10

Karen Lohse "Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie" (Vorwort)

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Karen Lohse sucht den Zugang zum Menschen Hilbig nicht über die klassische biografische Chronologie, sondern über Motive. Anhand von Stichworten wie „Asche“, „Keller“ oder „Macht“ verfolgt sie Hilbigs Lebensweg aus der Kleinstadt Meuselwitz nach Berlin, von einem Dasein als Heizer in das Rampenlicht der deutschen Literaturlandschaft.

Citation preview

Page 1: Karen Lohse "Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie" (Vorwort)
Page 2: Karen Lohse "Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie" (Vorwort)
Page 3: Karen Lohse "Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie" (Vorwort)

Karen Lohse

Wolfgang Hilbig – eine motivische Biografie

Page 4: Karen Lohse "Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie" (Vorwort)

Noch

Ferne Versammlung bleicher Gedankendie noch schweigen von alten Grenzen abgeschirmtvom Grenzenlosen eingeschneit – von Zeit und Wind bestürmt – noch will sich nicht ihr dunkler Ursprung zeigen.

Brennende Schneegestöber flogen durch das Lampenschwankenund eine Fußspur führte noch unverloren übers Eis – nichts von Erinnrung rührte sich im dunklen Weiß.

Es war der letzte Schnee aus dem vergangnen Jahrer stellte nur den Wirbel um sich selber darnicht mehr: und nicht mein Ich im weißen Kreis.

Wolfgang Hilbig, 1990

Page 5: Karen Lohse "Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie" (Vorwort)

Inhalt

Vorwort: Innen und Außen – das Autobiografische an Wolfgang Hilbigs Texten 6

I Meuselwitz und Leipzig, 1941–1985 9

1 Lager, Schule, Gefängnis – Die Herkunft 112 Trümmer, Asche, Kadaver – Das Vergängliche 233 Arbeit, Realismus, Schreiben – Das Dazwischen 374 Freiheit, Subkultur, Erfolg – Die Boheme 58

II Der Westen, 1985–2007 73

1 Körper, Frauen, Sexualität – Die große Mutter 792 Bier, Rausch, Flucht – Der Durst 843 Simulation, Spitzel, Keller – Die Macht 874 Letzte Kämpfe 94

III Stimmen über Wolfgang Hilbig – Interviews 97

1 Nachruf-Gedicht von Thomas Böhme 982 Interviews in alphabetischer Reihenfolge 99

Nachwort: Jürgen Hosemann: Ort der Gewitter (Wustrow). Eine Erinnerung an den letzten Besuch bei Wolfgang Hilbig 140

Werkverzeichnis 144

Page 6: Karen Lohse "Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie" (Vorwort)
Page 7: Karen Lohse "Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie" (Vorwort)

6

Vorwort

Innen und Außen – Das Autobiografische an Wolfgangs Hilbigs Texten

Es gibt eine Erfahrung, die Wolfgang Hilbig schon sehr früh gemacht hat: Das Innenleben passt nicht in die Form, die das äußere Dasein vorgibt. Um zu überleben, muss es sich, mit Deleuze und Guattari gesprochen, deterri-torialisieren. Es muss unsichtbar anwesend sein. Der unbesetzte Raum, in dem ein Schriftsteller sein Innenleben in Sicherheit bringt, ist die Sprache. Im Vorwort für das Buch »Fahrwasser. eine innere biographie in ansät-zen« (1990) der Dichterin Jayne-Ann Igel konkretisiert Hilbig seine Unter-scheidung zwischen dem Für-Sich-Sein und dem Für-Andere-Sein: Wenn wir annehmen, daß Biographie die Beschreibung des Lebens eines Menschen von außen ist – dem die Autobiographie desselben oft genug, und besonders in diesem Land, nur konträr entspricht –, so hat Jayne-Ann Igel recht, wenn sie sich gegen das Wort »Bruch« verwahrt, ebenso, wie sie den Begriff »Wand-lung« für sich nicht akzeptieren kann.

Die äußerlich bleibende Biografie eines Menschen entwickelt sich besonders unter den Bedingungen einer Diktatur anders als dessen Auto-biografie. Welche der beiden Formen verfügt über mehr Wahrheit? Oder ist es erst die Zusammenschau beider, durch die ein stimmiges Bild des Porträtierten entworfen werden kann? Wolfgang Hilbig hat mehrere Leben geführt. Seine äußere Biografie zeigte das Bild eines aus der tiefsten Ar-beiterklasse stammenden Mannes, der über zwei Jahrzehnte seines Lebens im Dreck der Industriebetriebe geschuftet hat. Seine innere Autobiografie begann dann, wenn rund um ihn Dunkelheit herrschte. Nachts, wenn die Menschen in seiner Umgebung schliefen, schrieb er.

Die Texte, die dabei entstanden, sind zutiefst von der äußeren Rea-lität geprägt. Aber was Hilbig dort verhandelte, ist eine fingierte Realität, die dem Autor zu einer Möglichkeit verhalf, die verschiedenen Räume des eigenen Seins zu betreten. Auf diese Weise konnte er sich zu dem ma-chen, was er sein wollte, aber auch eine Situation herstellen, vor der er sich fürchtete und sich ihr stellen. Durch den Einbezug biografischen wie auto-biografischen Materials vermitteln Hilbigs Texte eine starke Authentizität, die bloße Fiktion so nicht transportieren kann. Die realen Informationen

Page 8: Karen Lohse "Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie" (Vorwort)

7

bilden aber nur den Anlass oder Hintergrund von Hilbigs Texten. Hilbig übersetzte eine allgemeine Bewusstseinslage in Sprache. In seinem Roman »Das Provisorium« (2000) war das zum Beispiel die Erfahrung eines ost-deutschen Schriftstellers, der kurz vor der Wende in den Westen ausreist. Bald darauf merkt dieser Mann, dass er den Terror der realsozialistischen Diktatur nur gegen den einer sich immer mehr beschleunigenden Konsum-welt eingetauscht hat. Hilbig hat Ähnliches erfahren, aber neben ihm auch tausende andere ehemalige DDR-Bürger, die sich mit den Wendewirrnissen nicht zurechtfanden.

Fiktion und Realität gehen in Hilbigs Texten eine Symbiose ein und lassen sich nur sehr schwer voneinander separieren. In einem Interview mit Jürgen Krätzer beschrieb er sein poetisches Verfahren als Versuch, Unwirk-liches mit realistischen Mitteln so zu beschreiben, dass es real wirke.� Lite-raturgeschichtlich befindet er sich damit in Gesellschaft von Franz Kafka und E. T. A. Hoffmann. Und wie bei diesen beiden gilt bei Hilbig ebenso der umgekehrte Fall: Wirkliches wird so beschrieben, dass es irreal wirkt. Vertraute Situationen und Bilder erscheinen durch den plötzlichen Ein-bruch fantastischer Elemente unheimlich: Im abendlichen Dämmerlicht sind die fädigen Müllstreifen im Geäst knorriger, entlaubter Bäume plötz-lich menschliches Haar.

Hilbigs Texte sind durch immer wiederkehrende Motive miteinander verbunden. Die Motive geben realen Erfahrungshintergrund in kompri-mierter Form wieder. Sie sind der Ausgangspunkt für jedes weitere textu-elle Geschehen und jedes textuelle Geschehen kehrt zu ihnen zurück. Die Motive seines Schreibens waren auch die seines Lebens. Einige, wie »Asche« oder »Die große Mutter« begleiteten ihn von Kindheit an. Andere kamen erst später hinzu, zum Beispiel »Macht« und »Gefängnis«. Einer konkreten Chronologie verweigern sie sich. Teilweise gehen sie ineinander über, ver-mischen oder überlagern sich. Die Chronologie von Hilbigs Schreiben war nicht die seines Lebens.

Werden Biografie und Autobiografie zusammen betrachtet, ergeben sich aufschlussreiche Parallelen. Dazu bieten sich die Motive seines Lebens und Schreibens an. Der Leser eines Buches, dessen Untertitel das Wort »Biografie« beinhaltet, erwartet einen sich sukzessive entwickelnden Le-

� Krätzer, Jürgen: »Für einen Schriftsteller, der einen Text schreibt, ist die Welt immer auf irgendeine Weise provisorisch …«. Ein Gespräch mit Wolfgang Hilbig, in: die ho-ren, 46. Jg. 3. Quartal, 2001, S. 151

Page 9: Karen Lohse "Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie" (Vorwort)

8

benslauf. Den wird es auch in diesem Buch geben und an ihm orientiert sich die Struktur, doch er steht nicht im Vordergrund. Hilbigs biografische Daten beleuchten die Motive seiner Texte unter einem neuen Licht und er-öffnen neue Perspektiven auf sein literarisches Gesamtwerk.

Als ich vor einigen Jahren im Rahmen einer Seminararbeit das erste Mal einen Text von Wolfgang Hilbig gelesen habe – den Roman »Ich« – war ich fasziniert davon, wie die morbide Düsternis in der Seele des Protago-nisten auf die Außenwelt übergreift. Ich spürte: Hier geht es um realen Schmerz, um wirkliche Verzweiflung. Hier versteckt sich niemand hinter fiktiven Figuren. Die schonungslose Wahrheit, die kompromisslose Ehr-lichkeit, die hinter den Zeilen standen, berührten mich. Ich merkte, der-jenige, der diese Zeilen geschrieben hatte, will nicht gefallen, sucht nicht die Provokation. Gerade deshalb waren und sind seine Texte eine Provoka-tion an sich, sowohl damals in der DDR als auch jetzt im wiedervereinigten Deutschland.

Hilbig war unbestechlich. Er ließ sich nicht vereinnahmen und be-harrte auf seiner Meinung, auch wenn sie unbequem war. Beim Verfassen seiner Texte hatte er keine Verkaufszahlen im Hinterkopf. Jahrelang schrieb er mit dem Wissen, keinerlei Aussicht auf Veröffentlichung zu haben. Schreiben war seine Form zu leben, so essenziell, dass sich für ihn nie die Frage nach einem anderen Lebensweg stellte. Dieses Beharren auf der inne-ren Notwendigkeit machte ihn zum Außenseiter, zum Sonderling, der sich ständig zwischen den Stühlen wiederfand. Es war dieses beinah an Sturheit grenzende Nicht-aufgeben-Wollen, das ihn groß erscheinen lässt. Sein Le-ben lehrt, an den eigenen Träumen festzuhalten, an dem, was man für sich selbst als richtig erkannt hat, und seine eigene Autobiografie gegen die Zu-schreibungen der Außenwelt zu verteidigen.

Das Erscheinungsdatum dieses Buches fällt mit Wolfgang Hilbigs ers-tem Todestag zusammen. Der Schmerz des Verlustes war bei vielen engen Freunden und Familienangehörigen noch zu groß, um sich über ihn mitzu-teilen. Das vorliegende Buch ist deshalb eine erste biografische Annäherung an Wolfgang Hilbig und sein literarisches Lebenswerk. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann daher nicht bestehen.

Ich danke an dieser Stelle allen Freunden, Bekannten und Kollegen von Wolfgang Hilbig, die mir so freundlich und bereitwillig Einblick ge-währten in das Stück Leben, das sie mit ihm verbracht haben.

Karen Lohse im März 2008

Page 10: Karen Lohse "Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie" (Vorwort)