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kastanienbraunen Locken tatsächlich trauen soll - Weltbild€¦ · Julie Garwood Eine bezaubernde Braut Roman Aus dem Amerikanischen von Elvira Bittner. Die Autorin Julie Garwoods

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Page 1: kastanienbraunen Locken tatsächlich trauen soll - Weltbild€¦ · Julie Garwood Eine bezaubernde Braut Roman Aus dem Amerikanischen von Elvira Bittner. Die Autorin Julie Garwoods
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Voll Entsetzen muss die fünfjährige Gillian mit ansehen, wie ihr geliebter Vater von demkorrupten Baron Alford ermordet wird - angeblich wegen Hochverrats. Nur Gillians ältereSchwester Christen kann aus England fliehen, und gleichzeitig verschwindet diegeheimnisvolle, juwelengeschmückte »Schatulle der Arianna«, ein brisantes GeschenkKönig Johns I. an seine Geliebte. Gillian, unter die Vormundschaft des grausamen BaronAlford gestellt, wird zu ihrem Onkel Morgan in die Verbannung geschickt.Erst vierzehn Jahre später erinnert sich der inzwischen durch Ausschweifungen verarmteBaron Alford an die nie wieder aufgetauchte Schatulle. Er schickt Gillian mit dem Auftragnach Schottland, ihm sowohl ihre Schwester Christen, die er aus politischen Gründenheiraten will, als auch die Schatulle zu verschaffen andernfalls wird ihr geliebter OnkelMorgan sterben. Angsterfüllt, aber entschlossen macht sich Gillian auf den Weg insFeindesland und steht unvermittelt einem der mächtigsten Clanführer, dem legendären,beunruhigend gut aussehenden - und äußerst rüden - Brodick Buchanan gegenüber.Brodick wiederum weiß nicht so recht, ob er dieser zierlichen, hinreißendtemperamentvollen Engländerin mit den funkelnden grünen Augen und denkastanienbraunen Locken tatsächlich trauen soll...

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Julie Garwood

Eine bezaubernde Braut

Roman

Aus dem Amerikanischen von Elvira Bittner

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Die Autorin Julie Garwoods erster Roman wurde 1985 veröffentlicht. Seither hat sie es auf sechzehnNew York Times-Bestseller und eine Gesamtauflage von über 30 Millionen Exemplarengebracht und gehört damit zu den erfolgreichsten Vertreterinnen ihres Genres.

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Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel Ransom.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.weltbild.de

Genehmigte Lizenzausgabe © 2018 by Weltbild GmbH & Co. KG, Werner-von-Siemens-Straße 1, 86159 AugsburgDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright der Originalausgabe © 1999 by Julie GarwoodPublished by Arrangement with Julie Garwood

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2000 by Blanvalet Verlag München , in der Verlagsgruppe Random HouseGmbH

Übersetzung: Elvira BittnerCovergestaltung: Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising

Titelmotiv: istockphotoE-Book-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara

ISBN 978-3-95973-954-2

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Für Bryan Michael Garwood, einen außergewöhnlichen Geschäftsmann und promoviertenRechtsanwalt

Mit deinem scharfen Verstand, deiner leidenschaftlichen Seele und deinem mitleidsvollenHerzen gibt es niemanden, der sich dir in den Weg stellen kann.

Seit du deine würdige Laufbahn begonnen hast, gilt:»Recht ist eine Maschine, die, wenn ihr jemand den Anfangsschub gegeben hat, von

alleine rollt.«(Galsworthy, Justice II)

Schieb weiter, Bryan!

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Prolog

ENGLAND, UNTER DER HERRSCHAFT VON KÖNIG RICHARD I.

Die schlimmen Dinge geschehen immer in der Nacht.In den dunklen Stunden der Nacht starb Gillians Mutter, als sie sich abmühte, ein neues

Leben in die Welt zu setzen. Eine junge, gedankenlose Dienerin, die sich wünschte, dieErste zu sein, die diese traurige Nachricht überbrachte, weckte die beiden kleinenMädchen und erzählte ihnen, dass ihre liebe Mama tot war. Zwei Nächte später wurdensie noch einmal wachgerüttelt, nur um zu hören, dass ihr kleiner Bruder, Ranulf, der zuEhren ihres Vaters so getauft worden war, ebenfalls gestorben war. Sein zarter Körperhatte die Anstrengung nicht überlebt, zwei Monate zu früh geboren worden zu sein.Gillian fürchtete sich vor der Dunkelheit. Sie wartete, bis die Dienerin ihr Schlafzimmerwieder verlassen hatte, dann rutschte sie auf dem Bauch aus dem großen Bett auf denkalten Steinboden. Mit nackten Füßen lief sie zu dem verbotenen Gang, einem geheimenFlur, der zum Zimmer ihrer Schwester führte und auch zu der steilen Treppe, die zu denTunneln unter den Küchen führte. Sie zwängte sich hinter den Schrank, den Papa vor dieschmale Tür in der Wand gestellt hatte, um seine Töchter davon abzuhalten, durch denGang hin und her zu laufen. Wieder und wieder hatte er sie gewarnt, dass dieser Gangein Geheimnis war, und dass er um der Liebe Gottes willen nur unter denaußergewöhnlichsten Umständen genutzt werden durfte, ganz sicher nicht für ein Spiel.Sogar seine treuesten Diener wussten nichts von den Gängen, die aus dreien derSchlafzimmer führten, und er war entschlossen, es bei dieser Tatsache zu belassen.Darüber hinaus war er sehr besorgt, dass seine Töchter die steile Treppe hinunterfallenund sich ihre zarten kleinen Hälse brechen könnten. Oft drohte er ihnen damit, ihnen denPo zu versohlen, wenn er sie einmal dabei erwischte, dass sie den geheimen Gangbenutzten. Es war gefährlich, und es war verboten.

Aber in dieser grauenvollen Nacht des Verlustes und des Kummers war es Gillian egal,ob sie Schwierigkeiten bekommen würde. Sie hatte Angst, und wann immer sie Angsthatte, lief sie zu ihrer älteren Schwester Christen, bei der sie Trost suchte. Es gelangGillian, die Tür einen Spaltbreit zu öffnen, dann rief sie nach Christen und wartete darauf,dass diese sie holen kam. Ihre Schwester griff durch den Türspalt, packte Gillians Handund zog sie in ihr Zimmer. Dann half sie ihr, in ihr Bett zu klettern. Unter den dickenDecken klammerten sich die beiden kleinen Mädchen aneinander und weinten, währenddie gequälten Schreie ihres Papas durch die Räume hallten. Sie konnten ihn hören, wie erwieder und wieder den Namen ihrer Mama rief. Der Tod war in ihr friedliches Heimeingedrungen und hatte es mit Leid überschüttet.

Der Familie wurde nicht erlaubt, sich zu erholen, denn die Monster der Finsternis warennoch nicht mit ihnen fertig. Inmitten der dunkelsten Nacht drangen die Feinde in ihr Haus,und Gillians Familie wurde zerstört.

Papa weckte Gillian auf, als er in ihr Zimmer stürmte, mit Christen auf seinem Arm.Seine treuen Soldaten William – Gillians Liebling, weil er ihr mit Honig gesüßte

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Naschereien zusteckte, wenn ihr Papa es nicht sah –, Lawrence, Tom und Spencer folgtenihm. Sie alle hatten einen grimmigen Gesichtsausdruck. Gillian setzte sich in ihrem Bettauf und rieb sich mit dem Handrücken die Augen, als ihr Vater Christen an Lawrenceweiterreichte und zu ihr eilte. Er stellte die brennende Kerze auf die Anrichte neben ihremBett. Dann setzte er sich neben sie und strich ihr mit zitternden Händen das Haar ausdem Gesicht.

Ihr Vater sah schrecklich traurig aus, und Gillian glaubte, den Grund dafür zu kennen.»Ist Mama wieder gestorben, Papa?«, fragte sie bekümmert.»Um der Liebe ... nein, Gillian«, antwortete er, und seine Stimme klang erschöpft.»Ist sie dann wieder zurückgekommen?«»Ach, mein süßes Lämmchen, wir haben doch schon so oft darüber gesprochen. Deine

Mama wird nie wieder nach Hause kommen. Die Toten können nicht zurückkommen. Sieist jetzt im Himmel. Versuche bitte, das zu verstehen.«

»Jawohl, Papa«, flüsterte sie.Sie hörte schwache Schreie, die von unten zu kommen schienen, und dann sah sie,

dass ihr Vater sein Kettenhemd trug.»Wirst du jetzt in den Kampf ziehen, um der Liebe Gottes willen, Papa?«»Ja«, antwortete er. »Aber zuerst muss ich dich und deine Schwester in Sicherheit

bringen.«Er griff nach den Kleidern, die Gillians Zofe Liese für den nächsten Morgen bereitgelegt

hatte und kleidete seine Tochter hastig an. William trat vor, kniete sich vor Gillian undzog ihr die Schuhe an.

Ihr Papa hatte sie noch nie zuvor angekleidet, und sie wusste nicht, was sie davonhalten sollte. »Papa, ich muss doch zuerst mein Nachthemd ausziehen, ehe ich michanziehe, und Liese muss mir das Haar bürsten.«

»Wegen solcher Dinge machen wir uns in dieser Nacht keine Gedanken.«»Papa, ist es dunkel draußen?«Er hörte die Furcht in ihrer Stimme und versuchte, sie zu beruhigen. »Fackeln werden

euch den Weg erhellen, und du wirst nicht allein sein.«»Kommst du mit Christen und mir mit?«Ihre Schwester beantwortete diese Frage. »Nein, Gillian«, rief sie von der anderen

Seite des Zimmers. »Weil Papa hier bleiben und den Kampf für die Liebe Gottes kämpfenmuss«, erklärte sie und wiederholte so die so oft benutzte Redewendung ihres Vaters.»Ist das nicht so, Papa?«

Lawrence ermahnte Christen, leise zu sein. »Wir wollen nicht, dass jemand weiß, dassihr weggeht«, erklärte er flüsternd. »Kannst du jetzt ganz leise sein?«

Christen nickte eifrig. »Das kann ich«, flüsterte sie zurück. »Ich kann schrecklich leisesein, wenn ich das sein muss, und wenn ich ...«

Lawrence legte ihr eine Hand auf den Mund. »Psst, goldenes Mädchen.«William hob Gillian auf seinen Arm und trug sie den dunklen Flur entlang zum Zimmer

ihres Vaters. Spencer und Tom führten die kleine Gruppe an, sie hielten hell brennendeKerzen, um den Flur zu erhellen. Riesige Schatten tanzten an den Steinwänden, daseinzige Geräusch war das laute Klappern der Stiefel auf dem Steinboden. Gillian bekam

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Angst, sie schlang die Arme um den Hals des Soldaten und schob ihren Kopf unter seinKinn.

»Ich mag die Schatten nicht«, wimmerte sie.»Sie werden dir nichts tun«, beruhigte er sie.»Ich will zu meiner Mama, William.«»Das weiß ich doch, Honigbär.«Der lustige Spitzname brachte sie stets zum Lachen, und plötzlich hatte sie auch keine

Angst mehr. Sie sah ihren Papa, der an ihr vorbeilief, um sie in sein Zimmer zu führen,und sie wollte seinen Namen rufen. Doch William legte ihr einen Finger auf die Lippenund erinnerte sie daran, ganz leise zu sein.

Sobald sie alle in dem Schlafzimmer waren, begannen Tom und Spencer, einenniedrigen Schrank an der Wand zu verschieben, damit sie die Geheimtür öffnen konnten.Die rostigen Scharniere knarrten und quietschten wie ein wütender Eber, dessen Mundgewaltsam geöffnet wird.

Lawrence und William mussten die beiden kleinen Mädchen auf den Boden stellen, umihre Fackeln zu tränken und anzuzünden. Im selben Moment, als sie ihnen den Rückenzudrehten, liefen sowohl Christen als auch Gillian zu ihrem Vater, der vor einer Kiste amFuß des Bettes kniete und etwas in seinen Sachen suchte. Sie standen zu beiden Seitenvon ihm und stellten sich auf Zehenspitzen, die Hände legten sie auf den Rand der Kiste,um hineinsehen zu können.

»Was suchst du, Papa?«, fragte Christen.»Das hier«, antwortete er und hob eine glänzende, mit Juwelen besetzte Schatulle

hoch.»Die ist aber schön, Papa«, sagte Christen. »Darf ich sie haben?«»Darf ich sie auch haben?«, meldete sich Gillian ebenfalls.»Nein«, antwortete er. »Die Schatulle gehört Prinz John, und ich habe die Absicht, dafür

zu sorgen, dass er sie zurückbekommt.«Er wandte sich an Christen, fasste nach ihrem Arm und zog sie unerbittlich fest zu sich,

während sie sich aus seinem Griff zu winden versuchte.»Du tust mir weh, Papa.«»Das tut mir Leid, Liebling«, sagte er und lockerte sofort seinen Griff. »Ich wollte dir

nicht wehtun, aber du musst jetzt ganz genau aufpassen, was ich dir sagen werde.Kannst du das, Christen?«

»Ja, Papa, ich kann aufpassen.«»Das ist gut«, lobte er sie. »Ich möchte, dass du diese Schatulle mit dir nimmst, wenn

du gehst. Lawrence wird dich beschützen, und er wird dich an einen sicheren Ort bringen,weit weg von hier, und er wird dir dabei helfen, diesen gefährlichen Schatz zu verstecken,bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist und ich dich holen kann, um diese Schatulle zuPrinz John zu bringen. Du darfst niemandem von diesem Schatz etwas erzählen,Christen.«

Gillian lief um ihren Vater herum und trat neben Christen. »Darf sie mir davon erzählen,Papa?«

Ihr Vater beachtete sie nicht, sondern wartete darauf, dass Christen ihm antworten

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würde.»Ich werde es niemandem verraten«, versprach sie ihm.»Ich werde es auch niemandem verraten«, erklärte Gillian heftig und nickte, um ihren

Worten vehement Bedeutung zu verleihen.Ihr Vater schenkte seiner jüngeren Tochter noch immer keine Aufmerksamkeit, denn

momentan war er damit beschäftigt, Christen die Dringlichkeit dessen deutlich zumachen, was er ihr sagte. »Niemand darf je wissen, dass du diese Schatulle besitzt, Kind.Und jetzt pass auf, was ich tue«, befahl er ihr. »Ich werde das Kistchen in diese Tunikawickeln.«

»Damit niemand es sieht?«, fragte Christen.»Das ist richtig«, nickte er. »Damit niemand es sieht.«»Aber ich habe die Schatulle doch schon gesehen, Papa«, platzte Gillian heraus.»Ich weiß, dass du sie gesehen hast«, stimmte er ihr zu. Dann blickte er zu Lawrence

hoch. »Sie ist zu jung ... ich verlange viel zu viel von ihr. Lieber Gott, wie kann ich meineBabys nur gehen lassen?«

Lawrence trat einen Schritt vor. »Ich werde Christen mit meinem Leben schützen, undich werde dafür sorgen, dass niemand die Schatulle sieht.«

William beeilte sich, ebenfalls seine Treue zu versichern. »Lady Gillian wird kein Leidgeschehen«, schwor er. »Ich gebe Euch mein Wort, Baron Ranulf. Mein Leben werde ichgeben, um sie in Sicherheit zu bringen.«

Die Aufrichtigkeit seiner Worte tröstete den Baron, und er nickte, um die beidenSoldaten wissen zu lassen, dass sein Vertrauen in sie vollkommen war.

Gillian zupfte am Ellbogen ihres Vaters, um endlich seine Aufmerksamkeit auf sich zulenken. Sie wollte nicht leer ausgehen. Als ihr Papa die hübsche Schatulle in eine seinerTuniken einwickelte und sie dann Christen reichte, legte Gillian voller Erwartung dieHände zusammen, denn sie nahm an, da ihre Schwester ein Geschenk bekommen hatte,würde auch sie eines bekommen. Selbst wenn Christen die Erstgeborene und drei Jahreälter war als Gillian, so hatte ihr Vater doch noch nie die eine der anderen vorgezogen.

Es fiel ihr schwer, geduldig zu sein, doch Gillian versuchte es. Sie sah zu, wie ihr VaterChristen in seine Arme nahm, ihr einen Kuss auf die Stirn gab und sie dann fest drückte.»Vergiss deinen Papa nicht«, flüsterte er. »Vergiss mich nicht.«

Als Nächstes streckte er Gillian die Hände entgegen. Sie warf sich in seine Arme undküsste ihn auf seine stoppeligen Wangen. »Papa, hast du nicht auch ein hübschesKästchen für mich?«

»Nein, meine Süße. Du wirst jetzt mit William gehen. Nimm seine Hand ...«»Aber Papa, ich muss auch so eine Schachtel haben. Hast du nicht noch eine, die ich

tragen kann?«»Die Schatulle ist kein Geschenk, Gillian.«»Aber Papa ...«»Ich liebe dich«, sagte er und drängte die Tränen zurück, als er sie fest gegen das kalte

Kettenhemd seiner Rüstung drückte. »Gott behüte dich.«»Du zerquetscht mich, Papa. Darf ich die Schachtel später auch einmal halten? Bitte,

Papa.«

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Ector, der oberste Vogt ihres Vaters, kam ins Zimmer gelaufen. Sein Rufen erschreckteChristen, und sie ließ den Schatz fallen. Die Schatulle rollte aus der Tunika auf den Bodenund klirrte auf die Steine. Im Licht der Fackelflammen erwachten die Rubine, Saphire undSmaragde, mit denen das Kistchen besetzt war, zum Leben, sie glänzten und glitzerten sohell wie funkelnde Sterne.

Ector blieb schlagartig stehen, wie geblendet von der leuchtenden Schönheit, die ihmvor die Füße gepurzelt war.

»Was gibt es, Ector?«, fragte ihr Vater.In der Absicht, seinem Baron die dringende Botschaft von Bryant zu übermitteln, schien

der bewaffnete Kommandant Ector kaum zu bemerken, was er tat, als er sich bückte, dieSchatulle aufhob und sie Lawrence reichte. Sein Blick kehrte zu seinem Herrn zurück.»Mylord Bryant hat mir befohlen, Euch zu sagen, dass der junge Alford der Rote und seineSoldaten bis in den inneren Schlosshof vorgedrungen sind.«

»Hat man Baron Alford gesehen?« William war mit dieser Frage herausgeplatzt. »Oderversteckt er sich noch immer vor uns?«

Ector sah den Soldaten an. »Das weiß ich nicht«, gestand er, ehe er sich wieder demBaron zuwandte. »Bryant hat mich gebeten, Euch zu sagen, dass Eure Männer nach Euchrufen, Mylord.«

»Ich werde sofort zu ihnen gehen«, erklärte der Baron und stand auf. Er bedeuteteEctor, das Zimmer zu verlassen, dann folgte er ihm. An der Tür blieb er noch einmalstehen, um ein letztes Mal seine wunderhübschen Töchter anzusehen: Christen, mit ihrengoldenen Locken und den Wangen eines Cherubs, und die kleine Gillian, mit denstrahlend grünen Augen ihrer Mutter und ihrer blassen Haut. Beide sahen aus, als würdensie im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen.

»Geht jetzt, und Gott behüte euch«, befahl der Baron mit rauer Stimme.Damit war er verschwunden. Die Soldaten liefen zu dem geheimen Gang. Tom ging

vor, um die Tür am Ende des Tunnels aufzuschließen und sicherzugehen, dass der Feindnoch nicht in die Tunnel eingedrungen war. Lawrence nahm Christen an die Hand undführte sie in den dunklen Korridor, der von seiner Fackel erhellt wurde. Gillian war gleichhinter ihrer Schwester, sie klammerte sich an Williams Hand. Spencer folgte ihnen, danngriff er durch die Öffnung und zog den Schrank wieder vor, ehe er die Tür schloss.

»Papa hat mir gar nicht gesagt, dass er eine Geheimtür hat«, flüsterte Gillian Christenzu.

»Mir hat er es auch nicht gesagt«, flüsterte ihre Schwester zurück. »Vielleicht hat er dasvergessen.«

Gillian zog an Williams Hand. »Christen und ich haben eine geheime Tür, aber sie ist inunseren Schlafzimmern. Wir dürfen niemandem etwas davon verraten, denn es ist einGeheimnis. Papa hat gesagt, er wird uns den Popo versohlen, wenn wir es jemandemerzählen. Wusstest du, dass es ein Geheimnis ist, William?« Der Soldat antwortete ihrnicht, doch sie ließ sich durch sein Schweigen nicht erschüttern. »Weißt du, wohin unserGang geht? Papa sagt, wenn wir aus unserem Tunnel herauskommen, können wir dieFische in ihrem Weiher sehen. Gehen wir jetzt dorthin?«

»Nein«, antwortete William. »Dieser Tunnel führt uns unter die Weinkeller. Wir sind

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gleich an den Stufen, und ich möchte, dass du jetzt ganz leise bist.«Gillian betrachtete mit besorgtem Blick die Schatten, die ihr an der Wand entlang

folgten. Sie drängte sich näher an William und wandte dann ihre Aufmerksamkeit ihrerSchwester zu. Christen presste die Schatulle mit den Juwelen gegen ihre Brust, doch einEnde der Tunika hing an ihrem Ellbogen hinunter, und Gillian konnte der Versuchung nichtwiderstehen, danach zu greifen.

»Ich darf die Schatulle jetzt auch einmal halten. Papa hat das gesagt.«Christen wurde wütend. »Nein, das hat er nicht gesagt«, quietschte sie. Sie drehte sich

zu Lawrence, damit Gillian die Schatulle nicht erreichen konnte, dann petzte sie.»Lawrence, Gillian hat gelogen. Papa hat gesagt, dass ich die Schatulle haben soll undnicht sie.«

Gillian war entschlossen. »Aber ich darf sie auch einmal halten«, erklärte sie ihrerSchwester und zupfte noch einmal an dem Zipfel der Tunika. Sie ließ aber los, weil sieglaubte, hinter sich ein Geräusch gehört zu haben. Sie wandte sich um. Die Treppe hinterihr war stockdunkel, und sie konnte nichts erkennen. Doch sie war sicher, dass in denSchatten Gespenster lauerten, die darauf warteten, sie zu packen, vielleicht sogar einfeuriger Drache. Verängstigt umklammerte sie die Hand des Soldaten und drängte sich anseine Seite.

»Mir gefällt es hier nicht«, rief sie. »Trag mich, William.«Gerade in dem Augenblick, als der Soldat sich bückte, um sie auf seinen freien Arm zu

nehmen, löste sich ein Schatten von der Wand und sprang auf sie zu. Gillian schrieerschrocken auf, stolperte und fiel gegen Christen.

Ihre Schwester schrie: »Nein, es gehört mir« und wandte sich zu Gillian um, als derSchatten sich auf William warf. Der Schlag traf William in die Knie und warf ihn gegenLawrence. Die Stufen waren glatt vor Feuchtigkeit, die von den Wänden tropfte, und dieMänner waren viel zu nahe am Rand der Treppe, um sich halten zu können. Sie fielengemeinsam mit den beiden Mädchen kopfüber in das schwarze Loch. Funken flogen umsie herum, als die Fackeln wie Feuerbälle vor ihnen die Treppe hinuntersprangen.

William versuchte verzweifelt, das Kind mit seinem Körper zu schützen, während siezusammen die unebenen Steinstufen hinunterstürzten, doch es gelang ihm nurunvollkommen. Gillian knallte mit dem Kinn auf die Steine auf.

Benommen von dem Schlag rappelte sie sich langsam auf und sah sich um. Blut flossüber ihr Kleid, und als sie das Blut an ihren Händen sah, begann sie zu schreien. IhreSchwester lag neben ihr auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten, und rührte sichnicht.

»Christen, hilf mir«, schluchzte Gillian. »Wach auf. Mir gefällt es hier nicht. Wach auf.«William kam auf die Beine, er nahm das hysterische Kind auf seinen Arm und lief durch

den Tunnel. »Sei still, Kind, sei still«, flüsterte er ständig.Lawrence folgte ihnen, mit Christen auf seinem Arm. Blut floss aus einer Wunde an

ihrer Stirn.»Lawrence, du und Tom nehmt Christen mit zum Bach. Spencer und ich treffen euch

dort«, befahl William.»Komm jetzt sofort mit uns«, bat Lawrence, während Gillian noch immer schrie.

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»Dem Kind geht es schlecht. Die Wunde muss genäht werden«, wehrte William ab.»Geh jetzt. Wir werden euch schon einholen. Gott schütze euch«, fügte er noch hinzu undlief weiter.

»Christen«, kreischte Gillian. »Christen, verlass mich nicht.«Als sie in der Nähe der Tür waren, legte William eine Hand auf Gillians Mund und bat

sie inständig, leise zu sein. Er und Spencer brachten sie in die Hütte des Gerbers amRande des äußeren Schlosshofes, damit Maude, die Frau des Gerbers, die Wunde nähenkonnte. Die Unterseite von Gillians Kinn war hässlich aufgerissen.

Beide Soldaten hielten das Kind fest, während Maude ihre Arbeit verrichtete. DerKampf rückte bedrohlich näher, und der Lärm war so ohrenbetäubend, dass sie schreienmussten, um sich miteinander zu verständigen.

»Beende deine Wundversorgung an dem Kind«, drängte William. »Wir müssen sie inSicherheit bringen, ehe es zu spät ist. Beeile dich!« Hastig lief er nach draußen, umWache zu stehen.

Maude machte einen Knoten in den Faden, dann schnitt sie die beiden Enden ab. Soschnell sie konnte wickelte sie einen dicken Verband um Gillians Hals und Kinn.

Spencer hob das kleine Mädchen auf den Arm und folgte William nach draußen. DerFeind hatte die mit Stroh gedeckten Hütten mit feurigen Pfeilen in Brand geschossen, undin dem hellen Licht des Feuers liefen die drei zu dem Hügel, auf dem ihre Pferdewarteten.

Sie hatten die Hälfte des Weges bereits hinter sich, als ein Trupp Soldaten über denHügel geschwärmt kam. Andere Feinde schnitten ihnen am Fuß des Hügels den Weg ab.Eine Flucht war unmöglich, aber die beiden tapferen Soldaten standen unverbrüchlich zuihrer Pflicht. Gillian hatten sie auf den Boden hinter sich gesetzt, um sie mit ihren Körpernzu schützen. Rücken an Rücken, mit erhobenen Schwertern stürzten sie sich in ihre letzteSchlacht. Die beiden Soldaten starben so, wie sie gelebt hatten: Mit Ehre und Mutverteidigten sie die Unschuldigen.

Einer von Alfords Kommandanten, der das Kind erkannt hatte, trug es zurück in diegroße Halle. Liese, Gillians Zofe, entdeckte sie, als der Soldat mit der Kleinen die Hallebetrat. Sie löste sich aus der Gruppe der Bediensteten, die sich in einer Ecke unter denwachsamen Augen des Feindes zusammendrängten. Sie flehte den Soldaten an, sich umdas kleine Mädchen kümmern zu dürfen. Glücklicherweise sah der Kommandant Gillian alseine Last an und war froh, sie loszuwerden. Er befahl Liese, Gillian nach oben zu bringen,dann lief er hinaus, um sich erneut ins Kampfgetümmel zu stürzen.

Gillian schien benommen zu sein. Liese packte sie und lief die Treppe hinauf, über denBalkon zum Zimmer des Kindes, um es aus dem Gefahrenbereich zu bringen. Entsetztbeobachtete sie, wie unten die schwere Eichentür zur großen Halle aufflog undmordlüsterne Soldaten hineinpolterten. Besinnungslos vor Macht schwangen sie ihre Äxteund Schwerter gegen alle Wehrlosen. Die unbewaffneten Männer und Frauen hobenflehentlich die Hände, doch gegen den Blutrausch des Feindes kamen sie nicht an. EinUnschuldiger nach dem anderen wurde abgeschlachtet. Gelähmt vor Grauen fiel Liese aufdie Knie, schloss die Augen und presste die Hände vor die Ohren, damit sie das Massakeran ihren Freunden und ihrer Familie weder hören noch sehen konnte.

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Gillian stand bewegungslos neben Liese. Doch als sie sah, wie ihr Vater in die Hallegezerrt wurde, lief sie zum Gitter des Balkons und kniete sich auf den Boden. »Papa«,flüsterte sie sehnsüchtig. Und dann sah sie, wie ein Mann mit einem goldenen Umhangsein Schwert über ihren Vater hielt. »Papa«, schrie sie entsetzt.

Das waren die letzten Worte, die sie sprach. Von diesem Augenblick an zog sich Gillianin eine Welt des Schweigens zurück.

Zwei Wochen später rief der Mann, der die Kontrolle über den Besitz ihres Vatersübernommen hatte, Baron Alford der Rote von Lockmiere, sie zu sich, um zu entscheiden,was er mit ihr anfangen sollte. Ohne ein einziges Wort zu sprechen ließ Gillian ihntrotzdem wissen, wie es in ihren Gedanken und in ihrem Herzen aussah.

Liese hielt Gillians Hand, als sie mit ihr in die große Halle kam, um dem Verbrechergegenüberzutreten, der den Vater des Kindes ermordet hatte. Alford, der kaum alt genugwar, um als Mann zu gelten, war ein böser, machthungriger Dämon, und Liese war keinDummkopf. Sie wusste, dass er mit einem Fingerschnippen ihrer beider Tod befehlenkonnte.

Gillian riss sich von Lieses Hand los, als sie den Saal betreten hatten, und lief alleineweiter. Sie blieb stehen, als sie den großen Tisch erreichte, an dem Alford und seineBegleiter dinierten. Ohne die geringste Regung in ihrem Gesicht, mit den Händen zubeiden Seiten des Körpers, stand sie bewegungslos da und starrte den Baron mit leeremBlick an.

Er hatte das Bein eines Fasans in einer Hand und ein Stück Schwarzbrot in der anderen.Kleine Fleischstücke und Fett baumelten in den zotteligen, schütteren Barthaaren anseinem Kinn. Er ignorierte das Kind einige Minuten lang, während er sich seinemrestlichen Essen widmete. Nachdem er die Knochen über die Schultern geworfen hatte,wandte er sich Gillian endlich zu.

»Wie alt bist du, Gillian?« Alford wartete ungeduldig, ehe er es noch einmal versuchte.»Ich habe dir eine Frage gestellt«, knurrte er und versuchte, seinen rasch wachsendenZorn unter Kontrolle zu halten.

»Sie kann nicht älter sein als vier«, bot einer seiner Freunde an. »Ich würde wetten, sieist schon über fünf«, schlug sein Begleiter vor. »Sie ist klein, aber sie könnte auch schonsechs Jahre alt sein.«

Alford hob die Hand und gebot ihnen zu schweigen, während er das kleine Mädcheneindringlich ansah. »Es ist eine einfache Frage. Antworte mir, und wenn du schon einmaldabei bist, kannst du mir auch gleich sagen, was ich mit dir anfangen soll. DerBeichtvater meines Vaters glaubt, dass du nicht sprechen kannst, weil der Teufel deineSeele in Besitz genommen hat. Er bittet um das Recht, den Dämon aus deinem Körper zuzwingen, und dabei würde er recht unangenehme Methoden anwenden. Möchtest du,dass ich dir genau erkläre, was er mit dir anfangen würde?«, fragte er. »Ich habe dieMacht, ihm zu befehlen, das zu tun. Und jetzt beantworte meine Fragen und beeil dichdamit. Sag mir, wie alt du bist«, befahl er ihr mit schneidender Stimme.

Schweigen war ihre Antwort. Eisiges Schweigen. Alford sah, dass seine Drohungen sienicht beeindruckten. Er dachte, dass sie vielleicht zu dumm war, um ihn zu verstehen.Immerhin war sie die Tochter ihres Vaters, und was war der für ein naiver Einfaltspinsel

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gewesen, zu glauben, dass Alford sein Freund war!»Vielleicht antwortet sie dir nicht, weil sie nicht weiß, wie alt sie ist«, überlegte sein

Freund. »Fang lieber mit den wichtigen Fragen an«, drängte er ihn. »Frag sie nach derSchatulle.«

Alford nickte zustimmend. »Also, Gillian«, begann er, und sein Ton war so sauer wieEssig. »Dein Vater hat Prinz John eine sehr wertvolle Schatulle gestohlen, und ich habedie Absicht, sie ihm wieder zurückzugeben. Es sind hübsche Juwelen auf der Oberflächeund den Seiten der Schatulle. Wenn du sie gesehen hättest, würdest du dich sicher daranerinnern«, fügte er hinzu. »Hast du oder hat deine Schwester diesen Schatz gesehen?Antworte mir«, befahl er, und seine Stimme wurde vor Zorn schrill. »Hast du gesehen, wodein Vater diese Schatulle versteckt hat? Hast du das gesehen?«

Sie zeigte kein Anzeichen dafür, dass sie überhaupt ein Wort von dem, was er gesagthatte, gehört hatte. Sie sah ihn lediglich unverwandt an. Der Baron stieß einenverärgerten Seufzer aus. Dann entschied er sich, so lange zurückzustarren, bis sieeingeschüchtert war.

In nur einem Atemzug änderte sich der Gesichtsausdruck des Kindes vonGleichgültigkeit zu Verachtung. Hell loderte der Hass in ihren Augen. Das machte ihnnervös, die Haare in seinem Nacken sträubten sich, und eine Gänsehaut überzog seineArme. Es war unchristlich für ein Kind in einem so zarten Alter, eine solcheEindringlichkeit zu zeigen.

Sie ängstigte ihn. Wütend über seine eigenartige Reaktion auf das Mädchen, das wenigmehr als ein Baby war, besann sich Alford wieder seiner bewährten Grausamkeit. »Dubist ein kränklich aussehendes Kind mit dieser blassen Haut und dem tristen braunenHaar. Deine Schwester war die Hübschere von euch beiden, nicht wahr? Sag mir, Gillian,warst du eifersüchtig auf sie? Hast du sie deshalb die Treppe hinuntergestoßen? Die Frau,die dein Kinn genäht hat, hat mir gesagt, dass du und Christen die Treppehinuntergefallen seid. Und einer der Soldaten, der bei euch war, hat der Frau erzählt,dass du deine Schwester gestoßen hast. Christen ist tot, das weißt du sicher, und es istalles dein Fehler.« Er beugte sich vor und zeigte mit einem langen, knochigen Finger aufihr Gesicht. »Du wirst den Rest deines Lebens mit dieser schwarzen Stunde lebenmüssen, wie kurz dieses Leben auch immer sein mag. Ich habe mich entschieden, dichans Ende der Welt zu schicken«, fügte er gehässig hinzu. »In den unwirtlichen, kaltenNorden von England, wo du bei den Heiden leben wirst, bis der Tag kommt, an dem ichdich wieder brauchen werde. Und jetzt geh mir aus den Augen. Du verursachst mir eineGänsehaut.«

Zitternd vor Angst fragte Liese: »Mylord, darf ich das Kind nach Norden begleiten, ummich um es zu kümmern?«

Alford wandte seine Aufmerksamkeit der Dienerin zu, die in der Nähe des Eingangsstehen geblieben war. Er zuckte zusammen beim Anblick ihres vernarbten Gesichts. »EineHexe, die sich um eine andere Hexe kümmert?«, spottete er. »Mir ist es gleichgültig, obdu gehst oder bleibst. Tu, was du willst, aber schaff sie hier heraus, damit meine Freundeund ich nicht eine Sekunde länger unter ihrem üblen Blick leiden müssen.«

Als Alford hörte, wie seine eigene Stimme zitterte, wurde er noch wütender. Er griff

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nach einer hölzernen Schale, die auf dem Tisch stand, und warf damit nach dem Kind. DieSchale segelte an Gillians Kopf vorbei und verfehlte sie nur um ein Haar. Gillian zuckteweder zusammen, noch flatterten ihre Augenlider. Sie blieb unbeweglich stehen, nur ihregrünen Augen blitzten vor Hass.

Sah sie ihm bis in seine Seele? Bei dem Gedanken lief Alford ein Schauer über denRücken.

»Raus«, brüllte er. »Schafft sie hier weg.«Liese lief vor, um Gillian zu packen, dann rannte sie mit ihr aus dem Saal.Sobald die beiden draußen in Sicherheit waren, drückte sie das kleine Mädchen an ihre

Brust und flüsterte: »Jetzt ist alles vorbei, und wir werden diesen entsetzlichen Ortverlassen und nie wieder zurückschauen. Du wirst den Mörder deines Vaters niemalswieder sehen müssen, und ich brauche meinen Ehemann, Ector, nie wieder zu sehen. Wirbeide werden zusammen ein neues Leben beginnen, und wenn Gott will, werden wirFrieden und Freude finden.«

Liese war entschlossen abzureisen, ehe Baron Alford seine Meinung ändern konnte. DieErlaubnis, Dunhanshire zu verlassen, befreite sie, denn es bedeutete, dass sie auch Ectorzurücklassen konnte. Ihr Ehemann war während des Angriffs auf das Schloss irrsinniggeworden. Nachdem er das Abschlachten der meisten Soldaten und der Diener imHaushalt miterlebt hatte und nur knapp mit dem eigenen Leben davongekommen war,hatte er durchgedreht und war so verrückt geworden wie ein tollwütiger Fuchs. Er streiftewährend der Tage durch die Hügel von Dunhanshire mit einem schmutzigen Tornister,der gefüllt war mit Steinen und Klumpen von Schmutz, die er seine Schätze nannte. Injeder Nacht machte er sich sein Lager in der südöstlichen Ecke der Ställe, wo man ihnallein ließ, damit er seine Albträume wenigstens ungestört durchleiden konnte. SeineAugen hatten einen glasigen, abwesenden Blick, und er murmelte ständig vor sich hin,dass er einmal ein reicher Mann werden würde, so reich wie König Richard selbst. Dannwieder schrie er Obszönitäten, weil es ihm zu lange dauerte, bis er seinen verdientenLohn bekam. Selbst die Untreuen und ihr Anführer Alford, die jetzt, im Namen desabwesenden Königs, Dunhanshire für sich selbst beanspruchten, waren abergläubischgenug, um Ector gewähren zu lassen. Solange der wahnsinnige Mann sie in Ruhe ließ,ignorierten sie ihn. Einige der jüngeren Soldaten, so hatte man beobachtet, sanken aufdie Knie und bekreuzigten sich, wenn Ector vorüberschlurfte. Das heilige Ritual war eineArt Talisman, um die Möglichkeit abzuwehren, von der Krankheit des Verrücktenangesteckt zu werden. Sie wagten es nicht, ihn umzubringen, denn sie glaubten festdaran, dass die Dämonen, die Ectors Verstand in ihren Fängen hatten, auf sie übergehenund ihre Gedanken und Taten kontrollieren würden.

Liese hatte das Gefühl, dass Gott ihr einen Dispens von ihren Eheschwüren erteilthatte. In den sieben Jahren, in denen sie mit Ector als Mann und Frau gelebt hatte, hatteEctor ihr niemals auch nur einen Anflug von Zuneigung gezeigt oder ihr ein freundlichesWort gegönnt. Er glaubte, dass es sein Vorrecht als ihr Ehemann war, sie zu schlagen,damit sie sich ihm unterwarf, um sich so einen Platz im Himmel zu sichern. Diesevermeintliche Pflicht erfüllte er mit freudigem Eifer. Er war ein harter, böser Mann, der alsKind von seinen ihn abgöttisch liebenden Eltern verhätschelt und verwöhnt worden war.

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Ector war der Meinung, dass er alles haben konnte, was er wollte. Er war davonüberzeugt, dass er eigentlich ein Leben in Muße führen sollte, und jeder seiner Gedankenwurde von Geiz beherrscht. Drei Monate bevor Gillians Vater umgebracht wurde, hatteman Ector den begehrten Posten als oberster Vogt gegeben, weil er begabt war imUmgang mit Zahlen. Seitdem hatte er Zugang zu den riesigen Summen Geldes, die er alsPacht von den Bauern einzog, und er wusste genau, wie reich der Baron war. Habsuchtschlich sich in sein Herz, und mit ihr kam die Bitterkeit, so scharf wie Galle, weil ihm nichtdas gegeben worden war, was er als sein Anrecht betrachtete.

Ector war gleichzeitig ein Feigling. Während des Angriffs hatte Liese beobachtet, wie ihrMann sich Gerta griff, die Köchin des Haushalts und Lieses beste Freundin, und sie alsSchutzschild gegen die Pfeile benutzte, die im Schlosshof auf sie alle einprasselten. AlsGerta tot war, hatte Ector ihren Körper über den seinen gezogen und so getan, als sei ertot.

Die Schande war unaussprechlich, und Liese konnte ihrem Mann nur noch mit Abscheubegegnen. Sie wusste, dass sie sich in Gefahr befand, ihre eigene Seele zu verlieren,denn eine Kreatur Gottes so sehr zu verachten, wie sie Ector verachtete, war ganz sichereine Sünde. Sie dankte Gott, dass er ihr eine zweite Chance gab, ihre Schuld abzutragen.

Sie sorgte sich darum, dass Ector der Gedanke kommen könnte, ihnen zu folgen. Andem Tag, an dem sie und Gillian abreisen sollten, nahm Liese das Kind mit in den Stall,um sich von Ector zu verabschieden. Sie umklammerte die Hand des kleinen Mädchensund marschierte in den Stall, wo ihr Mann sich eine Art Höhle geschaffen hatte. Sieentdeckte seinen mit Dung und Blut befleckten Tornister an einem Haken in der Ecke undrümpfte angeekelt die Nase. Er roch so schauderhaft wie der Mann, der vor ihr auf und abtigerte.

Als sie ihn anrief, zuckte er zusammen, dann hechtete er zu seinem Tornister undversteckte ihn hinter seinem Rücken. Seine Augen huschten aufgeregt hin und her,während er sich hinhockte.

»Du alter Dummkopf«, schalt sie. »Niemand wird dir deinen Tornister stehlen. Ich bingekommen, um dir zu sagen, dass ich Dunhanshire zusammen mit Lady Gillian verlassenwerde und dass ich dich Gott sei Dank niemals wieder sehen werde. Verstehst du, was ichdir sage? Hör auf, vor dich hin zu brabbeln, und sieh mich an. Ich möchte nicht, dass duhinter mir herkommst. Hast du das kapiert?«

Ector stieß ein leises Kichern aus. Gillian drängte sich näher an Liese und klammertesich an ihren Rock. Die Frau beruhigte das Kind sofort. »Lass dir von ihm keine Angstmachen«, flüsterte sie. »Ich werde nicht zulassen, dass er dir etwas antut.« Dann wandtesie ihre Aufmerksamkeit mit Abscheu erneut ihrem Ehemann zu.

»Ich meine, was ich sage, Ector. Wage es nicht, mir zu folgen. Ich möchte dich niemalswieder sehen. So weit es mich betrifft, bist du tot und begraben.«

Er schien ihr gar keine Aufmerksamkeit zu schenken. »Ich werde schon sehr baldmeinen Lohn bekommen ... es wird alles mir gehören ... das Lösegeld eines Königs«,prahlte er heiser und schnaufte. »So, wie ich es verdiene ... sein Königreich als Lösegeld.Es wird mir gehören ... es wird alles mir gehören ...«

Liese drehte Gillians Kopf so, dass diese sie ansehen musste. »Erinnere dich an diesen

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Moment, Kind. Das ist es, was Feigheit aus einem Mann macht.«Liese sah nie mehr zurück.Baron Alford weigerte sich, die beiden von seinen Soldaten nach Norden begleiten zu

lassen. Es belustigte ihn, dass diese Hexen zu Fuß gehen mussten. Die jungen BrüderHathaway kümmerten sich jedoch um die beiden. Waldo und Henry, Pächter aus demNordwesten, nahmen ihre Pferde, mit deren Hilfe sie normalerweise das Land pflügten,und ihren Wagen, um sie zu begleiten. Beide Männer waren schwer bewaffnet, dennzahllose Räuber warteten nur darauf, ahnungslose Reisende zu überfallen.

Glücklicherweise verlief ihre Reise ohne Zwischenfälle, und Liese und Gillian wurdenbeide im Haushalt des Barons Morgan Chapman herzlich willkommen geheißen. DerBaron war Gillians angeheirateter Onkel. Ungeachtet dessen, dass er im Königreich einenguten Ruf besaß, betrachtete man ihn doch als Außenstehenden, und er wurde nur sehrselten an den Hof eingeladen. In seinen Adern floss das Blut der Highlander, und dasmachte ihn für die herrschende Kaste suspekt.

Zusätzlich war er Furcht einflößend anzusehen, denn er maß über einen Meterfünfundachtzig, hatte zerzaustes schwarzes Haar und ein ständig grimmig verzogenesGesicht. Alford sah diese Abschiebung als Strafe für Gillian an, doch ihr Exil am Ende derWelt erwies sich für sie als Segen. Zwar wirkte ihr Onkel nach außen hin mürrisch undunnahbar, doch er besaß das Herz eines Heiligen. Er war ein sanfter, liebevoller Mann,dem ein einziger Blick auf die totenblasse Gillian genügte, um zu sehen, dass sieverwandte Seelen besaßen. Er raunzte Liese an, dass er sein friedliches Leben nicht voneinem Kind stören lassen wolle, doch straften seine ruppigen Worte selbst sofort Lügen,indem er all seine Zeit aufwendete, Gillian zu heilen. Er liebte sie wie ein Vater undmachte es sich zu seiner Aufgabe, sie wieder zum Sprechen zu bringen. Morgan wolltedas Kind lachen hören, doch sorgte er sich, dass seine Hoffnungen nicht erfüllt werdenwürden.

Auch Liese machte es sich zur Pflicht, Gillian zu helfen, die Tragödie zu verarbeiten, dieihre Familie ausgelöscht hatte. Nach vielen Monaten, in denen sie ihr unentwegt geduldigzugeredet und versucht hatte, sie zu trösten, stand ihre Zofe wegen ihres Misserfolgeskurz vor der Verzweiflung. Sie schlief zusammen mit dem kleinen Mädchen in einemZimmer, damit sie es beruhigen und trösten konnte, wenn Gillians Albträume sieschreiend aufweckten.

Stücke der Erinnerung an diese entsetzliche Nacht, in der ihr Vater gestorben war,hatten sich tief in den Verstand des Kindes eingegraben. Wegen ihrer zarten Jugend fieles ihr schwer, die Wahrheit von der Einbildung zu trennen, doch sie erinnerte sich daran,dass sie sich mit ihrer Schwester um das juwelenbesetzte Kästchen gestritten undversucht hatte, es Christen aus der Hand zu nehmen, um es auch einmal zu halten. Undsie wusste auch, dass sie danach die Treppe hinuntergefallen waren, die zu den Tunnelnunter dem Schloss führte. Die gezackte Narbe unter ihrem Kinn war der Beweis dafür,dass sie das alles nicht nur geträumt hatte. Sie erinnerte sich daran, dass Christengeschrien hatte. Sie erinnerte sich auch noch an das Blut. In verschwommenen,verwirrten Bildern sah sie sowohl sich als auch Christen voller Blut. Die Albträume, die siein den dunklen Stunden der Nacht heimsuchten, waren immer die gleichen. Gesichtslose

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Monster mit roten, glühenden Augen und langen, peitschenähnlichen Schwänzenverfolgten sie und Christen durch einen dunklen Tunnel, doch in diesen beängstigendenTräumen war nie sie es gewesen, die ihre Schwester umgebracht hatte. Es waren dieMonster gewesen.

Es war in einer dieser Nächte, während eines heftigen Gewitters, als Gillian endlichsprach. Liese weckte sie auf, weil sie sich schreiend gegen irgendetwas wehrte, und wieimmer, wickelte sie sie auch diesmal in eine der weichen, karierten schottischen Deckenihres Onkels und trug sie durch das Zimmer, um sich mit ihr ans Feuer zu setzen.

Die untersetzte Frau nahm das Kind in ihre Arme und tröstete es. »Es ist nicht richtig,dass du dich so quälst, Gillian. Du sagst den ganzen Tag über kein Wort, und dann heulstdu in der Nacht wie ein einsamer Wolf. Ist es, weil du den ganzen Schmerz in dirverschließt und ihn nicht rauslässt? Ist das der Grund dafür, mein kleiner Engel? Sprichmit mir, Kind. Erzähl mir, was dein Herz so bedrückt.«

Liese erwartete keine Antwort, und beinahe hätte sie das kleine Mädchen vor lauterSchreck fallen gelassen, als sie sein Flüstern hörte.

»Was hast du gesagt?«, fragte sie, ein wenig lauter, als sie es beabsichtigt hatte.»Ich wollte Christen nicht umbringen. Das habe ich nicht gewollt.«Liese brach in Tränen aus. »Oh, Gillian, du hast Christen nicht umgebracht. Das habe

ich dir doch immer wieder erzählt. Ich habe gehört, was Baron Alford zu dir gesagt hat,aber er lügt. Warum willst du das denn nicht glauben? Baron Alford ist nur grausam zudir.«

»Sie ist tot.«»Nein, sie ist nicht tot.«Gillian blickte zu Liese auf und versuchte, von ihrem Gesichtsausdruck abzulesen, ob sie

ihr die Wahrheit sagte. Sie wünschte sich verzweifelt, ihr glauben zu können.»Christen lebt«, versicherte ihr Liese noch einmal und nickte bekräftigend. »Hör mir zu.

Ganz gleich, wie schrecklich die Wahrheit auch sein wird, ich würde dich niemals, niemalsanlügen.«

»Ich erinnere mich an das Blut.«»In deinen Albträumen?«Gillian nickte. »Ich habe Christen die Stufen hinuntergestoßen. Papa hat meine Hand

gehalten, aber dann hat er mich losgelassen. Ector war auch da.«»Du hast das alles durcheinander gebracht. Weder dein Vater noch Ector waren dabei.«Gillian legte den Kopf auf Lieses Schulter. »Ector ist verrückt.«»Aye, das ist er«, stimmte ihr Liese zu.»Warst du auch in dem Tunnel mit mir?«, wollte Gillian wissen. »Nein, aber ich weiß,

was passiert ist. Während Maude deine Wunde genäht hat, hat einer der Soldaten, derzusammen mit dir in dem Tunnel war, es ihr erzählt. Du und deine Schwester, ihr wurdetaufgeweckt und in das Zimmer deines Vaters gebracht.«

»William hat mich getragen.«»Ja.«»Es war dunkel draußen.«Liese fühlte, wie ein Schauer durch Gillians Körper lief, und nahm sie fester in den Arm.

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»Ja, es war mitten in der Nacht, und Alford und seine Soldaten hatten bereits die innerenMauern des Schlosses überwunden.«

»Ich erinnere mich daran, dass die Wand in Papas Zimmer sich geöffnet hat.«»Die geheime Tür führte zu der Treppe hinunter in den Tunnel. Es waren vier Soldaten

bei deinem Vater, vier Männer, denen er dein Wohlergehen anvertraut hat. Du kennst sie,Gillian. Tom war dort und Spencer und Lawrence und William. Spencer war derjenige, derMaude erzählt hat, was geschehen ist. Sie haben euch in den geheimen Gang geführt undFackeln bei sich getragen, um den Weg zu erhellen.«

»Ich darf aber niemals etwas von der Geheimtür erzählen.«Liese lächelte. »Ich weiß, dass es in deinem Schlafzimmer auch eine solche Tür gibt.«»Woher weißt du das? Hat vielleicht Christen dir das verraten?«»Nein, das hat sie nicht«, antwortete Liese. »Ich habe dich jeden Abend in dein Bett

gebracht, doch an fast jedem Morgen habe ich dich in Christens Zimmer gefunden. Alsohabe ich angenommen, dass es einen Verbindungsgang zwischen euren Zimmern gab,denn ich wusste, dass du dunkle Orte meidest, und der Flur vor euren Schlafzimmern warsehr dunkel. Also musstest du einen anderen Weg entdeckt haben.«

»Wirst du mir den Popo versohlen, weil ich es verraten habe?«»Oh, um Himmels willen, nein, Schätzchen. Ich würde dich niemals schlagen.«»Papa hat mich auch niemals geschlagen, aber er hat immer gedroht, er würde es tun.

Er hat nur Spaß mit mir gemacht, nicht wahr?«»Natürlich«, antwortete Liese.»Hat Papa meine Hand gehalten?«»Nein, er ist nicht mit euch in dem Gang gewesen. Es wäre nicht ehrenhaft, wenn er

vor dem Kampf geflohen wäre, und dein Vater war ein ehrenwerter Mann. Er ist beiseinen Soldaten geblieben.«

»Ich habe Christen die Treppe hinuntergestoßen, und sie hatte Blut an sich. Sie hatnicht geweint. Ich habe sie umgebracht.« Liese seufzte. »Ich weiß, dass du noch viel zujung bist, um das zu verstehen, aber ich möchte, dass du es trotzdem versuchst. Christenist die Treppe hinuntergefallen und du auch. Spencer hat Maude erzählt, dass er glaubte,William wäre ausgerutscht und dann gegen Lawrence gestoßen. Der Steinboden warglitschig, aber William hat darauf bestanden, dass jemand ihn von hinten gestoßen hat.«

»Vielleicht war ich es, die ihn gestoßen hat«, sprach Gillian ihre Gedanken laut aus.»Du bist viel zu klein, als dass ein erwachsener Mann deinetwegen die Balance

verlieren würde. Du hast gar nicht genügend Kraft.«»Aber vielleicht ...«»Du bist nicht dafür verantwortlich«, erklärte Liese entschlossen. »Es ist ein Wunder,

dass keiner von euch dabei umgekommen ist. Deine Wunde musste allerdings genähtwerden, und deshalb haben Spencer und William dich zu Maude gebracht. William hatdraußen vor der Hütte Wache gestanden, bis der Kampf der Hütte zu nahe kam. Maudehat gesagt, er hätte verzweifelt versucht, dich in Sicherheit zu bringen, doch als Maudefertig war mit der Versorgung deiner Wunde, hatten Baron Alford und seine Soldaten denHof bereits umstellt, und eine Flucht wurde unmöglich. Man hat euch gefangengenommen und zurück ins Schloss gebracht.«

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»Ist Christen auch gefangen genommen worden?«»Nein, sie wurde weggebracht, ehe man den Tunnel entdeckte.«»Und wo ist Christen jetzt?«»Das weiß ich nicht«, gestand Liese. »Aber eventuell kann dein Onkel Morgan es dir

sagen. Morgen kannst du zu ihm gehen und ihn fragen. Er liebt dich wie eine Tochter,Gillian, und ich weiß, dass er dir helfen wird, deine Schwester zu finden. Ich bin sicher,dass sie dich auch vermisst.«

»Vielleicht hat sie sich verirrt.«»Nein, sie hat sich nicht verirrt.«»Aber wenn sie sich verirrt hat, wird sie schreckliche Angst haben.«»Kind, sie hat sich nicht verirrt. Sie ist irgendwo in Sicherheit vor Baron Alford. Glaubst

du mir jetzt? Glaubst du in deinem Herzen, dass deine Schwester lebt?«Gillian nickte. Sie begann, eine von Lieses langen Locken um ihren Finger zu drehen.

»Ich glaube dir«, flüsterte sie und gähnte. »Wann wird Papa kommen und mich nachHause bringen?«

Lieses Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Ach, Liebling, dein Papa kann dich nichtholen kommen. Er ist tot. Alford hat ihn umgebracht.«

»Er hat meinem Papa ein Messer in den Bauch gestoßen.«»Lieber Gott, hast du das etwa gesehen?«»Papa hat nicht geweint.«»Oh, mein armer Engel ...«»Vielleicht kann Maude Papas Wunde nähen, und dann kann er kommen und mich nach

Hause bringen.«»Nein, er kann dich nicht holen. Er ist tot, und die Toten können nicht wieder lebendig

werden.«Gillian ließ Lieses Haar wieder los und schloss die Augen. »Ist Papa im Himmel bei

Mama?«»Das ist er ganz sicher.«»Ich möchte auch in den Himmel.«»Für dich ist die Zeit noch nicht gekommen, in den Himmel zu gehen. Du hast noch ein

langes Leben vor dir, Gillian. Danach kannst du in den Himmel gehen.«Gillian presste die Augen zusammen, doch sie weinte nicht. »Papa ist in dieser Nacht

gestorben.«»Ja, das ist er.«Es verging eine lange Weile, ehe Gillian wieder sprach. Ganz leise flüsterte sie:

»Schlimme Dinge geschehen in der Nacht.«