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SONDERAUSGABE 22. FEBRUAR 2011 AUSLANDSINFORMATIONEN Die „Tunisierung‟ der Arabischen Welt Hans-Gert Pöttering Umbruch im Nahen Osten – Was folgt auf die Ereignisse in Tunesien und Ägypten? Michael A. Lange Ägypten beendet die Ära Mubarak Andreas Jacobs Jemen: Revolution verschoben? Thomas Birringer Umbruch in Nahost – Stillstand in Iran? Oliver Ernst AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

KAS Auslandsinformationen – Sonderausgabe »Umbruch in Nahost« (22. Februar 2011)

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In den KAS Auslandsinformationen werden internationale Fragen, Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit erörtert. Die monatlich erscheinende Publikation hat das Ziel, einen Teil der im Zusammenhang mit der Auslandsarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung gesammelten Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Diese Sonderausgabe zum Umbruch im Nahen Osten erschien am 22. Februar 2011.

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Page 1: KAS Auslandsinformationen – Sonderausgabe  »Umbruch in Nahost« (22. Februar 2011)

SONDERAUSGABE22. FEBRUAR 2011

SONDERAUSGABE22. FEBRUAR 2011

AUSLANDSINFORMATIONEN

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Die „Tunisierung‟ derArabischen WeltHans-Gert Pöttering

Umbruch im Nahen Osten – Was folgt auf dieEreignisse in Tunesien und Ägypten?Michael A. Lange

Ägypten beendet dieÄra MubarakAndreas Jacobs

Jemen: Revolutionverschoben?Thomas Birringer

Umbruch in Nahost –Stillstand in Iran?Oliver Ernst

AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND

FRIEDEN IN NAHOST?

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KASAUSLANDSINFORMATIONEN

SONDERAUSGABE

AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

22. FEBRUAR 2011

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Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.Tiergartenstraße 35D-10785 BerlinTelefon (030) 2 69 96-33 83Telefax (030) 2 69 96-35 63Internet: http://www.kas.de http://www.kas.de/auslandsinformationenE-Mail: [email protected]

Herausgeber: Dr. Gerhard Wahlers

Redaktion: Frank Spengler, Hans-Hartwig Blomeier, Dr. Stefan Friedrich, Dr. Hardy Ostry, Jens Paulus, Dr. Helmut Reifeld

Verantwortlicher Redakteur: Stefan Burgdörfer

Gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Das Copyright für die Beiträge liegt bei denKAS-Auslandsinformationen.

Satz: racken, Berlin

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DIE „TUNISIERUNG‟ DER ARABISCHEN WELTHans-Gert Pöttering

UMBRUCH IM NAHEN OSTEN – WAS FOLGT AUF DIE EREIGNISSE IN TUNESIEN UND ÄGYPTEN?Michael A. Lange

ÄGYPTEN BEENDET DIE ÄRA MUBARAK Andreas Jacobs

JEMEN: REVOLUTION VERSCHOBEN?Thomas Birringer

UMBRUCH IN NAHOST – STILLSTAND IN IRAN?Oliver Ernst

Inhalt

Impressum

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3AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

DIE „TUNISIERUNG‟ DER ARABISCHEN WELT

Hans-Gert Pöttering

Am Ende ging es ganz schnell: Noch am Donnerstagabend hatte Tunesiens Präsident Zine el Abidine Ben Ali in einer Fernsehansprache an das tunesische Volk auf dem Höhe-punkt der Proteste erklärt: „Ich habe verstanden, ich habe Sie alle verstanden – Arbeitslose, Bedürftige, Politiker und alle, die mehr Freiheiten fordern. Ich habe Sie wohl verstanden.‟

Doch es reichte nicht mehr aus. Der Zenit der Macht war nach mehr als 23-jähriger Herrschaft überschritten, die Stimmung im Volk nicht mehr zu drehen. Da halfen auch keine Versprechen auf mehr Freiheiten.

Für viele Beobachter war erstaunlich, dass diese Unruhen in einem Land begannen, das im Vergleich zur gesamten Region sowohl mit Blick auf die wirtschaftliche Situation als auch die soziale Struktur weit entwickelt und fortge-schritten ist, ja gar als Musterland galt. Jedoch stand als mehr oder weniger sicher geglaubtes politisches Credo fest: erst wirtschaftliche und soziale Entwicklung, sodann politische Freiheiten. Mittlerweile mehren sich die Proteste in den Ländern der arabischen Welt. Was in Tunesien begann, muss nicht automatisch die ganze Region wie in einem Domino-Effekt ergreifen. Doch in jedem Falle sollte es die Regierenden daran erinnern, ihrer politischen Verantwortung stärker nachzukommen, wenn sie Ähnli-ches wie in Tunesien vermeiden wollen.

Dr. Hans-Gert Pöttering MdEP, Präsident des Europäischen Parla-ments a.D., ist Vor-sitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

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4 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

ÄGYPTEN

Menschenrechtsaktivisten in der Region rufen bereits auf zu einer „Tunisierung der arabischen Straße‟ und appel-lieren an ihre Landsleute, es den Tunesiern gleichzutun. Ägypten, das im Herbst auf Präsidentschaftswahlen zusteuert, wird die Lage wohl am kritischsten beobachten. Der 82-jährige Präsident Hosni Mubarak regiert das Land am Nil seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Militär, Polizei und Geheimdienste spielen eine wichtige Rolle, politische Freiheiten sind eingeschränkt. Die Lage im Land ist besser als bei vielen Nachbarn, aber auch hier gibt es erste, ernst zu nehmende Anzeichen einer Protestbewegung, vor allem bei Jüngeren.

ALGERIEN

Auch in Algerien, das flächenmäßig größte Land der Region, ist Potential für größere Unruhen gegeben. Präsident Abdelaziz Bouteflika regiert das Land mit starker Hand, wobei er sich auf die Unterstützung des Militärs verlassen kann. Zu Protesten perspektivloser Jugendlicher kam und kommt es auch hier immer wieder. Noch schwebt warnend die Erfahrung des Bürgerkrieges Anfang der neunziger Jahre im kollektiven Gedächtnis, der 100 000 Menschen das Leben kostete und das Land nahe an den Abgrund brachte.

LIBYEN

Der Nachbar Tunesiens, die „Große Sozialistische libysch-arabische Volksrepublik‟ mit ihrem Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi befindet sich in besonders prekärer Lage, wenngleich Proteste durch den umfassenden Sicherheitsapparat weitgehend unterdrückt werden. Klar ist jedoch, dass die Mehrheit der Bevölkerung von den reichlich fließenden Ölrenditen wenig erhält. Die soziale und gesundheitliche Infrastruktur ist marode, und Jugendliche haben auch hier keine wirkliche Perspektive. Es ist kein Wunder, dass Gaddafi auf die Welle der tune-sischen Protestbewegung mit Unverständnis reagierte und Ben Ali nach wie vor als legitimen Präsidenten betrachtet. Er tut dies, um seine eigene „Legitimität‟ nicht in Frage zu stellen, bevor es andere tun.

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5AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

JEMEN

Auf der arabischen Halbinsel steht der Jemen gleich vor einer doppelten Herausforderung: Gut zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung von Nord und Süd droht dem Land der Staatszerfall, drängen politische Kräfte aus dem Süden auf eine erneute Trennung hin. Die strenge Staatsführung von Präsident Ali Abdullah Salih ist im ärmsten Land der Region nicht unumstritten. Auch hier fanden am Sonntag Demonstrationen von Studenten statt, die skandierten „Freies Tunis, Sanaa grüßt dich 1.000-mal‟. Ob die Region nur Lunte gerochen hat oder bereits in Feuer zu stehen droht: Für die politisch Verantwortlichen ist klar, dass die Ereignisse in Tunesien, dem Land des Jasmins, in jedem Falle historisch sind.

Erstmals entlässt ein Volk seinen ausgedienten politischen Führer. Die Ereignisse zeigen deutlich, dass wirtschaftliche und soziale Entwicklung sich nicht dauerhaft von der Gewährung grundlegender politischer Freiheitsrechte und der Beachtung guter Regierungsführung trennen lassen. Die Machthaber der Region müssen diese Reformen angehen, sie dürfen nun nicht nur wieder politische Placebos verteilen, punktuell, vorübergehend, und nur dort, wo es nicht weh tut. Wer die Würde des Menschen – und das ist eine grundlegende Gemeinsamkeit von Christentum, Judentum und Islam – achtet, wird politische Freiheit nicht mit Füßen treten, sondern fördern und fordern.

Es ist im strategischen Interesse Europas, dass die Euro- päische Union und ihre Mitgliedstaaten hier ermutigend zur Seite stehen. Als unmittelbare Nachbarregion sind die Länder für unsere Zukunft von entscheidender Bedeu-tung. Als Europäer haben wir kein Interesse daran, dass Nordafrika in Anarchie und Chaos versinkt. Daher gilt es, Demokratisierung und Stabilität immer wieder neu auszubalancieren. Dabei können und wollen wir helfen, dass unsere Partnerländer eigenständig ihren Weg gehen. Die Europäische Union wird Tunesien bei der Vorbereitung für die notwendigen Wahlen unterstützen und mit Wahl-beobachtern dafür sorgen, dass der Wille des Volkes Gehör findet. Auch die Konrad-Adenauer-Stiftung wird hierzu einen Beitrag leisten.

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6 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Es ist Zeit, dass die Regierungen ihren nach Freiheit und Würde suchenden Völkern in der Region ein deutli-ches und verbindliches Zeichen geben. Die notwendige Botschaft kann keine andere sein, als zu sagen: „Wir haben verstanden!‟ – und entsprechend zu handeln.

Der Beitrag erschien am 19. Januar 2011 in der Berliner Morgenpost.

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7AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Michael A. Lange

Die Welt blickt in diesen Tagen mit großer Neugier und wohl auch etwas Verwunderung auf die Arabische Welt und begleitet über die Medien das sensationelle Geschehen. Die Ereignisse sind, vor allem für politische Beobachter, die diese Länder aus früheren Begegnungen zu kennen glaubten, ebenso überraschend wie besorgniserregend.

Die lange unterdrückten und drangsalierten Bürger dieser arabischen Staaten erheben sich gegen die despotische Willkür ihrer Autokraten und begehren auf gegen Bevor-mundung und Vernachlässigung. Sie fordern Gehör und Beachtung ihrer Würde. Sie wollen teilhaben an den Entscheidungen über ihre Zukunft und werden sich nicht mehr vertrösten lassen: „We want democracy – now!‟

UMBRUCH IN TUNESIEN

Den Anfang nahmen die Entwicklungen in Tunesien. Ein junger Hochschulabsolvent der Informatik aus der Klein-stadt Sidi Bouzid im Süden Tunesiens, Mohamed Bouazizi, findet trotz abgeschlossenen Studiums und angestrengter Suche in der Hauptstadt seines Landes keinen adäquaten Berufseinstieg. Er überwindet seinen Stolz und kehrt in seine Heimatstadt zurück, wo er versucht, seinen Lebens-unterhalt auf weniger akademische Weise, aber ehrlich, zu verdienen.

Er sucht ein Auskommen als fliegender Gemüsehändler. Die dortigen Behörden begegnen diesem erfolglosen „abtrünnigen‟ Akademiker mit Misstrauen und verweigern ihm die nötige Lizenz zum Straßenverkauf, auch weil er die geforderten Beschleunigungsgelder (Korruption) nicht

UMBRUCH IM NAHEN OSTENWAS FOLGT AUF DIE EREIGNISSE IN TUNESIEN UND ÄGYPTEN?

Dr. Michael A. Lange ist Teamleiter Politik- dialog und Analyse der Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusam- menarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung. Er leitete nahezu 20 Jah-re lang verschiedene Büros der Stiftung im Nahen Osten, u.a. in Tunis (1985 bis 1988) und Kairo (2001 bis 2007).

Dieser Text ist ein Vorabdruck aus den Auslands-informationen, Ausgabe März.

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8 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

1987 hatte Ben Ali als damaliger Minis-terpräsident die Macht an sich gerissen. Mit Unterstützung des Militärs und der Polizei zwang er den senilen Republik-gründer Boughiba in den Ruhestand.

zahlen kann oder zahlen will. Als er trotzdem weitermacht, greift ihn die Polizei auf, sperrt ihn ein, konfisziert seinen Eselskarren und sein Gemüse, verprügelt ihn in Erman-gelung requirierbaren Barvermögens und lässt ihn wieder gehen.

Der diplomierte Heimkehrer – in seiner Menschenwürde zutiefst verletzt – sieht nach mehrmaliger Wiederholung dieses Verfahrens vor Aussichtslosigkeit und Scham keine Alternative als den Freitod. Er übergießt sich mit Benzin und versucht, sich das Leben zu nehmen, überlebt jedoch zunächst. Der Präsident des Landes, Zine El-Abidine Ben Ali, erschrocken über diese grausige Tat, reist noch an das Krankenbett des offensichtlich Verzweifelten und spricht ihm telegen sein Mitgefühl aus. Zu spät, der symbolische Handschlag wird weder das verzweifelte „Opfer‟ noch den beunruhigten „Täter‟ retten. Am 4. Januar stirbt Mohamed Bouazizi an seinen Verletzungen.

Fast 25 Jahre zuvor, an einem friedlichen Novembermorgen im Jahr 1987, hatte Ben Ali als damaliger Ministerpräsident die Macht in Tunesien an sich gerissen. Mit Unterstützung des Militärs und der Polizei zwang er in einem

Medical Coup den senilen Republikgründer Habib Boug-hiba, seinen langjährigen Förderer, ohne Blutvergießen in den „krankheitsbedingten‟ Ruhestand. Die tunesische Bevölkerung begrüßte das Ende einer längeren Phase wirt-schaftlicher Stagnation und politischen Attentismus.

Der neue Präsident formierte sogleich eine neue politische Sammlungsbewegung, die sich Rassemblement Constituti-onnel Démocratique (RCD) nannte, zu neuen Ufern strebte und viele engagierte junge Kräfte anzog. Die überalterte Führungselite der Ära Bourghiba wurde abgelöst. Eine dem neuen Präsidenten verpflichtete Staatspartei sicherte ihm die notwendige parteipolitische Unterstützung.

Die Erfahrungen, die das Nachbarland Algerien mit dem Wahlerfolg der Islamisten und dem folgenden Bürgerkrieg machte, sicherten dem neuen Präsidenten Anfang der neunziger Jahre die Unterstützung der Mehrheit der Bürger bei der dann einsetzenden massiven Verfolgung der Isla-misten im eigenen Land. Deren damaliger Führer Rachid

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9AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Kein größeres Geschäft, keine gewinn-bringende Lizenz mehr ohne die Beteili- gung des Trabelsi-Clans oder der Familie des Präsidenten.

Ghannouchi verließ schließlich isoliert das Land und ging nach London ins Exil.

Nachdem der Präsident sich auch noch aus der Verbande-lung Tunesiens mit der PLO gelöst und von pan-arabischen Träumen und dem Palästinakonflikt distanziert hatte, konnte er auf die Bereitschaft des Westens zu verstärkter politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit zählen. Innenpolitisch stabilisiert und außenpolitisch neu positio-niert, setzte man in Tunesien nun auf wirtschaftliche Libe-ralisierung und die Förderung der Klein- und Mittelindustrie sowie des Tourismus. Die Wirtschaft wuchs im Schatten eines von der Polizei kontrollierten Staates.

Dann heiratete der Präsident eine Tochter des bekannten Trabelsi-Clans, einer in der tunesischen Wirtschaft schon damals in äußerst umstrittener Weise aktiven tunesischen Großfamilie. Unter dem Schutz des Präsidenten agierte der Familienclan immer unverschämter und beugte das Recht zu seinen Gunsten. Kein größeres Geschäft, keine gewinnbringende Lizenz mehr ohne die Beteiligung des Trabelsi-Clans oder der Familie des Präsidenten. Selbst die dem Präsidenten bisher nahestehende tunesische Unter-nehmerschaft begann unter seiner Präsidentschaft mehr zu leiden als zu profitieren. Sie fühlte sich durch seitens des Trabelsi-Clans erzwungene Geschäftsbeteiligungen um ihren Profit gebracht und weigerte sich immer häufiger, die „Schutzgeldzahlungen‟ an das Regime zu akzeptieren. Unternehmer enthielten sich weiterer Investitionen, orien-tierten sich nach Europa und entzogen dem Land Zug um Zug das so dringend benötigte Investitionskapital. Als dann schließlich die Wirtschafts- und Finanzkrise auch Tunesiens Wirtschaft erreichte und die Schaffung weiterer, für die wachsende Zahl gut ausgebildeter Hochschulabsol-venten notwendiger Arbeitsplätze erschwerte, schwand in der tunesischen Bevölkerung die neuerliche Zuversicht und wich wachsender Frustration.

Schließlich erschütterte der Selbstmord des jungen Studenten das Land und die latente Unzufriedenheit führte zu ersten Übergriffen auf Polizeistationen – zuerst noch in den vernachlässigten ländlichen Gebieten, dann auch in der Hauptstadt. Die Unzufriedenheit der Bürger

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10 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Die totale Kontrolle des Internets galt zwar vornehmlich den Islamisten, doch en passant ließ sie sich auch zum Auf-spüren von Homosexuellen und studen-tischen Rebellen nutzen.

mit dem menschenverachtenden Vorgehen der (Polizei-) Behörden ließ sich nicht mehr kontrollieren und entlud sich in Protesten sogar der städtische Mittelschicht, die, unterstützt von in die Hauptstadt strömenden Unzufrie-denen aus den ländlichen Regionen Tunesiens, den begin-nenden Volksaufstand nährte. Der Präsidentenclan geriet in Panik und versuchte, mit seiner dem Präsidenten selbst treu ergebenen Staats- und Sicherheitspolizei die Situation in den Griff zu bekommen. Als dies nicht mehr gelang und die Armee die Gefolgschaft bei der Niederschlagung des Volksaufstandes verweigerte, war das Spiel vorbei.

Der Präsident erwies sich nur kurz als Kämpfer, flüchtete dann aber aus seinem Land wie ein Dieb, jedoch nicht, ohne zuvor noch die Aneignung der in der tunesischen Zentralbank verwahrten Goldreserven durch seine Ehefrau durchzusetzen. Er floh zunächst in Richtung Frankreich, eines vermeintlich befreundeten Landes, und musste dann schmerzlich zur Kenntnis nehmen, dass sich auch in einem verbündeten Land ein flüchtender Staatschef sehr schnell in einen verfemten verwandelt.

UMBRUCH IN ÄGYPTEN

Ein junger ägyptischer Student, Khalid Said, begeistert sich für die neue Welt des Internets, für soziale Netzwerke und neue Möglichkeiten, mit Gleichgesinnten in Kontakt zu treten und sich über vieles auseinanderzusetzen, darunter auch über Politik. Mit ihm im Netz sind aber von Beginn

an nicht nur Gleichgesinnte, sondern auch Vertreter des gut ausgestatteten und ausge-bildeten ägyptischen Sicherheitsdienstes, denen die viel beschworene Freiheit im Netz viel zu weit geht, um sie nicht zumindest zu

beobachten und, wenn Politik im Spiel ist, auch zu interve-nieren. Die totale Kontrolle galt zwar vornehmlich den Isla-misten und ihren ebenfalls technisch erstaunlich versierten Protagonisten, doch en passant ließ sie sich eben auch zum Aufspüren von Homosexuellen und studentischen Rebellen nutzen.

Zum Rebellen wurde auch der Student. Er startete eine Karriere als Blogger, die ihn in der ägyptischen Blogger-szene auffallen ließ, aber nicht nur dort. Die Sicherheits-

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11AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Mubarak säuberte die islamistisch un- terwanderten unteren Mannschafts- und Offiziersränge, die seitdem nur noch regimetreuen Berufssoldaten offenstehen.

behörden bestellten ihn ein – eine übliche Warnung, sich mit seinen Aktivitäten nicht zu weit vom staatlich gedul-deten Freiraum zu entfernen. Als er diese Mahnung nicht befolgte, verhaftete ihn die Polizei mehrmals und verprü-gelte ihn schließlich so schwer, dass er an seinen dabei erlittenen Verletzungen starb. Als sich diese Nachricht zuerst in der Bloggerszene und schließlich im gesamten studentischen Umfeld des Bloggers verbreitete, wuchsen der Unmut und die Protestbereitschaft der Studenten. Dann kamen die Neuigkeiten aus Tunis.

Fast drei Jahrzehnte zuvor, nach der Ermordung von Präsident Anwar As Sadat im Oktober 1981, hatte Hosni Mubarak als damaliger Vize-Präsident verfassungsgemäß die Macht in Ägypten übernommen. Wegen der Unterstel-lung, Sadat habe gerade ihn für dieses bedeutende Amt ausgewählt, weil er seinem ehemaligen Luftwaffenchef nicht das Charisma eines möglicherweise erfolgreichen Herausforderers zubilligte, galt er vielen als Übergangs-präsident.

Mubarak konzentrierte sich vor dem Hinter-grund des islamistisch inspirierten Attentats zuerst auf die Konsolidierung der innenpoli-tischen Lage. Mit Unterstützung des Militärs säuberte er die offensichtlich islamistisch unterwanderten unteren Mannschafts- und Offiziersränge, die seitdem nur noch regimetreuen Berufssoldaten offen-stehen. Auch gründete er seine politische Macht auf eine neue politische Sammlungsbewegung, die National Demo-cratic Party (NDP). Er erhob sie zur Staatspartei und setzte damit den parteitaktischen Spielereien seines Vorgängers ein Ende.

Nach der gelungenen innenpolitischen Stabilisierung kon- zentrierte sich Mubarak auf die außenpolitische Rehabilitie-rung Ägyptens, das wegen der Friedensverträge von Camp David zwischenzeitlich den Sitz in der Arabischen Liga und die Unterstützung der Mehrheit der arabischen Staaten verloren hatte. Mubarak brachte es fertig, den Friedens-vertrag im Kern zu erhalten, ihn nach der erfolgreichen Rückkehr in die Gemeinschaft der Arabischen Staaten für diese sogar „hinnehmbar‟ zu machen.

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12 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Die Kraft des Regimes, deutliche Re- formschritte einzuleiten, schwand. Selbst die Staatspartei versäumte es, rechtzeitig Zeichen zu setzen.

Dieser Beweis seiner Standfestigkeit und Verlässlichkeit machte ihn zum vertrauenswürdigsten außen- und sicher-heitspolitischen Verbündeten des Westens in der Nahost-region. Als unermüdlicher, wenn auch immer weniger erfolgreicher Vermittler im Nahostkonflikt profitierte er nicht zuletzt von der finanziellen Unterstützung dieser westlichen Verbündeten und der Bereitschaft ausländischer Investoren, sich in dem Land zu engagieren. Er vollendete schließlich die wirtschaftliche Öffnung seines Landes, indem er der lokalen Unternehmerschaft sogar den Einzug in die Spitzengremien seiner Partei ermöglichte, die bis dahin von alten Verbündeten aus Militär und staatlicher Bürokratie dominiert gewesen war.

In den letzten Jahren wurde diese Regierungsbilanz jedoch immer stärker durch die ungelöste Nachfolgefrage über-schattet. Es schien immer wieder gute Gründe für den ägyptischen Präsidenten zu geben, das Amt noch einmal „auf sich zu nehmen‟, obwohl die Unzufriedenheit mit seiner Herrschaft stetig wuchs und sich die Repression durch die Sicherheitskräfte verschärfte.

Gerade in den letzten Monaten hatten die Diskussionen um eine neuerliche Kandidatur Mubaraks viele Gemüter bewegt, ohne dass diese Kritiker eine klare oder gar einheitliche Vorstellung davon hatten, wer denn an Muba-raks Stelle als Kandidat antreten sollte. Zu sehr hatten potentielle Kandidaten jahrelang im Schatten des Präsi-denten gestanden und keine individuelle Profilierung geschafft. Eine dynastische Erbfolge, die Übertragung der politischen Macht auf Mubaraks Sohn Gamal, stieß auch auf die entschiedene Ablehnung der überwiegend „republi-kanisch‟ gesinnten Militärs.

Auch hier wuchs also der Attentismus. Die Kraft des Regimes, zukunftsorientierte Politik zu skizzieren und deutliche Reformschritte ins Werk zu setzen, schwand mit jedem wei-

teren Monat im Leben des gesundheitlich angeschlagenen Präsidenten. Selbst die Staatspartei versäumte es, recht-zeitig Zeichen zu setzen und einer jüngeren Gruppe um Gamal Mubarak tatsächlich exekutive Funktionen zu über-tragen.

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13AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

In Tunesien konnte sich eine Mittel-schicht bilden, in Ägypten profitierten dagegen zu wenige, als dass sich dies dauerhaft stabilisierend hätte auswir-ken können.

So kam es, wie es vielleicht kommen musste. Als die Ereig-nisse in Tunis der Jugend in Kairo ein vielversprechendes Beispiel gaben und der Fall Bouazizi den Fall des in Poli-zeigewahrsam getöteten ägyptischen Bloggers wieder in Erinnerung rief, war die revolutionäre Kraft des Moments groß genug, um die Angst zu überwinden und trotz Ausgangssperre auf den Straßen ein Ende der obwaltenden Zustände zu fordern.

DER NORDAFRIKANISCHE AUFBRUCH

Blickt man auf diese jüngsten Ereignisse und Entwick-lungen in den beiden bis dahin wohl stabilsten nordafrika-nischen Ländern, in denen über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahrzehnten nur wenige Präsidenten die Geschicke bestimmten, zwei in Tunesien (Bourghiba, Ben Ali) und drei in Ägypten (Nasser, Sadat, Mubarak), so erkennt man durchaus Ähnlichkeiten, aber auch deutliche Unterschiede in den Ursachen, die zu den jüngsten Ereignissen geführt haben.

In beiden Ländern konsolidierte der neue Machthaber nach Amtsantritt eine krisenhafte innenpolitische Situation. In Tunesien drohte die Staatsführung durch persönliche Sympathien von Angehörigen der Präsidentenfamilie über Gebühr in den israelisch-palästinensischen Konflikt verwi-ckelt zu werden, wobei gleichzeitig radikale Islamisten, angefeuert und unterstützt von den Ereignissen im Nachbarland, Tunesien zu destabilisieren drohten. In Ägypten musste nach dem erfolgreichen Attentat der isla-mistisch inspirierten Soldaten der säkulare Staat im Innern verteidigt und dem Land wieder der Weg zurück in die Arabische Staatenfamilie gewiesen werden. Dass dies gelang, ohne sich vom Westen abzuwenden oder eingeleitete ökonomische und politische „Öffnungen‟ (Infitah, Friedensprozess) zurückzunehmen, war ein wirk-licher Erfolg. Die wirtschaftliche Liberalisierung dieser Länder brachte Wohlstand, wenn auch nicht für alle. In Tunesien konnte sich eine wachsende Mittelschicht bilden, in Ägypten profitierten dagegen zu wenige, als dass sich dies dauerhaft stabilisierend auf die innenpolitische Lage hätte auswirken können.

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Auch die beiden monolithischen Sammlungsbewegungen der Präsidenten, RCD und NDP, trugen durch ihre Exklusi-vität und Nähe zum Präsidenten dazu bei, dass es keinen wirklichen Spielraum für parteipolitischen Wettbewerb gab, ja dieser zeitweise sogar künstlich herbeigeführt werden musste. Selbst vage Hoffnungen auf einen durch Parteien, also auf demokratischem Wege, betriebenen politischen Wandel konnten so nicht bedient werden.

Ähnlich verlaufen ist auch der Prozess der wachsenden Repression gegen die Masse der Bevölkerung. In beiden Ländern war mit dem Machtwechsel ein Ausnahmezustand

verhängt worden, der in Ägypten bis zu den jüngsten Ereignissen fortbestand. Die Repression nahm stetig zu. Die Kontrolle der Bürger erstreckte sich mit Hilfe neuar-tiger Instrumente (Internet, Mobilfunk) auf fast alle Lebensbereiche. Nahezu nichts blieb den Sicherheitsbe-hörden verborgen, der „gläserne Bürger‟ wurde, sobald er die Kreise der Herrschenden störte, unweigerlich zum Objekt der Einschüchterung und Disziplinierung.

Jüngere Bürger arabischer Staaten, nicht zuletzt durch die Globalisierung der Medien mündig geworden, sahen sich ihrer Menschenrechte beraubt und protestierten frustriert. Bald entlud sich die mühsam kontrollierte Wut. Es ist ein Zeichen für den „Überdruck‟, der in den beiden Gesell-schaften gerade auch in der Jugend entstanden ist, dass, bildlich gesprochen, ein kleines Loch im Fahrradschlauch sofort den ganzen Reifen platzen ließ – ohne Chance, das Fahrrad noch mit weichendem Reifendruck kontrolliert nach Hause zu steuern. Der Reifen ist geplatzt und die Panne zwingt zur Reparatur. Kein Flicken hilft, ein neuer Schlauch muss her.

Was nun geschieht, wird wohl auch den Unterschieden in den politischen Konstellationen der jeweiligen Länder Rechnung tragen müssen. Für beide Präsidenten, selbst für ihre Sicherheitsorgane kam dieser „Aufschrei‟ überra-schend, aber nicht nur für sie. Keine Oppositionspartei war vorbereitet. Selbst die als gut organisiert und informiert geltenden Muslimbrüder sprangen spät auf den Zug der Demonstranten auf.

In beiden Ländern war mit dem Machtwechsel ein Ausnahmezustand verhängt worden. Die Repression nahm stetig zu.

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15AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Unbelastete Männer brauchte das Land. Allein dem Ministerpräsidenten billigte man schließlich eine Rolle als „Moderator des Übergangs‟ zu.

So wird sich der ehemalige Kampfpilot Hosni Mubarak nicht wie sein Amtskollege Ben Ali davon stehlen. Er verfügt bei den Massen der ägyptischen Bevölkerung (nicht dagegen bei den Demonstranten am Tahrir-Platz) noch über eine deutlich höhere Akzeptanz als der geflohene tunesische Präsident. Zwar haben beide den Zeitpunkt für eine würdige Übergabe der Macht verpasst, Mubarak hätte einen solchen aber zweifellos eher verdient als Ben Ali. Zudem stützt sich der ägyptische Präsident eher auf die Armee, der tunesische eher auf die (Geheim-) Polizei. In beiden Ländern hat die Armee einen eher guten, die Polizei jedoch einen katastrophalen Ruf.

In Tunesien waren es nicht nur die arbeitslosen Jugendli-chen, sondern vor allem auch der von der Korruption der Präsidentenfamilie und der Wirtschafts- und Finanzkrise gebeutelte Mittelstand, der sich des Präsidenten entledigen wollte. In Ägypten sind es vorwiegend wütende Jugend-liche, die den Protest tragen. Das Militär und die riesige staatliche Bürokratie stehen bisher (noch) abseits. Sie haben zu viel zu verlieren, wenn nicht nur der Präsident, sondern mit ihm das gesamte Regime abdanken müsste. Deshalb nun zu möglichen alternativen Szenarien der weiteren politischen Entwicklung.

ZUKUNFTSSZENARIO TUNESIEN

Politik

Es war absehbar, dass der verständliche Versuch der erst einmal im Amt verbliebenen Regierung, sich nahezu unverändert zur „Übergangsregierung‟ zu machen, schei-tern musste. Allein schon die Tatsache, dass sich der Präsident quasi freiwillig und nahezu unmittelbar dem Urteil des Volkes entzogen hatte, ließ die tunesischen Demonstranten weitere Opfer der Revolte fordern. Zwar zerstörte man das Parteigebäude des RCD in Tunis nicht annähernd so umfassend wie später das der NDP in Kairo. Doch sollten weitere mit dem RCD verbandelte Minister und sonstige politische Amtsträger ebenfalls „bestraft‟ werden. Da half auch kein plötzlicher Parteiaus-tritt, die „Beschmutzung‟ durch die Regimenähe war nicht zu reinigen. Unbelastete Männer brauchte das Land. Allein

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16 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

In vielem – nicht in allem – ist die Situation in Tunesien jetzt durchaus mit der sich auflösenden DDR zu ver-gleichen.

dem Ministerpräsidenten billigte man schließlich eine Rolle als „Moderator des Übergangs‟ zu, und dies wohl auch nur deshalb, weil er selbst seine Rolle und Funktion auf diesen absehbaren Zeitraum beschränkt sah und angab, darüber hinaus kein öffentliches Amt anzustreben.

Man folgt in Tunesien jetzt also weitestgehend den verfas-sungsrechtlichen Vorgaben – auch wenn viele noch der Ära Ben Ali entstammen. Für die Etablierung einer wirkli-chen, parlamentarischen Demokratie mangelt es an einer entsprechenden Verfassungsrealität und an einer ausrei-chenden Zahl in der Bevölkerung verankerter politischer Parteien. Deshalb muss es vor neuen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen jetzt vorrangig um eine Reorga-nisation des (vor-) politischen Raumes gehen. Die auch staatstragenden, in der Vergangenheit aber zu staats-nahen Gewerkschaften und Berufsverbände müssen sich neu erfinden. Die neuen politischen Überzeugungen brau-chen jetzt den nötigen Raum und die Zeit, sich neu zu formieren.

Zeit wird zudem benötigt, um die verfassungsrechtlichen Grundlagen für andersartige (Aus-) Wahlverfahren zu schaffen und diese im Konsens zur Grundlage der jetzt anstehenden politischen Weichenstellungen zu machen. Wie dies geschehen kann, muss nun entschieden werden –

ob mit einem gewählten Parlament, das aber eigentlich diskreditiert ist, mit einem verfas-sungsgebenden Konvent aus „Weisen‟ oder durch einen runden Tisch aller politischen Kräfte. In vielem – nicht in allem – ist die

Situation in Tunesien jetzt durchaus mit der sich auflö-senden DDR zu vergleichen.

Wirtschaft

Neben der Umstrukturierung der politischen Akteure und Instanzen gilt es jetzt jedoch auch, die zügig wiederge-wonnene Stabilität im Lande zu nutzen, um die wirtschaft-liche Entwicklung wieder in Gang zu bringen. Zum Glück sind die Touristenressorts von der Zerstörungswut der Demonstranten weitgehend verschont geblieben. Auch die mittelständischen Lohnfertigungsbetriebe sollten die Revolte überwiegend heil überstanden haben.

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17AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Selbst bei Komplettbeseitigung der aktuellen Elite würden für jeden frei-werdenden Posten in Wirtschaft und Gesellschaft mindestens drei Bewer-ber bereitstehen.

Die Zeichen für eine schnelle Wiedergewinnung der schon einmal erreichten Wirtschaftskraft stehen deshalb recht gut, wenn diese auch nicht in der Lage sein wird, sofort alle aufgelaufenen sozioökonomischen Defizite kurzfristig zu beheben. Der Wegfall der präsidentiellen Korruption ist sicher ein wichtiger Faktor, der tunesische Unternehmer dazu bewegen wird, wieder in Tunesien und nicht mehr vorrangig im Ausland zu investieren. Ein solches „patri-otisches‟ Verhalten wird den Prozess der wirtschaftlichen Gesundung sicher beschleunigen.

Gesellschaft

Die Tatsache, dass der auslösende Faktor der Revolte in Tunesien die Verzweifelungstat eines frustrierten Absol-venten eines Informatikstudiums gewesen ist, wirft ein bezeichnendes Licht nicht nur auf die ökonomischen, sondern vor allem die demographischen Herausforde-rungen, denen sich die arabischen Staaten gegenüber-sehen. Wenn über 50 Prozent der Bevölkerung in der Arabischen Welt unter 30 Jahre alt sind und die Facebook-Generation der 20- bis 30-Jährigen allein über 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht, entsteht ein ernstzunehmendes Protestpotential. Ihre andersartige Sozialisation lässt die Demonstranten mehrheitlich nicht mehr resignieren, wie es der Tunesier Mohamed Bouazizi getan hat, sondern stattdessen ihre Rechte auf Teilhabe am wirtschaftlichen Wohlstand und an politischen Entscheidungsprozessen einfordern.

Das Ausmaß des Konfliktpotentials wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass in Tunesien das Verhältnis der Sechzigjährigen, die heute die Machtelite bilden, zu den Zwanzigjährigen eins zu 2,3 beträgt, in Ländern wie Ägypten sogar eins zu vier. Hier existiert ein längerfristiges Protest- ja Gewaltpotential, dass sich jetzt offensicht-lich immer stärker auf die eigene, verkrus-tete Machtelite fixiert. Selbst bei Komplettbeseitigung der aktuellen Elite würden für jeden freiwerdenden Posten in Wirtschaft und Gesellschaft mindestens drei Bewerber bereitstehen. Dabei kann die tunesische Gesellschaft sogar noch ganz beruhigt in die Zukunft sehen, weil sie es heute „nur‟ auf ein Durchschnittsalter von dreißig Jahren bringt.

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18 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Das Militär, aber auch die Sicherheits-organe, werden angesichts anhalten-der Massenproteste eine wichtige Rolle bei der Begleitung der politischen Um- strukturierung spielen.

Im Vergleich zu den Nachbarländern ist die Zahl mögli-cherweise frustrierter oder gar gewaltbereiter Jugendlicher geringer. Länder wie Ägypten mit einem Durchschnittsalter von 24 Jahren oder gar der Jemen und der Gazastreifen mit 17 Jahren haben da ganz andere Sorgen.

ZUKUNFTSSZENARIO ÄGYPTEN

In Ägypten werden sich die Dinge dagegen nicht so schnell wieder normalisieren. Es gibt verschiedene Faktoren, die den „Heilungsprozess‟ deutlich erschweren werden. Ent-scheidend ist dabei der Umstand, dass das, was in Ägypten geschieht, enorme Bedeutung für die Entwicklungen in anderen Arabischen Staaten haben wird. Zwar ging nicht alles, was die Arabische Welt verändert hat, von Ägypten aus, aber erst durch die Adaption dieser Neuerung durch Ägypten erlangte es Bedeutung für die gesamte Region. Von einem demokratischen Erwachen der sunnitischen Staaten ist zweifellos zu erwarten, dass es Auswirkungen auf andere islamische Regime zeitigen wird. Das ägyptische Staatswesen war immer schon ein hoch zentralisiertes, bürokratisches Gebilde, in dem die öffentliche Verwaltung, das Militär, die zahlreichen Sicherheitsorgane und die früher noch zahlreicheren Staatsunternehmen über die Staats-partei aufs Engste miteinander verwoben waren. Nahezu alle Funktionen waren mit Parteimitgliedern besetzt. Ohne eine ausreichend bewiesene Loyalität zum Regime konnte man dort keine auskömmliche Beschäftigung finden.

Sollte die gezeigte Loyalität zum „alten‟ Regime zum Ausschlusskriterium für zukünftige politische Funktionen

und berufliche Verwendungen werden, wie dies die bisherige Entwicklung in Tunesien vermuten lässt, wird es viele geben, die etwas zu verlieren haben – zu viele womöglich. Gleichzeitig werden vor allem das Militär, aber

auch die Sicherheitsorgane, angesichts anhaltender Mas- senproteste weiterhin eine wichtige, wenn nicht entschei-dende Rolle bei der Begleitung der politischen Umstruktu-rierung spielen.

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19AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Allein freie Wahlen können über die inhaltlichen und personellen Präfe-renzen der ägyptischen Bevölkerung präzise Auskunft geben.

Seit der Ausrufung der Republik hat der stets dem Miltär entstammende, ägyptische Präsident immer auch die Ehre und Würde des Militärs verkörpert. Das Militär hat deshalb kein Interesse daran gehabt, dass ihr „höchster Repräsentant‟, auch wenn er sich inzwischen „zivilisiert‟ hatte, in unwürdiger Weise von einigen Demonstranten aus seinem Amt vertrieben worden wäre. Deshalb hat der inzwischen installierte „Oberste Militärrat‟ die von ihm selbst vollzogene Entmachtung des Präsidenten als „Rück-tritt‟ verkündet, obwohl offensichtlich scheint, dass dieser von Mubarak selbst nicht initiiert worden ist. Wenn hier von „einigen Demonstranten‟ die Rede ist, dann deshalb, weil selbst 50.000 oder 100.000 mutige Mubarak-Gegner noch lange nicht die Wünsche und Hoffnungen einer Mehrheit der über 80 Millionen Ägypter widerspiegeln.

Auch wenn die Meinungen der Demonstran- ten durch die internationalen Medien eine beeindruckende Verbreitung erfahren, allein freie Wahlen können über die inhaltlichen und personellen Präferenzen der ägyptischen Bevölkerung präzise Auskunft geben. Man sollte sich davor hüten, die Interviews mit demonstrierenden Regimegegnern zum Maßstab einer möglichen Stimmabgabe in kommenden Wahlen zu nehmen. Sie stellen eine Momentaufnahme dar und tragen vielleicht sogar dazu bei, die wahre Stimmungs-lage im Land zu verfälschen. Das gilt vor allem für das, was sich eine Mehrheit der Ägypter, und nicht allein die Demonstranten am Tahrir-Platz, von einer neuen Staats-führung erhoffen. Dies herauszufinden wird momentan zudem erschwert durch das erschreckende Fehlen inhalt-licher und personeller Stringenz in dem, was die Opposi-tion bisher an Forderungen artikuliert hat.

Kenner des Landes wissen schon lange um die Zersplit-terung der (partei-) politischen Opposition im Land, die sich zwischen den Parteien immer wieder genauso mani-festiert wie in ihrem Inneren. Immer wieder konnten sich die Gruppierungen nur gegen, selten aber gemeinsam für etwas aussprechen. Deshalb kann die Einigung der Oppo-sitionellen, keine fortgesetzte Ausübung der Staatsgewalt durch den Amtsinhaber zu akzeptieren, auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass daneben wenig existiert, worauf sie sich einigen könnten. Dabei sind noch nicht einmal alle

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20 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

El Baradei hat nicht jahrelang unter dem Regime gelitten, wie es die De- monstranten für sich in Anspruch neh-men. Deshalb wird er nicht die Befrei-ung von diesem Regime anführen.

jene Ägypter ins Kalkül einbezogen, die sich täglich ganz anderen Problemen gegenübersehen als die überwiegend der ägyptischen Mittelklasse entstammenden Studenten auf dem Tahrir-Platz.

Ist also schon die Zielrichtung der Revolte inhaltlich vage bis unbestimmt, so fehlt es der Opposition zusätzlich an einer alle Kräfte hinter sich versammelnden Führungs-figur – übrigens auch in Tunesien. Allein der langjährige ägyptische Außenminister Amr Moussa kann für sich ein wenig das Etikett eines „Dissidenten‟ in Anspruch nehmen, weil er wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Präsi-denten sein Amt abgeben und vor Jahren die Funktion des Generalsekretärs der Arabischen Liga übernehmen musste. So konnte er eine gewisse Distanz zum Mubarak-Regime bewahren, die ihm in der jetzigen Phase noch zugute kommen könnte.

Der in den westlichen Medien immer wieder genannte Mohamed El Baradei dagegen mag in der Weltöffent-lichkeit ob seiner Verdienste und Auszeichnungen über eine gewisse Bekanntheit und vielleicht sogar Sympathie verfügen, den meistern Ägyptern ist er jedoch schon durch seinen Jahrzehnte langen Auslandsaufenthalt heute eher fremd. Zudem gelten Landsleute, die ihrer Heimat für so lange Zeit den Rücken kehren, vor allem den vielen heimat-

verbundenen Ägyptern in den ländlichen Regionen immer ein wenig als „Verräter‟. Auch wenn er dafür seine internationalen Berufungen als Erklärung anführen kann, so hat er doch sicher nicht jahrelang unter dem Regime gelitten, wie es die Demonstranten

für sich in Anspruch nehmen. Deshalb wird er nicht die Befreiung von diesem Regime anführen, auch wenn sich das mancher in den westlichen Hauptstädten wünschen würde.

Es bleiben also das Militär und die Sicherheitsorgane als wichtige Akteure, die sich nicht durch Gruppen der Zivilge-sellschaft bevormunden lassen werden. Wenn man ande-rerseits aber den Hass kennt, den ein Innenminister Adli auf sich ziehen konnte, und weiß, das zwischen ihm und anderen Vertretern der Sicherheitsorgane immer großes Einvernehmen über das herrschte, was politisch notwendig

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21AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

erschien, ist daran zu zweifeln, dass dieses Militär wirk-lich allen Forderungen der Demonstranten gerecht werden kann. Die Zukunft der Revolte und damit des Landes allein dem Militär zu überlassen, wäre also ebenso fahr-lässig, zumal ein Rückfall in autokratische Strukturen und Prozesse dann nicht auszuschließen wäre. Das Werk wird also wohl nicht ohne einen Prozess der „Versöhnung‟ von zivilem und militärischem Denken und Handeln gelingen. Politik und Militär müssen zusammenkommen, um das in die Sackgasse manövrierte Land in eine hoffnungsvollere Zukunft zu führen.

Inzwischen hat sich auch die Vermutung mancher poli-tischer Beobachter, dass man in Ägypten einen schon in der Vergangenheit praktizierten Weg über einen „Revoluti-onsrat‟ mit exekutiven Vollmachten gehen würde, bewahr-heitet. Die mit Vertretern der ägyptischen Zivilgesellschaft besetzten „runden Tische‟ konnten, auch wegen der offensichtlichen Zerstrittenheit der verschiedenen Fraktionen, keine dauerhafte Wirkung entfalten. Statt-dessen hat der „Oberste Militärrat‟ die ägyptische Verfas-sung kurzerhand außer Kraft gesetzt und ein Gremium ihm vertrauter Verfassungsexperten mit der Aufgabe betraut, innerhalb von nur zwei Wochen einen neuen Verfassungs-entwurf vorzulegen, den es dann zumindest als eine Art „Übergangsverfassung‟ per Referendum in Kraft zu setzen gilt, als Grundlage der in sechs Monaten anberaumten Neuwahlen.

Die Entscheidung des „Obersten Militärrates‟, das gerade erst unter dubiosen Umständen gewählte ägyptische Parla-ment aufzulösen, ist konsequent, da von diesem Parlament niemand eine wirklich konstruktive Rolle im beginnenden Umbauprozess des ägyptischen Regierungssystems erwar- ten konnte.

ÄGYPTENS MUSLIMBRÜDER – IST DER WEG FREI ZUR MACHT?

Zu den bedeutendsten Unwägbarkeiten, die mit diesem umfassenden Restrukturierungsprozess in Ägypten verbun- den sind, gehört natürlich die Frage nach der zukünf-tigen Rolle, die die ägyptische Muslimbruderschaft spielen

Es gilt, eine Art „Übergangsverfassung‟ per Referendum in Kraft zu setzen und zur Grundlage der in sechs Monaten anberaumten Neuwahlen zu machen.

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22 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Wenige Ägypter, mit denen sich west-liche Vertreter in Kairo politisch ausei-nandersetzen, bekennen sich zu einer Mitgliedschaft in der Muslimbruder-schaft.

könnte. Die angebliche oder tatsächliche Bedrohung des ägyptischen Regimes durch die Muslimbrüder war über Jahre das Hauptargument, weswegen westliche Regie-rungen eine „robuste‟ Regierungsführung in Ägypten in Kauf genommen haben.

Die Meinungen über die Bereitschaft und die Fähigkeit dieser Gruppierung, das möglicherweise gerade entste-hende politische Machtvakuum zu füllen, den jetzt auf den Weg zu bringenden politischen Wandlungsprozess in Ägypten zu beeinflussen oder sogar entscheidend zu

bestimmen, gehen sehr weit auseinander. Für viele ist die ägyptische Muslimbruder-schaft bis heute immer noch eine „Blackbox‟. Wenige Ägypter, mit denen sich westliche Vertreter in Kairo vornehmlich politisch aus -

einandersetzen, bekennen sich zu einer Mitgliedschaft. Die nominelle Größe dieser offiziell zwar verbotenen, vom Regime aber immer wieder geduldeten Organisation bleibt deshalb bis heute genauso unbestimmt, wie ihre mögliche Attraktivität in freien und geheimen Wahlen.

Viele Experten schätzen ihre Wahlchancen zumindest momentan eher geringer ein als noch vor wenigen Monaten. Dies mag den neuen Alternativen geschuldet sein, kann sich aber als Trugschluss und Ergebnis eines klugen politischen Kalküls der Bruderschaft erweisen. Ihr Verhalten während des aktuelle Protestes am Tahrir-Platz, wo es überraschend so gut wie keine islamischen Parolen zu sehen und hören gab, sollte nicht darüber hinwegtäu-schen, dass die politische Zukunft Ägyptens langfristig eben nicht im Zentrum Kairos, sondern in einem neuen, frei gewählten ägyptischen Parlament entschieden werden wird. Dort werden die jungen Studenten, die heute auslän-dischen TV-Sendern bereitwillig Interviews geben, sicher-lich in der Minderheit sein.

Zudem verfolgt die Bruderschaft erklärtermaßen seit geraumer Zeit eine Strategie, die sich nicht an kurzen Fris- ten orientiert, wie sie Legislaturperioden darstellen, son- dern langfristig die islamische „Unterwanderung‟ aller poli-tischen Institutionen zum Ziel hat. Diese muss, nimmt man

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23AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Es gibt schon Positionspapiere, vorge-legt von Parlamentsvertretern, die der Muslimbruderschaft zugeordnet wer-den können. Klarheit wird aber erst der anstehende Politikdialog bringen.

vergangene Wahlerfolge der Muslimbrüder in verschie-denen ägyptischen Berufverbänden für bare Münze, inzwi-schen als weitgehend erfolgreich angesehen werden.

Es ist nicht vollständig abwegig zu unterstellen, dass die von der Bruderschaft aktuell gezeigte Zurückhaltung Kalkül ist, um die in den westlichen Medien populäreren Kairoer Studenten den demokratischen Wandel erzwingen zu lassen und ihn dann zur mehrheitlichen demokratischen und damit legitimen Machtübernahme zu nutzen. Dabei bleibt momentan ebenso ungewiss, ob die Bruderschaft in der bekannten ideologischen Erstarrung verharren wird oder ob ein Teil der Bewegung nicht doch bereit sein wird, den parlamentarischen Weg in Richtung der türkischen Regierungspartei AKP zu gehen. Richtig ist, dass sich die bisher in der ägyp-tischen Öffentlichkeit auftretenden höchsten Repräsentanten der immer noch geheimnis-umwitterten Organisation bislang mit politi-schen Standortbestimmungen sehr zurückhielten. Es gibt zwar durchaus schon politische Positionspapiere, vorgelegt von einigen Parlamentsvertretern, die der Muslimbruder-schaft zugeordnet werden können. Klarheit wird aber erst der anstehende Politikdialog bringen.

Diese Papiere zu studieren, kann schon jetzt nicht schaden, will man das breite Spektrum der politischen Meinungen ermessen, das sich bald beim ägyptischen Wähler um Unterstützung bemühen wird. Ob die überalterten Führungen der existierenden Oppositionsparteien dieser organisierten und ideologisch „gestählten‟ Bewegung tatsächlich wirksam, vor allem aber ideologisch konsistent und erfolgversprechend entgegentreten können, ist heute noch nicht absehbar.

Realistisch erscheint, dass die neue ägyptische Staats-führung Vertreter des Militärs und der Sicherheits-dienste einschließen wird, und dass deshalb einige der umfassenden Privilegien dieser Staatsorgane zumindest vorläufig erhalten bleiben. Ob es noch die alten Generäle sein können, die mehr als die unmittelbare Übergangs-phase beeinflussen werden, ist fraglich. Einige jüngere

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24 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Wirtschaftliche Wachstumsraten von bis zu sieben Prozent werden sich nur schwer wieder erreichen lassen – und wenn, dann nur mit ausländischer Hilfe.

Militärs könnten die neuerliche konstruktive Distanz zum politischen Prozess sicher besser dokumentieren als jene Generäle, die sich noch vor wenigen Tagen im staatlichen Fernsehen mit dem bedrängten Präsidenten abbilden lassen mussten.

Die Vertreter der NDP werden es dagegen schwer haben, ihren politischen Einfluss auch in Zukunft geltend zu machen. Die Chancen für den Hoffnungsträger des alten Systems, den Sohn des Präsidenten und Vorsitzenden des Politischen Komitees der NDP, Gamal Mubarak, in Zukunft noch eine Rolle zu spielen, scheinen dahin.

DIE ÄGYPTISCHE WIRTSCHAFT

Die Zukunft der ägyptischen Wirtschaft haben die jüngsten Ausschreitungen zumindest kurzfristig verdüstert. Viele Vermögenswerte sind in den chaotischen Tagen der Revolte nicht nur in Kairo zerstört worden, darunter auch viele neue mittelständische Existenzen, die der Zerstörungswut und den Plünderungen zum Opfer gefallen sind. Gerade auf den Mittelstand hatte sich das in den vergangenen Jahren

erstaunlich robuste Wirtschaftswachstum in Ägypten gegründet. Der infolge der wirt-schaftlichen Liberalisierungspolitik der jetzt abgelösten Regierung Nacif erlangte Status als drittgrößte arabische Volkswirtschaft ist

akut gefährdet. Wirtschaftliche Wachstumsraten von bis zu sieben Prozent und zuletzt immerhin noch fünf Prozent werden sich nur schwer wieder erreichen lassen – und wenn, dann nur mit ausländischer Hilfe. Es gilt, die depri-mierenden Erfahrungen, die ägyptischen Jungunternehmer mit der „Revolte‟ machen mussten, in neue Hoffnung und in neuerliche Bereitschaft zu Engagement und Investi-tion zu überführen. Um diese Existenzen zu retten und Neuanfänge zu ermöglichen, wird es der Unterstützung nationaler und internationaler Banken durch neue Kredite bedürfen. Viel wird davon abhängen, wie die internatio-nalen Wirtschaftsinstitutionen den weiteren Verlauf des Umbruchs bewerten. Mittelfristige Herabstufungen der Kreditwürdigkeit des Landes durch internationale Rating-Agenturen werden sich ebenso wenig vermeiden lassen wie ein Absturz der ägyptischen Börse und eine deutliche Schwächung der ägyptischen Währung.

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25AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Die staatlich administrierten Löhne konnten nur selten mit der Inflation im Land mithalten. Dies hatte der Revolte den Boden bereitet.

All dies kann und wird einen zweifellos notwendigen wirt-schaftlichen Neuanfang in Ägypten deutlich erschweren, wenn nicht sogar unmöglich machen, sollte sich die inter-nationale Gemeinschaft nicht umgehend entschließen, Ägypten mit aller Kraft wirtschaftlich zur Seite zu stehen. Ohne eine Art „Marshallplan‟ wird der ägyptische Banken-sektor mit der Finanzierung des Wiederaufbaus völlig über-fordert sein.

Gesucht wird auch eine zukünftige Rolle für nicht der Korruption verdächtigte Vertreter der ägyptischen (Privat-) Wirtschaft. Diese haben eine ebenso große Verantwor-tung, das Staatsschiff wieder flott zu machen, wie ihre politischen Mitstreiter. Ohne die Sicherstellung des Über-lebens der ägyptischen Industrie und des Tourismus kann Ägypten seinen Weg in eine neue politische Ordnung nicht konfliktfrei schaffen. Dann stünde zu befürchten, dass sich radikale Autokraten jeglicher Couleur als Ergebnis einer umfassenden Wirtschaftskrise des Landes ein weiteres Mal bemächtigen könnten. Klar ist aber auch, dass wirtschaftli-ches Wachstum und daraus resultierender Wohlstand nicht wie in der Vergangenheit allein auf wenige beschränkt bleiben können. Zwar haben sich die Regie-rung und vor allem der ägyptische Präsident jahrelang erfolgreich gegen die Forderungen des IWF gewehrt, die Subventionen für Grundnahrungsmittel und Energie zu kürzen, und damit der Masse der Bevölkerung eine Verschlech-terung ihres Lebensstandards erspart, doch konnten die staatlich administrierten Löhne nur selten mit der Infla-tion im Land mithalten. Dies hatte der Revolte den Boden bereitet.

Jede neue ägyptische Regierung wird deshalb rigide gegen Korruption und eine andauernde Verschwägerung von poli-tischer und wirtschaftlicher Oligarchie vorgehen müssen. Nur eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Vermögen kann in Ägypten den Weg in eine vielverspre-chende Zukunft weisen, in der der „einfache Ägypter‟ auch materiell von dem eingeleiteten Umbruch profitieren kann.

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26 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Ob es der koptischen Minderheit in einer demokratischeren Ordnung wirk-lich besser ginge, muss (noch) bezwei-felt werden.

DIE LAGE DER KOPTEN

Eine besondere Herausforderung einer jeden zukünfti- gen, demokratischeren ägyptischen Regierung liegt im Verhältnis zwischen der Mehrheit der Muslime und der christlichen Minderheit der Kopten. Angesichts der jüngsten Anschläge auf koptische Christen muss es darum gehen, die Lage nicht nur zu beruhigen, sondern, wenn schon nicht zu einem gleichberechtigten Miteinander, dann doch wenigstens zu einem friedlichen Nebeneinander zurückzuführen.

Die bisherige Staatsführung unter Präsident Mubarak hat bisher durch ihr resolutes Eintreten für den Schutz der Religionsfreiheit der Kopten die Rechte dieser religiösen

Minderheit erfolgreich geschützt, auch wenn sie nicht alle Anschläge verhindern konnte. Ob es dieser Minderheit in einer demokra-tischeren Ordnung wirklich besser ginge, muss (noch) bezweifelt werden. Das hängt

wesentlich vom Grad der konfessionellen Komposition und Ausrichtung der demokratisierten politischen Institutionen ab. Die Forderung nach einem Dialog mit den Muslimbrü-dern, ohne auch der koptischen Minderheit Gespräche anzubieten oder sie doch wenigstens bewusst einzube-ziehen, deutet daraufhin, dass die Vertreter der religiösen Mehrheit ein Vorrecht zur Strukturierung der Zukunft Ägyptens beanspruchen. Unklar ist heute, inwieweit eine auch politisch erstarkte Muslimbruderschaft bereit sein wird, der koptischen Minderheit dieselben Rechte und denselben Schutz zu garantieren, wie dies die bisherige Staatsführung zumindest immer bemüht war zu tun. AUSWIRKUNGEN AUF DIE ARABISCHE WELT

Angesichts der Ereignisse in Tunesien und Ägypten war absehbar, dass es auch in anderen arabischen Ländern zu Demonstrationen kommen würde. Schließlich unter-scheiden sich die politischen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen in diesen Ländern nur graduell von denen in Tunesien und Ägypten. Gleichzeitig speku-lierten viele Außenstehende sofort auf eine dem Zerfall des Ostblocks vergleichbare Entwicklung. Auch wenn das noch nicht ausgeschlossen werden kann, spricht doch

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27AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Mit Blick auf die Entwicklungen in Ägypten hat sich der iranische Revo-lutionsführer Chamenei auf die Seite der Demonstranten gestellt.

einiges dafür, dass es keinen Dominoeffekt geben wird. Stattdessen ist wohl eher mit einer flexiblen, wenn auch durchaus ernsthaften Reaktion der einzelnen Regime auf die jüngsten Entwicklungen zu rechnen.

Klar ist, dass der geflohene ehemalige tunesische Präsi-dent Ben Ali seinen Amtskollegen mit seinem überhasteten Abgang keinen Gefallen getan hat. Interessant wird es sein, zu beobachten, wie sich die saudische Staatsführung dem offensichtlichen Exilgesuch des tunesischen Präsi-denten Ben Ali gegenüber verhalten wird, auch angesichts des gegen ihn ausgestellten internationalen Haftbefehls.

Die vorläufige Aufnahme ist für Saudi Arabien ein zwei-schneidiges Schwert, kann es sich doch nicht auf das Argument zurückziehen, man müsse einen muslimischen Regenten, wie ehedem Idi Amin, vor der „Rache der Nicht-Muslime‟ schützen. Einen für seine Religiosität nicht gerade berühmten muslimischen „Dieb‟ vor seinen eben-falls muslimischen „Opfern‟ zu schützen und ihn bei sich dauerhaft zu beherbergen, könnte sich als ein schwierig durchzuhaltendes Unterfangen erweisen, auch wenn die Gründe dafür recht offensichtlich sind. Eine Bezugnahme auf das Verhalten der ägyptischen Staatsführung gegen-über dem persischen Schah Pahlevi kann der saudischen Führung wohl auch nicht helfen.

Wenn es dann schließlich doch noch zur Auslieferung Ben Alis kommen sollte, könnte sich dies als durchaus destabilisierende Blamage für die saudische Führung heraus-stellen. Dass sie vom Iran, dem größten Konkurrenten um die Hegemonie in der Region, genüsslich ausgenutzt werden würde, ist anzunehmen. Schon mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen in Ägypten hat sich der iranische Revolutionsführer Chamenei indirekt auf die Seite der ihm nun wirklich nicht nahestehenden Demonstranten gestellt, indem er auf eine ihm jetzt offensichtlich erschei-nende Islamisierung der ägyptischen Bevölkerung glaubte hinzuweisen zu müssen. Die ägyptische Führung reagierte entsprechend erzürnt auf diese Einmischung in die inneren Angelegenheiten.

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Unter den Nachbarstaaten erscheint der Jemen momentan am meisten gefährdet, den Rest an innerer Stabi-lität zu verlieren.

Anders stellt sich die augenblickliche Situation im Falle des ehemaligen ägyptischen Präsidenten dar. Es ist davon auszugehen, dass dieser vom „Obersten Militärrat‟ gegen seine ausdrücklichen Willen zum Rücktritt gezwungen und in seiner Villa in Scharm El-Scheich unter Hausarrest gestellt wurde. Dass eine Machtübergabe in Form eines Militärputsches nicht verfassungsgemäß erfolgt ist, liegt auf der Hand, spielt aber auch keine Rolle mehr, nachdem der „Oberste Militärrat‟ die ägyptische Verfassung inzwi-schen außer Kraft gesetzt hat.

Gerüchten zufolge soll Mubarak sich – tief enttäuscht von „seinen‟ Generälen – momentan weigern, die ihm nach seiner Operation in Deutschland verordnete Medikation einzunehmen. Einigen arabischen Pressemeldungen zu-

folge soll er deshalb sogar schon zur clandes-tinen medizinischen Behandlung gebracht worden sein, möglicherweise nach Tabuk in Saudi Arabien.

Unter den Nachbarstaaten Tunesiens und Ägyptens er- scheint der Jemen momentan am meisten gefährdet, den Rest an innerer Stabilität zu verlieren, den dieser Staat noch besitzt. Dies mag auch der Grund für die überhastet wirkende Erklärung des jemenitischen Staatspräsidenten gewesen sein, im Gegensatz zu seinen bisherigen Absichten im Jahr 2013 keine weitere Amtszeit mehr anzustreben. Damit bot er an, einen noch unklaren politischen Umbruch-prozess zu begleiten und ihm einen ordnenden Rahmen zu geben.

Anders gelagert ist die Situation in den ehemaligen „sozialistisch‟ inspirierten Republiken in Algerien und Syrien. Auch dort kam es zu Demonstrationen, die jedoch weniger die Staatsspitze angriffen, sondern eher sozio-ökonomische Missstände beklagten und Abhilfe forderten. Für eine unmittelbare Herausforderung der Staatsfüh-rung reichte der revolutionäre Impetus in diesen Ländern (noch) nicht. Die Staatssicherheit hätte das wohl auch sofort unterbunden. Den im Vergleich zu anderen arabi-schen Staaten weniger brisanten Forderungen der Protestierenden, die vielleicht sogar durch die Staats-partei initiiert oder gesteuert worden sind, begegnete

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29AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Sicherlich gibt es auch in Jordanien und Marokko „ernstere‟ politische Frustra-tionen, doch sie kollidieren mit der Loyalität gegenüber den Monarchen.

das Regime durch rasche Preissenkungen und Subventions-erhöhungen und „entkräftete‟ damit den Protest.

Noch weniger von einem Dominoeffekt bedroht erscheinen die arabischen Monarchien, vor allem jene in Jordanien und Marokko. Wie schon in der Vergangenheit zielt der kontrol-lierte Protest auf ökonomische Defizite und auf die für die Stabilität dieser Staaten noch weniger bedeutenden Regie-rungen. Entsprechend könnte die entstandene Unruhe in der jeweiligen Bevölkerung durch kosmetische Umbeset-zungen der Regierungen behoben werden. Sicherlich verbergen sich hinter den artiku-lierten sozioökonomischen Missständen auch „ernstere‟ politische Frustrationen, doch sie kollidieren mit der Loyalität, die in diesen Ländern den Monarchen immer noch entgegengebracht wird. Zudem stehen die Sicherheitsorgane und vor allem die Armee in diesen Ländern vorbehaltlos zum Monarchen und nicht auf der Seite des Volkes, was mit ihrer Zusam-mensetzung und Art der Rekrutierung der höheren Offi-ziersränge zusammenhängt.

Das libysche Regime erscheint zwar nicht zuletzt wegen der teilweise konfusen Äußerungen des „Revolutionsführers‟ Ghaddafi ebenso herausgefordert. Es wird aber abzuwarten bleiben, ob die sicher noch anhaltenden Demonstrationen in diesem Land tatsächlich die „kritische Masse‟ erreichen, um für den seit mehr als 40 Jahren herrschenden Ghaddafi gefährlich zu werden. Wie andere Autokraten in der Region, hatte auch er eine in jüngerer Vergangenheit ebenfalls von Bengasi ausgehende Revolte mit militärischen Mitteln erfolgreich niederschlagen können.

AUSWIRKUNGEN AUF ISRAEL

Ein Blick auf die Auswirkungen der Ereignisse in Tunesien und Ägypten für die Region muss unvollständig bleiben, würde man die Situation und die möglichen Reaktionen des Staates Israel ausblenden. Jedem politischen Beobachter der Region ist klar, dass mit der eingetretenen Destabili-sierung der „Südfront‟ das alte Menetekel eines Zweifron-tenkrieges wieder wahrscheinlicher geworden ist. Nach den Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien und

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30 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Israel muss bewusst sein, dass eine „Demokratisierung‟ in Ägypten die Beziehungen zwischen den Ländern verstärkt zu einem Gegenstand der po- litischen Auseinandersetzung machen wird.

der Intervention im Irak konnte sich Israel ganz der mili-tärischen Bedrohung aus dem „Norden‟, also unmittelbar aus dem Libanon und Syrien sowie mittelbar aus dem Iran, konzentrieren. Zwar gab es eine Restbedrohung

aus dem Gazastreifen, doch diese bedurfte keiner strategischen Umorientierung der eigenen Verteidigungsanstrengungen. Dies könnte sich – je nach weiterem Verlauf der Ereignisse vor allem in Ägypten – jedoch als notwendig erweisen.

Auch Israel muss bewusst sein, dass eine stärkere „Demo-kratisierung‟ in Ägypten die ägyptisch-israelischen Bezie-hungen verstärkt zu einem Gegenstand der politischen Auseinandersetzung zwischen den politischen Lagern machen wird. Solange diese Diskussion auf die entspre-chenden demokratischen Institutionen wie das Parlament und die Regierung beschränkt bliebe, wäre sie für Israel wohl unbedenklich. Wenn dieser zentrale außenpolitische Aspekt jedoch Gegenstand einer demokratischeren Wahl-auseinandersetzung würde, könnte dies unkalkulierbare Folgen für das israelisch-ägyptische Verhältnis zeitigen. Bekanntermaßen ist die Mehrheit der ägyptischen Bevöl-kerung gegen einen Frieden mit Israel und hat schon in der Vergangenheit immer wieder die Aufkündigung des Frie-densabkommens mit Israel und die Ausweisung des isra-elischen Botschafters oder sogar die (endgültige) Schlie-ßung der israelischen Botschaft gefordert. Es würde sehr überraschen, wenn es in zukünftigen, demokratischeren Wahlauseinandersetzungen keine Gruppierungen gäbe, die dies zum Thema machen würden.

Die große Zurückhaltung israelischer Beobachter gegen-über einer Zulassung der Muslimbrüder fußt wesentlich auf der Erkenntnis, dass diese, sollten sie in Zukunft als politische Partei an demokratischen Wahlprozessen teil-nehmen, ihre bekannten – um es vorsichtig auszudrü-cken – Israel-kritischen Positionen in die Auseinanderset-zung um die Unterstützung der Wähler einbringen würden. Die Folgen wären absehbar. Selbst eine Vertretung dieser Denkrichtung durch 20 bis 30 Prozent der Abgeordneten eines zukünftigen ägyptischen Parlaments, was einem best case-Szenario entspricht, würde es jeder ägyptischen

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31AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Wenn interne politische und sozioöko- nomische Probleme verstärkt die poli-tische Auseinandersetzung bestim-men, so das Kalkül, rücken die Bezie-hungen zu Israel aus dem Fokus der Printmedien.

Koalitionsregierung unmöglich machen, den bisherigen außenpolitischen Kurs gegenüber Israel unverändert fortzusetzen. Und auf eine Koalitionsregierung ähnlich derjenigen im Libanon muss man sich wohl jetzt auch in Ägypten vorbereiten. Eine parlamentarische Mehrheit für eine der zukünftigen Fraktionen im Ägyptischen Parlament ist schon wegen der zu erwartenden Parteineugründungen nicht zu erwarten. Die Gründung eines parteipolitischen Zweigs der Muslimbruderschaft ist ebenso wahrscheinlich wie das Entstehen einer koptisch ausgerichteten Partei.

All dies ist den Israelis wohl bewusst, weshalb sie sich bisher auch sehr zurückhaltend gegenüber der „Demo-kratiebewegung‟ in Ägypten und den anderen arabischen Staaten geäußert haben. Indessen gilt grundsätzlich, dass Demokratien weniger häufig (und schnell) zu kriegeri-schen Mitteln greifen als Diktaturen, zumal gegen andere Demokratien. Genauso gilt allerdings, dass ein „kriegs-müder‟ arabischer Diktator für Israel allemal besser ist, als eine „kriegslüsterne‟ arabische Bevölkerungsmehrheit. Darüber hinaus ist der israelischen Führung natürlich auch klar, dass im Falle einer Aufkündigung des ägyptisch-isra-elischen Friedensvertrags durch eine zukünftige, demo-kratisch gewählte ägyptische Regierung Jordanien dem Beispiel folgen müsste, um das eigene Regime zu erhalten. Damit wären die Stabilisierungserfolge von Jahrzehnten dahin, und die Zukunft Israels in der Region wäre unge-wisser als zuvor.

Manche Beobachter sind optimistischer und versprechen sich eine Entspannung der Beziehungen durch ein Ende der Praxis vieler despotischer arabischer Regime, die Kritik an der Politik Israels als bequemes Ventil zur Ableitung der Frustrationen ihrer Bevölke-rung einzusetzen. Wenn interne politische und sozioökonomische Probleme verstärkt die politische Auseinandersetzung in den sich demokratisierenden arabischen Staaten bestimmen, so das Kalkül, rücken die Außen-politik und damit die Beziehungen zu Israel aus dem Fokus der Printmedien. Ob sich diese Hoffnung erfüllen wird, bleibt jedoch abzuwarten.

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32 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Der Vorwurf, das Geschehene sei in Kollaboration mit den üblichen „Fein-den im Ausland‟ herbeigeführt wor-den, wird von den meisten Beobach-tern als übliche Schutzbehauptung der Regierung zurückgewiesen.

FAZIT

Dieser Beitrag sollte nicht den Eindruck erwecken, als würden die Forderungen von Teilen der ägyptischen Bevöl-kerung nach mehr Freiheit und Gerechtigkeit und einem Umbau der politischen Ordnung hin zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht uneingeschränkt begrüßt. Es besteht kein Zweifel, dass eine solche Veränderung über-fällig war und die etablierten Machtsysteme, vor allem das in Ägypten, zuletzt offensichtlich nicht mehr den notwen-digen Reformwillen aufbrachten, um ihre Länder aus den Sackgassen ungelöster Nachfolgefragen und politischer Reformprozesse herauszuführen.

Nun steht allerdings ein schwieriger, weil umfassender Umbruch der politischen Ordnung bevor. Diesen zu struk-turieren und gewaltlos zu einem zufriedenstellenden

Ergebnis zu führen, ist nun Aufgabe aller, vorrangig natürlich der in den politischen Instanzen agierenden Amts- und Funkti-onsträgern, aber eben auch neuer Akteure. Es waren schließlich die nach Freiheit und Demokratie strebenden Bürger, die diesen Prozess erzwungen haben, und sie werden

es auch sein, die ihn zu einem Ergebnis führen. Der Vorwurf der Ewig-Gestrigen, das Geschehene sei von radi-kalen Fundamentalisten in Kollaboration mit den üblichen „Feinden im Ausland‟ herbeigeführt worden, um mit Hilfe naiver, unschuldiger Bürger das Regime zu stürzen, wird von den allermeisten Beobachtern als übliche Schutzbe-hauptung der Regierung zurückgewiesen.

Was den amerikanischen Regierungen über acht Jahre nicht gelungen ist, nämlich den ägyptischen Präsidenten zu umfassenden Reformen zu bewegen, das schafften mutige, ihre Apathie überwindende Bürger in acht Tagen. Dies belegt sowohl die Relativität externer Einflussnahme als auch die Relativität angeblicher politischer Allmacht von Autokraten. Viele Amtsträger in der Region wird das zu Recht beunruhigen und hoffentlich zu reformerischem Handeln bewegen.

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33AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Es ist absehbar, dass Ägypten diesen Umbruch nicht vollkommen eigen-ständig und ganz ohne ausländische Hilfe und finanzielle Unterstützung erfolgreich bewältigen kann.

Das Ausland mag jetzt Sorgen und Hoffnungen artiku-lieren, verantwortet wird die politische Entwicklung aber von den Akteuren in den betroffenen Staaten selbst. Unaufgefordert Ratschläge zu erteilen oder sich gar von außen in den Prozess einzumischen, wird nicht hilfreich sein. Die Tunesier und die Ägypter würden sich das verbitten. Die Würde und der Stolz, in Verbindung mit dem neu gewonnenen Selbstbewusstsein, werden den Prozess intern voranbringen, bis er einen Punkt erreicht, da sich die Vertreter der neuen politischen Ordnung in Ägypten mit ihren Vorstellungen und Wünschen auch an das Ausland wenden werden. Es ist absehbar, dass Ägypten diesen Umbruch nicht vollkommen eigenständig und ganz ohne ausländische Hilfe und finanzielle Unterstützung erfolgreich bewältigen kann. Der Wirtschaft Ägyptens wird ebenso geholfen werden müssen wie die demokratische Neuordnung des (vor-) politischen Raumes Unterstützung bedarf. Die notwendigen Neuwahlen ver- langen nach gründlicher, auch legislativer Vorbereitung. Sie können erst stattfinden, wenn sich die neuen demo-kratischen politischen Akteure so weit konsolidiert haben, dass sie sowohl den gut organisierten Muslimbrüdern, als auch den bis dahin sicher umgruppierten Profiteuren der alten Ordnung Paroli bieten können.

In diesem Zusammenhang wird sich auch und vor allem für Europa die Chance bieten, sich konstruktiv in die Wand-lungsprozesse einzubringen und den in jüngster Vergan-genheit geschaffenen Institutionen und Instrumenten der Mittelmeerpolitik eine neue Bedeutung zu geben. Gerade Deutschland, aber auch einige osteuropäische Länder verfügen über noch lebendige Erinnerungen und Erfah-rungen mit vergleichbaren politischen Umbrüchen. Sicher können nicht alle Schritte eins zu eins übertragen werden, nicht alle Instrumente passen in diesen andersartigen kulturellen und religiösen Bezugsrahmen. Aber vollständig unbrauchbar und nutzlos sind sie nicht. Es liegt jetzt an den Ägyptern, zu entscheiden, ob und inwieweit sie die angebotene Unterstützung annehmen wollen. Entspre-chende Kooperationsangebote sollten nicht lange auf sich warten lassen.

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34 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Andreas Jacobs

Am Freitag, dem 11. Februar 2011, verkündete Vizepräsi-dent Omar Suleiman um 18 Uhr Ortszeit, dass der ägypti-sche Staatspräsident Hosni Mubarak sein Amt niedergelegt und die Führung des Landes in die Hände eines Militärrates gelegt habe. Streng genommen bedeutet dieser Schritt eine – vermutlich erzwungene – Machtübernahme des Militärs. Für die Ägypter, die seit 18 Tagen genau diesen Rücktritt gefordert hatten, war es aber eine Revolution. Die ganze Nacht wurde auf den Straßen des Landes geju-belt und gefeiert. Nach dem Rücktritt wird es jetzt darauf ankommen, dass der Militärrat einen demokratischen Übergang einleitet und nicht etwa autokratische Strukturen wiederherstellt und konsolidiert. Fest steht allerdings, dass mit der Vertreibung Hosni Mubaraks das ägyptische Volk sein politisches Selbstbewusstsein wiedergefunden hat.

Am Tag nach dem Rücktritt Mubaraks ist der Besen das Symbol der Stunde. Überall im Land und vor allem auf dem Tahrir-Platz wird gefegt, aufgeräumt und sauber gemacht. Ungeachtet der nach wie vor euphorischen Stimmung und der Begeisterung für das Erreichte ist vielen Ägyptern klar, dass nach der Straßenreinigung nun vor allem die politischen Aufräumarbeiten folgen müssen. Und hier hat Ägypten noch einen langen und schwierigen Weg vor sich. Der zurzeit amtierende Militärrat hat sich zwar verpflichtet, die Macht in einem friedlichen und geordneten Rahmen an eine zivile und demokratisch gewählte Regierung zu übergeben, ein expliziter Fahrplan für diesen Prozess gibt es aber noch nicht. Bereits einen Tag nach dem Rücktritt Mubaraks zeichnen sich aber einige Tendenzen und Pers-pektiven ab.

ÄGYPTEN BEENDET DIE ÄRA MUBARAK

Dr. Andreas Jacobs leitet das Auslands- büro der Konrad- Adenauer-Stiftung in Kairo.

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35AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Immer mehr Ägypter erkannten in Su- leiman einen Vertreter des alten Sys-tems und der unter Mubarak gepflegten Seilschaften. Das Militär entschied des-halb, selbst die Macht zu übernehmen.

DIE NEUEN MACHTHABER

Seit dem vergangenen Freitag wird Ägypten von einem Militärrat regiert. Wichtigste Person dieses Rates ist der bisherige Verteidigungsminister Mohamed Hussein Tantawi. Der 75-jährige Feldmarschall war unter Präsident Mubarak zwanzig Jahre lang Verteidigungsminister und galt bislang als regimetreuer Unterstützer des Präsidenten. In den Tagen vor dem Machtwechsel soll Tantawi nach Medien-berichten allerdings eine Schlüsselrolle zugekommen sein. Ägyptische Zeitungen mutmaßen, dass er es war, der zwischen der Armeeführung und einem immer starrsin-niger agierenden Mubarak vermittelte. Tantawi hat damit zugleich den bisherigen „Kronprinz‟, Omar Suleiman, in die zweite Reihe gedrängt.

Suleiman war seit langem als möglicher Nachfolger Muba-raks im Gespräch. Seit seiner überraschenden Ernen-nung zum Vizepräsidenten am 29. Januar war fest damit gerechnet worden, dass Mubarak die Amts-geschäfte an seinen Vize übergeben werde. Nur über das wann und wie wurde noch spekuliert. Dass nun ein Militärrat und nicht Suleiman die Amtsgeschäfte übernommen hat, ist vor allem auf Entwicklungen der vergangenen Tage zurückzuführen. Als Geheimdienstchef war Suleiman von vielen Ägyptern persönlich für die Atta-cken und Provokationen bezahlter Plünderer und Schläger verantwortlich gemacht worden. Gleichzeitig erkannten immer mehr Ägypter in Suleiman einen Vertreter des alten Systems und der unter Mubarak gepflegten Seilschaften. Den Militärs erschien eine Machtübergabe an Suleiman daher zu riskant. Sie entschieden sich deshalb, Suleimans Rolle offen zu lassen und selbst die Macht im Land zu über-nehmen.

Von den allermeisten Ägyptern wurde dieser Schritt nicht nur begrüßt, sondern sogar herbeigesehnt. Seit Tagen kursiert der Witz, dass Ägypten das einzige Land der Welt sei, in dem man sich wünsche, eine Diktatur werde durch eine Militärdiktatur abgelöst. Die Popularität des Militärs ist historisch und gesellschaftlich bedingt, hat aber in den

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36 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Der Militärrat ließ verlauten, dass Ägypten weiterhin alle internationa-len Verträge und Abkommen einhalten wird. Diese Ankündigung ist vor allem hinsichtlich des Friedensvertrages mit Israel bedeutsam.

vergangenen zwei Wochen enorm zugenommen. Allen Ägyptern ist klar, dass dieser Machtwechsel zwar vom Volk verursacht, aber vom Militär möglich gemacht wurde.

ANKÜNDIGUNGEN UND VERÄNDERUNGEN

Am Tag Eins nach Mubarak ist über die weiteren Ziele und Pläne der neuen Militärregierung noch wenig bekannt. In einer Erklärung betonte das neue Führungsgremium aber einige allgemeine Absichten. Hiervon sind drei besonders wichtig. Erstens kündigte das Gremium an, entgegen früherer Meldungen die bisherige Regierung (die haupt-sächlich aus Militärs besteht) sowie alle noch amtierenden

Gouverneure bis auf weiteres im Amt zu belassen. Dieser Schritt soll nach Einschät-zung von Beobachtern der Stabilisierung und der möglichst schnellen Bildung einer neuen Regierung dienen. Zweitens ließ der Militärrat verlauten, dass Ägypten auch weiterhin alle

eingegangenen regionalen und internationalen Verträge und Abkommen einhalten wird. Diese Ankündigung ist vor allem hinsichtlich des Friedensvertrages mit Israel bedeutsam und wurde dementsprechend in Israel, Europa und den USA mit Erleichterung aufgenommen. Die dritte Ankündigung bezieht sich auf die Aufforderung zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Bürgern und Polizei, verbunden mit der Mahnung an die Polizei sich als „Diener des Volkes‟ zu verstehen. Diese Aufforderung ist insofern bedeutsam, als sie von den Ägyptern als klare Unterordnung des verhassten Polizei- und Sicherheits-apparates unter die neue Führung des Landes und damit unter das Militär verstanden wird.

Die Rolle des ägyptischen Parlaments und der ägyptischen Verfassung ist bislang völlig offen. Für die meisten Ägypter ist allerdings klar, dass beide Organe viel zu eng mit dem bisherigen Regime verknüpft sind und in dieser Form bzw. Zusammensetzung keine Legitimität besitzen. Die Legisla-tive, nach den von massiven Vorwürfen der Wahlfälschung begleiteten Parlamentswahlen erst im November zusam-mengetreten, ist folgerichtig bislang nicht in Erscheinung getreten. Fachleute vermuten, dass das Parlament in absehbarer Zeit aufgelöst wird.

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37AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Die meisten Ägypter sind sich darüber im Klaren, dass dem Land ein schwie-riger politischer und gesellschaftlicher Prozess der Neuorientierung bevor-steht.

Ähnliches gilt für die Verfassung. Die derzeitige Verfassung war nach einer Änderung des Jahres 2007 weitgehend auf die Interessen des Präsidenten und seines Machtapparates zugeschnitten. Für die allermeisten Ägypter hat sie deshalb keine Legitimität mehr. Viele gehen sogar davon aus, dass durch die Machtübernahme des Militärrates die Verfassung bereits außer Kraft gesetzt wurde, da ein solcher Macht-transfer verfassungsmäßig nicht vorgesehen ist.

SCHLUSSFOLGERUNGEN

Noch ist die politische Zukunft Ägyptens weitgehend offen. Äußerungen aus dem Umfeld der neuen Militärregierung lassen aber einige mögliche Schritte erkennen, die insge-samt allerdings ein best-case-Szenario ergeben. Vielerorts wird vermutet, dass das Militär zunächst versuchen wird, durch eine Reihe strenger Maßnahmen und Vorschriften das öffentliche Leben im Land wieder in Gang zu bringen. Eine Reihe von zivilen Beauftragten und Mittelsmännern könnten dann Gespräche mit politischen Kräften aus allen Richtungen führen, um die Bildung einer zivilen Regierung auf Weisung des Militärs vorzubereiten. Parallel sollten ein Verfassungsprozess eingeleitet und die bisherigen Notstandsgesetze aufgehoben werden. Nach der Kons-tituierung von Parteien könnten schließlich innerhalb einiger Monate Parlamentswahlen stattfinden, bevor im September dann fahrplanmäßig ein neuer ägyptischer Präsident gewählt würde.

Eine ägyptische Tageszeitung schrieb einen Tag nach dem Amtsverzicht Mubaraks, dass dies nicht das Ende bedeute, sondern den Anfang. Die meisten Ägypter sind sich darü- ber im Klaren, dass dem Land ein schwieriger politischer und gesellschaftlicher Prozess der Neuorientie-rung bevorsteht. Hierbei werden noch viele alte Wunden aufbrechen und offene Rechnungen beglichen werden. Wichtige Teile des bisherigen Machtapparates haben ihre bisherigen Posten behalten, die ungeliebte Polizei ist wieder auf den Straßen zu sehen, die Rolle der Geheimdienste ist unklar und schließlich ist offen, ob sich die Protestbe-wegung mit dem Rücktritt Mubaraks zufrieden geben wird oder ihre Proteste fortsetzt.

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38 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Beobachter erwarten vor dem Hintergrund dieser Gemen-gelage das Aufbrechen einer Reihe von Macht- und Vertei-lungskonflikten. Die „Revolution des 25. Januar‟ hat den Ägyptern gezeigt, dass sie nicht länger der willenlose Spiel-ball der Mächtigen sind, sondern dass selbst eine harmlose Facebook-Seite eine Protestbewegung begründen kann, die nach gut zwei Wochen den Rücktritt des Präsidenten erzwingt. Dieses Selbstvertrauen werden die Ägypter aller Voraussicht nach in Zukunft einbringen, wenn es um den Kampf für Mindestlöhne, gegen Subventionsabbau, für eine außenpolitische Neuausrichtung oder für mehr Demokratie geht. Was am vergangenen Freitag in Ägypten geschehen ist, mag strenggenommen „lediglich‟ ein Militärputsch sein. Für die Ägypter ist es der Tag, an dem sie ihre nati-onale Würde und ihr politisches Selbstvertrauen wieder gewonnen haben. Unabhängig von den derzeitigen oder künftigen Machtverhältnissen wird dies allein bereits für nachhaltige politische Veränderungen in Ägypten sorgen.

Der Beitrag wurde am 12. Februar 2011 abgeschlossen.

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39AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

JEMEN: REVOLUTION VERSCHOBEN?

Thomas Birringer

Nach dem ersten Höhepunkt der Proteste in Ägypten am 25. Januar riefen auch jemenitische Oppositionelle ihren eigenen „Tag des Zorns‟ aus. Demonstrationen im Jemen hatten bereits einen Tag nach der Flucht des tunesischen Präsidenten Ben Ali am 14. Januar begonnen. Die Demons-tranten fordern seither die Ablösung von Präsident Saleh, bessere Lebensbedingungen sowie ein Ende der Korrup-tion und der sozialen Ungerechtigkeit. Ein Umsturz scheint jedoch nicht unmittelbar bevorzustehen.

Die Jemeniten blicken, wie viele Araber dieser Tage, nach Ägypten und Nordafrika.1 „Tunisia left, Egypt after it and Yemen in the coming future‟ oder „Ben Ali goes after 20 Years, 30 years in Yemen are enough‟2 lauteten die Sprechchöre in den Straßen von Sanaa in den vergan-genen Wochen. Schon kurz nach der Flucht des tunesi-schen Präsidenten berichteten die Medien, dass die jeme-nitische Regierung die höchste Alarmstufe für das Militär ausgerufen hat und die Sicherheitskräfte auf den Straßen zusammenzieht.3

Doch die revolutionäre Stimmung ließ sich auch im Jemen zunächst nicht bannen. Aus anfänglich wenigen hundert Protestierern wurden in den vergangenen Wochen Tausende. Am 3. Februar standen sich dann unter dem gleichen Motto wie in Ägypten, „Tag des Zorns‟, 20.000 Regime-Gegner und ebenso viele Anhänger des Präsi-denten in Jemens Hauptstadt gegenüber.4 Doch waren

1 | Welt Online, 03.02.2011.2 | Laut mehreren Nachrichtenagenturen, u.a. AFP vom 27.01.2011.3 | al-Quds al-arabi, 15.01.2011.4 | u.a. al-Jazeera, 03.02.2011.

Thomas Birringer ist Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Abu Dhabi. Dort leitet er das Regionalprogramm Golfstaaten.

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40 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Präsident Saleh hat aufgrund der Pro-teste die Parlamentswahlen verscho-ben. Stattdessen will er eine Regierung der nationalen Einheit bilden.

damit weniger Kritiker des Präsidenten unterwegs als bei den letzten Protesten im vorigen Jahr. Über die erste Februarhälfte hielten die Proteste an, jedoch ohne dass die Zahl der Demonstranten weiter zunahm.

Die Unterstützer des Präsidenten hatten sich am Tahrir-Platz versammelt und trugen Plakate mit der Aufschrift: „Yes for development, yes for stability, no for chaos.‟5 Dafür wurden immer wieder aus großem Umkreis Menschen ins Zentrum gebracht. Es gab Essen, Khat und wohl auch andere Zuwendungen. Die Anti-Saleh-Bewegung war in andere Bezirke verbannt worden. Ihre Forderung „We will fight until the fall of Ali Abdullah Saleh’s regime, what’s most important now is the jasmine revolution‟6 lässt die aufgeheizte Stimmung erahnen.

Aber Jemens Opposition geht es mehr um Reform als um Revolution. Sie fordert, der Präsident solle aus Tunesien

seine Lehren ziehen und einen Dialog auf neuen Grundlagen einleiten.7 Schon 2009 hatte Saleh mit der Opposition einen soge-nannten „Nationalen Dialog‟ über politische Reformen vereinbart, die bis zur Parlaments-

wahl im kommenden April umgesetzt werden sollten8. Die Parlamentswahlen hat Präsident Saleh nun aufgrund der Proteste verschoben. Stattdessen will er eine Regierung der nationalen Einheit bilden. Außerdem hat er angekün-digt, bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2013 nicht anzutreten, auch sein Sohn werde nicht zur Wahl stehen.

Als weiteres Zeichen der Annäherung hatte Präsident Saleh das Parlament und den Shura-Rat zu einer gemeinsamen Sitzung gerufen, auch wenn er damit vornehmlich seine politische Machtbasis um sich versammelt hatte. Denn seine Partei GPC stellt mit 229 Sitzen die Mehrheit im Parlament, und der Schura-Rat besteht aus 111 von ihm ernannten Mitgliedern. Mit frühen Zugeständnissen wollte die Regierungsspitze so den Protesten den Wind aus den Segeln nehmen. Das Volk wurde durch finanzielle Zusagen

5 | BBC News Middle East, 03.02.2011.6 | Tawakel Karman, Bürgeraktivistin und Vorsitzende der Gruppe „Women Journalists Without Chains‟.7 | al-Jazeera Online, 25.01.2011.8 | Datum für die Wahlen wäre eigentlich der 27.04.2011 gewesen.

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41AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Dass sich Präsident Saleh 2013 aus dem politischen Geschäft zurückziehen wird, glauben nur wenige. 2006 hatte er diesen Schritt schon einmal ange-kündigt, ohne ihn vollzogen zu haben.

milde gestimmt. Die Gehälter des öffentlichen Dienstes und bei der Armee sollen in Zukunft um 30 Prozent erhöht werden, zusätzliche Sozialhilfe wird eingeführt, die Einkommenssteuer halbiert, und ein staatlicher Fonds soll sicherstellen, dass Hochschulabsolventen im öffentlichen Dienst eine Stelle finden.

Indem der jemenitische Präsident schnell auf seine Bevöl-kerung zuging, reagierte er taktisch klüger als Mubarak in Ägypten oder Ben Ali in Tunesien. Doch trotz dieser taktischen Raffinessen bleibt die Kritik. Die Opposition verweigerte bislang eine Fortsetzung des Nationalen Dialoges, der im Oktober vergangenen Jahres eingestellt worden war. Sie wollte nicht mit dem „korrupten Regime von Saleh‟9 an einem Tisch sitzen.

Zudem werden Analogien zu Tunesiens Ben Ali auf der Straße offen zur Sprache gebracht. Der jemenitische Poli-tologe Abdullah Al-Faqih meint: „For his part the president does not know what is happe-ning in the country and seems to be walking down the path as the ousted Tunisian Presi-dent, despite the calls that are rising and demanding reforms and the return of the constitution.”10 Dass sich Präsident Saleh wirklich 2013 aus dem politischen Geschäft zurückziehen wird, glauben nur wenige. 2006 hatte er diesen Schritt schon einmal ange-kündigt, ohne ihn vollzogen zu haben. Stattdessen hatte er Demonstranten dafür bezahlt, auf der Straße sein Bleiben zu fordern.

Anders als in Ägypten sind die Proteste in Sanaa kein spontaner Volksaufstand. Weite Teile des Landes begehren immer wieder gegen die Regierung auf. Noch dazu verfolgen die auf der Straße scheinbar vereinten Oppo-sitionsgruppen sehr stark ihre eigenen Interessen. Seit Jahren gehen die Menschen in Aden, der Hauptstadt des ehemaligen sozialistischen Südjemens, auf die Straße und fordern die Abspaltung von der Zentralmacht in Sanaa. Das sogenannte „Southern Movement‟ wendet sich verstärkt gegen die Dominanz des Nordens im südlichen Landesteil. Auch im Norden gibt es Gegner: Die mit den schiitischen

9 | The National, 04.02.2011. 10 | Ebd.

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42 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Das jemenitische Öl, das zu 70 Prozent den Staatshaushalt finanziert, geht zur Neige. Korruption dominiert den öffent- lichen Sektor.

Houthi-Rebellen vereinbarte Waffenruhe wackelt. Eine andere Gefahr droht von den extremistischen Kräften rund um al-Qaida. Die Terrororganisation ist zu einer ernst-haften Bedrohung für die Stabilität des Landes geworden.

Nach Meinung von Aidrus Al Nakib, Chef der Sozialistischen Partei,11 wird es daher auch weder zu einem Machtvakuum noch zu chaotischen Verhältnissen wie in Tunesien und Ägypten kommen. Viele im Jemen suchen nicht den radi-kalen Sturz des Regimes. Zu groß ist die Angst vor dem Zerfall. „Die Opposition hat Angst vor einem Sturz des Regimes, sie hat Angst vor den Militanten, vor al-Qaida, den Stämmen und den ganzen Waffen hier,‟ sagt dazu der Anwalt und Menschenrechtsaktivist Khaled Al-Anesi.12 Die zentrifugalen Kräfte (Rebellen im Norden und Süden, al-Qaida) könnten bewirken, dass der Jemen zerfällt – wie der Nachbar Somalia.

Mit über 22 Millionen Einwohnern ist der Jemen nach Saudi-Arabien einer der beiden großen Staaten auf der Arabischen Halbinsel. Die Verarmung von weiten Teilen der

Bevölkerung nimmt weiter zu. Inzwischen sind 35 Prozent der Jemeniten arbeitslos und etwa 42 Prozent leben unter der Armuts-grenze. Das eigene Öl, das zu 70 Prozent den Staatshaushalt finanziert, geht zur Neige.

Korruption dominiert den öffentlichen Sektor. Im Index von Transparency International 2010 belegt das Land Rang 146 von 180. Nach wie vor ist eines der größten Probleme des Landes die zunehmende Wasserknappheit. Die Hauptur-sache dafür ist das hohe jährliche Bevölkerungswachstum mit einem entsprechend großen Anteil junger Menschen. Zwei Drittel der Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre.

Wie in Ägypten dürften sich die USA hinter den Kulissen um eine friedliche Entwicklung in Sanaa bemühen. Washington befürchtet, mit Präsident Saleh einen wichtigen Bünd-nispartner im Nahen Osten zu verlieren. Besonders für al-Qaida wird der Jemen als Ausbildungs- und Rückzugs-gebiet immer interessanter. Große Teile des Landes können schon alleine aus finanziellen Gründen nicht ausreichend

11 | Welt Online, 03.02.2011; Die sozialistische Partei Jemens hält zurzeit sieben von 301 Sitzen im Parlament.12 | Spiegel Online, 03.02.2011.

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43AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

kontrolliert werden. Salehs Macht endet mittlerweile vor den Toren der Hauptstadt Sanaa.

Es brennt im Jemen gleich an mehreren Stellen. Doch die verschiedenen oppositionellen Kräfte sind derzeit anschei-nend nicht in der Lage, die Welle der Proteste in anderen arabischen Ländern für sich zu nutzen.

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44 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

UMBRUCH IN NAHOST – STILLSTAND IN IRAN?DIE DEMOKRATISIERUNGSPROZESSE IN DER REGION VERSTÄRKEN DEN MACHTKAMPF ZWISCHEN DEN REFORMKRÄFTEN UND DER FÜHRUNG DES LANDES

Oliver Ernst

„Tod Musawi!‟, „Tod Karroubi!‟ – Am Freitag, dem 18. Feb- ruar, erlebte die Islamische Republik Iran Demonstrationen der besonderen Art: Die Regierung, namentlich der Koor-dinierungsrat für Islamische Propaganda, hatte für die Zeit nach den Freitagsgebeten zu Demonstrationen gegen Mir Hossein Musawi und Mehdi Karroubi aufgerufen, die beiden Führer der Grünen Bewegung, die für demokratische Reformen eintritt. Tausende deklamierten den staatlich angeordneten und im Staatsfernsehen angeheizten „Hass‟ und „Ekel‟ schon während der offiziellen Gebetsfeiern. In der Freitagspredigt in Teheran forderte der Vorsitzende des Wächterrates, Ayatollah Ahmed Dschannati, die Justiz des Landes zu konsequentem Vorgehen gegen Musawi und Karroubi auf. Am Vortag hatte Generalstaatsanwalt Gholam-Hossein Mohseni-Edschei bereits angekündigt, die Führer der Reformbewegung vor Gericht zu bringen. Zugleich warnte er aber davor, dass die Verhaftung der „Anführer des Aufstandes‟ derzeit „politisch nicht zweck-mäßig‟ und nicht im Interesse des Islamischen Systems sei, da sie dadurch nur zu Helden gemacht würden.

Auch der oberste Justizchef der Islamischen Republik, Ayatollah Sadegh Laridschani, hatte sich zuvor gegen über-eilte Schritte gegen die Reformführer gewandt, nachdem in der Madschlis, dem iranischen Parlament, 223 Abge-ordnete Musawi und Karroubi für die jüngsten Unruhen verantwortlich gemacht und ihren Tod gefordert hatte.

Dr. Oliver Ernst ist als Länderreferent im Team Afrika und Naher Osten der Konrad-Adenauer-Stiftung zuständig für Israel, Jordanien, den Libanon, die Palästinensischen Autonomiegebiete und die Türkei sowie für Iran.

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45AUFBRUCH IN DER ARABISCHEN WELT – WAS WIRD AUS DEMOKRATIE UND FRIEDEN IN NAHOST?

Musawi und Karroubi gelten seit 2009 als die einflussreichsten Reformkräfte. Teheran hatte die auch von ihnen beantragten Solidaritätsdemonstrati-onen untersagt.

Laut Laridschani soll eine Kommission eingesetzt werden, die die Vorgänge vom vergangenen Montag gründlich untersuchen soll.

25. BAHMAN – DER TAG DER GRÜNEN BEWEGUNG

In zahlreichen iranischen Städten war es am 14. Februar 2011, dem 25. Bahman 1389, zu Protesten gekommen, an denen nach Schätzungen bis zu 30.000 Regimegegner und Anhänger der reformorientierten Grünen Bewegung teilge-nommen hatten. Es waren wohl die größten Proteste der Reformkräfte seit den Unruhen im Juni 2009, an denen sich damals allein in Teheran – nach Angaben des Teheraner Bürgermeisters Ghalibaf – drei Millionen Bürger beteiligt haben sollen. Die Demonstranten wollten ihre Unterstüt-zung des demokratischen Wandels in der Region, insbe-sondere der erfolgreichen tunesischen und ägyptischen Demokratiebewegungen, zum Ausdruck bringen. Ihre Protestslogans gingen jedoch zum Teil erheblich weiter und richteten sich auch gegen das politisch-religiöse Establish-ment des eigenen Landes: „Nach Ben Ali und Mubarak ist Seyed Ali Chamenei an der Reihe‟, skandierten sie.

Zu den regierungsfeindlichen Demonstrationen, die außer in Teheran vor allem in Isfahan, Shiras, Mashad und Rasht stattfanden, hatten unter anderem der ehemalige Minister-präsident Musawi und der ehemalige Parla-mentssprecher Karroubi aufgerufen. Beide gelten seit ihrer Kandidatur bei den Präsi-dentschaftswahlen im Jahre 2009 als die einflussreichsten Reformkräfte und Führer der damals gebildeten Grünen Bewegung. Das Innenministerium in Teheran hatte die offiziell bean-tragten Solidaritätsdemonstrationen jedoch untersagt.

Der Hardliner Ayatollah Ahmad Dschannati, Vorsitzender des einflussreichen Wächterrates, hatte diese ablehnende Haltung in seiner Ansprache auf der offiziellen Revoluti-onskundgebung in Isfahan damit begründet, dass das iranische Volk bereits am Revolutionsfeiertag seine Soli-darität mit dem arabischen Volk zum Ausdruck bringe und keine Notwendigkeit für weitere Demonstrationen bestehe. Auf den staatlich organisierten Demonstrationen

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46 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN – SONDERAUSGABE 22.02.2011

Anders als in Ägypten geht es der Grünen Bewegung in Iran bei ihren Protesten jedoch nicht um einen Sturz des Systems.

anlässlich des 32. Jahrestages der islamischen Revolution im Iran waren in diesem Jahr tatsächlich Solidaritätsbe-kundungen zugunsten der Umstürze in Tunesien und insbesondere in Ägypten zu hören gewesen. Auf Plakaten wurde Mubarak als Freund der USA und Israels karikiert. Said Jalili, Sekretär des Obersten Nationalen Sicherheits-rates kommentierte noch am gleichen Tag, dass die Gleich-zeitigkeit des Sturzes von Mubarak mit der Feier des 32. Jahrestages der iranischen islamischen Revolution am 11. Februar darauf hinweise, dass dieser Tag für den Sieg der Staaten der Region und das Scheitern der USA und des Zionismus in der Region stehe.

Trotz des Verbotes weiterer Demonstrationen rief am 12. Februar auch die wichtigste verbotene Reformpartei, die Beteiligungsfront Islamischer Iran (Jebheye Mosharekate

Iran-e Eslami), auf ihrer Homepage zur Unterstützung der „25. Bahman‟-Proteste auf und betonte, es gebe Parallelen zwischen den Forderungen der ägyptischen und irani-schen Jugend nach „Freiheit und Wandel‟.

Anders als in Ägypten geht es der Grünen Bewegung in Iran bei ihren Protesten jedoch nicht um einen Sturz des Systems: „Die Grünen sind von dem Geist der Revo-lution geleitet, der das unnachgiebige Festhalten an der Verfassung im Auftrag der Erreichung nationaler Eintracht verlangt.‟ Starke Kritik äußerte die Beteiligungsfront an der militanten Verfasstheit der iranischen Regierung: „In Iran richten sich die Proteste gegen totalitäre Herrscher und die Einmischung des Militärs und Zellen des Sicher-heitsapparates, die die Verfassung als Geisel genommen haben.‟ Und mit Blick auf die Umbrüche in der Region und die Folgerungen für den politischen Wandel im Iran forderte die Beteiligungsfront: „Anhaltende Stabilität, Frieden und Sicherheit können nur durch die Gewährung bürgerlicher Rechte, sowie freier und gerechter Wahlen erreicht werden.‟

ISLAMISCHES ERWACHEN UND DEMOKRATISCHER AUFBRUCH

Stärker an die pro-islamische Rhetorik des offiziellen Tehe-rans angelehnt, formulierte die reformorientierte Kleriker- gruppe „Gesellschaft der Ghomer Seminaristen und

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Religionsführer Chamenei interpre-tierte den Umbruch in Ägypten und Tunesien einseitig als religiös moti-viert.

Forscher‟ ihre Aufforderung, sich an den Demonstrationen am 14. Februar zu beteiligen: „Wir hoffen, dass die nach Freiheit strebende Bevölkerung des Iran sich in die Reihe der Unterstützer des ‚Islamischen Erwachens‛ überall auf der Welt einreiht, indem sie sich an den unabhängigen, volks-nahen und nichtstaatlichen Demonstrationen beteiligt.‟

Die Formulierung „islamisches Erwachen‟ hatten sowohl der religiöse Führer Chamenei als auch andere konservative Kleriker zuvor bei ihren Freitagspredigten der vergangenen Wochen verwendet, womit sie den Umbruch in Ägypten und Tunesien einseitig als religiös motiviert interpretierten. Religionsführer Chamenei, Präsident Ahmadinedschad und andere religiöse und politische Führer der Islamischen Republik stellten die Proteste in den arabischen Ländern sogar in einen direkten historischen und politischen Kontext zur Revolution im Iran, die heute im offiziellen Narrativ als „Islamische Revolution‟ gefeiert wird, obwohl damals alle gesellschaftlichen und politischen Gruppen (mit Ausnahme der Monarchisten) den Sturz des Schahs gefordert und gemeinsam erreicht hatten. Der Sprecher des iranischen Parlaments und ehemalige Kulturminister unter dem prag-matischen Präsidenten Rafsandschani, Ali Laridschani, hatte dagegen am 17. Februar bei einem Treffen von einem „demokratischen Aufbruch in der Region‟ gesprochen und die langjährige Unterstützung der arabischen Despoten durch den Westen angeprangert.

MOBILISIERUNG AUF FACEBOOK

Neben den etablierten Reformkräften hatte vor dem 14. Februar aber auch die junge Facebook-Generation mobil gemacht. Wie in Ägypten und Tunesien ist dieses soziale Netzwerk im Iran inzwischen auch von großer politischer Bedeutung, wie die Online-Reaktionen auf den bei Face-book geposteten Demonstrationsaufruf zeigten: Innerhalb kurzer Zeit hatten sich rund 65.000 Freunde auf der eigens eingerichteten zentralen „25. Bahman‟-Facebook-Seite zu den Protesten gemeldet.

Dabei war die Reformbewegung diesmal mit ihrer Demons-tration am 25. Bahman bewusst auf einen anderen Termin gegangen als die Regierung. Während man im vergangenen

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Die Reformbewegung ist mit frischem Mut aus den Protesten hervorgegan-gen. Der Augenblick für einen demo-kratischen Wandel in der Region ist günstig.

Jahr noch den offiziellen Tag der Feier der Islamischen Revolution, den 11. Februar bzw. 22. Bahman, im Iran ein nationaler Feiertag, für Demonstrationen genutzt hatte, wählte man diesmal den 14. Februar bzw. 25. Bahman, einen Werktag. Strategisch machte dies durchaus Sinn: So war wesentlich klarer, dass man nicht als Teil der von der Regierung organisierten Revolutionsfeiern aufmarschieren würde. Damit war die Sichtbarkeit der Grünen Bewegung, um die es seit einem Jahr auf den Straßen Irans eher ruhig geworden war, nach außen und innen gewährleistet.

Wenngleich es am 14. Februar zu mehreren Toten und weit über 100 Verhaftungen von Demonstranten kam, ist die Reformbewe-gung doch mit frischem Mut aus den aktuellen

Protesten hervorgegangen. Man hat diesen – für demokra-tischen Wandel in der Region so günstig erscheinenden – Augenblick nicht ungenutzt verstreichen lassen und dem Establishment und den Sicherheitskräften gezeigt, dass man auch der scharfen staatlichen Verfolgung und den brutalen Angriffen der Milizen zu trotzen gewillt ist.

MUSAWI UND KARROUBI

Musawi und Karroubi standen praktisch seit dem Vortag der Proteste unter Hausarrest. Jeglicher Besuch wurde von den Sicherheitskräften unterbunden, sogar die Tele-fonleitungen wurden gekappt. Dennoch hielten beide über ihre Homepages Kontakt zu ihren Anhängern. Von beson-derer Bedeutung war dabei die Grußbotschaft Musawis an die iranische Nation, die er am Tag nach den Protesten veröffentlichte: „Die glorreichen Demonstrationen vom 14. Februar 2011, die einen großen Erfolg für unsere Nation und die Grüne Bewegung darstellen, fanden trotz zahl-reicher Bedenken statt – mit der Beteiligung männlicher und weiblicher Mitstreiter, die alle Teile unserer Gesell-schaft repräsentieren. […] Der Stolz der Grünen Bewe-gung liegt in ihrer Unabhängigkeit und in ihrem Verlass auf die ungeheure Kraft des großen iranischen Volkes. Die Grüne Bewegung hat stets ihre Unabhängigkeit von fremden Einflüssen bewahrt. […] Die Grüne Bewegung ist immer darauf ausgerichtet, ihre Ziele auf friedlichem Wege zu erreichen, in Betonung der grundlegenden Prinzipien der Menschenwürde, in Anerkennung der Souveränität

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Die Grüne Bewegung ist nicht nur motiviert von den Manipulationen der Präsidentschaftswahl 2009. Sie ist als Bewegung vor allem eine Reaktion auf die reformresistente Regierung Ahma-dinedschads.

und Selbstbestimmung unserer Nation und der uneinge-schränkten Befolgung der Verfassung.‟

Mit seinem Statement trat Musawi den Vorwürfen der Reformgegner entgegen, dass die Reformer von den „Feinden‟, namentlich insbesondere den USA, Großbri-tannien und den „Zionisten‟, gelenkt seien. Gleichzeitig erteilte er weiterhin ausdrücklich gewaltsamen Aktionen eine klare Absage – eine Eskalation der Gewalt ist nicht im Sinne der Grünen Bewegung, die auf Reformen inner-halb des bestehenden Systems setzt und vor allem immer noch die pragmatische Forderung nach Wiederholung der Präsidentschaftswahlen auf ihre Fahnen geschrieben hat. Durch seinen Bezug auf die geltende Verfassung – und, an anderer Stelle seiner Erklärung, auf den Revolutionsführer Imam Chomeini – unterstrich Musawi, dass er nicht den Sturz des religiösen Führers Chamenei und des Systems der Herrschaft der Religiösen Führung (welayat-e faqih) anstrebt, wenngleich dies radikalere Anhänger der Grünen Bewegung bei den Straßenprotesten zumindest vereinzelt gefordert hatten.

Im Grunde knüpft die Grüne Bewegung dort an, wo der reformorientierte Präsident Mohammad Chatami in den Jahren seiner Präsidentschaft (1997 bis 2005) mit einer liberalen Öffnung des Iran begonnen hatte. Die Grüne Bewegung ist dabei nicht nur motiviert von den mutmaß-lichen Manipulationen der Präsidentschafts-wahl 2009, sie ist als Bewegung vor allem eine Reaktion auf die Regierung von Präsi-dent Mahmud Ahmadinedschad, der seit 2005 jede Refor-manstrengung im Keim erstickt hat und auch heute jede Hoffnung auf demokratische Öffnung zunichte macht.

REAKTIONEN DER HARDLINER

Erwartungsgemäß negativ reagierte Ahmadinedschad auf die jüngsten Proteste der Reformbewegung. Während er den Sturz der arabischen Despoten pries, sagte er im Staatsfernsehen, dass die Proteste in Iran selbst „zu nichts führen‟ würden und die Organisatoren „nur den Glanz der iranischen Nation beschmutzen wollten‟. In der Heiligen Stadt Ghom beschimpfte der Hardliner Ahmad Chatami die

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Karroubi erklärte wiederholt, dass er sich vor keiner Drohung fürchte und einen Märtyrertod in Kauf nähme. Er warnte davor, den Wünschen der Men-schen mit Gewalt zu begegnen.

Reformer vor einer Gruppe von konservativen Klerikern in einer vom Staatsfernsehen übertragenen Rede noch aggressiver: „Die Anführer der Schmutzkampagne, insbe-sondere Musawi und Karroubi, helfen vor allem den USA und Israel.‟ Den Aufruf zu den Demonstrationen am 14. Februar bezeichnete er als „Gegnerschaft Gottes‟ (moha-rebeh) – ein Delikt, das nach der im Iran geltenden Sharia die Todesstrafe nach sich zieht.

Auch im Parlament forderten 223 Abgeordnete der Mehr-heitsfraktion der Hardliner die Hinrichtung von Musawi und Karroubi. Vor allem der ehemalige Parlamentssprecher Karroubi hatte sich seit den Präsidentschaftswahlen 2009 mit der wiederholten ernsten Bedrohung seines Lebens

öffentlich auseinander gesetzt und seine Bereitschaft erklärt, für die Grüne Bewe-gung als Märtyrer zu sterben. Seinen Willen, um jeden Preis die politischen und sozialen Reformen im Land zu verwirklichen, hatte er am 16. Februar nochmals auf seiner Home-

page sahamnews bekräftigt: „Ich erkläre, dass ich mich vor keiner Drohung fürchte. Als Soldat dieser großen Nation seit über 50 Jahren bin ich bereit, jeden Preis zu zahlen.‟ Zugleich warnte er mit Blick auf die Umstürze in Ägypten und Tunesien davor, sich „mit Gewalt den Wünschen der Menschen entgegen zu stellen‟, und mahnte: „Lernt aus dem Schicksal der Regierungen, die sich selbst vom Volk entfernt haben.‟

Mehrfach war auch Musawi körperlichen Angriffen ausge-setzt. Bilder seiner Verletzungen wurden sogar online gestellt. Die Täter wurden niemals verfolgt. Doch insbe-sondere bei diesen beiden populären Führern der Grünen Bewegung hat das Regime an einer Märtyrerrolle durch ein vollstrecktes Todesurteil kein Interesse. Zu groß ist die Sorge, dass sich die Beerdigungs- und Trauerzeremonien zu Massendemonstrationen gegen das Regime ausweiten könnten. Zu verbieten oder zu kontrollieren wären diese Beerdigungsfeiern angesichts der Millionenschar von An- hängern der Grünen Bewegung wohl kaum.

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„Gott, lass mich aufrecht sterben. Ich bin es leid, würdelos, auf Knien zu leben.‟ (Mohammad Mochtari)

DIE MÄRTYRER DER REFORMBEWEGUNG

Wie sensibel die Sicherheitskräfte und das politisch-klerikale Establishment auf die Gefahr von Märtyrern auf Seiten der Grünen Bewegung reagiert, zeigt der Umgang mit dem Fall des bei den jüngsten Protesten mutmaß-lich von Sicherheitskräften erschossenen Anhängers der Grünen Bewegung, dem sunnitisch-kurdischen Studenten Sani Jaleh: Er wird als angebliches Mitglied der parami-litärischen Basidschi zwar vom Regime vereinnahmt, aber die Grüne Bewegung hat ein Bild von ihm mit dem im vergangenen Jahr verstorbenen reformorientierten Ayatollah Montazeri veröffentlicht, um seine Unterstützung der Reformer zu belegen. Bei seiner Beerdigungsfeier an der Universität Teheran am 16. Februar kam es zu gewalt-samen Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern. Inzwischen wurde sein Bruder verhaftet, der öffentlich die Mitgliedschaft von Sani bei den Basidschi bestritten hatte. Sanis Mitgliedskarte soll eine Fälschung sein, hergestellt nach seiner Ermordung.

Auch der zweite, mutmaßlich ebenfalls von Sicherheitskräften getötete Demonstrant, der 22-jährige Student Mohammad Mochtari, wird inzwischen als „Schahid‟ (Märtyrer) der Grünen Bewe- gung verehrt. Dazu trägt auch der Umstand bei, dass er auf seiner Facebook-Seite geschrie ben hatte: „Gott, lass mich aufrecht sterben. Ich bin es leid, würdelos, auf Knien zu leben.‟

Seit dem gewaltsamen Tod der ebenfalls mutmaßlich durch staatliche Sicherheitskräfte oder Milizen getöteten jungen iranischen Studentin Neda, die im Sommer 2009 weltweit zum Symbol des Widerstandes der iranischen Jugend gegen das System der Islamische Republik wurde und im Iran seitdem als Märtyrerin verehrt wird, weiß das Regime um die Gefahren, die von solchen Märtyrergestalten ausgehen können. Und schließlich: Auch in Ägypten und Tunesien waren es junge Opfer von Gewalt und Willkür der staat-lichen Sicherheitsorgane, die den entscheidenden Impuls für eine breite Mobilisierung vieler – auch unpolitischer – junger Menschen gegeben hatten. Besonders brisant ist nun der Umstand, dass der vom Regime propagierte Tod

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Gerade die aktuellen Beispiele zeigen, dass inszenierte Demonstrationen von Regime-Anhängern die Eskalation wei-ter verschärfen können.

eines angeblichen Basidsch-Milizionärs durch iranische Sicherheitskräfte der Reformbewegung auch innerhalb der Basidsch-Jugend weitere Anhänger zutreiben könnte. Diese gewaltbereiten und für den Kampf ausgebildeten Kräfte stellen neben den Revolutionsgarden (Pasdaran) die wichtigsten Stützen des Regimes dar. Die aktuell im Iran verbreiteten Gerüchte, innerhalb der Pasdaran sinke die Bereitschaft, gewaltsam gegen die eigenen Mitbürger vorzugehen, müssen daher den Kräften um Ahmadined-schad erhebliche Sorgen bereiten.

Doch noch fühlt sich die Regierung fest im Sattel. Der Aufruf der Regierung und insbesondere des staatlichen „Koordinierungsrates für Islamische Verbreitung‟ zu den Demonstrationen gegen die Grüne Bewegung am 18. Februar wiederholt ähnliche, ebenfalls staatlich organi-sierte Massenaufmärsche im Jahr 2009. Auch sie sollten

dazu dienen, den weltweit kommunizierten Bildern vom Aufstand gegen das Regime eigene Propagandabilder entgegenzusetzen. Aber gerade die aktuellen Beispiele in den arabischen Ländern zeigen, dass diese insze-

nierten Demonstrationen der Regime-Anhänger die Eskala-tion weiter verschärfen können. Die Regierung spielt hier also bewusst mit dem Feuer. Gerade mit Blick auf den anstehenden Jahreswechsel und den damit verbundenen „Noruz‟-Feiern zum Neujahrstag am 21. März, an dem die iranische Jugend, vor allen in den großen Städten, ohne Rücksicht auf die strengen Sittenvorschriften zum Feiern auf die Straße geht und so alljährlich ihren Unmut und ihren zivilen sozialen Protest zum Ausdruck bringt, kann hier die staatlicherseits gestreute Saat für eine erneute Konfrontation zwischen Reformerlager und Hardlinern und die Brutalisierung der politischen Auseinandersetzung gesehen werden.

NACHBAR TÜRKEI

Selbst die Türkei, die Ahmadinedschad damals als erstes zu seinem Wahlsieg am 12. Juni 2009 gratuliert hatte, blieb von den negativen Folgen der aktuellen Proteste im Iran nicht verschont: Der türkische Präsident Abdullah Gül weilte am Tag der Proteste gemeinsam mit Außenminister Ahmet Davutoglu und einer rund 300-köpfigen Delegation

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„Wir sehen, dass manchmal, wenn die Führer und Köpfe von Ländern die Forderungen ihrer Nationen nicht beachten, die Völker selbst handeln.‟ (Abdullah Gül)

beim neuen Verbündeten in Teheran, um das türkisch-iranische Handelsvolumen von zehn auf 30 Milliarden Euro zu erhöhen. Ein Fahrer von Güls Delegation wurde, im Rahmen der brutalen Niederschlagung der Proteste, von der iranischen Polizei verprügelt. Mobile Kommunikation und die Nutzung sozialer Netzwerke war der Delegation während ihres Iran-Aufenthaltes, aufgrund der staatlich organisierten Abschaltungen, nicht möglich. So erhielt man durch den Besuch bei den iranischen Freunden eine Ahnung davon, was die iranische Bevölkerung seit Jahren tagtäglich erlebt, ohne dass die von der pro-islamischen AKP gestellte türkische Regierung dies bislang öffentlich kritisiert hätte.

Auf einer gemeinsam mit Präsident Ahma-dinedschad abgehaltenen Pressekonferenz kommentierte Gül die aktuelle Situation in der Region: „Wir sehen, dass manchmal, wenn die Führer und Köpfe von Ländern die Forderungen ihrer Nationen nicht beachten, die Völker selbst handeln, um ihre Forderungen zu erfüllen.‟ Iran sprach er zwar nicht direkt an, er nahm das Land aber auch nicht aus. War dies ein „Gorbatschow-Moment‟ in Teheran? Werden die iranischen Hardliner dafür bestraft, dass sie die Chancen für Reformen ungenutzt verstreichen lassen? – „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.‟

ZUKUNFTSSZENARIEN

Drei Szenarien lassen sich für die weitere politische Ent- wicklung im Iran entwerfen:

1. Status quo unter der Hardliner-Regierung: Kurzfristig ist dies die realistischste Perspektive, wenngleich sie am wenigsten der aktuellen Reformdynamik in der Region entspricht, die auch die Entwicklung im Iran und insbe-sondere der iranischen Grünen Bewegung beeinflusst. Doch die Trias aus Religionsführer, Präsident und Parla-ment ist geschlossen gegen ein Aufweichen der konfron-tativ-reformfeindlichen Haltung. Die 2012 anstehenden Parlamentswahlen und die Präsidentschaftswahlen 2013 werden aber zur Bewährungsprobe für diese Konstel-lation. Nach geltendem Recht darf Ahmadinedschad im Jahr 2013 nicht ein drittes Mal kandidieren. Dies

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Die Verhinderung einer Kandidatur von Musawi und Karroubi zur Wahl 2013 erscheint nicht unwahrscheinlich. Die Grüne Bewegung muss neue politische Führer finden.

schwächt die Hardliner und eröffnet für ihre Gegner in den verschiedenen politischen Lagern einen größeren politischen Spielraum.

2. Politischer Erfolg der Grünen Bewegung: Entspricht es nur westlichem Wunschdenken, dass sich die Grüne Bewegung im Iran durchsetzen wird? Keineswegs. Mittelfristig ist dies sogar die wahrscheinlichste Entwick-lung, da diese Bewegung auf einen größtmöglichen gesellschaftlichen und politischen Konsens abzielt. Die Reform-Ära unter Präsident Chatami hat gezeigt, dass die iranische Bevölkerung mehrheitlich hinter dem gesellschaftspolitischen Ansatz einer Reform im Rahmen der gegeben Verfassung steht. Der Vorteil der Grünen Bewegung ist der anhaltend hohe Mobilisierungsgrad der eigenen Anhängerschaft und nun auch das Vorbild der anderen, teilweise erfolgreichen Reformbewe-gungen im Nahen Osten. Spätestens bei den Präsident-schaftswahlen 2013 bietet sich der Grünen Bewegung die Chance, einen Politikwechsel zu erreichen. Wie schon bei den Präsidentschaftswahlen 2009 tendenziell zu beobachten war, ist auch 2013 davon auszugehen,

dass die Pragmatiker und moderat-konserva-tiven Kräfte einen neuen reformorientierten Kurs in der Innen- und Außenpolitik mitt-ragen würden, um die nationale Eintracht zu sichern. Voraussetzung ist allerdings, dass

es die politische Lage der Grünen Bewegung ermög-licht, überhaupt eigene Präsidentschaftskandidaten aufzustellen. Angesichts der derzeitigen Kampagnen erscheint die Verhinderung einer erneuten Kandidatur der zurzeit wichtigsten Repräsentanten der Grünen Bewegung, Musawi und Karroubi, durch den Wächterrat nicht unwahrscheinlich. Die Grüne Bewegung muss hier in den nächsten zwei Jahren neue fähige und charisma-tische politische Führer finden.

3. Das „türkische Modell‟: Die Vereinbarkeit von Demo-kratie und Islam wird in der Türkei seit 2002 unter der pro-islamischen AKP-Regierung innerhalb eines säkularen Verfassungsrahmens vorgeführt. In Ägypten könnten sich selbst die Muslimbrüder mit diesem offenen und pluralistischen Modell anfreunden. Für die Islamische Republik Iran würde die Annäherung an das

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Teheran nutzt den Druck von außen als Vorwand, seinerseits den Druck nach innen zu erhöhen. Kontakte ins westli-che Ausland werden kriminalisiert.

„türkische Modell‟ jedoch tendenziell einen radikalen Systemwechsel bedeuten, der derzeit, aufgrund der massiven politischen Unterdrückung säkularer Bestre-bungen im Iran, nur von wenigen säkularen Reform-kräften in Teheran auf die Agenda gesetzt wird. Langfristig ist ein derartiger Wandel von innen jedoch keineswegs ausgeschlossen, genauso wenig, wie perspektivisch ein demokratischer Iran in einem demo-kratischen Nahen Osten. Gerade die nach der Revolution von 1979 im Iran geborene Facebook-Generation ist wesentlich offener für einen derartigen Regimewechsel.

AUSSENPOLITISCHE IMPLIKATIONEN

Der Westen hat im Falle des Iran in den letzten Wochen – wie zuvor schon im Jahre 2009 – schnell und deutlich seine Unterstützung für die iranische Reformbewegung artikuliert. Vor dem Hintergrund der wohl auf absehbare Zeit nicht endenden sicherheits-politischen Konfrontation mit Iran und vor allem aufgrund der repressiven Haltung des Regimes, ist eine Unterstützung von politi-schen Reformen im Iran, oder gar der iranischen Zivilge-sellschaft, von außen jedoch kaum möglich. Derweil nutzt das Regime in Teheran den Druck von außen sogar als Vorwand, seinerseits den Druck nach innen zu erhöhen. Kontakte ins westliche Ausland werden kriminalisiert und teilweise mit hohen Strafen geahndet.

Der iranischstämmige Wissenschaftler David Menashri vom Zentrum für Iranstudien an der Universität Tel Aviv hat das Dilemma der westlichen Iranpolitik so beschrieben: „Im Iran fahren der Demokratiezug und der Atomzug. Entscheidend ist, welcher Zug zuerst das Ziel erreicht.‟ Durch die Sanktionspolitik versucht die Weltgemeinschaft seit einigen Jahren, die Geschwindigkeit des Atomzugs zu verlangsamen. Der richtige Brennstoff, um die Geschwin-digkeit des Demokratiezuges im Iran zu erhöhen, ist jedoch noch nicht gefunden.

Die iranischen Reaktionen auf den Umbruch im Nahen Osten belegen die tiefe politische Spaltung von Gesell-schaft und Politik in diesem Land. Während die Hardliner die „Islamische Revolution‟ von 1978/79 zur Patin des

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Umbruchs küren, sehen die Reformer die Proteste von 2009 als wichtigen Impuls für die Demokratiebewegungen in der Region an. In dieser Sichtweise werden die irani-schen Reformkräfte von vielen Akteuren der arabischen Demokratie- und Freiheitsbewegungen unterstützt. Von besonderer Bedeutung für die iranischen Reformer war die Verbundenheitserklärung des populären ägyptischen Akti-visten Wael Ghonim, der sich bei der Grünen Bewegung im Iran für die Organisation der Solidaritätsdemonstrationen am 14. Februar bedankte.

DIE MUSIK DER GRÜNEN BEWEGUNG

Schon vor fünf Jahren hat die iranische Sängerin Nazanin in ihrem Revolutionslied „Someday‟ den langen Weg der iranischen Freiheitsbewegung seit der „islamischen Revo-lution‟ im Iran beschrieben. 2009 wurde dieses Lied, mit den Bildern der Proteste der Grünen Bewegung unterlegt, einer der populärsten englischsprachigen Protestsongs der Grünen Bewegung. Der Text ist heute aktueller denn je:

„They were on the march then in 1978. They filled our minds with hate. They deceived the nation in the name of religion and soon it was too late. When the soldiers came we were on the run. Our lives forever changed. That was no solution, regressive revolution. Together we must stand.

Someday, we will find a way. Someday, the darkness fades away.

I’m calling all the children now that we are all grown up, is it time to make a change. Take this old oppression with a new aggression, redeem our rightful place.

I have a new solution: it’s called progressive revolution and someday is right now.‟