Juden waren, aber eine rmische Wrdebekleideten.13

    Dies geschah am 16. Artemisius (entspricht unserem April/Mai) des Jahres 66.Dies also ist das Datum des Beginns des Jdischen Krieges.14

    Die Aufstndischen eroberten die Festung Masada, und in Jerusalem wurdedas tgliche Opfer fr den Kaiser eingestellt: The suspension of the sacrifice for theemperor was tantamount to an open declaration of revolt against the Romans.15

    In Jerusalem begann die Auseinandersetzung zwischen den Friedensfreunden Knig Agrippa II.16, seine Schwester Berenike, die Hohenpriester und Teile derPhariser und den Aufstndischen; die Friedensfreunde aber waren nicht inder Lage, den Gang der Dinge zu ndern. Schlielich gelangte ganz Jerusalem indie Hand der Aufstndischen und auch die rmische Besatzung wurde vertriebenbzw. ermordet.

    . - . (Text und bersetzung nach folgender Ausgabe: FlaviusJosephus: De Bello Judaico. Der Jdische Krieg, Griechisch und Deutsch, Band I: Buch IIII, her-ausgegeben und mit einer Einleitung sowie mit Anmerkungen versehen von Otto Michel und OttoBauernfeind, Darmstadt 31977, S. 240241.)

    13 Josephus: Bellum II 307308. Der griechische Text lautet: - , , . - , , . (Michel/Bauernfeind, a. a. O., S. 242243.)

    14 Vgl. Schrer I 485.15 Schrer I 486.16 Zu Agrippa II., dem Sohn des uns aus Kapitel III (vgl. oben S. 93 mit Anm. 5 sowie S. 99)

    bekannten Agrippa I., vgl. Schrer I 471483. Er hie mit vollem Namen Marcus Iulius Agrippa undregierte von 50 n. Chr. bis in die 90er Jahre des Jahrhunderts ber Gebiete im Norden von Galilaund Teile Galilas.

  • 43 Die Zerstrung Jerusalems 331

    Das rief den Statthalter von Syrien, Gaius Cestius Gallus, auf den Plan. Er mar-schierte mit der zwlften Legion und befreundeten Hilfstruppen insgesamt meh-reren Zehntausend Soldaten im Herbst gegen Jerusalem und bezog Lager aufdem Berg Skopus gegenber der Stadt. Er konnte die Stadt jedoch nicht einneh-men und zog sich zurck. Auf dem Rckweg geriet er in arge Bedrngnis: Er muteTeile seiner Ausrstung zurcklassen, um sein Leben und das Leben seiner Soldatenzu retten.

    Die Regierung in Rom nahm die Dinge ernst, wie sie es waren. Anstatt desProkurators wurde ein kaiserlicher Legat nach Palstina gesandt, Titus Flavius Ves-pasianus, ein besonnener Mann und ein erprobter Soldat. Er erhielt fr die Krieg-fhrung zwei Legionen des Westens, welche infolge des Parthischen Krieges sichzufllig noch in Asien befanden, und diejenige syrische, die bei der unglcklichenExpedition des Cestius am wenigsten gelitten hatte, whrend die syrische Armeeunter dem neuen Statthalter Gaius Licinius Mucianus Gallus war rechtzeitig ge-storben durch Zuteilung einer anderen Legion auf dem Stand blieb, den sie vor-her hatte. Zu diesen Brgertruppen und deren Auxilien kam die bisherige Besat-zung von Palstina, endlich die Mannschaften der vier Klientelknige der Komma-gener, der Hemesener, der Juden und der Nabater, zusammen etwa 50 000 Mann,darunter 15 000 Knigssoldaten. Im Frhling des Jahres 67 wurde dieses Heer beiPtolemais zusammengezogen und rckte in Palstina ein.17

    Die Kriegsfhrung des Vespasian war eher zgerlich: Im ersten Kriegsjahr 67beschrnkte er sich ganz auf Operationen in Galila. Dort war er mit dem Kom-mandeur der gegenerischen Truppen namens Josephus konfrontiert den NamenFlavius bekam dieser erst infolge der zu schildernden Ereignisse , der ihm dieKaiserwrde prophezeite.18 Mommsen charakterisiert die rmische Kriegsfhrungals weder glnzend noch rasch. Vespasian verwendete den ganzen ersten Feldzug(67) darauf, die Festungen der kleinen Landschaft Galila und die Kste bis nachAskalon in seine Gewalt zu bringen; allein vor dem Stdtchen Jotapata19 lager-ten die drei Legionen fnfundvierzig Tage. Den Winter 67/68 lag eine Legion inSkythopolis an der Sdgrenze von Galila, die beiden anderen in Caesarea.20

    Die folgenden Manahmen gingen noch langsamer vonstatten, da die Aktivit-ten des Vespasian immer wieder durch Nachrichten aus Rom zum Erliegen kamen.Zuerst starb im Jahr 68 Nero, dann folgten mehrere Kaiser kurz hintereinander, am

    17 Theodor Mommsen, a.(Anm. 7)a.O., S. 231233 (d. i. Rmische Geschichte V 532534).18 Zum Verhltnis des Vespasian zu Josephus vgl. den folgenden Paragraphen 44.19 Die Verteidigung dieser Stadt wurde von Josesphus persnlich geleitet; er beschreibt die Belage-

    rung ausfhrlich in Bellum III 145339. Damals Sommer 67 geriet Josesphus dann in rmischeGefangenschaft, die er sich durch seinen prophetischen Ausspruch zu erleichtern wute.

    20 Theodor Mommsen, a. a. O., S. 233 (d. i. Rmische Geschichte V 534).

  • 332 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    Schlu wurde Vespasian selbst zum Kaiser ausgerufen. So kam es, da die Revo-lutionre in Jersualem von auen ungestrt von 66 bis 70 die Stadt beherrschten.Doch schon im Winter 67/68 brach in der Stadt ein furchtbarer Brgerkrieg aus.It may have been at this time, if not earlier, that the Christian community fledfrom Jerusalem. They left the city as a result of divine guidance and travelledto the Gentile, and therefore undisturbed, city of Pella in Peraea.21 Damit en-det die Geschichte der Urgemeinde im Zusammenhang mit dem Jdischen Kriegsptestens im Jahr 68.

    Als Vespasian im Sommer 68 die umliegenden Gebiete unter seine Kontrollegebracht hatte und die Belagerung Jerusalems beginnen wollte, traf die Nachrichtvom Tod Neros in Palstina ein. Damit war von Rechts wegen das dem Legaten[Vespasian] erteilte Mandat erloschen und Verspasian stellte in der Tat, politischnicht minder vorsichtig wie militrisch, bis auf neue Verhaltungsbefehle die Ope-rationen ein.22 So blieb Jerusalem auch im Jahr 68 unbehelligt, denn bis von demneuen Kaiser Galba Instruktionen eintrafen, war der Sommer vorbei.

    Im Sommer 69 wurde Vespasian selbst zum Kaiser ausgerufen und damit vondem Kriegsschauplatz abgezogen. Er hinterlie die Aufgabe der Eroberung Jerusa-lems seinem Sohn Titus. Zu bloer Blockade konnte der junge Feldherr sich nichtentschlieen; eine mit vier Legionen in dieser Weise zu Ende gefhrte Belagerungbrachte ihm persnlich keinen Ruhm, und auch das neue Regiment brauchte eineglnzende Waffentat. Die Stadt, sonst berall durch unzugngliche Felsenhngeverteidigt, war allein an der Nordseite angreifbar; auch hier war es keine leichteArbeit, die dreifache, aus den reichen Tempelschtzen ohne Rcksicht auf die Ko-sten hergestellte Wallmauer zu bezwingen und weiter innerhalb der Stadt die Burg,den Tempel und die gewaltigen drei Herodestrme einer starken, fanatisierten undverzweifelten Besatzung abzuringen. . . . Aber die berzahl und die Kriegskunstentscheiden fr die Rmer. Die Mauern wurden erstrmt, darauf die Burg Anto-nia; sodann gingen nach langem Widerstand erst die Tempelhallen in Flammen aufund weiter am 10. Ab (August) der Tempel selbst mit allen darin seit sechs Jahrhun-derten aufgehuften Schtzen. Endlich wurde nach monatelangem Straenkampfam 8. Elul (September) auch in der Stadt der letzte Widerstand gebrochen und dasheilige Salem geschleift.23

    Damit war zwar der Jdische Krieg noch lange nicht zu Ende Festungen wieMasada wurden erst Jahre spter erobert , aber in Rom begannen schon die Fei-

    21 Schrer I 498; die Quelle ist Euseb: Kirchengeschichte III 5,23; die Datierung auf den Winter67/68 bleibt eine plausible Hypothese.

    22 Theodor Mommsen, a. a. O., S. 234 (d. i. Rmische Geschichte V 535).23 Theodor Mommsen, a. a. O., S. 235236 (d. i. Rmische Geschichte V 536537).

  • 43 Die Zerstrung Jerusalems 333

    erlichkeiten. Im Jahr 71 feierten Vespasian und Titus gemeinsam den Triumph inRom. (Der heute noch zu besichtigende Bogen des Titus wurde allerdings erst sp-ter errichtet.) Josephus hat die rmischen Feierlichkeiten im Buch VII des BellumIudaicum ausfhrlich geschildert.24

    Abb. 1: Iudaea capta25

    Insbesondere auf Mnzen wurde der Sieg verewigt. Eine solche Mnze ist hierabgebildet. Auf diesem Mnzbild sieht man links unter einem Palmbaum mitFrchten [sitzend] trauernd eine verschleierte Jdin, den Kopf in die Rechte ge-sttzt. Rechts steht ein zurckblickender Jude, die Hnde auf den Rcken gebun-den. Vor ihm ein Joch.26 Das abgebildete Exemplar ist erst zur Regierungszeitdes Kaisers Titus im Jahr 80/81 geprgt. Doch vergleichbare Motive mit der Auf-schrift Iudaea capta finden sich schon ab dem Jahr 71 auch auf Mnzen des KaisersVespasian.27

    24 Josphus: Bellum VII 123162.25 Die Photographie ist folgendem Buch entnommen: Otto Paul Wenger: Rmische Kaisermn-

    zen, Orbis Pictus 63, Bern & Stuttgart 1975, Abb. 16. Die Aufschrift lautet: Iud(aea) cap(ta) s(enatus)c(onsulto).

    26 Otto Paul Wenger, a. a. O., S. 34.27 Vgl. etwa M. McCrum & A. G. Woodhead: Select Documents of the Principates of the Flavian

    Emperors including the Year of Revolution, Cambridge 1961, Nr. 44 aus dem Jahr 71.

  • 334 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    44 Vespasian (69 n. Chr. 79 n. Chr.)

    Titus Flavius Vespasianus1 wurde am 17. November 9 n. Chr. in Falacrinae bei

    Reate geboren. Sein Vater Flavius Sabinus war Zollpchter, seine Mutter Ves-pasia Polla die Tochter eines Offiziers ritterlichen Standes. Vespasian selbst heirateteFlavia Domitilla und hatte zwei Shne, die beide seine Nachfolger werden sollten:Titus, geboren 39, Kaiser 7981, und Domitian, geboren 51, Kaiser 8196.

    Bevor wir uns etwas eingehender mit Vespasian als Kaiser beschftigen, mssenwir noch kurz auf die Phase zwischen dem Tod des Nero und dem Regierungsan-tritt des Vespasian eingehen, das sogenannte Vierkaiserjahr.

    Das Vierkaiserjahr 68/69 n. Chr.

    Der Begriff Vierkaiserjahr2 bezeichnet das Jahr 69 n. Chr., in dem vier Kai-

    ser z. T. gleichzeitig, z. T. in schneller Abfolge, das rm.[ische] Reich regier-ten (Galba; Otho; Vitellius; Vespasianus) . . . .3

    Servius Sulpicius G.[alba], aus altpatrizischem Geschlecht, 5 v. Chr. geb.[oren],Galbawar seit Tiberius als Legat in Aquitanien, Germanien und Spanien ttig. Bei dergroen Unzufriedenheit, die im Reiche gegen Neros Regierung herrschte, riefenihn die spanischen Legionen 68 als Kaiser aus. Die Prtorianer erkannten ihn an.Er war aber der Lage nicht gewachsen. Als die untergermanischen Legionen Vitelli-us erhoben und die ber seine Sparsamkeit emprten Prtorianer ihn fallen lieen,wurde er Anfang 69 ermordet.4 Diese wenigen Zeilen gengen in einem kleinenWrterbuch der Antike, den ersten der hier zu behandelnden Kaiser darzustellen.

    1 Information zu Vespasian bietet Werner Eck: Art. Vespasianus, DNP 12/2 (2003), Sp. 125130. Vgl. auch Egon Flaig: Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im rmischen Reich, Histori-sche Studien 7, Frankfurt 1992, S. 356416. Eine Biographie des Kaisers: Barbara Levick: Vespasian,London/New York 1999.

    Epigraphische und numismatische Quellen zu Vespasian bieten M. McCrum & A. G. Woodhead:Select Documents of the Principates of the Flavian Emperors including the Year of Revolution,Cambridge 1961.

    2 Vgl. Walter Eder: Art. Vierkaiserjahr, DNP 12/2 (2003), Sp. 204205. Zu dieser Phase derrmischen Geschichte ist vor allem heranzuziehen Egon Flaig: Den Kaiser herausfordern: Die Usur-pation im rmischen Reich, Historische Studien 7, Frankfurt 1992, S. 210410.

    Die folgenden Ausfhrungen sind aus meinem einschlgigen Text aus dem Erlanger Repetitoriumvom Sommersemester 2005 herbergenommen, der unter www.neutestamentliches-repeti-torium.de zugnglich ist.

    3 Walter Eder, Sp. 204.4 Hans Lamer/Paul Kroh: Wrterbuch der Antike, KTA 96, Stuttgart 7. Aufl. 1966, S. 174, s. v.

    Galba. Genauere Informationen sowie Literatur zu Galba bietet Werner Eck: Art. Galba, DNP 4(1998), Sp. 746747.

  • 44 Vespasian (69 n. Chr. 79 n. Chr.) 335

    Man kann daraus hochrechnen, wieviele Zeilen dereinst der gegenwrtigen Bun-deskanzlerin gewidmet sein werden . . . Dies jedoch ist im Moment unsere Sorgenicht.

    Marcus Salvius O.[tho], aus einem rm.[ischen] Geschlecht, das erst seit dem OthoEnde der republikanischen Zeit bekannt ist, 32 n. Chr. geb.[oren], Freund Neros.Nach dessen Tod strzte er, gesttzt auf die Garde, den 1. ThronprtendentenGalba. Von Vitellius, dem Prtendenten der rheinischen Legionen, bei Cremonabesiegt, ttete er sich 69. Biographie bei Plutarch und Sueton.5

    Aulus V.[itellius], 15 n. Chr. geb.[oren], lebte in seiner Jugend bei Tiberius auf VitelliusCapri und war dann Legat in Afrika, 68 schlo er sich an Galba an, der ihn zumLegaten Germaniens ernannte. Von den rheinischen Legionen wurde er Jan.[uar]69 in Kln als Kaiser ausgerufen. Er besiegte den von den Prtorianern zum Kaiserernannten Otho, wurde vom Senat anerkannt, vermochte aber die Mistnde imReich nicht zu beseitigen. Vielmehr verprate er in kurzer Zeit ungeheure Summenund sucht sie durch gewaltsame Erpressungen wieder einzubringen. Die syrischenund gyptischen Legionen riefen deswegen Vespasian zum Kaiser aus. V.[itellius]wurde 69 bei Bedriacum (in Oberitalien) geschlagen. Seine Anhnger wurden nie-dergemacht, er selbst wurde unter Qualen gettet (Tacit. hist. II 3).6

    Die Karriere des Vespasian

    Vespasians Karriere ist durch militrische Kommandos bestimmt. So nahm erschon unter Kaiser Claudius am Britannienfeldzug teil. Narcissus verschaffteihm von Kaiser Claudius das Kommando ber die legio II Augusta, die V.[espasian]von Obergermanien nach Britannien fhrte, wo er an der Eroberung teilnahm . . . .Seine Erfolge brachten ihm, obwohl nur Praetorier, die Thriumphalornamente . . .und zwei Priestermter.7

    Den Durchbruch brachte freilich erst sein Kommando im Jdischen Krieg,das ihm Nero in Achaia im Winter 66/67 bertragen hatte. Wir haben uns im vo-rigen Abschnitt schon genauer mit seiner bedchtigen, aber beraus erfolgreichenKriegfhrung in Palstina beschftigt.

    Wir greifen daher hier nur einen Zug aus dieser Phase seiner Karriere heraus, sei-ne Begegnung mit Josephus, dem fr die Zeitgeschichte des Neuen Testaments so

    5 Lamer/Kroh, a. a. O., S. 410. Genauere Informationen sowie Literatur zu Otho bietet WernerEck: Art. Otho, DNP 9 (2000), Sp. 107108.

    6 Lamer/Kroh, a. a. O., S. 624. Einzelheiten bietet Werner Eck: Art. Vitellius II 2, DNP 12/2(2003), Sp. 260261.

    7 Werner Eck, a. a. O., Sp. 125126.

  • 336 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    Abb. 1: Der Kaiser Vespasian8

    unschtzbar wichtigen jdischen Historiker. Josephus berichtet darber in seinemWerk ber den Jdischen Krieg.9 Seine weitschweifige Erzhlung knnen wir hiernicht besprechen. Aber auch rmische Historiker nehmen auf dieses Ereignis Be-zug. Ich zitiere den Bericht des Sueton10:

    et unus ex nobilibus captivis Iosephus, Und einer seiner adeligen Kriegsgefan-genen, Josephus,

    cum coiceretur in vincula, versicherte, als man ihn in Ketten legte,constantissime asseveravit mit Entschiedenheit,fore ut ab eodem brevi solveretur, da er bald von ihm freigelassen wrde,verum iam imperatore. allerdings von ihm als Kaiser.

    8 Die Photographie der Mnze des Vespasian ist dem Buch von Peter Robert Franke: RmischeKaiserportrts im Mnzbild. Aufnahmen von Max Hirmer, Mnchen 1961, Nachdruck 1968, Abb.12 entnommen. Es handelt sich bei der Mnze um einen Sesterz, der 71 in Rom geprgt wurde.Die Aufschrift lautet: Imp(erator) Caes(ar) Vespasian(us) Aug(ustus), p(ontifex) m(aximus), tr(ibunicia)p(otestate), p(ater) p(atriae), co(n)s(ul) III.

    9 Josephus: Bellum III 393ff.10 Sueton: Divus Vespasianus 5,6 (Cai Suetoni Tranquilli opera, Band I: De vita Caesarum libri

    VIII, hg. v. Maximilian Ihm, BibTeu, Stuttgart 1978 [Nachdr. der Ausgabe von 1908], S. 298,Z. 1619).

  • 44 Vespasian (69 n. Chr. 79 n. Chr.) 337

    Josephus wurde als wahrer Prophet erwiesen, als Vespasian in der Tat Kaiserwurde. Damit hatte er sein Glck gemacht: Er wurde freigelassen und bekam alsFreigelassener das nomen gentile des neuen Kaisers, der mit vollem Namen TitusFlavius Vespasianus hie. Daher kennen wir ihn unter dem Namen Flavius Jose-phus.11

    Vespasian als Wundertter

    Aus neutestamentlicher Sicht ist von besonderem Interesse, da Vespasian alsWundertter hervorgetreten ist. Heilungswunder, die er dort [in gypten,nherhin in Alexandrien] vollbracht haben soll . . . , wurden zur Legitimation seinerHerrschaft berall verbreitet.12

    Auch ber diese Wunderttigkeit des Vespasian bietet der oben zitierte Suetoneine kurze Notiz13:

    auctoritas et quasi maiestas quaedem ut Noch fehlte ihm, als einem wider allesscilicet inopinato et adhuc novo principi Erwarten auf den Thron gekommenendeerat; und zur Stunde noch neuen Frsten, die

    Majestt, welche durch gttliches Zeug-nis verliehen wird;

    haec quoque accessit. auch diese ward ihm zuteil.e plebe quidam luminibus orbatus, Zwei Menschen aus dem geringen Volk,item alius debili crure sedentem pro tribu- ein Blinder und ein an Lahmheit leiden-nali pariter adierunt der, traten an ihn heran, als er auf dem

    Tribunal sa,orantes opem valitudini demonstratam a und flehten ihn um Heilung an, die ih-Serapide per quietem: nen von Serapis in einem Traumgesicht

    mit den Worten verheien worden sei,restituturum oculos, si inspuisset; er, Vespasian, werde dem Blinden dasconfirmaturum crus, Augenlicht wiedergeben, wenn er diesi dignaretur calce contingere. Augen mit seinem Speichel benetzen,

    und dem Lahmen das Bein heilen, wenner so gndig sein wolle, es mit seiner Fer-se zu berhren.

    11 Das praenomen des Josephus ist nicht berliefert. Nach einer ansprechenden Vermutung vonHeinz Schreckenberg hie er mit Vornamen Titus; der volle Name wre daher Titus Flavius Josephus.

    12 Werner Eck, a. a. O., Sp. 126.13 Sueton: Divus Vespasianus 7,236 (in der zitierten Ausgabe von Ihm S. 300, Z. 1222).

  • 338 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    cum vix fides esset ullo modo rem succes- Obwohl er nun kaum daran glaubte,suram ideoque ne experiri quidam aude- da die Sache irgendeinen Erfolg ha-ret, extremo hortantibus amicis palam pro ben werde, und deshalb sich nicht ent-contione utrumque temptavit, schlieen konnte, auch nur den Ver-nec eventus defuit. such zu wagen, so lie er sich doch end-

    lich von seinen Freunden erbitten undversucht beides inmitten der ffentli-chen Versammlung, und siehe, der Er-folg fehlte nicht.

    Zu diesen beiden Heilungsgeschichten lassen sich leicht Parallelen aus den synop-tischen Evangelien anfhren, vgl. etwa zur Heilung eines Blinden die Stelle Mk8,2226, wo es ganz entsprechend von Jesus heit: -. Zur Heilung eines Lahmen finden sich auch Beispiele in der Apostelgeschichte(Apg 3,110 und 14,813).

    Vespasian als Begrnder einer neuen Dynastie

    Vespasian ging aus den Auseinandersetzungen nach dem Tod Neros, desletzten Vertreters der iulisch-claudischen Dynastie, als Sieger hervor. Daer zwei Shne besa, lag es fr ihn nahe, an die Begrndung einer neuen Dyna-stie zu denken.14 Diese flavische Dynastie beherrscht das letzte Drittel des erstenJahrhunderts:

    Vespasian 6979 n. Chr.

    Seine erster Sohn Titus 7981 n. Chr.

    Sein zweiter Sohn Domitian 8196 n. Chr.

    Titus ist uns bereits als Feldherr begegnet: Er bernahm die Leitung des Jdi-schen Krieges von seinem Vater Vespasian, als dieser nach Rom reiste, um Kaiserzu werden; Domitian wird uns noch im Zusammenhang mit dem Johannesevan-gelium und andern spten Schriften des Neuen Testaments beschftigen.

    14 Manfred Clauss: Kaiser und Gott. Herrscherkult im rmischen Reich, Stuttgart 1999 (Nachdr.der Erstauflage Leipzig 2001), S. 113.

  • 44 Vespasian (69 n. Chr. 79 n. Chr.) 339

    Einige Jahreszahlen

    Tod des Caius Iulius Caesar 44 v. Chr.

    Regierungszeit des Kaisers Augustus 27 v. Chr. 14 n. Chr.

    Geburt des Vespasian 9 n. Chr.

    Regierungszeit des Kaisers Tiberius 14 n. Chr. 37 n. Chr.

    Regierungszeit des Caius/Caligula 37 n. Chr. 41 n. Chr.

    (Herodes) Agrippa I. 37, 40, 41 44 n. Chr.

    Regierungszeit des Claudius 41 n. Chr. 54 n. Chr.

    Regierungszeit des Nero 54 n. Chr. 68 n. Chr.

    Brand Roms 64 n. Chr.

    Beginn des Aufstandes der Juden 66 n. Chr.

    Vespasian wird mit dem Kommando betraut Winter 66/67 n. Chr.

    Regierungszeit des Vespasian 69 n. Chr. 79 n. Chr.

    Zerstrung Jerusalems 70 n. Chr.

    Triumph ber Iudaea 71 n. Chr.

    Eroberung von Masada 73 n. Chr.

  • 340 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    45 Die Erforschung des synoptischen Problems

    Nach diesem Ausflug in die Geschichte Palstinas und des Imperium Roma-num berhaupt kehren wir nun wieder zu unseren christlichen Texten zu-rck. Eine Generation lang hatten die Gemeinden kein einziges Evangelium ge-habt eine weitere Generation spter, am Ende des ersten Jahrhunderts, gab esderen vier. Schon im zweiten Jahrhundert stellt sich daher das Problem der Plu-ralitt der Evangelien: Denn es ist ja nicht ohne weiteres einzusehen, warum dasLeben und die Lehre Jesu in vier unterschiedlichen Darstellungen vorliegt. Ur-sprnglich waren die Evangelien sicher nicht zum parallelen Gebrauch bestimmt.Wenn Matthus fast den ganzen Markusstoff in mehr oder weniger berarbeiteterForm in sein Evangelium aufnahm, so wollte er ihn dadurch berflssig machen.Ebenso wollte Lukas seine Vorgnger verbessern, wie er im Prolog seines Evangeli-ums ausdrcklich sagt.1

    Wenn Origenes und andere Kirchenvter diese Kritik des Lukas auf die Apo-kryphen ablenken wollten, so waren sie historisch sicher im Unrecht. Im Fall derLogienquelle hat die interpretierende Aufnahme des Stoffes sogar dazu gefhrt, dadie Vorlage in Vergessenheit geriet.2

    Man kann die Pluralitt der Evangelien natrlich als einen Reichtum empfinden;man kann sie aber auch als Belastung sehen. Dies war schon im zweiten Jahrhun-dert der Fall, wie Tatian der Syrer zeigt, der das durch die Pluralitt der Evangeliengegebene Problem lste, indem er eine Evangelienharmonie das Diatessaron schuf. Welch groem Bedrfnis diese Vereinheitlichung entgegenkam, zeigt diefast weltweite Verbreitung des Diatessaron. Syrische, griechische, arabische, mit-telpersische, lateinische, mittelniederlndische, mittelenglische, ober- und mittel-deutsche und altitalienische Versionen bekunden den immensen Leserkreis undgeben der Forschung eine Flle von Einzelfragen auf.3

    Eine ganz andere Lsung des Problems bietet fast gleichzeitig mit Tatian der Kanon Muratori, den wir am Ende dieser Vorlesung noch kennenlernen wer-den.4 In diesem Zusammenhang werden wir feststellen: In diese Behandlung des

    1 Helmut Merkel: Die Pluralitt der Evangelien als theologisches und exegetisches Problem inder Alten Kirche, Traditio Christiana III, Bern/Frankfurt am Main/Las Vegas 1978, S. VIII.

    Vgl. auch die Untersuchung Merkels: Die Widersprche zwischen den Evangelien. Ihre polemi-sche und apologetische Behandlung in der Alten Kirche bis zu Augustin, WUNT 13, Tbingen1971.

    2 Helmut Merkel, ebd.3 Helmut Merkel, a. a. O., S. XII.4 Vgl. im letzten Kapitel die Seiten lassen sich bei diesem Stand der Bearbeitung noch nicht

    angeben den Paragraphen mit dem Text und der bersetzung des muratorischen Fragments.

  • 45 Die Erforschung des synoptischen Problems 341

    Johannesevangeliums ist ein Exkurs zu den Widersprchen in den Evangelien ein-gebettet (Zeile 1725), den wir in unserm Zusammenhang nicht im einzelnen zuwrdigen brauchen.5 Sie sollten die Passage dann einmal genauer ansehen. Ichstelle einstweilen nur die deutsche bersetzung hierher: Johannes solle alles ineigenem Namen niederschreiben, und danach sollten es alle berprfen. Mgendaher in den einzelnen Evangelien auch verschiedene Tendenzen gelehrt werden,so macht das fr den Glauben der Glubigen doch keinen Unterschied, da durchden einen und fhrenden Geist 20 in allen alles erklrt ist: die Geburt, das Leiden,die Auferstehung, der Verkehr mit seinen Jngern und seine doppelte Ankunft,erst verachtet in Niedrigkeit, was geschehen ist, 25 dann glnzend in kniglicherMacht, was noch geschehen wird.

    Hier wird das Johannesevangelium . . . als das eigentliche, vom Apostelkolle-gium revidierte Evangelium vorgestellt, und es wird ohne jeden Skrupel erklrt,alle Heilsereignisse seien in den vier Evangelien gleichermaen dargestellt. Dieseenergisch vorgebrachten Behauptungen lassen erkennen, da es noch Zweifel amVierevangelienkanon gab.6

    Wir knnen nun nicht alle Stadien der Diskussion in der Alten Kirche verfolgenund machen daher einen Sprung zu Augustin, der unser Problem in einer eigenenSchrift mit dem Titel De consensu evangelistarum behandelt hat. Augustin leug-net das Vorhandensein von Widersprchen; er gibt hchstens Verschiedenheitenim Ausdruck und in der Darstellungsweise zu, wie sie aus der unterschiedlichenErinnerung begrndbar ist.7

    Zu unserer modernen Fragestellung leiten die Erwgungen des Augustin zurReihenfolge der Evangelien ber. Augustin ist nmlich der Auffassung, die Evan-gelien seien in genau der Reihenfolge verfat worden, in der sie sich im NeuenTestament finden: Sie sollen in folgender Reihenfolge geschrieben haben: als ersterMatthus, dann Markus, an dritter Stelle Lukas, zuletzt Johannes. Daraus folgt, dadie Reihenfolge in der Erkenntnis und Verkndigung nicht mit der Reihenfolge desSchreibens bereinstimmt. . . . Von diesen Vieren soll nur Matthus in hebrischerSprache geschrieben haben, die brigen in griechischer. Und wenn auch jeder vonihnen seine eigene Anordnung der Erzhlungen einzuhalten scheint, so findet mandoch, da keiner von ihnen in Unkenntnis des Vorgngers hat schreiben oder un-beachtet bergehen wollen, was sich bei dem anderen geschrieben findet, sondernwie es einem jeden (von Gott) eingegeben wurde, so hat er die nicht berflssige ei-

    5 In der alten Auflage vom Sommersemester 2006 war dies die S. 39.6 Helmut Merkel, a. a. O., S. XIV. Die als Zitat gekennzeichnete Passage geht auf Hans Lietz-

    mann zurck.7 Helmut Merkel, a. a. O., S. XXVI.

  • 342 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    gene Mitarbeit noch hinzugefgt. Matthus nmlich hat die Inkarnation des Herrnnach der kniglichen Abstammung dargestellt und die meisten seiner Taten undWorte nach seinem Leben unter den Menschen. Markus folgte ihm gewissermaenwie ein Gefolgsmann und scheint sein Epitomator zu sein. Mit Johannes allein hater nmlich nichts gemeinsam, Sondergut bietet er nur sehr wenig, mit Lukas alleinnur wenig, aber mit Matthus hat er auerordentlich vieles gemeinsam und bietetvieles fast mit genau denselben Worten, wobei er entweder mit Matthus alleinoder mit allen anderen bereinstimmt. Lukas aber erscheint mehr befat mit derpriesterlichen Abstammung und dem priesterlichen Wesen des Herrn.8

    * * *

    Wir haben die Behandlung des Problems der Pluralitt der Evangelien in derAlten Kirche an einigen ausgewhlten Beispielen studiert; wer sich nherdafr interessiert, sei auf die Textsammlung von Merkel verwiesen, die in Anmer-kung 1 genannt ist. In der Moderne wurde das Problem ganz neu angegangen, undes wurden vllig neue Lsungen erarbeitet. Wir wollen im folgenden nur die dreiSynoptiker betrachten; ihr Verhltnis zum Johannesevangelium werden wir dannin Kapitel XI nher beleuchten.

    Im Fachjargon der Neutestamentler formuliert: Wir wenden uns nun der syn-optischen Frage zu, die in allen Einleitungen ausgiebig fr meinen Geschmackmanchmal zu ausgiebig diskutiert wird.9

    Wer die drei synoptischen Evangelien synoptisch liest, stt auf zwei bemerkens-werte Sachverhalte: Es gibt in diesen Synoptikern Material, in dem alle drei zu-sammentreffen; und es gibt Material, das bei Markus vllig fehlt, aber bei Lukasund Matthus hufig wrtlich bereinstimmt. Ein Beispiel fr das erste Phno-men ist die Sabbatheilung des Mannes mit dem verdorrten Arm, die in allen dreiEvangelien sehr hnlich erzhlt wird (Mt 12,914//Mk 3,16//Luk 6,611). Ein

    8 Augustin: De consensu evangelistarum I 1,3 und I 2,4 nach der Merkelschen bersetzung,a. a. O., S. 39 und S. 41.

    9 Vgl. etwa die Einleitung von Kmmel, 5. Die synoptische Frage (Werner Georg Kmmel:Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 211983, S. 1353, d. h. Kmmel verwendet daraufsage und schreibe 40 Seiten!); die Einleitung von Vielhauer, 19. Das synoptische Problem unddie lteren Lsungsversuche sowie 20. Die Zwei-Quellen-Theorie (Philipp Vielhauer: Geschichteder urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostoli-schen Vter, Berlin/New York 1975; durchgesehener Nachdr. 1978, S. 263268 und S. 268280,macht also nur insgesamt 18 Seiten!); die Einleitung von Broer, 3 Die synoptische Frage, oder: Dieliterarischen Beziehungen zwischen den ersten drei Evangelien (Ingo Broer: Einleitung in das NeueTestament, Band 1: Die synoptischen Evangelien, die Apostelgeschichte und die johanneische Litera-tur, Die Neue Echter Bibel. Ergnzungsband zum Neuen Testament 2,1, Wrzburg 2001, S. 3953 mit 15 Seiten geradezu vorbildlich kurz!).

  • 45 Die Erforschung des synoptischen Problems 343

    Beispiel fr das zweite Phnomen ist die Predigt des Tufers, die fast gleichlautendbei Lukas und Matthus referiert wird (Luk 3,79//Mt 3,710).

    Der Tatbestand, dessen Entstehung jede Erklrung der sog. synoptischen Fra-ge zum Verstndnis bringen mu, ist also ein doppelter: einmal die hnlichkeitzwischen allen drei Synoptikern, zum anderen die engen bereinstimmungen zwi-schen dem Matthus- und dem Lukasevangelium.10

    Zur Erklrung dieser Beobachtungen kann man grundstzlich zwei verschiedeneHypothesen bilden, nmlich solche, die die hnlichkeiten zwischen den synopti-schen Evangelien auf eine gemeinsame Quelle zurckfhren oder solche, die diehnlichkeiten zwischen den synoptischen Evangelien auf eine gegenseitige Kennt-nis zurckfhren.11 Fr die erste Gruppe kann man als Beispiele die Traditions-hypothese (alle drei Synoptiker sind von einer mndlichen Evangelien-Vorlage ab-hngig), die Fragmentenhypothese (die Synoptiker sind von verschiedenen Quellenabhngig) oder die Urevangelienhypothese (die Synoptiker bearbeiten ein schrift-liches Evangelium, das allen vorlag) nennen.12

    Fr die zweite Gruppe kann man die sogenannte Griesbach-Hypothese oder dieZweiquellentheorie nennen. Die Griesbach-Hypothese nimmt an, die Evangelienseien in der Reihenfolge Matthus-, Lukas- und Markusevangelium abgefat undder jeweils sptere Autor kannte die Werke der Vorgnger, d. h. das Matthusevan-gelium ist das lteste, Lukas kannte dieses und Markus kannte beide Evangelien.13

    Durchgesetzt hat sich heute die andere Variante, die als Zweiquellentheorie be-zeichnet wird. Diese kann man kurz und bersichtlich in dem folgenden Schemadarstellen:14

    10 Ingo Broer, a. a. O., S. 41.11 Ingo Broer, S. 43.12 Einzelheiten zu diesen Hypothesen kann man in den in Anm. 9 genannten Einleitungen nach-

    lesen.13 Ingo Broer, ebd.14 Ich danke meinem Mitarbeiter Jrg Herrmann fr die Erstellung dieses Schemas. Die TEX-

    nische Durchfhrung und Perfektionierung hat Julia Hager ins Werk gesetzt, der unser aller Dankgewi ist.

  • 344 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    Matthus-Evangelium

    Lukas-Evangelium

    SondergutMatthus

    SondergutLukas

    Markus-Evangelium

    LogienquelleQ

    @@

    @@

    @@

    @R ?

    JJ

    JJ

    JJ

    JJ

    JJ

    JJ

    JJ

    JJ

    ?

  • 46 Die Spruchquelle Q 345

    46 Die Spruchquelle Q

    1. Die Rekonstruktion von Q

    Wenige Probleme der neutestamentlichen Wissenschaft sind in so berzeu-gender Weise gelst worden wie die synoptische Frage. Das synoptischeProblem besteht in dem eigentmlichen Nebeneinander von enger Verwandtschaftund starker Verschiedenheit der drei ersten Evangelien.1 Nach vielen Irrungenund Wirrungen2 hat sich die sogenannte Zweiquellentheorie heute so gut wie voll-stndig durchgesetzt.

    Die Zweiquellentheorie geht davon aus, da das Markusevangelium das lteste ZweiquellentheorieEvangelium ist. Die beiden anderen Synoptiker haben das Markusevangelium alsQuelle benutzt. Nimmt man nun die beiden andern Synoptiker und entfernt ausihnen den Markusstoff, so bleiben viele Perikopen brig, die wrtlich miteinan- Luk 3,79//

    Mt 3,710der bereinstimmen. Man kann sich dies exemplarisch an der Predigt des Tufersklarmachen:

    Mt 3,710: Luk 3,79: , , ; ; , , . .

    1 Philipp Vielhauer: Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament,die Apokryphen und die Apostolischen Vter, Berlin/New York 1975 (Nachdr. 1978), S. 263.

    2 ber die lteren Lsungsversuche informiert knapp Philipp Vielhauer, a. a. O., S. 265268.

  • 346 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    . .

    Hier haben wir ersichtlich ein Stck aus einer zweiten Quelle, die beide groenEvangelien neben Markus benutzen. Diese zweite Quelle nennt man Logienquelleoder Spruchquelle. Sie lautete fr das uns interessierende Stck nach der Ausgabevon Hoffmann und Heil:3

    Q 3,79:[[]] [[]] [[]]

    ,

    ;

    .

    .

    .

    In der genannten Ausgabe findet sich die folgende bersetzung fr Q 3,79:Er sagte zu der [[Volksmenge]], die [[kam, um sich]] taufe[[n zu lassen]]: Schlangen-brut! Wer hat euch in Aussicht gestellt, dass ihr dem bevorstehenden Zorngerichtentkommt? Bringt darum Frucht, die der Umkehr entspricht, und bildet euchnicht ein, bei euch sagen zu knnen: Wir haben Abraham zum Vater. Dennich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken. Aber

    3 Paul Hoffmann und Christoph Heil: Die Spruchquelle Q. Griechisch und Deutsch, Darm-stadt/Leuven 2002, S. 32. Man beachte: Entsprechend der Konvention des internationalen Q-Projekts wird ein bestimmter Q-Text durch das Sigel Q mit der entsprechenden Lukas-Stelle be-zeichnet (a. a. O., S. 29). Auerdem sollte man wissen, da die doppelten Klammern [[. . . ]] wenigersichere Rekonstruktionen einer bestimmten Kategorie kennzeichnen, vgl. ebd.

  • 46 Die Spruchquelle Q 347

    schon ist die Axt an die Wurzel der Bume gelegt; jeder Baum, der nicht guteFrucht bringt, wird daher herausgehauen und ins Feuer geworfen.4

    * * *

    Die Logienquelle ist also gleichsam ein Kind der Zweiquellentheorie. Sie istdie eigentliche Lsung des synoptischen Problems. Seit der bahnbrechendenStudie Adolf Harnacks sind immer neue Versuche gemacht worden, den griechi-schen Wortlaut von Q zu rekonstruieren.5 Einen weiteren Aufschwung verzeich-nete die Q-Forschung zwischen den Weltkriegen: Vor allem die deutsche und diebritische Exegese produzierte bis heute magebliche, wichtige Beitrge. Hier wurdeQ zumeist jedoch als eine die Christus-Verkndigung blo ergnzende Sammlungvon Jesusworten angesehen. Das in den Paulusbriefen enthaltene Kerygma wur-de als zentral erachtet, zu dem Q nicht mehr als einige Punkte fr die ethischeErmahnung in Predigt und Katechese beitrug.6

    Heute wird Q als auch theologisch eigenstndige Schrift gewrdigt; die Literaturzu Q ist in einer Weise angeschwollen, da sie fr den Auenstehenden fr einensolchen hlt sich Schreiber dieser Zeilen nicht mehr berschaubar ist.

    2. Der Aufbau von Q

    Die Gliederung von Q, die man sich mindestens in den groben Zgen einpr-gen sollte, gebe ich im Anschlu an die Ausgabe von Hoffmann und Heilfolgendermaen:7

    4 Paul Hoffmann und Christoph Heil, a. a. O., S. 33. In der deutschen bersetzung markierendie falsch herum verwendeten franzsischen Anfhrungszeichen die von Q wahrscheinlich inten-dierte Aussage (a. a. O., S. 30).

    Am Perikopenanfang finden sich die deutlichsten Unterschiede zwischen Lukas und Matthus:Statt der nicht nher spezifizierten Mengen ( [o. chloi]) fhrt Matthus hier mechanisch Phari-ser und Sadduzer ein. Von diesem Phnomen war bereits in Kapitel II die Rede, als wir uns mitden jdischen Gruppen in Palstina beschftigt haben (vgl. oben S. 38 mit Anm. 8). Damals sahenwir, da es sich hier um eine Eigenheit des Matthus handelt. Die beiden Gruppen standen nichtursprnglich in Q, sondern werden von Matthus an dieser wie an andern Stellen eingebracht.

    5 Adolf Harnack: Sprche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthus und Lukas, Beitrgezur Einleitung in das Neue Testament 2, Leipzig 1907.

    6 Paul Hoffmann und Christoph Heil, a. a. O., S. 13.7 Paul Hoffmann und Christoph Heil, a. a. O., S. 14f.

  • 348 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    I Johannes der Tufer und Jesus Q 3,27,35

    1. Die Botschaft des Johannes Q 3,2b17

    2. Taufe und Bewhrung Jesu Q 3,21f.; 4,113

    3. Jesu programmatische Rede Q 4,16; 6,2049

    4. Der Glaube eines Heiden an Jesu Wort Q 7,110

    5. Johannes, Jesus, und die Kinder der Weisheit Q 7,1835

    II Die Boten des Menschensohns Q 9,5711,13

    1. Radikale Nachfolge Q 9,5760

    2. Missionsinstruktion Q 10,216

    3. Das Geheimnis des Sohnes Q 10,2124

    4. Das Gebet der Jnger Q 11,2b4.913

    III Jesus im Konflikt mit dieser Generation Q 11,1452

    1. Zurckweisung des Beelzebulvorwurfs Q 11,14-26

    2. Die Ablehnung der Zeichenforderung Q 11,16.2935

    3. Androhung des Gerichts Q 11,3952

    IV Die Jnger in Erwartung des Menschensohns Q 12,213,21

    1. Bekenntnis zu Jesus ohne Furcht Q 12,212

    2. Sucht die Knigsherrschaft Gottes Q 12,33f.22b31

    3. Das unerwartete Kommen des Menschensohns Q 12,39.46.4959

    4. Zwei Gleichnisse von der Knigsherrschaft Gottes Q 13,1821

    V Die Krisis Israels Q 13,2414,23

    VI Die Jnger in der Nachfolge Jesu Q 14,2617,21

    VII Das Ende Q 17,2322,30

    1. Der Tag des Menschensohns Q 17,2337

    2. Das Gleichnis vom anvertrauten Geld Q 19,1226

    3. Ihr werdet die zwlf Stmme Israels richten Q 22,28.30

  • 46 Die Spruchquelle Q 349

    3. Die Christologie der Logienquelle

    Theologisch ist die Christologie der Logienquelle von besonderem Interesse.Bisher waren wir durch Paulus vor allem mit der sogenannten Prexistenzchri-stologie konfrontiert worden. Wir fanden diese beispielsweise im Philipperhymnus(Phil 2,6). Sie erschien aus paulinischer Sicht als die Christologie schlechthin. Da-her fllt auf, da von einer Presxistenzchristologie in Q deutliche Spuren nichtvorhanden sind. Aber auch sonst ist die Christologie in Q durchaus eigenstndig,fehlt hier doch nicht nur die Passion, sondern auch die Auferstehung. Damit un-terscheidet sich diese Christologie nicht nur von der paulinischen, sondern ebensodeutlich auch von der markinischen.

    Im Vergleich zu Markus tritt in Q vor allem der Wundertter Jesus ganz inden Hintergrund (wobei Q 7,22 dann zu einer faszinierenden Ausnahme in Qwird8). Charakteristisch ist die Wortverkndigung.

    4. Datierung und Lokalisierung der Logienquelle

    Q enthlt zwar alte Traditionen der Jesusanhnger, wurde aber wahrschein-lich erst whrend des Jdischen Krieges zusammengestellt. Q 13,35 fgtsich nmlich in die durch Josephus (Bell. 2,539; 5,412; 6,299), Tacitus (Hist. V13,1) und der [sic!] syrischen Baruchapokalypse (8,1f.) bezeugte Tradition ein, dassbei der Zerstrung des Tempels Gott sein Haus verlassen hat. Q 13,35 ist also eineechte Prophetie kurz vor 70 n. Chr., oder das Logion blickt wie Josephus, Tacitusund der Autor der syrischen Baruchapokalypse auf dieses Ereignis zurck. Da Q13,34f der redaktionellen Schicht von Q zugerechnet werden muss, die das Schei-tern der Mission der Q-Gruppe in Israel und die Ausbildung einer eigenen Ge-meinde voraussetzt, ergibt sich fr die Datierung der Endredaktion von Q die Zeitum 70 n. Chr. Nun etwa 40 Jahre nach dem Tod Jesu starben die Augenzeugenaus, und die mndlichen berlieferungswege waren gefhrdet.9

    Was den Ort der Entstehung angeht, so stammen die in Q aufgenommenenTraditionen ohne Zweifel aus Galila. Das bedeutet freilich nicht, da auch dieRedaktion des Stoffes in Galila anzusiedeln ist. Vielmehr ist anzunehmen, dadie Endredaktion von Q wohl im sdlichen syrischen Raum stattfand.10

    8 Paul Hoffmann und Christoph Heil, a. a. O., S. 24.9 Paul Hoffmann und Christoph Heil, a. a. O., S. 21.

    10 Paul Hoffmann und Christoph Heil, a. a. O., S. 22.

  • 350 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    5. Literatur

    Einfhrungen zur Logienquelle

    Jens Schrter: Art. Logienquelle, RGG4 5 (2002), Sp. 484486.

    Peter Pilhofer: Die Logienquelle, www.neutestamentliches-repetitorium.de.

    Textausgaben und bersetzungen in chronologischer Folge

    Adolf Harnack: Sprche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthus und Lu-kas, Beitrge zur Einleitung in das Neue Testament 2, Leipzig 1907.

    Athanasius Polag: Fragmenta Q. Textheft zur Logienquelle, Neukirchen-Vluyn1979.

    James M. Robinson/Paul Hoffmann/John S. Kloppenborg: The Critical Edition of Q.Synopsis including the Gospels of Matthew and Luke, Mark and Thomas withEnglish, German and French Translations of Q and Thomas, Leuven/Minnea-polis 2000.

    Paul Hoffmann und Christoph Heil: Die Spruchquelle Q. Griechisch und Deutsch,Darmstadt/Leuven 2002.

    Kommentare

    Dieter Zeller: Kommentar zur Logienquelle, SKK.NT 21, Stuttgart 1984.

    Sonstige Literatur

    Rudolf Bultmann: Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Gt-tingen 81970.

    Martin Dibelius: Die Formgeschichte des Evangeliums, Tbingen 61971.

    Claudio Ettl: Der Anfang der . . . Evangelien. Die Kalenderinschrift von Prie-ne und ihre Relevanz fr die Geschichte des Begriffs . Mit einerAnmerkung zur Frage nach der Gattung der Logienquelle, in: Wenn drei dasgleiche sagen Studien zu den ersten drei Evangelien. Mit einer Werkstattber-setzung des Q-Textes, Mnster 1998, S. 121151.

    Paul Hoffmann: Studien zur Theologie der Logienquelle, NTA NF 8, Mnchen31982.

    Paul Hoffmann: Tradition und Situation. Studien zur Jesusberlieferung in der Lo-gienquelle und den synoptischen Evangelien, NTA NF 28, Mnchen 1995.

    Dieter Lhrmann: Die Redaktion der Logienquelle, WMANT 33, Neukirchen-Vluyn 1969.

  • 46 Die Spruchquelle Q 351

    Athanasius Polag: Die Christologie der Logienquelle, WMANT 45, Neukirchen-Vluyn 1977.

    Siegfried Schulz: Q Die Spruchquelle der Evangelisten, Zrich 1972.

    Julius Wellhausen: Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 1905 (21911).

  • 352 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    47 Das Markusevangelium

    Mit dem Markusevangelium betreten wir Neuland. Bisher haben wir vor allemBriefe kennengelernt, solche aus der Hand des Paulus und andere, die unterseinem Namen geschrieben worden sind. Aber auch die Spruchquelle Q, mit derwir uns in der vergangenen Woche befat haben, ist keine wirkliche Parallele zuMarkus. Hier haben es mit dem ersten Evangelium berhaupt zu tun. Daher gilt es,sich zunchst einmal mit dieser neuen Gattung thematisch auseinanderzusetzen.1

    1. Die Gattung Evangelium

    Das Markusevangelium beginnt mit der berschrift: (arche. tou. euangeli.ou Iesou. Christou. hyiou theou. ).Wir gehen hier nicht auf die Frage ein, ob es sich hierbei um die berschrift desganzen Buches oder nur um die berschrift des ersten Abschnitts Mk 1,11,13handelt.2 Entscheidend ist fr unsern Zusammenhang: Hier begegnet das Wort (euange. lion) zum ersten Mal als Bezeichnung fr einen literarischenText. Dies ist ein Novum nicht nur im Neuen Testament, sondern in der Litera-turgeschichte berhaupt.

    Das Wort (euange. lion) war schon in vorchristlicher Zeit gebruch-lich. Einen Sitz im Leben hat der Begriff Evangelium insbesondere im Kaiser-kult, wie die berhmte Inschrift aus Priene zeigt.3 Diese Inschrift ist viel zu langund vor allem zu schwierig, um sie hier zu zitieren oder gar zu behandeln.4 Daher

    1 Die Ausfhrungen zum Markusevangelium in diesem Paragraphen 47 sind ebenso wie diezur Logienquelle im Paragraphen 46 meinem Repetitorium aus dem Jahr 2005 entlehnt (zugnglichunter www.neutestamentliches-repetitorium.de). Fr die zweite Auflage dieser Vorlesung imSommersemester 2008 wurde der Text zum Markusevangelium um einen Exkurs erweitert.

    2 Noch einmal anders Dieter Lhrmann in seinem Kommentar: 1 ist daher als zusammenfas-sende berschrift zu 115 anzusehen (S. 33). Nach meinem Urteil gehrt v. 1415 jedoch bereitszum 1. Teil des Markusevangeliums, der von 1,13 bis 8,26 reicht; zur Gliederung des Evangeliumsvgl. Dietrich-Alex Koch: Inhaltliche Gliederung und geographischer Aufri im Markusevangelium,NTS 29 (1983), S. 145166.

    3 Claudio Ettl: Der Anfang der . . . Evangelien. Die Kalenderinschrift von Priene und ihreRelevanz fr die Geschichte des Begriffs . Mit einer Anmerkung zur Frage nach derGattung der Logienquelle, in: Wenn drei das gleiche sagen Studien zu den ersten drei Evangelien.Mit einer Werkstattbersetzung des Q-Textes, Mnster 1998, S. 121151.

    4 Es handelt sich dabei um einen Brief des Statthalters der Asia (Paulus Fabius Maximus, procon-sul der Asia), in dem es um die Verlegung des Jahresanfangs auf den Geburtstag des Augustus geht.Vgl. dazu auch den Text zu Augustus in der ersten Sitzung auf S. 2. Die Inschrift wird im allgemei-nen auf das Jahr 9 v. Chr. datiert sie ist also in der Tat vorchristlich! Da das wichtigste Exemplardieser Inschrift in Priene gefunden wurde und es sich um Kalenderfragen handelt, hat man sie kurz

  • 47 Das Markusevangelium 353

    beschrnke ich mich darauf, die entscheidenden Stellen nach der Harnackschenbersetzung zu zitieren. Er5 bersetzt die Kernstellen dieser Inschrift folgender-maen:

    Dieser Tag hat der ganzen Welt ein andres Aussehen gegeben; sie wredem Untergang verfallen, wenn nicht in dem nun Gebornen fr alleMenschen ein gemeinsames Glck aufgestrahlt wre.Richtig urteilt, wer in diesem Geburtstag den Anfang des Lebens undaller Lebenskrfte fr sich erkennt; nun endlich ist die Zeit vorbei, daman es bereuen mute, geboren zu sein.Von keinem andern Tage empfngt der einzelne und die Gesamtheitsoviel Gutes als von diesem allen gleich glcklichen Geburtstage.Die Vorsehung, die ber allem im Leben waltet, hat diesen Mann zumHeile der Menschen mit solchen Gaben erfllt, da sie ihn uns undden kommenden Geschlechtern als Heiland gesandt hat; aller Fehdewird er ein Ende machen und alles herrlich ausgestalten.In seiner Erscheinung sind die Hoffnungen der Vorfahren erfllt; erhat nicht nur die frhern Wohltter der Menschheit smtlich ber-troffen, sondern es ist auch unmglich, da je ein Grerer kme.Der Geburtstag des Gottes hat fr die Welt die an ihn sich knpfen-den Freudenbotschaften [Evangelien] heraufgefhrt.Von seiner Geburt mu eine neue Zeitrechnung beginnen.

    Texte dieser Art mu man sich vor Augen halten, wenn man verstehen will, wieein antiker Leser die berschrift des Markusevangeliums verstanden hat. Der vonihm benutzte Begriff Evangelium war insbesondere durch seine Verwendung imKaiserkult geprgt.

    Davon zu unterscheiden ist allerdings die Frage nach der Gattung Evangeli-um. Rudolf Bultmann hat bestritten, da wir es hier in der Tat mit einer Gattungzu tun haben knnten. Zwar ist das Evangelium Bultmann zufolge eine original

    als Kalenderinschrift von Priene bezeichnet. Eine umfassende Literaturliste bietet Claudio Ettl: DerAnfang der . . . Evangelien. Die Kalenderinschrift von Priene und ihre Relevanz fr die Geschichtedes Begriffs , a. a. O., S. 147151.

    Zu nennen sind hier vor allem OGIS 458I; IPriene 105, ll. 130; Keil & Premerstein, Denk-schr. Akad. Wien 54, 1911, 2, S. 802, Nr. 166; Adolf Deissmann: Licht vom Osten4, S. 313317(Photographie!); SEG 15, 815; Laffi, SCO 16, 1967, 201, no. 4; Sherk 65A.

    Die Inschrift ist heute im Pergamonmuesum in Berlin zu bewundern.5 Adolf Harnack: Als die Zeit erfllet war, in: ders.: Reden und Aufstze. Erster Band, Gieen

    21906, S. 301306.

  • 354 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    christliche Schpfung. Aber die Frage, ob man es als eigentlich literarische Gattungbezeichnen knne, verneint Bultmann: Von dem Evangelium als einer literari-schen Gattung zu sprechen, ist also kaum mglich; das Evangelium ist eine Greder Dogmen- und Kultusgeschichte.6

    Diese Einschtzung Bultmanns wird heute in der Regel nicht mehr geteilt, wieetwa der Beitrag von Hubert Cancik zu unserer Frage zeigt.7 Er geht zwar vonder Bultmannschen These aus8, kommt aber zu dem gegenteiligen Ergebnis: Dieantike Jesusliteratur [= die Gattung Evangelium] bildet eine Familie verwandterTexte, die einander zitieren, imitieren, kompilieren, interpretieren. Diese Familielt sich mit gengender Genauigkeit von der Apostelliteratur und der brigenfrhchristlichen und kirchlichen Literatur sondern.9

    Es ergibt sich also: Das Evangelium ist eine genuin christliche Gattung. DerDas Evangelium als genuinchristliche Gattung erste Erfinder des Evangeliums ist Markus. Mit seinem Werk nimmt diese Gattung

    ihren Anfang. Schon aus diesem Grund ist das Markusevangelium von besondererBedeutung.

    2. Der Aufbau

    Den Aufbau10 des Evangeliums kann man sich leicht einprgen. Man sollteGrobgliederung

    sich dazu zunchst eine Einteilung in zwei Abschnitte11 mit einer vorange-stellten Einleitung vor Augen stellen:

    Einleitung Der Anfang 1,113

    Teil A Jesu Wirken in Galila 1,148,26

    Teil B Jesus in Jerusalem 8,27 16,8

    6 Rudolf Bultmann: Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Gttingen 81970,S. 399f.

    7 Hubert Cancik: Die Gattung Evangelium. Das Evangelium des Markus im Rahmen der antikenHistoriographie, in: Hubert Cancik [Hg.]: Markus-Philologie Literatur, S. 85113.

    8 Cancik, a. a. O., S. 87f.9 Cancik, a. a. O., S. 110.

    10 Ich sttze mich im folgenden auf den Vorschlag von Dietrich-Alex Koch: Inhaltliche Gliederungund geographischer Aufri im Markusevangelium, NTS 29 (1983), S. 145166.

    11 In dieser Gliederung wird Mk 16,8 als letzter Vers des Evangeliums betrachtet, d. h. der so-genannte sekundre Markusschlu in 16,920 wird hier nicht bercksichtigt. Dieser spter hinzu-gefgte Zusatz stellt ein Potpourri aus Ostergeschichten anderer Evangelien dar und wurde spterhinzugefgt, weil man mit dem ursprnglichen Schlu in 16,8 nicht zufrieden war.

  • 47 Das Markusevangelium 355

    Im folgenden geht es dann um eine Untergliederung der beiden Teile. Diese FeingliederungTeil Akann man folgendermaen vornehmen (zunchst fr Teil A):

    I Die (exousi.a) Jesu in Wunder und Lehre 1,143,6

    II Unverstndnis und Unglaube angesichts Jesu Wunder und Lehre 3,76,6a

    III Weitere Taten und Worte Jesu 6,6b8,26

    Fr Teil B ergibt sich die folgende Feingliederung: FeingliederungTeil B

    I Der Weg Jesu nach Jerusalem 8,2710,52

    II Auseinandersetzungen in Jerusalem 11,112,44

    III Die eschatologische Schlurede gegenber dem Tempel 13,137

    IV Passionsgeschichte 14,115,47

    V Ostern 16,18

    Wenn man darauf verzichtet, die Abschnitte des ersten Teils noch einmal zu un-tergliedern, ergibt sich insgesamt der folgende Aufbau fr das Markusevangelium:

    Der Anfang 1,113

    Teil A Jesus in Galila 1,148,26

    I Die Jesu in Wunder und Lehre 1,143,6

    II Unverstndnis und Unglaube 3,76,6a

    III Weitere Taten und Worte Jesu 6,6b8,26

    Teil B Jesus in Jerusalem 8,27 16,8

    I Der Weg Jesu nach Jerusalem 8,2710,52

    II Auseinandersetzungen in Jerusalem 11,112,44

    III Die eschatologische Schlurede 13,137

    IV Passionsgeschichte 14,115,47

    V Ostern 16,18

  • 356 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    3. Die kirchliche Tradition

    Da das Evangelium selbst uns ber seinen Verfasser keine Auskunft gibt12, war

    man seit jeher an die kirchliche Tradition gewiesen. Deren ltester Reprsen-tant ist Papias, der Bischof von Hierapolis, dessen Werk uns in Fragmenten in derKirchengeschichte des Euseb erhalten ist. ber Markus findet sich bei Papias diefolgende Notiz:

    - Als Markus Dolmetscher des Petrus ge-, worden war, , , schrieb er alle Dinge, an die er sich er-

    innerte, genau auf, , allerdings nicht in der [richtigen] Rei-

    henfolge, - die der Herr gesagt oder getan hatte. Denn er hatte den Herrn [selbst] nicht , gehrt und war ihm auch nicht gefolgt, , , , sondern spter erst, wie gesagt, dem Pe-

    trus. - Dieser hatte seine Lehrvortrge nach, den [jeweiligen] Gegebenheiten einge-

    richtet, - und nicht als ob er eine Darstellung der , Herrenworte geben wollte. , Deshalb hat Markus keinerlei Fehler ge-

    macht, - als er auf diese Weise die einzelnen Punkte niederschrieb, wie er sich erin-

    nerte. , Eines nmlich lag ihm am Herzen, nichts auszulassen von dem,

    was er [bei Petrus] gehrt hatte, .13 und nichts davon falsch darzustellen.

    * * *

    12 Vgl. dazu den folgenden 4. Abschnitt ber Verfasser, Zeit und Ort der Abfassung.13 Papias bei Euseb: Kichengeschichte III 39,15.

  • 47 Das Markusevangelium 357

    In der modernen Version liest sich das dann so: Als die Glieder der rmischen Joachim JeremiasGemeinde, die der Hlle der Christenverfolgung im Herbst 64 entronnen wa-ren, sich wieder zusammenfanden, da vermiten sie neben so vielen anderen vorallem den Apostel Petrus, der in den Vatikanischen Grten ans Kreuz geschlagenworden war. Sie gedachten der unvergelichen Stunden, in denen Petrus ihnen auseigenem Erleben von den Erdentagen Jesu erzhlt hatte: von seiner Berufung indie Nachfolge, von der Stunde des Bekenntnisses bei Csarea Philippi, von Geth-semane, von der Verleugnung in der Karfreitagsnacht. Da kamen sie auf den Ge-danken, den Mitarbeiter des Petrus, Jochanan aus Jerusalem mit dem BeinamenMarkus, der die Verfolgung berlebt hatte, zu bitten, da er ihnen all das auf-schreiben mchte, wessen er sich von den Lehrvortrgen des Apostels entsnne.Markus erfllte die Bitte. Seine schlichten Aufzeichnungen sind die ersten schrift-lichen berlieferungen ber das Leben Jesu, von denen wir sicher wissen.14

    Das ist moderne Belletristik und geht noch weit ber die karge Notiz bei Papiashinaus. Im einzelnen: Da Petrus im Zusammenhang mit dem Brand Roms15 zumMrtyrer wurde, ist durchaus mglich. Alles weitere aber entspringt der Jeremias-schen Phantasie, die lediglich an Papias einen gewissen quellenmigen Anhalt hat.Da Petrus den Gliedern der rmischen Gemeinde(n) Einzelheiten aus seinem Le-ben erzhlt hat, ist gewi mglich die Details aber verdanken wir ausschlielichder Phantasie des Autors Jeremias. Da die Abfassung des Markusevangeliums aufeinen Wunsch der rmischen Gemeinde zurckgehe, lt sich nicht einmal ausPapias in irgendeiner nachvollziehbaren Weise herleiten. Es ist gewi denkbar, dadas Evangelium aus Rom stammt, aber mehr als eine Mglichkeit ist dies nicht.Von der Gattung her ist das keine wissenschaftliche Darstellung, sondern ein Ro-man mit gelegentlichen Bezgen auf historisch nachweisbare Ereignisse. Da derin Apg 12,12 genannte Johannes mit dem Beinamen Markus nach Rom gekom-men und mit Petrus eine persnliche Beziehung aufgenommen haben soll, gar seinMitarbeiter geworden wre, ist reine Spekulation.

    Wir kommen daher zu dem Ergebnis, da weder die kirchliche Tradition ber Ergebnisdas Markusevangelium noch deren moderne Ausmalung uns eine verlliche Basisin bezug auf die Einleitungsfragen bieten kann.

    14 Joachim Jeremias: Unbekannte Jesusworte, Gtersloh 31963 (als Taschenbuch nachgedruckt1980), S. 10.

    15 Vgl. dazu oben in Kapitel IV den Paragraphen 28 zu Nero, S. 213222; speziell zum BrandRoms hier S. 215219.

  • 358 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    4. Der Verfasser; Zeit und Ort der Abfassung

    Wie das Matthusevangelium gehrt auch das Markusevangelium zu denjeni-Das Markusevangelium alsanonyme Schrift gen Schriften, die uns ber ihren Verfasser nichts verraten. Das ist beimLukasevangelium anders, welches mit einem regelrechten Promium beginnt, dasauch eine Widmung an Theophilos enthlt, aber auch beim Johannesevangelium,welches an mehreren Stellen fr sich beansprucht, von einem Augenzeugen ge-schrieben zu sein (1,14; 19,35; 21,24).16 Dergleichen finden wir im Markusevan-gelium nicht; es sagt nichts ber seinen Verfasser und ist mithin eine anonymeSchrift.

    Darber kann auch die berschrift am Anfang unsres Werkes nicht hinwegtu-schen: (Kata. Ma. rkon) bzw. (vgl. den textkritischen Apparat z. St.) (Euange. lion kata. Ma. rkon) bzw. (To. kata. Ma. rkon ha. gion euange. lion). Dies ist wie schon diegleichfrmige Parallele bei Matthus, Lukas und Johannes zeigt nicht Bestandteildes Textes unseres Evangelims, sondern erst hinzugekommen, als unser Evangeli-um neben andere gestellt wurde. Daran ndert auch die Mglichkeit nichts, dadies vielleicht schon in sehr alter Zeit geschehen sein knnte, wie Martin Hengelzeigen mchte.17 Die einzige berschrift, die unser Buch sonst bietet: (arche. tou. euangeli.ou Iesou. Christou. hyiou.theou. ), verrt uns wiederum nichts ber ihren Verfasser (Mk 1,1).18

    Nun hat vor einiger Zeit Martin Hengel den Versuch gemacht, Entstehungszeitund Situation des Markusevangeliums zu erhellen.19 Wei man ber den Verfasserberhaupt nichts Sicheres zu sagen, so ist insbesondere die Abfassungszeit strittig;aber auch hinsichtlich des Abfassungsortes kommt man ber Spekulationen kaumhinaus. Ich illustriere die Vielfalt der Mglichkeiten an dem Punkt Abfassungs-zeit: In den Einleitungen zum Neuen Testament die freilich einem berhmtenDiktum Ernst Ksemanns zufolge auf weite Strecken in die Gattung der Mr-chenbcher einzureihen [sind], mag ihr trockener Ton und Inhalt noch so sehrTatsachenreportagen vortuschen20 lesen Sie hufig nach 70. In dem schonerwhnten Sammelband versucht dagegen Gnther Zuntz eine Datierung in dasJahr 40 zu begrnden, also 30 Jahre vor dem genannten Ansatz nach 70.21 Damit

    16 Vgl. dazu Martin Rese: Das Selbstzeugnis des Johannesevangeliums ber seinen Verfasser,EThL 72 (1996), S. 75111.

    17 Martin Hengel: Die Evangelienberschriften, SHAW.PH 1984, 3.18 Zur Frage, wofr dieser Vers die berschrift ist, vgl. oben S. 352 mit Anm. 2.19 Martin Hengel: Entstehungszeit und Situation des Markusevangeliums, in: Hubert Cancik

    [Hg.]: Markus-Philologie Literatur, S. 145.20 Ernst Ksemann: Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tbingen 31971, S. 12.21 Gnther Zuntz: Wann wurde das Evangelium Marci geschrieben? In: Markus-Philologie

  • 47 Das Markusevangelium 359

    wre unser Evangelium nicht nur lter als alle uns erhaltenen Paulusbriefe, sonderndie lteste Schrift im Neuen Testament berhaupt, woraus sich weitreichende Fol-gen ergben.

    Ich will Ihnen daher die These von Gnther Zuntz kurz referieren: Diese Da- Die Thesevon Gnther Zuntztierung ist basiert [so wrtlich] auf die Deutung von Mk 13,14 als ein verhllter,

    aber unzweifelhafter Hinweis auf Caligulas Absicht, sein Standbild im Tempel zuJerusalem aufstellen zu lassen fr glubige Juden ein Sakrileg von unberbiet-barer Abscheulichkeit. Der Tod Caligulas im Januar 41 bedeutete das Ende dieserDrohung und ist mithin terminus ante quem fr Mk 13,14.22 Wir sind ber die-ses Vorhaben des Caligula aus zeitgenssischen Quellen unterrichtet, insbesonderedurch Josephus und durch die Schrift des Philon mit dem Titel Legatio ad Gai-um.23 Demnach hatte Gaius-Caligula den Plan gefat, seine Statue im JerusalemerTempel aufstellen zu lassen. Petronius, der Statthalter von Syrien, erhlt den Auf-trag, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. In diesem Zusammenhang schreibtder Knig Agrippa I. einen Brief an den Kaiser, den Philon in voller Lnge in sei-ne Schrift aufnimmt ( 276329). Dies, so meint Zuntz, sei der Hintergrund derAussage Mk 13,14 (ho. tan de. i.dete to. bde. lygma te. s eremo. seos hesteko. ta ho. pou ou dei.).

    Man mu damit diese These berhaupt eine Chance hat dazu freilich eineweitreichende Voraussetzung machen. Zuntz formuliert sie wie folgt: Wem . . .dies Evangelium trotz einiger Interpolationen als ein grandios-einheitlichesWerk gilt, und das 13. Kapitel unmittelbar vor der Leidensgeschichte als Kernund Gipfel seiner Lehre; wie kann er die Folgerung vermeiden, da dieser Vers dasganze Werk auf das Jahr 40 datiert?24

    Obwohl ich diese Voraussetzung nicht teile, wollen wir noch kurz einen Blickauf die Begrndung von Zuntz werfen. Er sagt: In Mk 13,14 wird ein konkre-tes und ganz spezifisches Ereignis angekndigt; den Wissenden unzweideutig, denNichteingeweihten unverstndlich und unverdchtig.25 Seines Erachtens haben

    Literatur, S. 4771. Die These hatte schon zuvor C.C. Torrey vertreten, vgl. S. 47 mit Anm. 1.22 Gnther Zuntz, a. a. O., S. 47.23 Mit dieser Schrift des Philon und dem Plan des Caligula, seine Statue im Tempel in Jerusalem

    aufstellen zu lassen, haben wir uns schon in einem ganz anderen Zusammenhang beschftigt, als wirdas Diaspora-Judentum diskutierten, vgl. dazu oben im dritten Kapitel, Paragraph 13, S. 104106.

    24 Gnther Zuntz, a. a. O., S. 47f. Die Alternative dazu sieht Zuntz zufolge so aus: Wer nun dasMk-Evangelium als ein zuflliges Sammelsurium verschiedenster berlieferungen ansieht, fr deninvolviert diese Deutung keine erheblichen Konsequenzen. Ihm gilt das 13. Kapitel die flsch-lich sogenannte Kleine oder Synoptische Apokalypse als ein loses Blatt, vielleicht ein Flugblattaus dem Jahre 40, welches irgendwie, viel spter, in diesen Sammelkasten, genannt Evangelium,hineingeraten ist.

    25 Gnther Zuntz, a. a. O., S. 48.

  • 360 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    wir es hier mit einer verschwrerhafte[n] Geheimsprache zu tun: nur wer inder prophetisch-nationalen Tradition lebte, konnte und mute in dem abstru-sen Kennwort (to. bde. lygma te. s eremo. seos) das Zitataus Daniel (und 1.Macc 1,54) erkennen; mithin die Bedrohung des Allerheiligstendurch Caligula, wie einst durch Antiochus IV. Der Hinweis wird, fr Gesinnungs-genossen, vollends gesichert durch den grammatischen Fehler, gleich danach, indem Partizip [hesteko. ta]: das Maskulinum statt des grammatisch erfor-derten Neutrums indiziert [to. nandria. nta tou. basile. os]26. Mit gutem Grund wird also der Leser eben hier zu be-sonderer Aufmerksamkeit aufgefordert: [ho anagigno. skonnoei.to]: was einem rmischen Zensor oder Spion als sinnloses Fanatiker-Gefaselerscheinen mute (das Scheusal der Wstung, der steht wo er nicht soll), ebendarin erkennt der Glubige das Signal fr die Wiederkehr seines Heilands.27

    Zuntz ist daher der Ansicht, da diese Formulierung unbedingt zur Zeit des Kai-sers Caligula niedergeschrieben worden sein msse. Spter nach Januar 41 hattedieser Vers keinerlei Aktualitt mehr. Dies zeigen auch die synoptischen Parallelen.Was Markus verschleiert und durch einen Geheimcode andeutet, wird [bei Mat-thus bzw. bei Lukas] entweder derb beim Namen genannt oder gestrichen. Mt24,15 liefert die eindeutige Quellenangabe fr das Greuel der Wstenei (wie sta-tuiert durch den Propheten Daniel) und eindeutige Ortsangabe statt verhllenderAndeutung (am heiligen Ort, d. h. Tempel statt wo er nicht soll). Den Ap-pell an den Leser lt Matthus stehn; aber welcher verborgene Hintersinn bleibtihm jetzt noch zu ergrnden? Lukas andrerseits lt eben alles Spezifische fort undersetzt es durch die Erfahrungen des Jahres 70.28 So kommt Zuntz zu dem Ergeb-nis: Der Vergleich mit den Synoptikern, scheint mir, verdeutlicht und verstrktden Eindruck realistischer Zeitbezogenheit in Mk 13,14; Bezogenheit auf das Jahr40.29

    * * *

    Unabhngig von Zuntz ist der polnische Medivist Tomasz Jasinski zu einem ganzDie These vonTomasz Jasinski hnlichen Ergebnis gekommen: Auch er will das Markusevangelium mit Hinweisauf die von Zuntz genannte Stelle 13,14 auf das Jahr 40 datieren.30 Im Unterschied zuZuntz beschrnkt er sich jedoch nicht auf die Argumentation mit 13,14, sondern bettet

    26 In der von mir hinzugefgten Transkription des griechischen Einsprengsels ahme ich dieZuntzschen Sperrungen nicht nach.

    27 Gnther Zuntz, ebd.28 Gnther Zuntz, a. a. O., S. 48f.29 Gnther Zuntz, ebd.30 Tomasz Jasinski: . ber die Anfnge des Neuen Testaments, Ins-

    tytut Historii UAM Wykady III, Poznan 1998. Herr Kollege Jasinski war so freundlich, mir seineSchrift ber das Markusevangelium zuzusenden; dafr danke ich ihm auch an dieser Stelle.

  • 47 Das Markusevangelium 361

    seine Hypothese in eine originelle Rekonstruktion der frhchristlichen Geschichte v. a. derdreiiger Jahre ein. Daher will ich seine These an dieser Stelle kurz referieren.

    Der Ausgangspunkt der berlegungen Jasinskis ist der Weg des Petrus nach der Kreu-zigung. Petrus habe Jerusalem zusammen mit den Zebedaiden Johannes und Jakobus ver-lassen und sei in seine Heimat Galila zurckgekehrt. Dort wurde ihnen eine Erscheinungdes Auferstandenen zuteil (vgl. Mk 14,28 und 16,7), woraufhin Petrus und seine Genos-sen dort ihre Mission ausbten.31 Dies war aber nach Jasinski nicht eine vorbergehendePhase von einigen Wochen oder Monaten wie auch sonst in der Forschung angenom-men wird , sondern diese Phase dauerte bis Ende der dreiiger Jahre, genauer bis ins Jahr39/40. Wir haben gesehen, da der Kaiser Caligula im Jahr 39 den Herodes Antipas ab-setzte und nach Lugdunum verbannte.32 Galila ging in die Herrschaft des Agrippa I. ber,der sogleich Manahmen gegen die christliche Mission dort einleitete: Er beachtete de-monstrativ das jdische Gesetz . . . , um die gesellschaftlichen Eliten des jdischen Volkesfr sich zu gewinnen. Im Rahmen dieser Politik setzte sich Agrippa I. mit der Wander-predigt in Galila auseinander. Jakobus, der mglicherweise an der Spitze dieser Bewegungstand (Mk 10,3537), wurde vermutlich noch in Galila enthauptet, whrend sich Petrusund Johannes durch Flucht nach Jerusalem retten konnten. Diese Stadt lag auerhalb desMachtbereiches von Agrippa, denn das ganze Gebiet von Juda und Samaria stand seit 6n. Chr. unter der direkten Herrschaft der rmischen Prokuratoren.33

    Die bersiedlung des Petrus und des verbliebenen Zebedaiden Johannes nach Jerusalemist demnach in das Jahr 39/40 zu datieren, d. h. vor der Reise des Agrippa I. nach Romim Herbst des Jahres 40.34 Im Jahr 41 wurde Agrippa I. von Kaiser Claudius auch dieMacht ber Juda und Samaria bertragen. Von diesem Moment an mute Petrus mitdem Schlimmsten rechen; schlielich in den Tagen der Ungesuerten Brote im Jahre 44wurde er gefangengenommen. Nach seiner Befreiung verlie er Jerusalem. Hier bricht dieJerusalemer Quelle ab.35

    Die Wirksamkeit des Petrus in Jerusalem im Zeitraum von 39/40 bis 44 ist Thema derJerusalemer Quelle, die dem Lukas als Vorlage fr den ersten Teil der Apostelgeschichte(nach der Abgrenzung Jasinskis ist das Apg 112) diente. Dies pat sehr gut zu der zeitli-chen Einordnung, da die Wirksamkeit des Petrus nach dieser Quelle strikt in den Grenzendes rmischen Statthalters verluft, finden wir ihn doch in Jerusalem selbst, in Juda undSamarien und schlielich in den Kstenstdten alles Gebiete, die dem rmischen Prfek-ten unterstanden, bis auch dieses Gebiet dem Reich des Agrippa I. zugeschlagen wurde.

    Wie die genannte Jerusalemer Quelle ist nun auch das Markus-Evangelium in der Um-gebung des Petrus entstanden.36 Dieses Evangelium ist eigentlich das Petrusevangeli-

    31 Tomasz Jasinski, a. a. O., S. 1718.32 Vgl. dazu oben in Paragraph 12 die Seite 93 mit Anm. 5 sowie in demselben Paragraphen die

    Seite 99.33 Tomasz Jasinski, a. a. O., S. 1920.34 Tomasz Jasinski, a. a. O., S. 20.35 Tomasz Jasinski, a. a. O., S. 22.36 Tomasz Jasinski, a. a. O., S. 24.

  • 362 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    um.37 Petrus steht an vielen Stellen im Mittelpunkt (Jasinski nennt S. 78: 1,1618;1,2931; 1,3539; 3,16; 5,37; 8,29; 8,32b; 9,28; 10,28; 14,29; 14,66). Was die Zeit sei-ner Entstehung angeht, so verweist Jasinski wie auch Zuntz auf 13,14. Wie dieser ist aucher der Meinung, da wir damit auf das Jahr 40 verwiesen sind: Der Rckgriff auf DanielsProphezeiung spiegelte die ngste der Juden im Jahr 40 wider. In diesem Jahr lagen vorden Grenzen von Palstina ber ein Jahr lang zwei rmische Legionen, die auf Befehl Cali-gulas seine Statue im Tempel von Jerusalem aufstellen sollten. Alles deutete daraufhin, daweder die verzweifelten Proteste der Juden noch die Vernunft des Petronius, des Befehls-haber dieser Legionen, das Unglck vermeiden konnten. Caligula war unvershnlich. Istes da nicht verstndlich, da die Jnger des Herrn sich die Frage stellten, was wohl weitergeschehen werde?38

    Unser Vers verweist auf Daniel 9,2627. Er wurde noch whrend der Krisenzeit 40/41geschrieben, denn er [der Evangelist] wute nicht wie die Ereignisse ausgingen. Sonst htteer nicht geschrieben: Betet darum, da dies alles nicht im Winter eintritt. Wie man wei, wardie Phase der Verhandlungen zwischen Petronius und den Juden in Tiberias im Sptherbst,also fast am Anfang des Winters, die schwierigste in dieser Krise. Htte Markus die kleineApokalypse nach dieser Krise geschrieben, also nach 41 oder 70, dann htte er genau wieLukas die Bemerkung ber den Winter . . . streichen mssen, denn aus einer spterenPerspektive waren diese Stze sinnlos.39

    Deshalb msse man annehmen, da das Evangelium gleich nach der Flucht des Petrusvon Galila nach Jerusalem im Jahr 40/41 geschrieben worden sei.

    Wie soll man die These nun beurteilen? Die Annahme Jasinskis, wonach Petrus unddie Zebedaiden nach der Kreuzigung Jesu Jerusalem verlassen haben, um nach Galila zuziehen, erscheint mir durchaus wahrscheinlich. Auch da ihnen dort eine Erscheinung desAuferstandenen zuteil wurde, ist aus der berlieferung zu belegen: Sowohl Markus (14,28in Verbindung mit 16,7) als auch Matthus (Mt 28,1620 ist auf einem Berg in Galilalokalisiert) rechnen im Gegensatz zu Lukas mit Erscheinungen in Galila. Auch diedritte Annahme schlielich, wonach Petrus und die Zebedaiden im Anschlu an dieseErscheinungen zunchst in Galila missionierten, halte ich fr erwgenswert.

    Schwierig wird es allerdings, wenn Jasinski diese Phase bis ins Jahr 39 ausdehnt. Ihmzufolge hat Agrippa I. ja zuerst in Galila Manahmen gegen die neue Bewegung ergriffenund den Jakobus hingerichtet (vgl. Apg 12,12, wo allerdings von Galila gar keine Re-de ist!), woraufhin Petrus aus dem Hoheitsgebiet Agrippas I. nach Jerusalem geflohen sei,das damals im Jahr 39/40 noch den rmischen Statthaltern unterstand, was dem PetrusSchutz vor Nachstellungen Agrippas I. gewhrte. Dies ist deswegen eine problematischeHypothese, weil Jasinski gleichzeitig annimmt, die Informationen ber Petrus in Apg 112 entstammten einer Jerusalemer Quelle, die Lukas fr den ersten Teil seines Buches alsGrundlage benutzte. Hier ergibt sich ein Widerspruch zwischen dem von Jasinski rekon-struierten Wirken des Petrus in Galila in den dreiiger Jahren bis ins Jahr 39 und denAngaben der Jerusalemer Quelle, die den Petrus doch von Anfang an in Jerusalem wirksam

    37 Tomasz Jasinski, a. a. O., S. 7.38 Tomasz Jasinski, a. a. O., S. 27.39 Tomasz Jasinski, a. a. O., S. 28.

  • 47 Das Markusevangelium 363

    sein lt, angefangen bei der Himmelfahrt und der Nachwahl des Matthias in Kapitel 1ber die Predigt an Pfingsten in Kapitel 2, den Konflikten mit den jdischen Behrdenin Jerusalem in Kapitel 3 und 4 usw. Dieses Material fhrt Jasinski selbst in noch vielgrerem Umfang an!40 Es ist aber doch schlechterdings unmglich, all diese Ereignisseerst in den Zeitraum von 39/4044 zu datieren; zuvor aber war Petrus nach Jasinski dochausschlielich in Galila ttig und nicht in Jerusalem.

    Ich komme daher zu dem Ergebnis, da die von Jasinski angenommene Wirksamkeitdes Petrus in Galila bis ins Jahr 39 mit der Annahme einer Jerusalemer Quelle fr Apg112 unvereinbar ist.

    * * *

    Das widerlegt freilich noch nicht die Hypothese, wonach das Evangelium desMarkus ins Jahr 40 zu datieren ist; in diesem Punkt stimmt Jasinski ja mitZuntz berein. Daher behandle ich ihn hier abschlieend fr beide Autoren ge-meinsam. Dies erscheint umso notwendiger, als in der ursprnglichen Fassungmeines Textes hier mehrfach eine Inkonzinnitt bemngelt worden ist, zuletzt ineiner Diskussion im Internet, wo in einem Forum beklagt wurde, da ich zwar inmeinem Text die These von Zuntz darstelle, sodann aber mit einer Entstehungszeitdes Evangeliums um 70 rechne, ohne die Grnde zu nennen, die gegen die Thesevon Zuntz sprechen. Diesem Mangel mchte ich daher in dieser Auflage abhel-fen. Welches also sind die Grnde, die gegen eine Frhdatierung des Evangeliumssprechen, wie sie von Zuntz und Jasinski vorgeschlagen wird?

    Das Problem der Datierung aufgrund von 13,14 liegt darin, da sie schon indiesem dreizehnten Kapitel in seiner vorliegenden Form nicht funktioniert. WieJasinski ausdrcklich einrumt, mu man sptere Hinzufgungen in diesem Kapi-tel annehmen, damit man mit der Argumentation durchkommt. Es ist unbestrit-ten, da wir in diesem Kapitel mehrere Schichten zu unterscheiden haben. Wenndas erwartete Ereignis nicht so eingetreten ist, wie man es erwartet hatte, mu maneine Modifikation anfgen. Klassisch ist dieses Verfahren bei Wellhausen charak-terisiert: Dergleichen Prolongationen des Wechsels sind charakteristisch fr dieApokalyptik.41

    In bezug auf die Datierung bedeutet das: Nicht das ganze Kapitel 13 geschwei-ge denn das ganze Markus-Evangelium kann man sinnvollerweise mit Hilfe desHinweises in 13,14 datieren, sondern lediglich eine postulierte Vorstufe des heutevorliegenden Kapitels.

    40 Tomasz Jasinski, a. a. O., S. 1516.41 Julius Wellhausen: Das Evangelium Marci, bersetzt und erklrt von J. W., Berlin 21909, wieder

    abgedruckt in: ders.: Evangelienkommentare. Mit einer Einleitung von Martin Hengel, Berlin/NewYork 1987, S. 106 = S. 426.

  • 364 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    Da liegt es nach meinem Urteil nher, den umgekehrten Weg zu whlen: Markushat hier einen Text aufgegriffen und bearbeitet, der mglicherweise in der Krise desJahres 40 entstanden ist. So sagt beispielsweise Lohmeyer in bezug auf 13,14: Dererste Spruch ist ein apokalyptisches Geheimwort, nur den Wissenden verstndlich:Wer liest, merke auf. Hat Mk es schon bernommen, so zeigt es, da er einer lite-rarischen Vorlage folgt; und dafr spricht, da es den in 133 bezeichneten Rahmeneiner Rede Jesu auf dem lberg sprengt. Was er hier bringt, ist also eine Art apo-kalyptischen Flugblattes, von dem man freilich nicht wei, wie weit es reicht.42

    Aufgrund von 13,14 kann man mglicherweise die Entstehungszeit der markini-schen Vorlage, nicht aber die des ganzen Evangeliums datieren. Aus den genanntenGrnden scheint es mir nherliegend, bei der herkmmlichen Datierung um 70zu bleiben.

    * * *

    Wir kommen daher zu dem folgenden Ergebnis:Ergebnis

    ber die Identitt des Verfassers des Markusevangeliums wissen wir nichts.

    Die Abfassungszeit ist mit um 70 anzugeben.

    ber den Abfassungsort sind nur Spekulationen mglich.

    5. Literatur

    Einfhrungen zum Markusevangelium43

    Adela Yarbro Collins: Markusevangelium, RGG4 5 (2002), Sp. 842846.

    Peter Pilhofer: Markusevangelium, www.neutestamentliches-repetitorium.de.

    Kommentare in chronologischer Folge

    Julius Wellhausen: Das Evangelium Marci, bersetzt und erklrt von J. W., Berlin21909, wieder abgedruckt in: ders.: Evangelienkommentare. Mit einer Einlei-tung von Martin Hengel, Berlin/New York 1987.

    Ernst Lohmeyer: Das Evangelium des Markus, KEK I 2, Gttingen 1937.

    42 Ernst Lohmeyer: Das Evangelium des Markus, KEK I 2, Gttingen 1937, S. 275.43 Besonders zu beachten ist der Artikel Markusevangelium, TRE 22 (1992), S. 169, Z. 42.

  • 47 Das Markusevangelium 365

    C. F. D. Moule: The Gospel according to Mark, CNEB o. Nr., Cambridge u.a.1965 (korrigierter Nachdr. 1978).

    Eduard Schweizer: Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Gttingen 41975.

    Joachim Gnilka: Das Evangelium nach Markus. 1. Teilband: Mk 18,26, EKK II/1,Zrich/Einsiedeln/Kln/Neukirchen-Vluyn 1978.

    Joachim Gnilka: Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband: Mk 8,2716,20, EKKII/2, Zrich/Einsiedeln/Kln/Neukirchen-Vluyn 1979.

    Walter Schmithals: Das Evangelium nach Markus. Kapitel 19,1, TK 2/1, G-tersloh und Wrzburg 1979.

    Walter Schmithals: Das Evangelium nach Markus. Kapitel 9,216, TK 2/2, G-tersloh und Wrzburg 1979.

    Dieter Lhrmann: Das Markusevangelium, HNT 3, Tbingen 1987.

    Bas van Iersel: Markus: Kommentar, bersetzung aus dem Niederlndischen vonAlfred Suhl, Dsseldorf 1993.

    Sonstige Literatur

    Rudolf Bultmann: Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Gt-tingen 81970.

    Hubert Cancik [Hg.]: Markus-Philologie. Historische, literargeschichtliche und sti-listische Untersuchungen zum zweiten Evangelium, WUNT 33, Tbingen1984.

    Hubert Cancik: Die Gattung Evangelium. Das Evangelium des Markus im Rah-men der antiken Historiographie, in: Hubert Cancik [Hg.]: Markus-Philologie,S. 85113.

    Martin Dibelius: Die Formgeschichte des Evangeliums, Tbingen 61971.

    Hans Jrgen Ebeling: Das Messiasgeheimnis und die Botschaft des Marcus-Evange-listen, BZNW 19, Berlin 1939.

    Claudio Ettl: Der Anfang der . . . Evangelien. Die Kalenderinschrift von Prie-ne und ihre Relevanz fr die Geschichte des Begriffs . Mit einerAnmerkung zur Frage nach der Gattung der Logienquelle, in: Wenn drei dasgleiche sagen Studien zu den ersten drei Evangelien. Mit einer Werkstattber-setzung des Q-Textes, Mnster 1998, S. 121151.

    Martin Hengel: Die Evangelienberschriften, SHAW.PH 1984, 3.

    Tomasz Jasinski: . ber die Anfnge des Neuen Testa-ments, Instytut Historii UAM Wykady III, Poznan 1998.

  • 366 Kapitel VIII: Die Anfnge der Jesusberlieferung

    Dietrich-Alex Koch: Die Bedeutung der Wundererzhlungen fr die Christologiedes Markusevangeliums, BZNW 42, Berlin/New York 1975.

    Dietrich-Alex Koch: Inhaltliche Gliederung und geographischer Aufri im Markus-evangelium, NTS 29 (1983), S. 145166.

    Willi Marxsen: Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evan-geliums, FRLANT 67, Gttingen 21959.

    Angelika Reichert: Zwischen Exegese und Didaktik. Die markinische Erzhlung vonder Sturmstillung (Mk 4,3541), ZThK 101 (2004), S. 489505.

    Alfred Suhl: Die Funktion der alttestamentlichen Zitate und Anspielungen im Mar-kusevangelium, Gtersloh 1965.

    William Wrede: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zumVerstndnis des Markusevangeliums, Gttingen 41969.