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Keine Zeit für Abenteuer Erwachsenwerden in stationären Erziehungshilfen Junge Menschen, die nach stationären Erziehungshilfen ein eigenständiges Leben beginnen, können nur sehr selten auf die sozialen und materiellen Ressourcen zurückgreifen, die für andere junge Menschen in diesem Alter selbstverständlich sind. Diese vergleichsweise ho- hen Anforderungen an die Lebenskompetenzen junger Care Leaver stehen in einem starken Kontrast zu den biografischen Vorerfahrun- gen und prekären Lebensverhältnissen, denen viele von ihnen entstammen. Selbstständigkeit mit 18 wird in den Erziehungshilfen zum Normalfall erklärt, obwohl mit dem Hilfeende wichtige soziale Bezugspersonen ebenso wie vertraute Orte unzugänglich werden und ein zuverlässiges Unterstützungsnetzwerk in der Regel nicht zur Verfügung steht. In Deutschland werden etwa 150.000 Kinder und Jugendliche im Rahmen der Heimerziehung oder in Pflegefamilien betreut. Hiervon waren im Jahr 2011 etwa 12.000 junge Menschen 18 Jahre alt oder älter (vgl. Statistisches Bundesamt 2013a und 2013b). Viele von ihnen kehren nach Beendigung der Hilfe nicht in ihre Herkunftsfamilie zurück. Et- wa die Hälfte der jungen Menschen beginnt mit 18, spätestens 19 Jahren nach dem Aufenthalt in statio- nären Erziehungshilfen ein Leben in einer eigenen Wohnung, da eine längere Hilfegewährung nur in Ausnahmefällen gewährt wird (vgl. Fendrich/Po- thmann/Tabel 2012). Im Vergleich dazu liegt das durchschnittliche Auszugsalter aus dem elterlichen Haushalt in Deutschland bei 23,9 Jahren (Frauen) bzw. 25,1 Jahren (Männer) (vgl. Eurostat 2009). Situation erwachsener Care Leaver Care Leaver stehen somit der gesellschaftlichen Erwartung an eine wesentlich frühere eigenständige Lebensführung gegenüber. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Entgrenzung der Jugend- phase, wirkt die Orientierung der Erziehungshilfen an geradlini- gen normalbiografischen Verläufen fragwürdig und unzeitgemäß (vgl. Rosenbauer 2008). Viele Care Leaver erleben den Übergang ins Erwachsenenleben als ein kritisches Ereignis, das sie kaum mit- gestalten können, was dem eigentlichen Ziel einer eigenständigen Lebensführung widerspricht. Es erscheint geradezu paradox, dass die belastenden lebensgeschichtlichen Krisen, die zu einer Auf- nahme in eine stationäre Erziehungshilfe geführt haben, zum En- de der Hilfe kaum noch als belastende Rahmenbedingung für die Lebensgestaltung herangezogen werden. Hinzu kommt, dass auch innerhalb stationärer Erziehungshilfen viele junge Menschen Krisen und Diskontinuitäten, Beziehungsab- brüche zu Vertrauenspersonen sowie Einrichtungswechsel erfah- ren (vgl. Hamberger 2008). Auch weitere Konflikte mit der Her- kunftsfamilie bzw. zwischen Familie und Einrichtung sind keine Seltenheit, werden aber in ihrer Wirkung auf die persönliche Ent- wicklung von jungen Menschen in Erziehungshilfen in Forschung und Praxis meist kaum explizit in den Blick genommen. Die Qua- lität sozialer Beziehungen spielt aber neben den ökonomischen und strukturellen Risiken im Übergang (vgl. Schröer/Köngeter/Zel- ler 2012; Nüsken 2006) eine zentrale Rolle für dessen Gelingen. Soziale Beziehungen als Schlüsselressource Übergangsbegleitung in ein selbstständiges Leben wird im Hil- fesystem zu einem wesentlichen Teil als ein Erwerb von lebens- praktischen Fähigkeiten konzipiert. Hauswirtschaftliche Kom- petenzen, Einhalten von Regeln des Zusammenlebens sowie der Umgang mit Finanzen stehen hier an erster Stelle. Es ist augen- scheinlich schwer, soziale Netzwerke für und mit Care Leavern im Rahmen der Hilfe zu entwickeln und zu stabilisieren. Die sozi- alen Ankerpunkte bilden jedoch eine Schlüsselrolle für Care Lea- ver – nicht nur in Krisensituationen, sondern auch in der Weiter- entwicklung der eigenen Identität und hinsichtlich einer eigenver- antwortlichen Lebensführung. Care Leaver hingegen verfügen, so zeigen internationale Studien, über deutlich weniger tragfä- hige soziale Netzwerke als Gleichaltrige, die in ihren Familien aufwachsen (vgl. Biehal u. a. 1995, Stein 2004). Normalerweise übernehmen Eltern auch nach dem Auszug der Kinder weiterhin eine wichtige Rolle als Orientierungs- und Unterstützungsfigu- ren (vgl. Papastefanou 2006). Dieser Rückhalt durch Eltern und Abstract / Das Wichtigste in Kürze Junge Menschen, die aus einem stationären Erziehungshilfehintergrund heraus ein selbstständiges Leben beginnen sehen sich besonderen Übergangsbarrieren gegenüber. Die zeitlichen, ökonomischen und sozialen Ressourcen, um sich zu einer erwachsenen Persönlichkeit zu entwickeln, sind sehr knapp bemessen. Die Übergänge in eine eigene Wohnung, bisweilen in andere Hilfesysteme, erweisen sich häufig als nicht anschlussfähig. Somit sind diese jungen Erwachsenen – aufgrund ihrer biografischen Vorerfahrungen bereits besonders herausgefordert – sehr viel höheren Erwartungen an eine eigenverantwortliche Lebensführung ausgesetzt als andere Gleichaltrige und sind somit doppelt benachteiligt. Keywords / Stichworte Care Leaver, junge Erwachsene, stationäre Erziehungshilfe, Übergänge in Selbstständigkeit Severine Thomas *1972 Dr., wissenschaftli- che Mitarbeiterin an der Stiftung Univer- sität Hildesheim. severine.thomas@ uni-hildesheim.de 43 Sozial Extra 9|10 2013: 43-46 DOI 10.1007/s12054-013-1062-6 Durchblick Care Leaver

Keine Zeit für Abenteuer

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Keine Zeit für AbenteuerErwachsenwerden in stationären Erziehungshilfen

Junge Menschen, die nach stationären Erziehungshilfen ein eigenständiges Leben beginnen, können nur sehr selten auf die sozialen und materiellen Ressourcen zurückgreifen, die für andere junge Menschen in diesem Alter selbstverständlich sind. Diese vergleichsweise ho-hen Anforderungen an die Lebenskompetenzen junger Care Leaver stehen in einem starken Kontrast zu den biogra�schen Vorerfahrun-gen und prekären Lebensverhältnissen, denen viele von ihnen entstammen. Selbstständigkeit mit 18 wird in den Erziehungshilfen zum Normalfall erklärt, obwohl mit dem Hilfeende wichtige soziale Bezugspersonen ebenso wie vertraute Orte unzugänglich werden und ein zuverlässiges Unterstützungsnetzwerk in der Regel nicht zur Verfügung steht.

In Deutschland werden etwa 150.000 Kinder und Jugendliche im Rahmen der Heimerziehung oder in P�egefamilien betreut. Hiervon waren im Jahr 2011 etwa 12.000 junge Menschen 18 Jahre alt oder älter (vgl. Statistisches Bundesamt 2013a und 2013b). Viele von ihnen kehren nach Beendigung der Hilfe nicht in ihre Herkunftsfamilie zurück. Et-wa die Hälfte der jungen Menschen beginnt mit 18, spätestens 19 Jahren nach dem Aufenthalt in statio-nären Erziehungshilfen ein Leben in einer eigenen Wohnung, da eine längere Hilfegewährung nur in Ausnahmefällen gewährt wird (vgl. Fendrich/Po-

thmann/Tabel 2012). Im Vergleich dazu liegt das durchschnittliche Auszugsalter aus dem elterlichen Haushalt in Deutschland bei 23,9 Jahren (Frauen) bzw. 25,1 Jahren (Männer) (vgl. Eurostat 2009).

Situation erwachsener Care LeaverCare Leaver stehen somit der gesellschaftlichen Erwartung an

eine wesentlich frühere eigenständige Lebensführung gegenüber. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Entgrenzung der Jugend-phase, wirkt die Orientierung der Erziehungshilfen an geradlini-gen normalbiogra�schen Verläufen fragwürdig und unzeitgemäß (vgl. Rosenbauer 2008). Viele Care Leaver erleben den Übergang ins Erwachsenenleben als ein kritisches Ereignis, das sie kaum mit-gestalten können, was dem eigentlichen Ziel einer eigenständigen Lebensführung widerspricht. Es erscheint geradezu paradox, dass die belastenden lebensgeschichtlichen Krisen, die zu einer Auf-nahme in eine stationäre Erziehungshilfe geführt haben, zum En-de der Hilfe kaum noch als belastende Rahmenbedingung für die Lebensgestaltung herangezogen werden.

Hinzu kommt, dass auch innerhalb stationärer Erziehungshilfen viele junge Menschen Krisen und Diskontinuitäten, Beziehungsab-brüche zu Vertrauenspersonen sowie Einrichtungswechsel erfah-ren (vgl. Hamberger 2008). Auch weitere Kon�ikte mit der Her-kunftsfamilie bzw. zwischen Familie und Einrichtung sind keine Seltenheit, werden aber in ihrer Wirkung auf die persönliche Ent-wicklung von jungen Menschen in Erziehungshilfen in Forschung und Praxis meist kaum explizit in den Blick genommen. Die Qua-lität sozialer Beziehungen spielt aber neben den ökonomischen und strukturellen Risiken im Übergang (vgl. Schröer/Köngeter/Zel-ler 2012; Nüsken 2006) eine zentrale Rolle für dessen Gelingen.

Soziale Beziehungen als SchlüsselressourceÜbergangsbegleitung in ein selbstständiges Leben wird im Hil-

fesystem zu einem wesentlichen Teil als ein Erwerb von lebens-praktischen Fähigkeiten konzipiert. Hauswirtschaftliche Kom-petenzen, Einhalten von Regeln des Zusammenlebens sowie der Umgang mit Finanzen stehen hier an erster Stelle. Es ist augen-scheinlich schwer, soziale Netzwerke für und mit Care Leavern im Rahmen der Hilfe zu entwickeln und zu stabilisieren. Die sozi-alen Ankerpunkte bilden jedoch eine Schlüsselrolle für Care Lea-ver – nicht nur in Krisensituationen, sondern auch in der Weiter-entwicklung der eigenen Identität und hinsichtlich einer eigenver-antwortlichen Lebensführung. Care Leaver hingegen verfügen, so zeigen internationale Studien, über deutlich weniger tragfä-hige soziale Netzwerke als Gleichaltrige, die in ihren Familien aufwachsen (vgl. Biehal u. a. 1995, Stein 2004). Normalerweise übernehmen Eltern auch nach dem Auszug der Kinder weiterhin eine wichtige Rolle als Orientierungs- und Unterstützungs�gu-ren (vgl. Papastefanou 2006). Dieser Rückhalt durch Eltern und

Abstract / Das Wichtigste in Kürze Junge Menschen, die aus einem stationären Erziehungshilfehintergrund heraus ein selbstständiges Leben beginnen sehen sich besonderen Übergangsbarrieren gegenüber. Die zeitlichen, ökonomischen und sozialen Ressourcen, um sich zu einer erwachsenen Persönlichkeit zu entwickeln, sind sehr knapp bemessen. Die Übergänge in eine eigene Wohnung, bisweilen in andere Hilfesysteme, erweisen sich häu�g als nicht anschlussfähig. Somit sind diese jungen Erwachsenen – aufgrund ihrer biogra�schen Vorerfahrungen bereits besonders herausgefordert – sehr viel höheren Erwartungen an eine eigenverantwortliche Lebensführung ausgesetzt als andere Gleichaltrige und sind somit doppelt benachteiligt.

Keywords / Stichworte Care Leaver, junge Erwachsene, stationäre Erziehungshilfe, Übergänge in Selbstständigkeit

Severine Thomas *1972

Dr., wissenschaftli-che Mitarbeiterin an der Stiftung Univer-sität Hildesheim.

[email protected]

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Gleichaltrige fehlt Care Leavern aber weitgehend. Die Gefahr der sozialen Isolation in einer eigenen Wohnung wird von Praktikern sowie auch in der Forschungsliteratur thematisiert (vgl. Bieback-Diel 1987, Kress 2012), allerdings bisher kaum systematisch als Teilaufgabe der Übergangsbegleitung bearbeitet.Weiterhin erweist es sich als ein strukturelles Problem, dass

professionelle Bezugspersonen in stationären Erziehungshilfen nur temporär verfügbar sind. Mit dem Hilfeende geht das Verlas-sen des sozialen Bezugssystems einher, für das es keinen adäqua-ten Ersatz gibt. Bisher �ndet in Deutschland kaum eine systema-tische Ehemaligenarbeit statt; viele Einrichtungen verlieren bald nach dem Auszug den Kontakt zu den Care Leavern. Diejenigen, die den Kontakt zu ihren ehemaligen Betreuungspersonen auf-rechterhalten, so zeigt eine amerikanische Studie zum Übergang aus P�egefamilie, weisen jedoch positivere Entwicklungsverläufe auf (vgl. Smith 2012). Vor diesem Hintergrund wäre der Bedeu-tung dieser Beziehung im Übergangsprozess mehr Aufmerksam-keit zu widmen. Der Aufbau tragfähiger Peerbeziehungen müss-te systematischer in den Hilfeprozess integriert werden, wie auch der Aufbau von Mentoren- und Patenschaftsmodellen, um sozi-ale Ressourcen für die Zeit nach der Hilfe verfügbar zu machen.

Stationäre Erziehungshilfen und die Förderung von BildungDie sozialen Lebensverhältnisse, aus denen viele Care Leaver

stammen, erschweren schließlich auch den Zugang zu formalen und informellen Bildungsressourcen (vgl. Zeller 2013). Diese Bil-dungsbarrieren werden durch das Aufwachsen in ö�entlicher Er-ziehung kaum aufgebrochen (Pothmann 2007). Neben den be-reits beschriebenen Diskontinuitäten innerhalb der Hilfe, forcie-ren mitunter die Übergänge aus stationären Erziehungshilfen in ein eigenständiges Leben sogar Abbrüche von Schulbesuch und Ausbildung. Dies kann der Fall sein, wenn die �nanzielle Absi-cherung in einer eigenen Wohnung nicht gewährleistet ist oder die zeitgleichen Anforderungen von Alltagsbewältigung und Bil-dungserwerb zur Überforderung werden.Die Bewilligungspraxis vieler Jugendämter konterkariert die

Entwicklungsaufgaben innerhalb der verlängerten Jugendphase (vgl. Walther 2008), zu der auch im Wesentlichen der Erwerb formaler Bildungsabschlüsse zählt. Durch den damit verbundenen längeren Verbleib in Bildungsinstitutionen bis in die Mitte des drit-ten Lebensjahrzehnts wird eine vollständige �nanzielle Unabhän-gigkeit von der Familie bei den meisten anderen jungen Erwach-senen in der Regel erst deutlich nach dem Erreichen der Volljäh-rigkeit erzielt. In diesem komplexen Ge�echt von Barrieren für Care Leaver gibt es national und international durchaus positive Bemühungen, den Übergang von Care Leavern in ein selbststän-diges Leben zu begleiten und das familiäre Unterstützungsnetz-werk zu ergänzen oder Alternativen dazu bereitzustellen. Im Fol-genden werden einige Beispiele gelungener Übergangspraxis, die in dem Projekt Was kommt nach der stationären Erziehungshil-fe? Gelungene Unterstützungsmodelle für Care Leaver1 erhoben wurden, vorgestellt.

Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden in qualitativen In-terviews nationale und internationale Beispiele guter Praxis, ins-besondere in Wohngruppen, Erziehungsstellen und P�egekinder-diensten, erhoben. Dazu wurden in Deutschland 47 ExpertInnen im Rahmen von Telefoninterviews zu ihren Erfahrungen mit der Begleitung junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen in ein eigenständiges Leben befragt. Ferner wurden internationa-le gesetzlich verankerte Übergangsmodelle sowie praktische Bei-spiele der Übergangsbegleitung erhoben. Grundsätzlich zeigt sich, dass Barrieren eines Übergangs aus Wohngruppen, Heimen oder P�egefamilien sowohl national als auch international virulent sind. Nichtsdestotrotz lassen sich Beispiele gelungener Übergangspraxis identi�zieren. Nachfolgende Beispiele beschreiben insbesondere den Aufbau sozialer Netzwerke für Care Leavers sowie bildungs-orientierte Unterstützungsleistungen. Zunächst werden deutsche Beispiele guter Praxis dargestellt, anschließend Schlaglichter auf internationale Modelle geworfen.

Beziehungskontinuität zu Betreuern und signifikanten AnderenIn deutschen Jugendhilfeeinrichtungen wird der Beziehungskon-

tinuität sehr unterschiedliche Bedeutung beigemessen: In man-chen Einrichtungen gibt es Bezugsbetreuer, in anderen ist keine feste Zuständigkeit für einzelne Kinder und Jugendliche vorgese-hen. Spätestens bei einem Wechsel der Hilfeform, z.B. von stati-onär zu ambulant, �ndet in der Regel ein Betreuerwechsel statt. Dieser Bruch hinsichtlich gewachsener sozialer Beziehungen steht im Gegensatz zu der Bedeutung, die stabilen sozialen Beziehun-gen für Care Leaver zugeschrieben wird (vgl. Smith 2011). Einigen Jugendhilfeträgern gelingt es, einen Erhalt von Beziehungskonti-nuität sicherzustellen. So hat sich eine Praxiseinrichtung mit den kommunalen Kostträgern darauf verständigt, eine zeitlich ausge-dehntere Nachbetreuung durch die Bezugsbetreuer anzubieten. Mit einem Gutscheinsystem stehen so 30 bis 50 Stunden für ein Jahr für Nachbetreuung zur Verfügung. Vertraute Bezugssyste-me bleiben auf diese Weise für Care Leaver verfügbar. Zudem ist mit der Kostendeckung ein Anspruch auf nachgehende Hilfe si-chergestellt.

Aufarbeitung biografischer Ereignisse und ElternarbeitAuch die Bearbeitung der familiären Beziehungen spielt im Über-

gang eine wichtige Rolle. Das Verhältnis zu der Herkunftsfami-lie wird in dieser Phase oft noch einmal bedeutsam. In manchen Einrichtungen wird diesem Prozess in Form von Biogra�earbeit Raum gegeben. In anderen Einrichtungen ist die Elternarbeit ge-rade auch während des Übergangs in ein selbstständiges Leben, ein fester Bestandteil der pädagogischen Arbeit. Kon�ikte wer-den nochmals bearbeitet, um ggf. vorhandene familiäre Ressour-cen für die jungen Menschen zugänglich zu machen.Gerade im Bereich des P�egekinderwesens hat es sich außerdem

als positiv erwiesen, in Form von Seminaren, P�egekinder ab dem Pubertätsalter zusammenzubringen und in Gruppen die Gelegen-

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heit zum Austausch über die Herkunftsfamilie, die eigene Biogra-�e, den Status als P�egekind oder auch die bevorstehenden Ab-lösungsprozesse von den P�egeeltern zu bieten. Gelingt es, das Verhältnis zu den Herkunftsfamilien zu klären, so wirkt sich das positiv auf den Aufbau anderer sozialer Beziehungen aus. Das Ri-siko sozialer Isolation kann dadurch reduziert werden.

Aufbau und Aktivierung sozialer Netzwerke im ÜbergangInternationale Beispiele belegen, dass es für viele Care Leaver

sehr bestärkend ist, sich als Teil einer Gruppe zu begreifen und gegenseitig zu unterstützen. So gibt es in vielen anderen Ländern Netzwerke für Care Leaver zum Informationsaustausch und zum Aufbau sozialer Kontakte. Etwas Vergleichbares ist in Deutschland mit dem Netzwerk Careleaver Deutschland erst im Aufbau2. Die-ses Format bietet die Chance, über die geteilte Erfahrung des Le-bens in Erziehungshilfen besondere Solidarität zu erfahren. Über das Netzwerk erreichen die Care Leaver größere Aufmerksam-keit für Ihre Lebenssituation. Die damit erzielte Selbstwirksam-keit hat gleichzeitig Auswirkungen auf die persönliche Entwick-lung und individuelle Bildungsprozesse.

Best Practice der Übergangsbegleitung internationalIm internationalen Vergleich sind die Angebote für junge Er-

wachsene im Übergang aus stationären Erziehungshilfen in ein eigenverantwortliches Leben bereits sehr viel weitreichender. So ist die Rechtsposition von Care Leavern in einigen Ländern er-heblich besser. In Norwegen haben junge Erwachsene einen An-spruch auf Erziehungshilfe bis zum 23. Lebensjahr. Ein frühe-res Hilfeende muss von den Jugendämtern ausführlich begründet werden. Auch wenn die Hilfe auf Wunsch der jungen Menschen beendet wurde, sind die kommunalen Dienste verp�ichtet, in re-gelmäßigen Abständen Kontakt mit den Care Leavern aufzuneh-men - dieses Bemühen auch nachzuweisen - und für den Bedarfs-fall weitergehende Unterstützung anzubieten (vgl. Storo 2008). Die kanadische Studie „25 is the new 21“ spricht für ein entspre-chendes Bemühen, Care Leaver in dem Übergang ins Erwachse-nenleben nachdrücklich Unterstützung anzubieten und nicht auf einen schnellen Hilfeabschluss zu drängen. Der volkswirtschaft-liche Ertrag – so die Ergebnisse der Studie – spricht für eine län-gere und intensive Unterstützung von Care Leavern (vgl. Provin-cial Advocate of Children & Youth 2012). Diese Hilfephilosophie trägt zudem auch den Merkmalen einer verlängerten Jugendpha-se und komplexeren Übergangsprozessen in ein selbstständiges Leben Rechnung.In Großbritannien hat sich der Anteil der Studierenden unter den

Care Leavern dank einer �ächendeckend eingeführten �nanziel-len Förderung in Form von Stipendien sowie durch Mentorenpro-gramme zwischen 2005 und 2010 von einem auf sieben Prozent erhöht (Department für Education 2010). Universitäten sind zu-dem angehalten, Care Leaver explizit zu beraten und ihnen den Zugang zum Studium durch andere unterstützende Konditionen zu ermöglichen. Hierfür sind von einigen Stiftungen explizit Qua-

litätssiegel für Universitäten eingeführt worden, die sich um die Verbesserung des Zugangs in ein Hochschulstudium für benach-teiligte jungen Menschen, darunter im Besonderen auch die Grup-pe der Care Leaver bemühen (u. a. Buttle Quality Mark).In der Schweiz arbeitet eine Jugendhilfeeinrichtung mit dem An-

liegen, für all ihre Kinder und Jugendlichen eine „person of refe-rence“, d.h. eine Vertrauensperson, zu �nden, die sich in besonde-rer Weise für die einzelnen verantwortlich fühlt. Das kann jemand aus der Nachbarschaft der Hilfeeinrichtung, aber auch ein Profes-sioneller sein, der sich über den Hilfekontext hinaus als Mentor zur Verfügung stellt. Es kann auf diesem Weg eine Stabilisierung der jungen Menschen in der neuen Lebenssituation und eine leich-tere Bewältigung von Krisensituationen erreicht werden, die für diese Lebensphase durchaus normal sind.Diese Beispiele unterstreichen, dass es nachhaltige Unterstüt-

zungsleistungen für Care Leaver geben kann. Die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung sowie der Entwicklung von Le-bens- und Bildungsperspektiven hängen allerdings auch von sozi-al- und bildungspolitischen Rahmenbedingungen sowie der ge-sellschaftlichen Anerkennung von Care Leavern ab. Es zeigt sich, dass das Gelingen von Übergängen eben nicht nur von den indi-viduellen Fähigkeiten und der persönlichen Mitwirkungsbereit-schaft abhängt. Gerade die regional disparaten Hilfegewährungs-praxen unterstreichen, wie sehr ein Hilfeverlauf von den struk-turellen Bedingungen, aber auch Zufälligkeiten beein�usst wird.

Was brauchen Care Leaver? Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass der Übergang aus statio-

nären Erziehungshilfen in Selbstständigkeit nicht als Ereignis ei-nes bevorstehenden Hilfeendes zu konzipieren ist, sondern als Pro-zess verstanden werden muss, der über den Auszug aus dem sta-tionären Setting hinaus längerfristig zu begleiten ist. Dafür sind nachgehende, weiterhin in der Kinder- und Jugendhilfe angesie-delte ambulante Angebote verbindlich, also als selbstverständli-cher Teil der Erziehungshilfe, vorzuhalten. Ähnlich wie in Nor-wegen wäre ein vorzeitiger Hilfeabschluss ausführlich zu begrün-den und in gegebenen Abständen von Jugendamtsseite zu prüfen, um die Rechtsstellung der jungen Erwachsenen und den Hilfeauf-trag stärker zu betonen.Im Lebensalter zwischen 18 und 25 Jahren be�nden sich junge

Menschen in einer intensiven biogra�schen Weichenstellung. In diesem Abschnitt bedeutet die Ablösung aus dem Hilfesystem ei-ne Störung, die bis dahin erreichte Entwicklungsschritte und Sta-bilisierungen gefährden kann. Mit Blick auf die besonderen Anfor-derungen in dieser Lebensphase wäre die Chance auf eine länge-re Hilfegewährung als Regelfall wünschenswert und der Wechsel in ein anderes Hilfesystem nach dem 18. Lebensjahr nach Mög-lichkeit zu vermeiden. Im Rahmen der Erziehungshilfen wäre au-ßerdem stärker der Aufbau von Unterstützungsnetzwerken, z.B. in Gestalt von frühzeitig aufgebauten Beziehungen zu Bezugsper-sonen oder Mentoren und Mentorinnen, im sozialen Umfeld zu fördern.

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Care Leaver unterliegen insbesondere auch Benachteiligungen hinsichtlich ihrer Bildungschancen. Sie bringen häu�g bereits aufgrund ihrer sozialen Herkunft einen erschwerten Zugang zu formalen und informellen Bildungsressourcen mit. Gleich-zeitig entfaltet der Aufenthalt in stationären Erziehungshil-fen strukturelle Bildungsbarrieren, die mit der Hilfegewäh-rungspraxis, dem Übergang in andere Hilfesysteme, aber auch mit dem Selbstverständnis der Erziehungshilfen zusammen-hängt. Letztere nehmen die Entwicklung von Bildungspers-pektiven oft erst sekundär als ihre Aufgabe wahr. Der Abbau dieser „doppelten Benachteiligung“ von Care Leavern in den Bildungs- und Ausbildungsstrukturen ist eine Schlüsselaufga-be bei der Verbesserung der Übergangsbegleitung in ein selbst-ständiges Leben. Hierfür liefern internationale Beispiele viel-fältige erprobte Modelle.Es zeigt sich, dass sich Care Leaver in ihren Voraussetzungen

für den Übergang in ein selbstständiges Leben deutlich von ande-ren jungen Menschen unterscheiden, und dass diese Unterschie-de gesellschaftlich sowie auch im Hilfesystem konsequenter ge-

würdigt werden müssen, um die Startchancen von Care Leavern in ein selbstbestimmtes und ihren Fähigkeiten entsprechendes Le-ben zu verbessern.

∑1. Es handelt sich um ein durch die Stiftung Jugendmarke gefördertes, zweijähriges Praxis-forschungsprojekt, das in Kooperation der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hil-fen (IGfH) und der Stiftung Universität Hildesheim durchgeführt wird. Weitere Informatio-nen: http://www.uni-hildesheim.de/index.php?id=careleaver.

2. Nähere Informationen zum Aufbau des Care Leaver Netzwerks Deutschland: http://www.uni-hildesheim.de/index.php?id=hei-careleavers.

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