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U n i v e r s i t ä t P o t s d a m Z e n t r u m f ü r L e h r e r b i l d u n g 5. Tag der Fachdidaktiken am 4. Juni 2002 • PISA und die Implikationen für die Schule • Verstehen, Erfahren und Urteilen aus der Perspektive von Geschichte und LER • Handlungswissen fachspezifisch und fächerübergreifend entwickeln • Mathematikunterricht nach PISA • Kompetenzen beim Lösen von Mathematikaufgaben in der Sek. I • Ansätze einer innovativen Lernkultur durch Kooperation von Schule und Wirtschaft kentron J o u r n a l z u r L e h r e r b i l d u n g extra

Kentron : Journal zur Lehrerbildung [Extra ; 2002] · der Indikatoren für diese international standardisierte Leistungsmessung gab und konkrete Aufgaben der Be-reiche Lesekompetenz

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Z e n t r u m f ü r L e h r e r b i l d u n g

5. Tag der Fachdidaktiken

am 4. Juni 2002

• PISA und die Implikationen für die Schule

• Verstehen, Erfahren und Urteilen aus der Perspektive von Geschichte und LER

• Handlungswissen fachspezifisch und fächerübergreifend entwickeln

• Mathematikunterricht nach PISA

• Kompetenzen beim Lösen von Mathematikaufgaben in der Sek. I

• Ansätze einer innovativen Lernkultur durch Kooperation von Schule und Wirtschaft

kentronJ o u r n a l z u r L e h r e r b i l d u n g

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PISA und das Potsdamer ModellBegrüßungsworte zum 5. Tag der Fachdidaktiken

von Prof. Dr. Gerda Haßler, Prorektorin für Lehre und Studium, Universität Potsdam

Ich muss Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, nichtsagen, wie die PISA-Studie die Öffentlichkeit wach-

gerüttelt hat. Inzwischen ist PISA jedoch längst zumSchlagwort geworden, man schielt auf die Vergleichs-studien zu den einzelnen Bundesländern. Ich frage michmanchmal, ob nicht sogar der homonymische Bezug alsMetaphorik durchgeht, wenn die Universität zum Nach-denken über Pisa und Bologna aufgefordert wird.

Bologna steht für eine Internationalisierung desHochschulwesens, eine freie Wahl des Studienortes imeuropäischen Raum, Kompatibilität der Studienab-schlüsse und Ausbildungswege. Die optimale, Kostensparende Lösung erscheint vielen auf diesem Weg fürdie Lehrerbildung der Bachelor zu sein. Fachdidaktikenbleiben dabei einer späteren Phase, dem Masterstudiumvorbehalten, wo sie in dem nur auf die Bachelorphasereduzierten Studium bleiben, darüber hat keiner so rechtnachgedacht. Machen wir also Bologna.

Das Benutzen von Städtenamen wie Bologna undErfurt für Konzepte und Auffälligkeiten vereinfachtDenkprozesse, löst aber die Probleme nicht. Für michist diese Benennungspraxis Anlass, einen Städtenamen,den ich im vergangenen Jahr nicht verwenden wollte

und dessen Nichtverwendung durch das Rektorat ichsogar verteidigt hatte, wieder ausdrücklich in den Mit-telpunkt zu stellen: nämlich Potsdam, in Verbindung mitdem Potsdamer Modell der Lehrerbildung.

Was ist davon übrig geblieben, werden Sie sich viel-leicht fragen. In der Tat haben die Fachdidaktiken schwe-re Einschnitte erlebt, sind Professuren umgewidmet wor-den und wurden durch die Einrichtung übergreifenderBereichsdidaktiken sogar Berufungsgebiete geschaffen,für die sich Kommissionen zwei Jahre lang bemühten,eine vertretbare Liste zustande zu bekommen. Immer-hin ist das personelle Defizit der Fachdidaktiken jetzt inder Universitätsleitung bewusst, auch die Fakultäten störtes allmählich. Auch bei unseren Erziehungswissen-schaftlern spüre ich das ernsthafte Bemühen, sich in dieintegrative Ausbildung von Lehrern einzubringen, beiallen Schwierigkeiten, die es nach wie vor gibt. Unterden Fachwissenschaftlern gibt es zumindest einige, dieüber die Probleme der Lehrerbildung nachdenken. Sieverständigen sich darauf, Lehre nicht nur zu den eige-nen Forschungsgebieten, zu konjunkturell hoch stehen-den Themen anzubieten, sondern Lehramtsstudierendenauch einen Überblick zu geben, sie damit zu einem sou-

Tag der Fachdidaktiken 2002Inhaltsverzeichnis

Prof. Dr. Gerda HaßlerProrektorin für Lehre undStudium, Universität Pots-dam;Tel.: 0331 - 977 [email protected]

InhaltsverzeichnisProf. Dr. Gerda Haßler, Prorektorin für Lehre und Studium, Universität Potsdam

PISA und das Potsdamer Modell - Begrüßung Seite 2Prof. Dr. Olaf Köller , Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

PISA und die Implikationen für die Schule Seite 4Dr. Eva-Maria Kenngott, Institut für Philosophie, Universität Potsdam

Verstehen und Urteilen. Zum Erfahrungsbezug im LER-Unterricht Seite 4Prof. Dr. Dagmar Klose, Historisches Institut, Universität Potsdam

Verstehen, Erfahren, Urteilen - zum Niveau historischen Denkens bei Elf- bis Zwölfjährigen Seite 11Dr. Marion Höfner, Institut für Germanistik, Universität Potsdam

Handlungswissen fachspezifisch und fächerübergreifend entwickeln Seite 16Prof. Dr. Thomas Jahnke, Institut für Mathematik, Universität Potsdam

Produktive Aufgaben nach TIMSS Seite 22Dr. Wieland Müller, Institut für Physik, Universität Potsdam

Kompetenzen beim Lösen von Physikaufgaben in der Sekundarstufe I Seite 26Dr. Olaf Czech, Institut für Arbeitslehre/Technik, Universität Potsdam

Ansätze einer innovativen Lernkultur durch Kooperation von Schule und Wirtschaft Seite 30Impressum

Anschriften, Telefonnummern etc. Seite 36

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veränen Umgang mit dem Fach zu befähigen. Wir ha-ben allen Grund, ohne die Probleme schön zu reden,uns auf die Potenzen des Potsdamer Modells zu besin-nen und diese auch offensiv zu vertreten.

Modellversuche sind angesagt, viele wollen dabei vonBachelorstudiengängen reden, die wir an der UniversitätPotsdam auch einführen und verstärkt einführen wol-len, wo immer sie sinnvoll sind. Sinnvoll sind sie überalldort, wo sich ein Studium so strukturieren lässt, dass nachdrei Jahren ein berufsbefähigender Abschluss heraus-kommt. Und gerade diese Berufsbefähigung ist es, dieuns veranlasst, die Lehramtsstudiengänge neu zu struk-turieren und von einer Reduzierung auf ein dreijährigesStudium abzusehen.

Das Studium der Fachdidaktiken ist für die Studie-renden bereits in einer frühen Phase ihres Studiums för-derlich, nicht zuletzt auch für das Aneignen und Durch-dringen fachwissenschaftlicher Inhalte und für das An-wenden erziehungswissenschaftlichen Wissens. Frühzeitigsollen Studierende auch durch Praxisstudien Erfahrun-gen gewinnen können und auch unter diesem Eindruckihr fachliches Wissen strukturieren lernen.

Ohne eine intensive Kooperation mit Schulen wäreeine solche Gestaltung der Lehre überhaupt nicht mög-lich. Die Fachdidaktiken sind zugleich aufgefordert, stär-ker als bisher mit Schulen sowie den Einrichtungen derZweiten Phase der Lehrerbildung zusammenzuarbeiten.Dafür wurden vom Ministerium für Bildung, Jugend undSport gute Voraussetzungen geschaffen, insofern dieMitwirkung von Lehrenden der Zweiten Phase der Leh-rerbildung in der Fachdidaktikausbildung ausdrücklichangeboten wurde. Zugleich muss ein weitgefasster Be-griff von Fachdidaktik entwickelt werden, der zusätzli-che Aufgabenfelder erschliesst und für Drittmittel-projekte außerhalb der Schule interessant ist. Die ein-zelnen Fachdidaktiken müssen Entwicklungspers-pektiven festlegen.

PISA hat zumindest bewirkt, dass fachdidaktischeForschung wieder ernst genommen wird und auch För-derung erfährt. Eigentlich ist die Situation noch nie sogünstig für die fachdidaktische Forschung und ihre Be-züge zu Praxisfeldern gewesen. Ich möchte auf diesemHintergrund die Fachdidaktiker auffordern, sich nichtin die Position einer nicht vom Geld und vielleicht vomZeitgeist korrumpierten „Vermittlungsdisziplin“ zurück-zuziehen und der Empfehlung des Wissenschaftsrats zufolgen, „die Fachdidaktiken in Verbindung mit derLehrerbildungsforschung sowie der Forschung im Be-reich der Weiterbildung nachhaltig weiterzuentwickeln“.

An unserer Universität befinden wir uns in einemtiefgreifenden Umgestaltungsprozess der Lehre, der voneinigen als Systemwechsel bezeichnet und begriffen wird.Kernbestandteil dieses Prozesses ist die Modularisierungder Studiengänge, die damit verbundene Bestimmungvon Kernbestandteilen und die Zuordnung von Leis-tungspunkten. In ihrer Idealform führt die Modula-risierung zum studienbegleitenden Erwerb von Leistungs-nachweisen und damit zur Abschaffung von Prüfungen.

„Wir haben allen Grund, ohne die

Probleme schön zu reden, uns auf die

Potenzen des Potsdamer Modells zu

besinnen und diese auch offensiv zu

vertreten.“

Dies hätte den Nachteil, dass eine übergreifendeKomplexprüfung nicht mehr möglich wäre. Hierzu gibtes jedoch auch die Überlegung, einen studienbegleitendenErwerb von Leistungsnachweisen durch eine professions-orientierte Prüfung zu ergänzen.

Die Lehrerausbildung wird sich tiefgreifend verän-dern und es liegt an uns, ob wir aus diesem Prozess miteinem wirklichen Potsdamer Modell hervorgehen, dasFachwissenschaften, Fachdiaktiken, Erziehungswissen-schaften und Praxisstudien vereint oder ob wir uns ei-nem von außen verordneten Uniformisierungsprozessunterordnen werden.

Lassen Sie mich noch einige Worte zu organisatori-schen Voraussetzungen sagen. Unter Fachdidaktikern istes unstrittig, dass eine Organisationsform gefunden wer-den muss, die das institutionelle Gewicht der Lehrerbil-dung aufwertet, denn an ihren Fakultäten sind Fach-didaktiker naturgemäß in der Minderheit. Zunehmendsetzt sich auch bei den Erziehungswissenschaftlern undbei an der Lehrerbildung interessierten Fachwis-senschaftlern der Gedankevon der Notwendigkeit einesLehrerbi ldungszentrumsdurch.

Wir werden bei den Be-mühungen um die Bildungeines Zentrums für Lehrer-bildung und Curricularent-wicklung auch von beidenMinisterien unterstützt. Auchdie politische Unterstützungim Land Brandenburg ist allseitig. Das Rektorat hat be-reits eine materielle Ausstattung aus den vorhandenenMitteln beschlossen, vom MWFK kam die Anregung,die Bildung des Zentrums zusätzlich in die Zielverein-barung aufzunehmen. Mit einem Satz gesagt: Auch voneiner materiellen Ausstattung kann ausgegangen werden.

Dass die Lehrerbildung in der Komplexität ihrerAufgabe ein schwieriger Prozess ist steht außer Frage.Es gibt jedoch keinen Grund, sie nicht einem Ort zuzu-ordnen, der sich der damit verbundenen Aufgaben auchgestalterisch annimmt. Auch historische Erfahrungensind in diesem Prozess kein Gegenargument. Die Aus-sage, dass Reformbestrebungen in der deutschen Leh-rerbildung noch nie glückten, mag philosophisch richtigsein, sie abstrahiert aber von den real vollzogenen undin der Gegenwart rasant laufenden Veränderungen. Wennwir nicht wenigstens versuchen, diese in den Griff zubekommen und in eine sinnvolle Richtung zu steuern,dann können wir Geschichte wirklich nur noch als regi-strierende Chronologie betreiben.

Besonders danken möchte ich allen, die dafür ge-sorgt haben, dass der Tag der Fachdidaktiken heute zum5. Mal stattfinden kann. Ich wünsche Ihnen in diesemSinne Mut und Selbstbewusstsein für die weitere Ent-wicklung der Fachdidaktiken und hoffe auf Ihre kriti-sche und konstruktive Mitarbeit bei der Weiterentwick-lung unserer Universität.

Tag der Fachdidaktiken 2002Begrüßungsworte

Der Arbeitskreis Fachdidaktiken der Zentralstelle für Lehrerbildung, unter Leitung von Prof. Dr. Dagmar Klose und Dr. RoswithaLohwaßer, führte am 4. Juni 2002 den fünften Tag der Fachdidaktiken durch. Dieses kentron-extra veröffentlicht die Forschungsbeiträge.

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PISA und die Implikationen

für die SchuleWird der Unterricht durch Schulleistungsstudien besser?

Prof. Dr. Olaf Köller, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin, über Ergebnisse der PISA-Studie

Auf dem Tag der Fachdidaktiken 2002 wurde die Dis-kussion der bundesweiten Tagung mit dem Thema

„Kerncurricula und Bildungsstandards in Schule undLehrerbildung als eine Antwort auf PISA“ fortgeführt.

Prof. Dr. Olaf Köller vom Max-Planck-Institut Ber-lin, selbst an den Untersuchungen zur PISA-Studie be-teiligt, eröffnete den Tag der Fachdidaktiken, indem erallen Teilnehmern tiefere Einblicke in die Gewinnungder Indikatoren für diese international standardisierteLeistungsmessung gab und konkrete Aufgaben der Be-reiche Lesekompetenz und mathematische Grund-bildung referierte. An einem Beispieltext zeigte Prof.Köller, dass zehn Prozent der 15-jährigen Schüler inDeutschland nicht mal die erste Kompetenzstufe beimLesen erreichen und 25 Prozent auf dem untersten Ni-veau (Stufe I) liegen. Köller klärte weiterhin darüber auf,dass die Studie keine Zusammenhänge zwischen denLeistungen der Schüler und Unterrichtsmerkmalen auf-

deckt. Es können also bisher keine Schlussfolgerungenfür eine Optimierung von Unterricht gezogen werden.Deutlich sei jedoch geworden, dass es einer „erhebli-chen Zunahme von Lerngelegenheiten“ bedarf. Köllersprach von systematischem „Zusatz- und Förder-unterricht“. Eine weitere Aufgabe müsse es sein, die Ju-gendlichen zum Lesen in der Freizeit zu motivieren. ImMathematikunterricht müssten die Aufgaben stärker anden Alltag angebunden werden. Die PISA-Studien 2003und 2006 sollen das Unterrichtsgeschehen stärker be-rücksichtigen. Köller sieht in den derzeitigen Ergebnis-sen den Anlass, sich mit dem Faktor „Unterricht“ um-fassend auseinander zu setzen.

kentron- extra 2002 veröffentlicht hier Forschungser-gebnisse der Fachdidaktiken der Universität Potsdam zuMöglichkeiten der Gestaltung von Unterricht.

kentron Nr. 14 wird sich der Reformdiskussion vonLehrerbildung widmen.

Prof. Dr. Olaf KöllerMax-Planck-Institut fürBildungsforschung [email protected]. Köller hat einen Rufauf eine C-4-Professur in Er-langen-Nürnberg wahrgenom-men.

Verstehen und UrteilenZum Erfahrungsbezug im LER-Unterricht

von Dr. Eva-Maria Kenngott, Institut für Philosophie, Lehramtsstudiengang LER, Universität Potsdam

A lles verstehen, heißt alles verzeihen“. Dieser be-rühmte Satz, der Madame de Staël zugeschrieben

wird, ließe sich sicherlich als Motto über so manche Un-terrichtsstunde LER und anderer verwandter Schulfächerschreiben. Er verrät etwas über eine Praxis, die ich da-mit umschreiben möchte, dass zwei sehr verschiedeneBegriffe, der des Verstehens und der des Urteilens, ver-mischt werden. Doch etwas zu verstehen, bedeutet nicht,es für richtig zu halten. Im Versuch, andere, fremdeLebenswelten zu verstehen, sich fremden Lebensweisen,Weltanschauungen und Religionen anzunähern, wirdnoch nicht das Gebiet des moralischen Urteilens undHandelns beschritten. Beide Vorgänge, das Verstehenund das Urteilen, sind zentrale Unterrichtsbestandteile

im Fach LER. Beide sind, schon für sich genommen,außerordentlich schwer zu beschreiben und auch ihr Ver-hältnis zueinander lässt viele verschiedene Fragen zu, dieich im Folgenden einkreisen möchte.

Das neue Schulfach LER trägt schon im Namen, waszu einer lange währenden Auseinandersetzung, die zu-letzt vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragenwurde, Anlass gab: die Beschäftigung mit anderen Welt-anschauungen und Religionen als religionskundliche Di-mension eines allgemeinbildenden Schulfaches.1 Es gingdabei wesentlich um die Frage, inwiefern Religion über-haupt als Bildungsgut verstanden werden kann. Die De-batte wurde sehr polemisch geführt und gipfelte von-seiten der Kirchen in der bis dato häufig rekapitulierten

Dr. Eva-Maria Kenngott,Institut für Philosophie,Lehramtsstudiengang LER,Universität Potsdam.Tel.: 0331 - 977 1308

Tag der Fachdidaktiken 2002Die PISA-Studie

1 Wichtige Argumente der Debatte finden sich im Gutachten des wissenschaftlichen Beirats von LER. (vgl. Edelstein u.a. 2001, 36-57)2 Der polemische Angriff stammt von Richard Schröder in der FAZ vom 11.10.1995, S.16.3 Bischof Huber nennt in einem Artikel der Frankfurter Rundschau vom 26.1.1996, S.18 die Innenperspektive des konfessionellenReligionsunterrichts und die Außenperspektive des religionskundlichen LER-Unterrichts.4 Eine Rekonstruktion der Debatte, die bei der Auseinandersetzung zwischen Wittgenstein und Frazer ihren Ausgang nahm, bietetHeinke Deloch 1997 und 2000.5 So weist H. Deloch bei Wittgenstein auf „existentielle Gemeinsamkeiten des menschlichen Lebens“ hin, die das Verstehen anderer

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Behauptung, dass im LER-Unterricht Religionen wieTiere in einem Zoo vorgeführt würden.2 In dieserreligionspolitisch verzerrten Auseinandersetzung wurdezwar die Frage diskutiert, von welchem Standpunkt ausandere Religionen im Unterricht zu behandeln seien3,doch mir scheint, dass es sehr viel tieferliegendere Pro-bleme bei der Beschäftigung mit anderen Religionen undKulturen gibt als diese. So lassen sich - vielleicht gewinn-bringend - Fragen formulieren, die auch bei der Behand-lung fremder Religionen im Religionsunterricht zentralsind, aber in der bisherigen Debatte vom konfessionel-len Standpunkt übertüncht wurden. Deshalb möchte ichzunächst - ausgehend von Fragestellungen, wie sie inder Geschichtswissenschaft und der Philosophie disku-tiert werden - die Probleme benennen, die beim Ver-stehen fremder Religionen und Kulturen entstehen kön-nen. In einem zweiten Schritt möchte ich mich mit derdidaktischen Frage beschäftigen, nach welchen Kriteri-en sich Unterricht als ein Prozess des Verstehens frem-

der Kulturen und Religio-nen organisieren lässt, wo-bei meine Erörterungdurchzogen ist von demAnliegen, den Unterrichterfahrungsbezogen zu ge-stalten. Schließlich werdeich der Frage nachgehen,

welche Rolle der Erfahrung beim Urteilen zukommt undwie man eine Verhältnisbestimmung der beiden zentra-len Vorgänge eines lebensweltbezogenen wertorien-tierten Unterrichts vornehmen könnte.

1Verstehen ist der Begriff, mit dem sich die Ge-schichtswissenschaft im 19. Jahrhundert etabliert

und sich gegen solche Wissenschaften absetzt, bei de-nen das Erklären im Zentrum steht. (Muhlack 1998)Bis heute werden immer wieder zwei Fragenkomplexediskutiert: die eine Debatte kreist um Subjekt undObjekt des Verstehens; die andere darum, welcher Artder Vorgang des Verstehens ist. Ist er ein rationaleroder ein mehr intuitiver Akt, ein kognitiver oder einaffektiver Prozess? Die hermeneutische Diskussionbewegt sich vorwiegend in den Bahnen der Text-interpretation und scheint auf den ersten Blick wenigbedeutsam für einen religionskundlichen Unterrichts.Doch ist der hermeneutische Diskurs nicht nur – un-ter anderem – in der Geschichtswissenschaft in der Aus-einandersetzung mit vergangenen Lebenswelten bedeut-sam. Auch uns fremde – zeitgleiche - Lebenswelten, an-dere Kulturen und Religionen treten uns als Objektedes Verstehens gegenüber. Es handelt sich um keingänzlich anderes Phänomen, Texten, Bildern oder auchGebrauchsgegenständen aus einer vergangenen Zeit wieeiner uns fremden Kultur gegenüberzustehen. In bei-den Fällen ist die Frage entscheidend, wie wir die Be-deutungen einer uns fremden Lebenspraxis verstehenund zudem die Intentionen von Akteuren entziffernkönnen.

Eine solche Ausweitung der hermeneutischen Fra-ge in Richtung fremder Kulturen und Religionen fälltzusammen mit einer Verschiebung der Diskussion in-nerhalb der Philosophie. Die zentrale Frage der Herme-neutik nach den aus einem Text zu entschlüsselndenIntentionen eines Autors wurde auf die Ebene sprachli-cher Bedeutung überhaupt verlagert.4 So wurde beispiels-weise im Anschluss an die Sprachphilosophie Wittgen-steins die Frage diskutiert, wie man die Bedeutungen ei-nes fremden Zeichensystems verstehen könne. Aus die-sem Blickwinkel ist das Objekt des Verstehens nicht nurdeshalb fremd, weil die Entschlüsselung der Intentio-nen eines Autors problematisch ist, sondern weil dieRegeln nicht bekannt sind, die es erlauben, die Bedeu-tungen der Zeichen der fremden Kultur zu verstehen.Man könnte demnach nur dann eine fremde Kultur ver-stehen, wenn man die Bedeutung ihrer Zeichen undSymbole kennt. Aber lässt sich eine fremde Kultur oderReligion gewissermaßen wie eine Fremdsprache lernen?Diese Überlegung ist in der Philosophie und in den So-zialwissenschaften umstritten und nicht zuletzt kreist dieDiskussion um die skeptische Frage, ob wir die Bedeu-tungen eines uns fremden Sprachspiels überhaupt erfas-sen können. Um sich diesem sehr grundsätzlichen Zwei-fel nicht hinzugeben, wird in unterschiedlichen Dis-ziplinen5 ein Weg beschritten, bei dem man – positiv –von einem möglichen Verstehen des Fremden aus-geht.6 Es wird dann unterstellt, dass die Kulturen hin-länglich ähnlich sind. Fremde Kulturen und Religionenwären deshalb zu verstehen, weil alle Kulturen Ausdruckdes Menschseins sind. Wir würden uns demnach als Men-schen verstehen, weil wir eine Reihe von Universalienteilen?7

Doch damit des Zweifelns nicht genug. Auch derVerstehende selbst tritt nicht unschuldig an die andereKultur heran; er bringt seine eigenen Fragen und dienicht hinterfragten Selbstverständlichkeiten seiner eige-nen Lebenswelt mit.8 Nicht nur das Objekt des Verste-hens, auch das Subjekt selbst ist gewissermaßen sperrigim Verstehensprozess. Ist also,so ließe sich fragen, unser ei-gener Blick so getrübt durchunsere uns selbstverständlicheSichtweise, auch durch Vorur-teile und Stereotype, dass dasFremde eine Spielart des Ei-genen wird? Der hermeneuti-sche Zweifel am Subjekt undObjekt im Verstehensprozessist präsent, wenn es um dieFrage geht, ob wir fremde Religionen und Kulturen über-haupt verstehen können. Eine pessimistische Wahrneh-mung der Diskussion könnte dazu führen, das Verste-hen fremder Religionen grundsätzlich infragezustellen,weil uns fremde Sprachspiele nicht zugänglich sind unddie Verhaftung in der eigenen Kultur die Wahrnehmungfremder Kulturen erschwert, wenn nicht gar unmöglichmacht. Doch selbst wenn es so sein sollte, muss man

„Die Auseinandersetzung mit fremden

Lebenswelten im Unterricht kann dazu

führen, einen überraschten Blick

zurück auf eigene Lebenswelten zu

werfen.“

„Verstehen und Urteilen

sind zentrale Bestandteile

im Unterrichtsfach

LER.“

Tag der Fachdidaktiken 2002Verstehen und Urteilen in LER

Religionen möglich machen. (Deloch 2000, 173) Aber auch U. Muhlack zieht für die Geschichtswissenschaft eine ähnliche Konsequenz, dennin der Geschichte begegne der Mensch seinesgleichen. (Muhlack 1998, 121ff) Auf diese Weise wird die prinzipielle Kluft zwischen demHistoriker als Subjekt und dem geschichtlichen Objekt des Verstehens geschlossen. Schließlich möchte ich noch einen religionspädagogischenKronzeugen anführen: H. Halbfas weist in der Begründung seines symboldidaktischen Ansatzes auf eine die Geschichte durchziehendeSymbolik wie den Kreis hin, die er allerdings auf dem Hintergrund der Archetypenlehre von C. G. Jung deutet. So überdauert die Strukturdes Symbols allen Wandel durch die Menschheitsgeschichte hindurch. (Halbfas 1997, 105ff)6 Die Beweislast liegt nun beim Skeptiker.

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diese Konsequenz nicht ziehen. Auch wenn wir vielesvon fremden Kulturen und Religionen nicht verstehensollten, so lässt sich doch eine positive Wendung andeu-ten: eine Auseinandersetzung mit anderen, fremdenLebenswelten, eröffnet, jenseits der Frage, ob oder waswir dabei wirklich verstehen, einen anderen Blick aufdie eigene Lebenswelt. Sie stellt die Selbstverständlich-keiten der eigenen Kultur infrage, ja mehr noch: das Ei-gene wird erst zum Eigenen durch das Fremde.9 DasEigene kann erst zum Teil einer Unterscheidung wer-den, indem es vom Fremden unterschieden wird. Erstdann kann es aber auch fragwürdig werden in seinerDifferenz zum Fremden. Die Auseinandersetzung mitfremden Lebenswelten im Unterricht kann also, zumin-dest wenn sie nicht vollständig verweigert wird, dazuführen, einen überraschten Blick zurück auf die eigeneLebenswelt zu werfen.

2Bezieht man den soeben dargestellten Problemaufrissauf die schulische Praxis, so ergeben sich eine Reihe

von Gesichtspunkten, die ich im Folgenden diskutierenmöchte. In der Schule, so lässt sich erst einmal ganz all-gemein sagen, steht die Organisation von Prozessen desVerstehens im Mittelpunkt. Dies ist gewissermaßen einhermeneutischer Sonderfall, denn das Interesse von Kin-dern und Jugendlichen soll geweckt werden, um über-haupt Verstehensprozesse ingangzusetzen. Es verbergensich hinter dieser Feststellung zwei Fragen: die lern-psychologische danach, wie die Motivation von Kindernund Jugendlichen, etwas verstehen zu wollen, gestärkt wer-den kann.10 Die andere Frage lässt sich vielleicht so um-schreiben: Wie kann Unterricht so organisiert werden,dass Verstehen optimal gelingt. Doch wie nun lässt sicheine Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und Re-ligionen im LER-Unterricht – ebenso wie in anderenverwandten Fächern – bewerkstelligen? Die Beschäfti-gung mit fremden Kulturen und Religionen hat mit denunmittelbaren Erfahrungen von Kindern und Jugendli-chen u.U. wenig zu tun.11 So zeigt eine Untersuchung vonSabine Gruehn, dass der religionskundliche Anteil imLER-Unterricht als der am schwersten integrierbare emp-funden wird.12 Dies ist eine Beobachtung, die für LEReine Herausforderung darstellt, denn gerade dieses Fachwar ja nach der Wende von 1989 angetreten, um dasLeben in die Schule zurück zu holen. Es sollte ein

Schulfach entstehen, das Kin-dern und Jugendlichen dieMöglichkeit eröffnet, über dieeigenen Lebensfragen nachzu-denken und sich mit Lebens-entwürfen anderer auseinan-derzusetzen. In LER sollte die

Lebenswelt der Jugendlichen der Fokus des Unterrichtssein, was dem Fach insgesamt viel Häme einbrachte undnicht zuletzt den Vorwurf, Psychotherapie in die Schulezu verlagern. (Schneider 1999) Dass damit den ‚Auto-ren’ von LER vielfach Unrecht getan wurde, zeigt sichu.a. an der Diskussion nach der PISA-Studie und einer

der zentralen Fragen, wie der schulische Unterricht mehrRelevanz für die Erfordernisse des Lebens entfaltenkönnte. Denn schulisches Lernen ist dem Erfahrungs-lernen des Alltags entzogen und funktioniert nach einereigenen sachlichen und zeitlichen Logik. (Edelstein u.a.2001, 149ff) So ist in LER eine Spannung zwischenLebensweltorientierung und Fachbezug entstanden, diesich bei der Behandlung fremder Kulturen und Religio-nen im Unterricht bemerkbar macht.

Das Unterrichtskonzept des handlungsorientiertenUnterrichts ist ein Versuch, an die Lebenswelt derSchülerInnen im Unterricht anzuschließen und lern-psychologische mit im engeren Sinne fachdidaktischenÜberlegungen zu verbinden.13 Die Interessen und Fra-gen der SchülerInnen sollen aufgenommen werden, dieSchülerInnen sollen ganzheitlich lernen. Kopf, Herz undHand sollen angespro-chen werden. Hier rücktder Begriff der Erfahrungin den Mittelpunkt unddamit auch die Frage, in-wiefern Verstehen selbstunter Umständen mehr istals begriffliches Lernen. Verstehensprozesse gelingen nur,so die These, wenn der Unterricht nicht nur einseitigkognitiv ausgerichtet ist. Das Konzept sieht vor, die Schu-le als einen Raum zu sehen, in dem Erfahrungen denLernprozess voranbringen sollen. Um fremde Religio-nen und Kulturen im Unterricht zu behandeln, scheintdieses Konzept also aus zwei Gründen vielversprechendzu sein: zum einen kann Verstehen selbst wohl nicht alsrein kognitiver Vorgang begriffen werden; Verstehenwäre demnach – und hier taucht auch wieder ein Ele-ment der hermeneutischen Diskussion auf – ein viel-schichtiger Prozess, der auch affektive Aspekte beinhal-tet. Zum anderen geht es beim Verstehen einer frem-den Lebenswelt um das Verstehen einer Praxis, die nichtallein aus begrifflicher Konstruktion oder Rekonstrukti-on zugänglich ist. Falls man diesen beiden Argumenteneine gewisse Relevanz zuspricht, so folgt daraus, dass beimVerstehen fremder Lebenswelten dem Begriff der Er-fahrung eine wichtige Rolle zukommt. Doch wie ver-trägt sich diese Einsicht mit den oben vorgestellten her-meneutischen Überlegungen wie auch mit der Frage nacheiner angemessenen begrifflichen (Re-)konstruktionfremder Lebenswelten?

In den vergangenen Jahren scheint das handlungs-orientierte Konzept in den Schulen viel Anklang gefun-den zu haben. So berichtet beispielweise der Geschichts-didaktiker Bodo v. Borries vom Kochen in verschiede-nen Varianten der Vergangenheit: wie die Römer, wieim Mittelalter, wie die Ritterfrauen... und fragt nach ebendem Verhältnis von sinnlicher Erfahrung und begriffli-cher (Re-)konstruktion einer Epoche. (von Borries 2001,29f) Doch auch im LER-Unterricht und in anderen wert-orientierten Fächern finden sich ähnliche Beispiele. Ichmöchte deshalb im Folgenden ein gängiges Beispiel kri-tisch beleuchten und dabei – gewissermaßen ex negativo

Tag der Fachdidaktiken 2002Verstehen und Urteilen in LER

„In LER sollte die Lebenswelt des

Jugendlichen der Fokus des Unterrichts

sein.“

„Verstehen bewirkt nicht

automatisch eine moralische

Haltung.“

7 Aus dieser Annahme ergibt sich ein erster Einwand gegenüber der eingangs beschriebenen Praxis, wonach das Verstehen die Haltung desRespekts gegenüber dem Fremden erzeugen soll: nicht das Verstehen erzeugt den Respekt gegenüber dem Fremden, sondern die Anerkennungdes Fremden als Menschen ist nach dem obigen universalistischen Argument die Voraussetzung, um zu verstehen.8 Für Historiker führt die Verstrickung des Erkenntnissubjekts in die eigene Tradition zu dem Problem des „reflexiven Verstehens“.(Pandel 1991, 21)9 Dieses Argument, das die schwierige Alternative zwischen universalistischen Grundannahmen, die dem Verstehen vorausgehen (s.o.) undrelativistischen Positionen, bei denen das Fremde als abgeschlossenes Zeichensystem unüberwindlich fremd bleibt, überwindet, übernehme ich

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– einige Kriterien entwickeln, die bei der erfahrungs-orientierten Auseinandersetzung mit fremden Lebens-welten im Unterricht Beachtung finden sollten und diean die unter Punkt 1. entwickelte Debatte anschließen.Ich denke bei meinem Beispiel an ein Vorgehen, dasdem Feld der interkulturellen Erziehung entstammt undhäufiger auch – so oder in unterschiedlichen anderenVarianten – im Projektunterricht durchgeführt wird. DasSzenario lässt sich in aller Kürze so beschreiben, dassdie Erfahrung mit afrikanischer Musik, vorzugsweise dasTrommeln unter Anleitung von schwarzen Musikern, insZentrum der Erfahrung mit einer uns fremden Kulturgestellt wird. Was könnte nun daran problematisch sein?Die Zielsetzung dieser Vorgehensweise besteht allemAnschein nach darin, ausgehend von einer Erfahrung,Fremdes zu verstehen und in der Folge dessen, das Frem-de – wenn nicht zu schätzen –, so doch zu tolerieren.Das erste nun, was an dieser Vorgehensweise problema-tisch ist, ist die eingangs genannte Behauptung, etwas zuverstehen, hieße, etwas zu verzeihen. Sie geht nämlichvon der Identität beider Vorgänge aus. Doch selbst wennes möglich wäre, etwas von afrikanischer Kultur aufgrundeiner Erfahrung zu verstehen, hieße das nicht, dass derUmgang mit Schwarzen nun von mehr Toleranz gekenn-zeichnet sein müsste. Es ließe sich auch eine Reaktionvorstellen, die in der Diskussion um Fremdenfeindlichkeitgewöhnlich mit „Ethnopluralismus“ gekennzeichnet wird,wonach diese Kultur faszinierend ist, aber da, wo sie hin-gehört: nach Afrika, nicht zu uns. Mit anderen Worten:dieses Unterrichtsszenario ist nicht dafür geeignet, zu mehrToleranz zu erziehen, weil es so tut, als sei der Vorgangdes Verstehens schon per se ein Akt des moralischenUrteilens und würde zu einer Haltung führen, die vonRespekt gegenüber dem Fremden gekennzeichnet ist. DasVerstehen mag zwar eine Voraussetzung des moralischenUrteils sein – ich komme dazu später noch unter demStichwort Perspektivenwechsel –, doch beides fällt nichtzusammen. Verstehen, dies meine erste Schlussfolgerung,bewirkt nicht gewissermaßen automatisch, eine morali-sche Haltung, die mit Respekt oder Toleranz gegenüberdem Fremden gekennzeichnet werden könnte.

Doch die Vermischung von Verstehen und Urteilenbetrifft nur die oberste Problemschicht. Das zweite Pro-blem betrifft die Tatsache, dass es sich bei derleiUnterrichtsprojekten um die Simulation einer Erfahrunghandelt. Um ähnliche Simulationen handelt es sich, wennbeispielsweise im Geschichtsunterricht gekocht wird wieim Mittelalter, ein Beispiel, das ich oben schon aufge-griffen habe. Es handelt sich deswegen um eine Simu-lation, weil in beiden Fällen natürlich Entscheidendesfehlt und zwar deshalb, weil es nicht simuliert werdenkann: beispielsweise, um zur afrikanischen Musik zurück-zukehren, das Flimmern der afrikanischen Hitze, dieKenntnis des Rituals, in das die Musik eingefügt ist, sämt-liche Lebensumstände, in die diese Musik eingebettet ist;es ließe sich noch vieles aufzählen. Wenn nun die Simu-lation einer Erfahrung für die Erfahrung mit dem Frem-

den genommen wird, so wird die Distanz zwischen Ei-genem und Fremdem eingeebnet. Das Fremde erscheintgar nicht mehr als Anderes, sondern es wird domesti-ziert – doch ohne, und dies ist entscheidend, diese Vor-gehensweise offenzulegen. Deswegen sollte zumindestdie Differenz zwischen einer Simulation und einer Er-fahrung im Kontext des Fremden thematisiert werden.Die eigene Lebenswelt wirdsonst ohne Umschweife inden Verstehensprozesstransportiert, so dass dasSubjekt im Verstehens-prozess, die SchülerInnen,nicht den Zweifel erfahren,die eigenen Verstehensvor-aussetzungen auf das Frem-de zu übertragen. So könn-te z.B. die Erwartung desExotischen bestätigt wer-den, ohne dass ein Re-flexionsprozess die ‚Eigen-tümlichkeit’ des Fremdenzur eigenen Lebenswelt inBeziehung setzt.14

Doch es lässt sich nochein weiteres Problem in derAnalyse des Beispiels festhalten: Wofür eigentlich stehtdiese Simulation einer Erfahrung? Ich vermute, dass einweiteres Ziel einer solchen Inszenierung darin besteht,das Verstehen einer uns fremden Kultur zu befördern.Doch auch hier liegt wiederum ein Kurzschluss vor. Selbstwenn diese Erfahrung, die die SchülerInnen machen,eine wirkliche Erfahrung mit oder in der fremden Kul-tur wäre, so frage ich mich, inwiefern sie für diese Kultursteht? Wofür ist sie typisch? Dass Trommeln typisch seifür – womöglich die – afrikanische Kultur scheint unge-fähr so abwegig wie zu denken, ein Fremder, der bisherkaum mit unserer Kultur in Berührung gekommen ist,würde Wesentliches verstehen, wenn wir ihm einen Songvon Platz Eins der Charts vorspielen würden. Was alsosind die Essentials, von denen wir meinen, jemand müsstesie verstanden haben, um Wesentliches einer Kultur oderReligion verstanden zu haben? Oder um noch einmal andie vorne kurz angerissene Diskussion in der Philoso-phie zu erinnern: Was ist die Bedeutung der vorgeführ-ten Praxis, des vorgeführten Objekts, und welchen Stel-lenwert hat diese Praxis in der Gesamtheit der Kultur?Auch eine Reflexion dieses Arguments fehlt im vorlie-genden Beispiel.

Und schließlich noch mein letzter Einwand: Ist dieErfahrung der Verstehensprozess selbst, oder in welchemVerhältnis stehen Erfahrung und Reflexion? Ohne Re-flexion ist die Simulation afrikanischer Musik nur einErlebnis, ein Gefühl, aber keine Erfahrung und erst rechtkein Verstehen. Das Verstehen des Fremden – unterder eingangs genannten skeptischen Fragestellung, in-wiefern dieses überhaupt möglich ist –, kann erst dann

Tag der Fachdidaktiken 2002Verstehen und Urteilen in LER

„Dass Trommeln typisch sei fürdie afrikanische Kultur, scheint

ungefähr so abwegig, wie zu den-ken, ein Fremder, der bisher kaum

mit unserer Kultur in Berührunggekommen ist, würde Wesentliches

verstehen, wenn wir ihm einenSong von Platz Eins unserer

Charts vorspielen würden.“

von A. Kopetzky (1998).10 H.-J. Pandel weist zurecht darauf hin, dass es antihermeneutisch sei, in einem administrativen Prozess in der Schule Verstehenerzwingen zu wollen. Verstehen könne nun einmal nicht verordnet werden, was die Aufforderung „Die Schüler sollen verstehen...!“ wider-sprüchlich und sinnlos macht. (Pandel 1991, 22)11 Dies gilt jedenfalls für das Land Brandenburg, in dem der Ausländeranteil verschwindend gering ist.12 Nach dieser empirischen Untersuchung werden religionskundliche Themen im LER-Unterricht einerseits seltener behandelt als Themendes L- und E-Bereichs, andererseits fällt auch die Integration der R-Komponente in einzelne Unterrichtsthemen schwer. (Edelstein u.a.

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beginnen, wenn das Fremde fremd bleiben darf undwenn das gemeinsame Nachdenken im Unterricht nichtdurch ein Erleben ersetzt wird. So ist es zwar für einenerfahrungsbezogenen Unterricht wichtig, SchülerInnenin Kontakt mit Fremdem oder Fremden zu bringen;doch ein Erleben des Fremden, auch in handelnder Aus-einandersetzung, kann erst dann zu einem Verstehen bei-

tragen, wenn die Reflexion desErlebten das Exemplarischedeutlich werden lässt. Das Er-lebte mag einen nachhaltigenEindruck hinterlassen und, wieFritz Oser sagt, „biographisch

entscheidend“ sein (Edelstein u.a. 2001, 159), doch einesolche Nachhaltigkeit gewinnt die Unterrichtsepisode inder Generalisierung, Systematisierung und Verknüpfungmit anderen Episoden. Wofür steht das Erlebte? Wasverstehe ich von der fremden Kultur oder Religion? Wieunterscheidet es sich von unserer Sicht der Dinge? Hatdie Fremdwahrnehmung eine veränderte Selbstwahr-nehmumg zur Folge? Dies wären einige der Fragen, dieein Erlebnis in die Richtung eines Verstehensprozessesbefördern könnten.

Eine letzte Überlegung, die über eine hermeneu-tisch inspirierte Herangehensweise an das Fremd-verstehen hinausgeht und auch den Rahmen des analy-sierten Beispiels sprengt, möchte ich noch anfügen. Wielässt sich das Objekt im Verstehensprozess entwick-lungsadäquat vermitteln? In der Entwicklungspsycho-logie und der Religionspädagogik gibt es zwischenzeit-lich Untersuchungen, wonach das religiöse Verstehenin verschiedenen Altersstufen auf verschiedenen For-men der Wahrnehmung des Selbst in seiner Beziehungzu einer transzendenten Welt basiert. So weist beispiels-weise der Religionspädagoge Friedrich Schweitzer(Schweitzer u.a. 1997) in einer Untersuchung nach, dassdas Verständnis von Gleichnissen in verschiedenen Al-tersstufen sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.SchülerInnen können die Quintessenz der überschie-ßenden Gnade Gottes in den Reich-Gottes-Gleichnis-sen erst verstehen, wenn ihr Verständnis von Gerech-tigkeit über die Vorstellung hinaus geht, dass Gerech-tigkeit die gleichförmige Ausbalancierung von Interes-sen bedeute. Dieses Beispiel zeigt, wie entscheidend esist, beim Fremdverstehen auch die entwicklungs-psychologische Reflexion im Unterricht zu berücksich-tigen. Sie betrifft sowohl das Subjekt wie das Objektdes Verstehens: das Subjekt insofern als seine Versteh-ensvoraussetzungen die Tiefe des Verstehens beeinflus-sen. Auf das Beispiel der Gleichnisse bezogen, bedeu-tet dies, dass SchülerInnen der frühen Sekundarstufe Iwohl häufig deren Zentrum verborgen bleibt. Deshalbsollten auch entwicklungspsycholgische Überlegungendas Objekt des Verstehensprozesses strukturieren.Dementsprechend wäre nicht nur bedeutsam, was diewichtigen Bestandteile einer Kultur oder Religion sind,sondern auch, wie welche Bestandteile in welchem Al-ter Unterrichtsgegenstände sein können.15

Zusammenfassend möchte ich noch einmal betonen,dass der hermeneutische Zweifel im wertorientiertenUnterricht davor bewahrt, in Unterrichtserfahrungen mitdem Fremden naiven Unterstellungen Vorschub zu lei-sten. Eine erfahrungsbezogene und gleichzeitig herme-neutisch inspirierte Auseinandersetzung mit einer frem-den Kultur oder Religion könnte auch den Vergleichzwischen der eigenen und der fremden Lebenswelt be-fördern und so eine Distanz zu den eigenen unhinter-fragten Selbstverständlichkeiten herstellen. Doch Ver-stehen ersetzt nicht die kritische Reflexion der fremdenKultur und der eigenen Einstellung gegenüber demFremden. Beides liegt nicht in der unmittelbaren Kon-sequenz des Fremdverstehens. Deswegen werde ich jetztdem Urteilen im (LER-)Unterricht einen eigenen Ab-schnitt widmen, um dann abschließend zu klären, wel-che Verknüpfung mir alternativ zwischen dem Verste-hen und dem Urteilen plausibel erscheint.

3Das moralische Urteilen ist Bestandteil des täglichenLebens, Kinder und Jugendliche lernen es in Aus-

einandersetzungen in der Familie und mit Gleichaltri-gen. Doch ebenso ist es ein Bestandteil schulischen Ler-nens aller Fächer, speziell aber wertorientierter Fächerwie Ethik und LER. Wenn nun moralisches Lernen Teileiner täglichen Lebenspraxis ist, stellt sich für die Schulebesonders eindringlich die Frage nach dessen besonde-rer Qualität und nach dem Erfahrungsbezug der schuli-schen Moralerziehung. Über diese Problemkonstellation

Tag der Fachdidaktiken 2002Verstehen und Urteilen in LER

„Das Verstehen des Fremden kann erst

dann beginnen, wenn das Fremde fremd

bleiben darf.“

Foto: Frau Dr. Kenngott spricht.

2001, 283ff)13 Ich beziehe mich auf den Entwurf von Gudjons (1997).14 Guillaume bezeichnet dies als „gewöhnlichen Exotismus“. (Baudrillard/ Guillaume 1996, 8)15 Fritz Oser, der zentral die Stufen der religiösen Entwicklung ausgearbeitet hat, formuliert in den Empfehlungen des Beirats für LER alsKonsequenz einer solchen entwicklungspsychologischen Herangehensweise die Entwicklung eines Spiralcurriculums. (Edelstein u.a. 2001,143ff)16 Ausführlich beschrieben wurde der just-community-Ansatz in: Oser/ Althof 1992.

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wurde am ausführlichsten im Anschluss an LawrenceKohlberg debattiert. Diese Form der Moralerziehungkristallisierte sich zuerst vorwiegend um die Diskussionmoralischer Dilemmata. Doch schon Kohlberg selbstentwickelte seit Ende der siebziger Jahre ein Modell derSchule als ‚gerechter Gemeinschaft’. Fritz Oser, der demwissenschaftlichen Beirat von LER angehörte, und an-dere haben dieses Modell in der Praxis erprobt undweiterentwickelt.16 Der grundlegende Gedanke ist, dassMoral im Prozess des Aushandelns und Debattierens vonRegeln gelernt wird. Moralische Entwicklung kommtnicht aus der Aneignung theoretischen Wissens, sondernist der Erfolg einer Praxis. Auch hier also findet sich derGedanke wieder, der in den handlungsorientierten Un-terricht Eingang gefunden hat: dass Erfahrung ein we-sentlicher Bestandteil eines Lernprozesses ist. Die Klas-se, ja die Schule selbst wird als ein moralischer Raumverstanden, in dem die SchülerInnen Regeln des Zusam-menlebens entwickeln. In solch erfahrungsbezogenemLernen spiegelt sich die Einsicht wider, dass Moral einkomplexes Phänomen ist: Es müssen nicht nur kogniti-ve, sondern auch affektive Leistungen und Leistungenin der Wahrnehmung anderer Personen vollzogen wer-den. Man spricht dabei heute meist von Perspektiven-übernahme und meint damit, dass eine wichtige Bedin-gung, um moralisch handeln zu können, in der Fähigkeitbestehe, die Perspektive des Anderen einzunehmen. DerPhilosoph Ernst Tugendhat spricht davon, dass es bei-spielsweise schwer falle zu stehlen, wenn man sich vor-stelle, wie es dem Opfer, dem Bestohlenen, erginge -und man selbst, dies sei hinzugefügt, nicht so behandeltwerden möchte. (Tugendhat / López/ Vicuña 2000, 27f).Diese Fähigkeit, sich in andere hineinzudenken und an-dere zu berücksichtigen, lernen Kinder nur, wenn siesich über moralische Konflikte auseinandersetzen undtragfähige Lösungen finden müssen. Man könnte alsosagen, dass das Verstehen der Positionen anderer, ihrerArgumente, aber auch ihrer Interessen, eine Bedingungdafür ist, zu gerechten Vereinbarungen zu kommen.

Doch wozu braucht man überhaupt die Schule alseinen solchen Raum des erfahrungsbezogenen morali-schen Lernens? Ich möchte im Folgenden zwei Überle-gungen skizzieren, bei denen es aus entgegengesetztemBlickwinkel um die Frage geht, inwiefern die Schule über-haupt der richtige Ort ist, um die Entwicklung des mo-ralischen Urteils zu befördern.17

A) Die Schülerinnen kommen mit moralischen Vor-stellungen, die sie andernorts, v.a. in der Familie und derpeer-group, erworben haben, in die Schule. Umstrittenist dabei, wie wichtig der Beitrag der peer-group zumMoralerwerb ist. Kohlberg selbst betrachtete ihrenEinfluss eher skeptisch, weil der Druck der Gruppe zueiner Anpassung zwingt, die die Beteiligten immer wie-der auf die Perspektive der kleineren Gruppe festlegt.Doch in den letzten Jahren wurden auch andere Stim-men laut, die Argumente vorbrachten, die schon Piagetskizziert hatte. (Youniss 1994; Krappmann 2001) DieGruppe der Freunde ist demnach ein Übungsfeld des

Moralischen, weil Freunde sich nicht gegenseitig scho-nen, sich kennen und offen zueinander sein können. Hierfällt der Perspektivenwechsel leichter, und es müssenLösungen gefunden werden, die die gegenseitigen Be-ziehungen nicht gefährden. Scheinlösungen werden vielschneller entlarvt. Doch welchen Platz hat dann die Schu-le beim Moralerwerb, wenn andernorts entscheidendeErfahrungen im moralischen Lernen stattfinden (oder– viel schlimmer noch – vielleicht auch nicht stattfin-den)? In der Schule sollte Moralerziehung jedenfalls nichtüber die Köpfe Kinder und Jugendlicher hinweg betrie-ben werden, so das Argument des skizzierten sogenann-ten progressiven Ansatzes der Moralerziehung. Diemoralische Entwicklung kann im Unterricht dann vor-angebracht werden, wenn an vorhandene Denk- undArgumentationsstrukturen angeknüpft wird. Erst wenndiese in der Argumentation nicht mehr genügen, wer-den sie auf einer höheren Stufe rekonstruiert. Dies kannnur in einem Raum geschehen, in dem die Lebensweltder SchülerInnen Berücksichtigung findet und in demsie gleichzeitig gefordert sind, in der Diskussion in derKlasse die eigenen Argumente zu verbessern. In derSchule bestünde demnach dieChance, das moralische Lernenzu unterstützen, wenn es gelän-ge, die vorhandenen Argumen-tationsstrukturen im Erfah-rungsraum Schule aufzunehmenund weiterzuentwickeln.

B) Das zweite Argument, das sehr grundsätzlich andieser Art der Moralerziehung zweifeln lässt, bestehtdarin, dass Schule selbst als leistungsorientierte Instituti-on wenig geeignet ist für solch erfahrungsbezogene Lern-prozesse. Doch die Schule, so lässt sich einwenden, be-inhaltet immer zwei Seiten der sozialen Interaktion, auchin Schulen, die die kognitive Seite des Lernens stark be-tonen. Sie ist nicht allein ein Ort leistungsbezogener In-teraktion und Bewertung und zielgerichteten Erwerbssachlicher Kompetenz, sondern es finden sich auch an-dere soziale Beziehungen verschiedenster Art. In derKlasse selbst gibt es neben Freundschaftsbeziehungenauch Beziehungen rein sachlicher Art, aber auch solche,die durch Abneigungen oder Vorurteile geprägt sind.Für moralische Diskussionen ist dies besonders günstig,denn anders als in der peer-group können moralischeDiskussionen sachorientierter und zielbezogener geführtwerden. Gerade die Lehrkraft ist hier besonders gefragt,die Kraft besserer Argumente zielgerichtet zu fördern(+1-Konvention). Und gerade die unterschiedliche Qua-lität der Beziehungen in einer Klasse kann die Bedeut-samkeit moralischen Argumentierens voranbringen. Esmüssen nun auch Lösungen mit Personen gefunden wer-den, zu denen die SchülerInnen nicht in einer näherenBeziehung stehen. Dies erhöht nicht nur die Möglich-keiten zur Perspektivenübernahme, sondern zwingt auchdazu, andere Sichtweisen in die eigene Argumentationmit einzubeziehen. So scheint gerade das zielbezogeneund sachliche Argumentieren im Klassenverband eine

Tag der Fachdidaktiken 2002Verstehen und Urteilen in LER

„In der Schule sollte Moralerziehung

nicht über die Köpfe der Kinder und

Jugendlichen hinweg betrieben werden.“

17 Beide Argumente diskutiert Krappmann 2001 sehr ausführlich.

Est enim proprium stultitiae aliorum vitia cernere, oblivisci suorum.(Cicero, Tusculanae disputationes 3. 73)

Es ist nämlich eine Eigenart der Torheit, die Fehler Fremder zu erkennen, die eigenen zu vergessen.

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Möglichkeit des moralischen Lernens zu bieten, die vor-wiegend in der Schule verwirklicht werden kann. Inso-fern ist vielleicht gerade die Schule ein Ort, an dem dieErfahrung gemeinsamen Aushandelns von Regeln dasmoralische Urteil befördern kann.

So kann man zusammenfassend sagen, dass das mo-ralische Urteilen eine vom (Sinn-)Verstehen eindeutigzu unterscheidende Herangehensweise in der Schule er-forderlich macht. Beim moralischen Urteilen steht dasBewerten eigenen und fremden Handelns im Mittel-punkt, wobei das zentrale Medium des moralischen Ur-teils das Argument ist. Trotz dieses deutlich kognitivenAnspruchs lässt sich beim moralischen Lernen, vielleichtnoch mehr als beim Verstehen, eine produktive Wirkungdes Erfahrungsbezugs plausibel machen. MoralischesLernen ist ohne Erfahrung undenkbar. Doch auch beimmoralischen Lernen steht die Entwicklung des begriffli-chen Erfassens und des zielgerichteten Argumentierensmit der Öffnung der Schule hin zur Lebenswelt von Kin-dern und Jugendlichen in Verbindung.

4Zuletzt möchte ich noch auf mögliche Beziehungenzwischen dem Vorgang des Verstehens und dem des

Urteilens eingehen. Der eingangs zitierte Satz, wonachalles zu verstehen alles zu verzeihen bedeute, kommt ei-nem etwas oberflächlichen Multikulturalismus in der Päd-agogik entgegen. Doch ich möchte eine andere Verknüp-fung der beiden Vorgänge vorschlagen: In der Auseinan-dersetzung mit fremden Lebenswelten kann man auchdie Grundlage für eine faire Berücksichtigung andererKulturen und Religionen sehen. Dies würde nicht bedeu-ten, das Verstandene kritiklos hinzunehmen oder auf dieheilende Wirkung des Fremdverstehens beim Zusammen-leben mit Fremden zu hoffen. Doch das Verstehen könntefür ein erweitertes Verständnis von Gerechtigkeit entschei-dend sein und insofern die Chancen des Zusammenle-

bens mit anderen Kulturen und Religionen verbessern.Doch diese Vorstellung widerspricht weiten Teilen des

durch Aufklärung und Säkularisierung geprägten Denkens.Die Vorstellungen vom modernen Staat wie von eineruniversalistischen Ethik beruhen auf der Strategie derAusklammerung. Dementsprechend ließe sich nur zurechtlich und moralisch tragfähigen Lösungen kommen,wenn von der Verstrickung von Personen in ihre Lebens-formen abstrahiert würde und zwar der aller Beteiligtengleichermaßen. Die Unparteilichkeit gegenüber Personenund Gruppen und daraus folgend ihre Gleichbehandlungsei nur gewährleistet, wenn von deren konkreten Umstän-den abstrahiert würde. Dieses Grundbekenntnis des Li-beralismus wurde bekanntermaßen in den vergangenenJahrzehnten aus verschiedenen Richtungen in Zweifelgezogen, denn nicht zuletzt hat gerade diese Ausklamme-rung kultureller und religiöser Traditionen sich zunehmendals problematisch beim Zusammenleben verschiedenerKulturen und Religionen erwiesen. Der Philosoph CharlesTaylor hat vielleicht am eindringlichsten die Frage gestellt,ob die Ausklammerung des kulturell und religiös gepräg-ten Hintergrundes von Gruppen wirklich zu einer Gleich-behandlung in der Gesellschaft führe oder nur Ungleich-heit unter dem Deckmantel des Universalismus reprodu-ziere. (Taylor 1993)

Diese Debatte hat auch Folgen für das Verhältniszwischen Verstehen und Urteilen. Die Berücksichtigungkulturell geprägter Besonderheiten kann nur auf derGrundlage des Verstehens solcher Besonderheiten ge-schehen. Dann würde aber nicht gewissermaßen vonselbst eine moralische Haltung des Respekts aus demVerstehen erwachsen. Das Verstehen des Fremden wäreals Versuch zu sehen, Gerechtigkeit nicht als Folge einerAbstraktion von konkreten Lebensumständen zu be-trachten, sondern unter Einbeziehung der Perspektivedes Anderen.

Tag der Fachdidaktiken 2002Verstehen und Urteilen in LER

• Baudrillard, Jean/ Guillaume, Marc (1996): Das Andere,anderswo. In: dies.: Reise zu einem anderen Stern, Berlin:Merve Verlag, S.7-62.• Borries von, Bodo (2001): Fachspezifische Lernkultur undhistorisches Bewusstsein. In: kentron, Journal zur Lehrerbil-dung der Universität Potsdam zum Tag der Fachdidaktiken2001, S.18-31.• Deloch, Heinke (1997): Verstehen fremder Kulturen. DieRelevanz des Spätwerks Ludwig Wittgensteins für die Sozialwis-senschaften. Frankfurt: IKO-Verlag.• Dies. (2000): Religiöse Sprachspiele zwischen Immunität undKritik. In: Lütterfelds, Wilhelm/ Mohrs, Thomas (Hg.):Globales Ethos. Wittgensteins Sprachspiele interkulturellerMoral und Religion, Würzburg: Verlag Königshausen &Neumann.• Edelstein, Wolfgang/ Grözinger, Karl E./ Gruehn, Sa-bine/ Hillerich, Imma/ Kirsch, Bärbel/ Leschinsky,Achim/ Lott, Jürgen/ Oser, Fritz (2001): Lebensgestaltung– Ethik – Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfachs.

Literatur

Analysen und Empfehlungen. Weinheim/ Basel: Beltz Verlag.• Gudjons, Herbert (1997): Handlungsorientiert lehren und ler-nen. Schüleraktivierung – Selbsttätigkeit – Projektarbeit. BadHeilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.• Halbfas, Hubertus (1997): Das dritte Auge. Religions-didaktische Anstöße. Düsseldorf: Patmos Verlag.• Kopetzky, Annette (1998): Verstehen des Anderen. DasVerhältnis zwischen Selbst- und Fremdverstehen im interkulturellenDialog. In: EU edition ethik kontrovers 6 (1998), S.4-18.• Krappmann, Lothar (2001): Die Sozialwelt der Kinder undihre Moralentwicklung. In: Edelstein, Wolfgang/ Oser, Fritz/Schuster, Peter (Hg.): Moralische Erziehung in der Schu-le. Entwicklungspsychologische und pädagogische Praxis,Weinheim/ Basel: Beltz Verlag, S.155-174.• Muhlack, Ulrich (1998): Verstehen. In: Goertz, Hans-Jür-gen (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Ham-burg: Rowohlt Verlag, S.99-131.• Oser, Fritz/ Althof, Wolfgang (1992): Moralische Selbstbe-stimmung. Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich.

„Die Unparteilichkeit gegenüberPersonen und Gruppen und darausfolgend ihre Gleichbehandlung istnur gewährleistet, wenn von derenkonkreten Umständen abstrahiertwird. Dieses Grundbekenntnis desLiberalismus wurde bekannterma-ßen in den vergangenen Jahrzehn-ten aus verschiedenen Richtungen inZweifel gezogen, denn nicht zuletzthat gerade diese Ausklammerungkultureller und religiöser Traditio-nen sich zunehmend als problema-tisch beim Zusammenleben verschie-dener Kulturen und Religionen er-wiesen.“

Qui autem civium rationem dicunt habendam, externorum negant, ii dirimunt

communem humani generis societatem.(Cicero, De officiis 3. 28)

Wer behauptet, man müsse nur auf die Mitbürger Rücksicht nehmen und nicht auch auf die Fremden,zertrennt das Band, das die Menschheit vereint.

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Tag der Fachdidaktiken 2002Historisches Denken bei Schülern

Stuttgart: Klett-Cotta.• Pandel, Hans-Jürgen (1991): Verstehen und Verständigen.Hermeneutische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Hi-storik. In: ders. (Hg.): Verstehen und Verständigen, Pfaffen-weiler: Centaurus Verlag, S.11-23.• Schneider, Hans J. (1999): Propädeutik statt Therapie. EineAnmerkung zur Studienordnung ‚Lebensgestaltung – Ethik –Religionskunde’ der Universität Potsdam. In: Grözinger, KarlE./ Gladigow, Burkhard/ Zinser, Hartmut (Hg.): Religionin der schulischen Bildung und Erziehung. LER – Ethik –Werte und Normen in einer pluralistischen Gesellschaft,Berlin: Berlin Verlag, S.169-185.• Schweitzer, Friedrich/ Nipkow, Karl Ernst/ Faust-Siehl,

Gabriele/ Krupka, Bernd (1997): Religionsunterricht undEntwicklungspsychologie. Elementarisierung in der Praxis.Gütersloh: Chr. Kaiser Verlagshaus.• Taylor, Charles (1993): Multikulturalismus und die Politikder Anerkennung. Mit Kommentaren von Amy Gutmann (Hg.).Steven C. Rockefeller, Michael Walzer, Susan Wolf. Miteinem Beitrag von Jürgen Habermas, Frankfurt am Main:S. Fischer Verlag.• Tugendhat, Ernst/ López, Celso/ Vicuña, Anna Maria(2000): Wie sollen wir handeln? Schülergespräche über Moral. Stutt-gart: Philipp Reclam jun.• Youniss, James (1994): Soziale Konstruktion und psychischeEntwicklung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Verstehen, Erfahren, UrteilenZum Niveau historischen Denkens bei Elf- bis Zwölfjährigen

von Prof. Dr. Dagmar Klose, Historisches Institut, Didaktik der Geschichte, Universität Potsdam

Bevor ich unseren gemeinsamen thematischen Faden,bezogen auf historisches Lernen, weiterspinne,

möchte ich einen Aspekt hinzufügen, den ich für sehrbedeutsam erachte: Das Beispiel kommt aus dem Religi-onsunterricht, und die Geschichte wird von dem bereitszitierten Entwicklungspsychologen Fritz Oser erzählt:

In Graz habe ich im Rahmen einer Lehrveranstaltung überReligionspädagogik eine Religionsstunde an der Schule besucht. DerReligionslehrer ließ die Kinder aufzählen, was Gott für gute Ei-genschaften hat. „Gott ist allmächtig, gütig, gibt den Menschenalles, was sie brauchen, verzeiht ihnen ihre Sünden...usw.“ DieKinder zählten getreulich auf. Da habe ich mich zu Wort gemeldetund den Kindern eine Geschichte erzählt. „Es war einmal einMann, der hatte viel Geld, aber er hatte nie Zeit, nicht für seineFrau, nicht für seine Kinder und auch nie Zeit für Gott. EinesTages wurde er plötzlich schwer krank, er musste mit einem Herz-infarkt ins Krankenhaus. Als es ihm so schlecht ging, begann er,an Gott zu denken, weil er Angst vor dem Tod hatte.“ Ich fragtedie Kinder: „Was glaubt ihr, denkt Gott jetzt auch an den Mann?“Alle Kinder meldeten sich und riefen empört: „Natürlich nicht,nein, natürlich nicht! Der Mann hatte vorher keine Zeit für Gott.Da hat jetzt Gott auch kein Mitleid. Jetzt hat Gott auch keineZeit für ihn.“ Ein Kind fand, der Mann sollte in den Keller ge-sperrt werden, weil er früher nie Zeit hatte. Die Kinder fanden esrichtig und gerecht, daß er jetzt einen Herzinfarkt hatte. Sie fan-den, er sollte bestraft werden. Empört stand der Religionslehrerauf: “Aber ich habe euch doch beigebracht, dass Gott gut ist!

Wir sehen am Beispiel anschaulich, wie sich zwischender Vermittlungsabsicht des Lehrers und dem real ent-standenen Konstrukt bei den Kindern Wände auftun.Wie so oft gehen Erwachsene mit Selbstverständlichkeitvon ihrer eigenen Welt aus, ihrem Konzept, ohne dasentwicklungspsychologisch gegebene Konzept der Kin-

der als Bedingung der Aneignung wirklich zu berück-sichtigen. Während sich das moralische Urteil der Kin-der noch auf der Entwicklungsstufe des „Auge um Auge,Zahn um Zahn“ befindet, hat der Lehrer selbstverständ-lich keine Schwierigkeit, das Gottesbild mit dem post-konventionellen Konzept des moralischen Urteils inEinklang zu bringen, das die universale Menschenliebeüber Vergeltungsakte stellt und das er bei den Kindernvoraussetzt. Dabei ist es ein glücklicher Umstand, dassdie Dilemma-Geschichte solche Verstehens-Blockadenüberhaupt zutage fördert. Wenn in der Schule vorrangigWissen transportiert wird, ohne dass dessen Veranke-rung im Bewusstsein des Kindes genügend Aufmerksam-keit gewidmet wird, bemerken wir die Desiderata in derRegel erst in Problem- oder Transfersituationen, derenLösung ein wirkliches fachliches Verständnis erfordern.1

Verwenden Kinder dieser Stufe beispielsweise Begriffe,so mögen deren Worthülsen wohl mit denen von Er-wachsenen identisch sein; der damit verbundene Sinnist es mit Sicherheit nicht. Glücklicherweise verhaltensich Kinder überaus widerständig gegenüber Angriffender Erwachsenenwelt auf den Raum ihrer Kindheit.Manchem erscheinen die kindlichen Äußerungen u.U.als „abstruses, triviales, ahistorisches oder prähistorischesGeschichtsbewusstsein“.2 In Wahrheit kennen wir diedahinter liegenden Konzepte und psychischen Vorgän-ge zu wenig, und wenn wir sie im Allgemeinen kennen,so sind wir doch sehr unsicher im fachspezifisch-histori-schen Bereich.

Ich möchte an den Geschichtsdidaktiker Bodo vonBorries anknüpfen, der vor einem Jahr an diesem Ort,resümierend nicht nur aus deutschen, sondern auch auseuropäischen Studien zum Geschichtsbewusstsein die

Prof. Dr. Dagmar Klose,Historisches Institut, Didak-tik der Geschichte, Universi-tät Potsdam.Tel.: 0331 - 977 [email protected]

1 Dies ist bei weitem nicht nur ein Problem des Unterrichtsfaches Geschichte und nicht erst seit PISA. Vgl. Howard Gardner: Derungeschulte Kopf. Wie Kinder denken. Würzburg 2001. 4.Aufl.2 Wir verweisen auf die Diskussion zum sog. trivialen Geschichtsbewusstsein, insbesondere die Argumentation von Rolf Schörken, in:Volkhard Knigge: „Triviales“ Geschichtsbewusstsein und verstehender Geschichtsunterricht. Pfaffenweiler 1988, S. 23 ff.

Geschichte ist die Biographie der Menschheit.Ludwig Börne

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Schlussfolgerung formuliert hat: „Es kommt in hohemMaße darauf an, die Fähigkeit zum Fremdverstehen zu entwik-keln und zu stärken. Auffallend ist nämlich die Neigungder Jugendlichen, von heutigen Maßstäben [...] aus zuurteilen und sich nicht auf die tiefe Andersartigkeit derVergangenheit einzulassen. Anders gesagt: Die Jugendli-chen „hüpfen“ nur auf dem Bein „aktualisierend-mora-lischer Wertung“, statt methodensicher auf den beidenBeinen historischer Erkenntnis („emphatische Rekonstruk-tion“ und „abgewogenes Werturteil“)3 voranzuschreiten.“

Wir müssen für die Ergebnisse des traditionsreichenUnterrichtsfaches Geschichte im Grunde ähnliche Pro-bleme benennen wie für das vergleichsweise junge Fach

LER. Es handelt sich hierbeikeinesfalls um ein marginalesProblem, sondern um dasHerzstück fachspezifischerEpistemologie, das Verstehen,Erklären, Urteilen. Da sich dieErgebnisse in Intervallen be-

stätigen, lassen sie sich auch nicht dem Zufall überant-worten. Müssen wir Zweifel an den Zielkategorien desFaches anmelden oder aber an unserer durchschnittli-chen Lernkultur? Beides wird zu prüfen sein.

Es ist ein Problem konstatierender Forschungsme-thoden, dass sie empirische Daten in der Regel in einer alstraditionell zu bezeichnenden Praxis erheben. Für dieTheorie und Praxis historischen Lernens wird seit länge-rem dessen noch auszuarbeitende „Lernstruktur undEntwicklungslogik“4 angemahnt. In gewissen Grenzenkann das hypothetisch-wissenschaftliche Arbeit leisten.Dennoch wäre es auf neue Weise problematisch, dies aus-schließlich aus dem wissenschaftlichen Denken Erwach-sener zu konstruieren. Die Originalität kindlichen Den-kens kann man nur in der Praxis aufspüren. Unter denzur Verfügung stehenden Forschungsmethoden ist dasFeldexperiment vorzüglich geeignet, unter natürlichen,d.h. Praxisbedingungen, auf der Grundlage leitender (Kau-sal-) Hypothesen gerade problematische Felder zu erkun-den und/oder innovative Lernansätze zu prüfen.

Auf diese Weise erkunden seit 1999 Forschungs-lehrerinnen unter fachdidaktischer Begleitung die Ontoge-nese historischen Denkens in den Jahrgangsstufen 5 und 6.5

Geschichtsbewusstsein und historischesDenken im ontogenetischen Kontexthistorischen Lernens

Wenn Kinder vergangene Lebenswelten verstehen,erklären, beurteilen und deuten sollen, agieren

Komponenten miteinander, die sehr unterschiedlichenBezugsystemen zugehörig sind: das Ich (Wir), aber auchdas Du (Ihr), also Selbst- und Fremdbild, an Erfahrunggeknüpfte Erinnerung, Sozialität (Gruppenbezug,, Mi-lieu), historisches Alltags- oder Erfahrungswissen undausgebildete fachspezifische Kompetenzen. Erwachse-ne wie Kinder versuchen in einem permanenten (unbe-wußten) Balanceakt eine Symmetrie ihrer Identität zwi-

schen den Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwartund Zukunft herzustellen bzw. aufrecht zu erhalten. Esist offenkundig, dass wir ein weitgefasstes Relevanzsystemzur Interpretation der Befunde im Blick haben müssen.Neben den bekannten geschichtstheoretisch-didakti-schen Rastern von Jeismann, Pandel, v. Borries und Rüsendenke ich insbesondere an Entwicklungs- und Stufen-theorien (Piaget, Wygotski, Flammer, Fowler, Kohlberg,Selman, Erikson). Es ist bekannt, dass sich einzelne psy-chische Bereiche, die am Aufbau von Geschichtsbewusst-sein beteiligt sind, in unterschiedlichem Maße entwik-keln. Man wird deshalb keine homogenen Entwicklungs-stufen allgemeiner Art beschreiben können, weil die ein-zelnen Faktoren inkommensurabel sind. Schließlich er-achten wir aus diagnostischen Gründen den opera-tionalen Begriff des historischen Denkens als zweck-mäßiger gegenüber dem sehr komplexen des Geschichts-bewusstseins.

Lehr-Lern-Konzept und experimentellerFaktor

Die Wahl eines gemäßigten konstruktivistischen An-satzes für historisches schulisches Lernen wird an-

gesichts unseres modernen Fach- und Lernverständnisseskaum in Frage gestellt werden können. Sinnhaftes Ler-nen ist immer ein aktiver, konstruktiver Vorgang mit demAufbau von Ko-Konstruktionen, selbst bei einem starkübermittelnden und reglementierenden Unterricht. Esist jedoch von Bedeutung, wie groß der Freiraum für dieLernenden ist, am Aufbau ihres Lerngegenstandes aktivmitzuwirken. Dies ist, wie anhand der obigen Ausfüh-rungen sicherlich nachzuvollziehen, nicht auf allgemei-ne Weise reglementierbar. Deshalb war es wichtig, eingemeinsames Lehr-Lern-Verständnis zu erarbeiten, wasangesichts der bekanntlich sehr guten psychologisch-pädagogischen Voraussetzungen von Grundschul-lehrerinnen als sehr fruchtbar gewertet werden kann. ImZusammenhang mit dem konstruktivistischen Lernan-satz ist unser Anspruch an inhaltlich und prozessual ganz-heitliches Lernen im Sinne der Erschließungskategorien(s. Rahmenlehrplan Geschichte für die Sekundarstufe I,Brandenburg) zu betonen. Zusammenfassend sollen dieOptionen Aufbau einer Tiefenstruktur des historischen Kon-textes (Schichtung des Lerngegenstandes), ganzheitliches Lernen,Bedürfnisadaption der Lerngegenstände und Verknüpfung vonGeschichte und Lebenswelt der Lernenden hervorgehoben wer-den.

Für historisches Lernen in der Grundschule erschei-nen hermeneutische Modelle als Strategien historischenDenkens entwicklungsangemessen; in der Geschichtswis-senschaft werden diese sowohl text- als auch handlungs-bezogen verstanden.6 Wie kann man das entwicklungs-typische Niveau dieser Modelle als eine Form historischenDenkens beschreiben? Nach Collingwoods Auffassung istes dem Historiker möglich, den Hiatus zwischen der Ver-gangenheit und dem Heute zu überbrücken und diePerspektive(n) „historischer“ Menschen einzunehmen;

Tag der Fachdidaktiken 2002Historisches Denken bei Schülern

„Die Originalität kindlichen Denkens

kann man nur in der Praxis

aufspüren.“

3 Borries, Bodo v.: Jugend und Geschichte. Ein europäischer Kulturvergleich aus deutscher Sicht. Opladen 1999, S. 3894 Vgl. Bodo von Borries: Krise und Perspektive der Geschichtsdidaktik – Eine persönliche Bemerkung. In: Geschichte lernen 15 (1990), S. 2 f.5 Zum Erfolg des Projekts haben neben unserem Projektmitarbeiter Dr. Clemens Bergstedt vor allem die Grundschullehrerinnen SieglindeBuchmann, Hammelspring, Petra Friedel, Potsdam, Birgit Kirchner, Brandenburg, Christel Kneppenberg, Strausberg, Gudrun Kuka,Potsdam, Simone Kuckel, Rathenow, Monika Löschke, Großziethen, Ute Schrey, Potsdam und Claudia Schröter, Königs Wusterhausenbeigetragen.6 Vgl. Lorenz, Chris: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Köln 1997, S. 97 – 146

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sein intentionales Erklärungsmodell, in dem Verstehen undErklären zusammenfallen, ist aus der Perspektive der Be-teiligten konzipiert. Ein solches intentionales Erklären, dasvon der Aussen- zur Innenseite einer Handlung geführtwerden kann, erscheint aus fachwissenschaftlicher wieentwicklungspsychologischer Sicht gleichermaßen ange-messen. Das entwicklungstypische Denkniveau kann sichvon der konkreten Ebene in verschiedenen Richtungenbewegen, so dass das Kind als „empirischer Historiker“durchaus die Handlungen historischer Personen em-pathisch mit- oder nachvollziehen kann, wenn es zugleichauf intentionale Weise in Strukturen der historischen Kon-texte eingeführt wird.7

Bekanntermaßen müssen die Versuchsbedingungenso gestaltet werden, dass der experimentelle Faktor un-ter hochgradig ähnlichen Bedingungen eingesetzt wer-den kann. Ein solcher Faktor wurde in Gestalt von Vi-deos mit konkreter, verbindlicher Arbeitsanweisung er-arbeitet. Die bisher drei eingesetzten Videos enthaltenje eine Konflikt- bzw. Dilemma-Situation. Die Ent-scheidungssituationen waren den Lehrerinnen also be-kannt, sie durften aber nicht im Unterricht behandeltwerden. Der historische Kontext zur Lösung des spezi-fischen Problems musste auf allgemeinere Weise vorhererarbeitet werden.

Die Arbeit mit Dilemma-Situationen in der Tra-dition von Kohlberg et al gilt als international aner-kannt und wird im deutschsprachigen Raum, bezo-gen auf verschiedene Bereiche der Moralerziehung,vor allem von Edelstein, Oser, Keller und Schusterrepräsentiert.8

Die ihnen zugrundeliegenden sozietären Konfliktsi-tuationen sind besonders geeignet, historisches Denkenzu aktivieren. Spitzen sich diese zu Dilemmata zu, soentstehen Situationen, für die es keine alle Seiten zufrie-denstellende Lösung gibt. Sie erfordern daher von denLernenden vielerlei Abwägungen von Interessen undKonsequenzen; dabei müssen sie vielfältige Kompeten-zen mobilisieren (s. auch weiter Lernbegriff im neuenRahmenlehrplan). Beziehen sich solche zugespitztenKonfliktsituationen auf historische Lebenswelten, soerfordern sie eine doppelte Perspektivierung: aus denIntentionen der historisch handelnden Personen und ausder distanzierteren Sicht der gegenwärtigen Subjekt-Position, die beim historischen Denken stets inbegrif-fen ist und sogar, wie oben zitiert, unzulässig dominie-ren kann. Möglicherweise kommt eine dritte Perspekti-ve hinzu: das „Lernen aus der Geschichte“.

Es ist folglich unerlässlich, die Theorie der morali-schen Erziehung um die historische Dimension, alsovertikal, zu erweitern. Es ist gerade unser Anliegen, vor-schnelles Moralisieren aus der lebensweltlichen Perspek-tive zu verhindern. Damit die gewünschten Denkpro-zesse aktiviert werden, sind einerseits Konfliktsituatio-nen von hoher Evidenz für die Kinder erforderlich, an-dererseits ist die emotionale Betroffenheit in Grenzenzu halten, damit diese nicht zur Barriere für die kogniti-ve Auseinandersetzung mit dem Konflikt wird.

Bevorzugte Konfliktentscheidungen

Kohlberg betont, dass nicht allein die Art der Kon-fliktlösung aufschlussreich ist, sondern gerade auch

die Art der Argumentation. Als „historisch“ bewertenwir die Entscheidungen der Kinder dann, wenn sie imgegebenen historischen Kontext angemessen erschei-nen bzw. wenn ihre „Widersetzlichkeit“ intentionalnachvollziehbar ist. Da in diesem Rahmen keine diffe-renzierte Entfaltung der Analyseergebnisse möglich ist,fasse ich wesentliche Resultate in Thesenform zusam-men:

Die Statistik weist aus, dass die überwiegende Mehr-heit der Kinder durchaus historisch angemessene Ent-scheidungen fällt und diese im wesentlichen im histori-schen Kontext urteilend verankert. Ungeachtet des des-

Tag der Fachdidaktiken 2002Historisches Denken bei Schülern

Anforderungsstruktur des experimentellen Faktors

Nos erste JagdProblemsituation: Vor Aufregung früh erwacht, bemerkt der Junge No, dass diegeplante, am Vorabend mit dem Jagdzauber vorbereitete Jagd der Hordegefährdet ist, da sich eine Herde von Tieren offensichtlich früher als erwartetdem Rastplatz nähert. No schwankt zwischen der Norm/Pflicht, die Hordezu informieren, und seinem Ehrgeiz, im Alleingang Ruhm als Einzelner zuernten.Problemanalyse: Der Grundkonflikt beinhaltet die schwierige Vereinbarkeit ehr-geiziger individueller Interessen mit den Regeln und Normen der Gemein-schaft, die Differenz zwischen Eigeninteresse und Gemeinnutz. Er ist jedochdurch eine Minimierung des Eigeninteresses auflösbar.Anforderungen: argumentative Entscheidung unter zwei Perspektiven: als Nound als Ältester, frei wählbare sprachliche Form

Der LosentscheidProblemsituation: Der Ältestenrat der Polis bestimmt die Auswanderung deszwanzigjährigen Kleistos per Losentscheid. Kleistos gerät in einen Konfliktzwischen der Gesetzeskraft des Losentscheides sowie seiner innigen Bezie-hung zum kranken Großvater und der schwierigen Situation in der familiärenLandwirtschaft.Problemanalyse: Der Grundkonflikt zwischen den Intentionen des Einzelnen,seinen Vorstellungen von Glück und den gesellschaftlichen Erwartungen, Nor-men und Forderungen ist nicht lösbar (Dilemma).Anforderungen: Fortschreiben der Geschichte, narrative Konfliktentscheidung

Das WürfelspielProblemsituation: Der Patrizier Cornelius Livius strebt ein Amt im Magistratvon Rom an und benötigt als Fürsprecher den Konsul Gaius Tullius. BeimWürfelspiel verliert Livius gegen Tullius seinen Sklaven Alexander, den be-sten Freund seines Sohnes Antonius. Es kommt zu einem dramatischen Ge-spräch zwischen Vater und Sohn.Problemanalyse: Der Grundkonflikt beinhaltet die Unvereinbarkeit gesellschaft-lich sanktionierter politischer Interessen mit allgemein-menschlichen Wertendes Einzelnen und ist nicht lösbar (Dilemma). Es ist zugleich ein Autoritäts-konflikt.Anforderungen: Führen des Dialogs zwischen Vater und Sohn: wechselndePerspektivität, argumentative, dialogische Konfliktentscheidung

7 Vgl. Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Köln 1997, S. 97 - 1468 Vgl. Wolfgang Edelstein u.a. (Hg.): Moralische Erziehung in der Schule. Entwicklungspsychologie und pädagogische Praxis. Weinheimund Basel 2001

Fabula docet.cf. Gellius, Noctes Atticae 17. 21,42

Die Geschichte lehrt.

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illusionären Charakters der Konfliktkonstellationen stre-ben die Kinder in der Tendenz eine „gute“ Lösung an;ein „gutes Ende“, wobei sie durchaus lebenspraktischesGeschick und viel Phantasie entwickeln.

Überwiegend bewegtsich das Denken derKinder innerhalb desvorgegebenen Kontex-tes; im Verlaufe desLernalters nimmt je-

doch die Einbeziehung externen historischen Wissensin erfreulichem Maße zu.

Die hermeneutischen Denkmodelle erweisen sichals affine Strategien; das Denken der Kinder vollziehtsich bevorzugt (wenn auch nicht bewusst) in Operatio-nen des intentionalen und auch des narrativen Modells.Die Kausalität der Urteile wird anfangs bevorzugt durchdie kausale oder konditionale Kette sprachlich realisiert;es zeigt sich aber auch schon ein kausales Netz. Quan-titativ ist die Mehrzahl der Kinder in der Lage, zweibegründende Elemente beim Urteilen anzuführen; dieobere Grenze liegt bei sieben. Repräsentativ ist jedochdie Bipolarität der Urteilsbildung (Monokausalität istfolglich nicht mehr charakteristisch für diese Stufe).Zudem ist ein starkes Gefälle zwischen den Kindernzu beachten.

Für besonders bemerkenswert erachten wir den Be-fund, dass nicht wenige Kinder bereits in der Lage wa-ren, Ambivalenzen zu formulieren. Im Vergleich zu ma-thematisch-naturwissenschaftlichen Fächern ist es beimhistorischen Lernen außerordentlich problematisch, dieKategorien richtig und falsch außerhalb der Zuordnungvon Daten und Fakten anzuwenden. Auch ist es eineLeistung, wenn die Kinder beginnen, sich aus dem al-ternativen Denken zu lösen und wenn sie lernen, dasSowohl – als Auch mitzudenken. Solche Leistungenführen unmittelbar an die didaktische Kategorie derPerspektivität heran. Diese Problematik möchte ich amBeispiel der dritten Teilstudie etwas eingehender dar-stellen.

„Das Würfelspiel“

Die Aufgabenstellung zum Video forderte eine dia-logische Gestaltung der Probleme, die sich in der

Folge der auf dem Video dargestellten Situation zusam-menballen. Die Lösung der Aufgabe verlangte von denKindern diesmal also erheblich mehr externes histori-sches Kontextwissen als in den beiden vorigen Prüf-situationen. Zugleich war mit dem Auftrag in Rollen zuschlüpfen eine Anforderungssituation gegeben, welchedie nach Selman definierten drei Ebenen der Rollen-übernahme, die von Kohlberg zum Konzept dersoziomoralischen Perspektive mit drei Hauptniveausweiterentwickelt wurden, um die historisch-vertikaleDimension erweitert.

Besonders war uns daran gelegen, zu erfahren, wieKinder dieser Entwicklungsstufe ihre Empathie mit derkognitiven Komponente9 des historischen Denkens ver-binden.

Konfliktentscheidungen

Es gelang der Mehrzahl der Kinder, nach Entfaltungdes Dialogs eine Entscheidung zu fällen, d.h. sie voll-

brachten eine Syntheseleistung. 7 Prozent allerdings hat-ten diese Entwicklungsstufe noch nicht erreicht; bei die-sen Kindern blieben Rede und Gegenrede zwar aufein-ander bezogen, aber letztlich formal-sprachlich „unent-schieden“ nebeneinander stehen. Man musste sich denAusgang selbst denken. Es ist dies ein Befund, wie wirihn in früheren Untersuchungen durchaus im Anfangs-

Tag der Fachdidaktiken 2002Historisches Denken bei Schülern

Hauptniveaus der sozialen Perspektive nach Kohlbergin Entsprechung zu den drei Hauptniveaus desmoralischen Urteils10

Moralisches Urteil Soziale Perspektive

I Präkonventionell konkret-individuellePerspektive

II Konventionell Perspektive einesMitgliedsder Gesellschaft

III Postkonventionell bzw. den gesellschaftlichenprinzipienorientiert Normen und Werten

übergeordnetePerspektive

Bezogen auf diese Niveaus hatten die Kinder die Möglichkeit,sich auf fachwissenschaftlich durchaus redliche Art und Weiseauf allen drei Ebenen urteilend zu bewegen. Nach einer knap-pen konkreten Darstellung der Ergebnisse wollen wir versu-chen, die fachspezifischen Befunde als historische Denkniveausder Übersicht zuzuordnen.

„Die Statistik weist aus, dass die Mehrheit

der Kinder durchaus historisch angemessene

Entscheidungen fällt.“

Foto: Frau Prof. Dr. Kloseim Gespräch mit Frau Prof.Dr. Blell

9 Dieser Ansatz der Verbindung von Empathie mit Kognition geht auf Mead zurück. Es muß gleichzeitig angemerkt werden, dass sich inder modernen Psychologie ein weiter Kognitionsbegriff durchgesetzt hat, der die emotionale Komponente mit einschließt. In diesem weitenSinne verstehen auch wir Kognition. Mead, G.H.: Mind, self, and society. Chicago, IL 1934: The University of Chicago Press. Zitiert in:Schuster, Peter: Von der Theorie zur Praxis – Wege zur unterrichtspraktischen Umsetzung des Ansatzes von Kohlberg. In: Edelstein,Wolfgang u.a. (Hrsg.): Moralische Erziehung in der Schule. A.a.O., S. 177 – 212, 182. Zum Verhältnis von Emotion und Kognition vgl.u.a.: Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen 1997, Vandenhoeck &Ruprecht; Bruner, Jerome S.: Sinn, Kultur und Ich-Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns. Heidelberg 1997; Battacchi, Marco W. u.a.:

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unterricht (5. Schuljahr) häufig vorfanden. 38 Prozentstimmten der historisch angemessenen, konventionel-len Entscheidung letztlich zu, den Sklaven an SenatorGaius Tullius zu übergeben. Davon erhärteten 24 Pro-zent diesen Beschluss mit milden bis härtesten Strafenfür den widersprechenden Sohn. 13 Prozent allerdingstrafen eine Entscheidung aus der konkret-individuellenPerspektive: Der Vater Cornelius Livius nimmt in Folgeder Überzeugungskunst des Sohnes seine frühere Ent-scheidung zurück. Schließlich halten 7 Prozent den Aus-gang offen. Manche erhoffen bei Anberaumen eines er-neuten Würfelspiels den väterlichen Sieg, andere erklä-ren das Einverständnis des Senators mit einem andern

Sklaven; etliche un-terbreiten lebens-praktische Vor-schläge des Sohnes,die Leistung desSklaven mit „abzu-arbeiten“, das Ta-

schengeld zu spenden oder auch gemeinsam zu fliehen.Für 8 Prozent stellte das Problem offensichtlich eineÜberforderung dar. Zugleich erleben wir eine sehr in-teressante historische Ausprägung des Autoritätskonflikts.In der Tendenz gelingt es der Autorität des Vaters, mit-unter durch sachliche Argumente und auch in der Dikti-on, die Entscheidung überzeugend herbeizuführen. Aberes gibt auch durchaus Beispiele für die Dominanz desSohnes; das ist wahrscheinlich ein Verweis auf die nächsthöhere, pubertäre Stufe. Die meisten Merkmale lassensich Fowlers Stufe 2 zuordnen, der „mythisch-literalen“11,doch wir sehen auch Bewegungen innerhalb der Stufeund erste Versuche sie zu überwinden.

Begründungen der Konfliktentscheidung

Begründungen des Sohnes:Das Freundschafts-Motiv ohne Wenn und Aber ist für89 Prozent der Kinder entscheidend; es ist ein unhin-terfragbarer humanistischer Wert, dessen Begründungs-struktur enthistorisiert erscheint. Hier wirkt offensicht-lich eine Totalidentifikation bei der Perspektivenüber-nahme, die idealisierte lebensweltliche Vorstellungen indie Vergangenheit transportiert. Logischerweise ist da-mit eine moralische Argumentation verbunden. In be-merkenswerter Weise werden in einigen Fällen das durch-aus sachangemessene Problembewusstsein sowie eine ad-äquate kognitive Auseinandersetzung durch einen sehrstarken Empathie-Anteil blockiert. Das „Gewissen“, wiediese Kinder sagten, hindere sie an einer anderen Ent-scheidung bzw. Begründung. Immerhin zeigt sich schonin Ansätzen – bei 4 Prozent – eine Höherstufigkeit desmoralischen Urteils als ein empirischer Ausdruck uni-versaler Menschenrechte.

Begründungen des Vaters:Nur knapp rangiert die historisch-rechtliche Argumen-tation (Status des Sklaven, seine Minderwertigkeit, die

Nicht-Gesellschaftsfähigkeit dieser Freundschaft – 27Prozent) vor einer auf der situativen Ebene der Hand-lung angesiedelten Argumentation (Spielspaß, Senatornicht verärgern, kein Geld mehr ... – 23 Prozent) bzw.einer Entscheidung ohne Begründung (26 Prozent). Esfolgen politische Argumente (Macht, Amt, Bestechung– 13 Prozent) sowie ökonomisch-finanzielle (10 Prozent).Es zeigen sich bereits ethisch-moralische und motiva-tionale Begründungen (Ehre, Konventionen, menschli-che Schwäche – 7 Prozent), die auf die nächsthöhereStufe verweisen. Schließlich sollen auch die 6 Prozentnicht unerwähnt bleiben, die dem Vater eine Einsichtzutrauten.

Zusammenfassend lässt sich die Möglichkeit einerdoppelten Perspektiveneinnahme nachweisen, die sogarum eine dritte zu ergänzen ist, die aktuell-lebensweltliche,welche immer – mehr oder weniger explizit - in die Ur-teile einfließt. Somit kann die Übersicht zur sozio-mora-lischen Entwicklung um die historische Dimension er-weitert werden.

Diskussion

Können Kinder dieser Altersstufe historisch denken?– Ja, unter den beschriebenen Voraussetzungen und

im Rahmen eines (durchaus gefächerten) entwicklungs-spezifischen Niveaus vollzieht sich die Strukturierunghistorischen Denkens. Es ist seiner Form nach empi-risch; doch es ist auch zu beobachten, wie das theoreti-sche Moment in der empirischen Gestalt zunimmt. ImRahmen eines anschaulich-konkreten Kontextes sind elf-bis zwölfjährige Kinder zur Darstellung von Zusammen-hängen, zum Begründen, zum Schlussfolgern und zuunterschiedlicher Perspektivenübernahme fähig. Indemsie sich in die Gedanken- und Gefühlswelt historischerMenschen „einbilden“ und diese auf sie zurückwirkt,werden auch Momente der Selbsterfahrung angespro-chen, die allmählich zur Reflexivität reifen werden. Ver-

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Entwicklung des historischen Denkens - Perspektivität

Moralisches Urteil Soziale Perspektive

I Präkonventionell Homogenisierung vonhistorischem und lebensweltlichenUrteil

II Konventionell Historisierung, Orientierung amhistorischen Kontext

III Postkonventionell Reflexion, Orientierung anmetahistorischen Kriterien(universale Prinzipien)

In der Population sind vor allem die ersten beiden Niveaus vertreten, in An-sätzen auch Niveau III.

„Das Freundschaftsmotiv ohne

Wenn und Aber ist für 98% der

Kinder entscheidend.“

Emotion und Sprache. Zur Definition der Emotion und ihren Beziehungen zu kognitiven Prozessen, dem Gedächtnis und der Sprache.Frankfurt am Main 1996, Peter Lang10 Vgl. Lawrence Kohlberg: Moralstufen und Moralerwerb. Der kognitiv-entwicklungstheoretische Ansatz. (1976). In. Wolfgang Edel-stein..., a.a.O., S. 4111 Vgl. Fowler, James W. Stufen des Glaubens. A.A. O., S. 82 ff. Vgl. die zusammenfassenden Darstellung von Christian Noack: Stufender Ich-Entwicklung und Gechichtsbewußtsein. In: Borries, Bodo v. u.a. (Hrsg.): Zur Genese historischer Denkformen. A.A. O. S, 9 – 46,14 ff.

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Tag der Fachdidaktiken 2002Handlungswissen entwickeln

stehender Geschichtsunterricht, der in einem herme-neutischen geschichtswissenschaftlichen Verständnisauch zugleich ein erklärender ist, fördert die intrinsischeLernmotivation, ermöglicht Sinnbildungsprozesse undbefördert auf diese Weise den Aufbau empirisch geform-ten kindlichen historischen Denkens. Für besondersgesellschaftsrelevant erachte ich den Befund, dass Histo-risierung eher in einer gewissen Distanz zum Lerngegen-stand möglich ist als in empathisch geprägten Beziehun-gen. In einer solchen Situation überschwemmen offen-sichtlich die Emotionen (das Gewissen!) die erforderli-che Distanz zwischen den Zeitdimensionen. Dieserontogenetisch frühe Befund findet seine Entsprechungdurchaus in repräsentativen rezeptionsgeschichtlichenBefunden zur historischen Urteilsfähigkeit von Erwach-

senen; dies sollte im geschichtskulturellen Diskurs als einwichtiger Faktor wahrgenommen werden.

Die historischen Dilemma-Situationen, in die Kin-der gestellt waren, verhalten sich sperrig gegenüber demHarmoniebedürfnis der Kinder. Harmoniebedürfnis istindes auch ein Ideal der Erwachsenenwelt. Früh schonsollen Kinder lernen, dass es eine ideale Welt nicht gibtund nicht geben wird und daß die durch Menschen ge-schaffenen Strukturen günstigstenfalls demokratischeRegeln festschreiben. Dennoch ist es anrührend, wie dienaive Menschlichkeit des kindlichen Gemüts zunächstdie humane Welt in der Vergangenheit zu rekonstruie-ren gewillt ist und wie sie sich zögerlich der dekonstrukti-ven Einsicht öffnet, ohne letztendlich ein gewiss ideali-siertes Fernziel ganz zu verwerfen.

Handlungswissen fachspezifisch

und fächerübergreifend entwickelnvon Dr. Marion Höfner, Institut für Germanistik, Literaturdidaktik, Universität Potsdam

Dr. Marion Höfner,Institut für Germanistik,Literaturdidaktik,Universität Potsdam.Tel.: 0331 - 977 [email protected]

Nicht erst seit PISA wird im Zusammenhang mit Bil-dungszielen viel über die Entwicklung von Kom-

petenzen geredet. Allerdings wird nicht immer eindeu-tig ausgewiesen, welche Qualitätsmerkmale daran gebun-den sind. Wird die Kompetenzentwicklung jedoch alsübergeordnetes Bildungsziel ernst genommen, sind vorallem zwei Fragen zu klären:• Welche Kompetenzen sind im Einzelnen konkret ge-meint und welche Leistungsstandards sind mit ihnenverbunden?• Wie entstehen Kompetenzen und unter welchen Be-dingungen können sie langfristig und systematisch ent-wickelt werden?

Die Lesekompetenz beispielsweise ist bei deutschenSchülern nur ungenügend ausgebildet. Das ist nicht erstseit PISA bekannt. Lesekompetenz erfasst PISA mit dreiQualitätsmerkmalen:• Die Fähigkeit, Informationen aus einem Text zu ermitteln,• die Fähigkeit, textbezogen zu interpretieren• und die Fähigkeit, über die Aussagen eines Textes zu reflek-tieren und diese zu bewerten.

Untersucht wurde die Lesekompetenz der Schülerim Umgang mit Texten unterschiedlicher Textsorten:Von einer Erzählung, und damit einer noch recht leichtzu erschließenden literarischen Textsorte, im Vergleichetwa zur Lyrik, über Beschreibungen und Argumenta-tionen bis hin zu Diagrammen, schematischen Zeich-nungen, Karten und Formularen.

Während die Pisa - Studie konkrete Ergebnisse sta-tistisch belegt, bieten eigene unterrichtspraktische Un-

tersuchungen Einsichten in mögliche Ursachen der fest-gestellten Defizite. Ich beziehe mich hier vor allem aufUntersuchungsergebnisse, die ich neben meiner regel-mäßigen Arbeit mit Studenten in den schulpraktischenStudien (SPS) im Rahmen eines gerade beendeten 2-jäh-rigen Forschungsprojektes gewonnen habe. In denKlassenstufen 12 und 13 habe ich einen Grundkurs imFach Deutsch zum Abitur geführt. Die Erfahrungen undBeobachtungen während dieses zweijährigen Unterrichtswaren für eigene Fragestellungen und Untersuchungs-ansätze besonders aufschlussreich. Auf dieser Grundla-ge lassen sich erste Schlussfolgerungen ableiten, wieUnterricht zu gestalten ist, um einen wirksamen Beitragzur Kompetenzentwicklung des Schülers zu leisten.

Aus der Perspektive des Deutschunterrichts ist da-bei vor allem auf zwei Problemfelder aufmerksam zumachen:

Der Schüler als Rezipient – Kompetenzenim Umgang mit Texten

Der Umgang mit Texten unterschiedlicher Textsortenbeschränkt sich nicht allein auf die Fähigkeit, In-

formationen aus einem Text zu ermitteln und text-bezogen zu interpretieren. Vielmehr sollte der Schülerbefähigt werden, zunehmend selbständig auch im Um-gang mit unbekannten Texten die spezifische Qualitätund damit auch kommunikative Funktion einer Text-sorte zu erkennen, den Text in seiner Struktur und Ge-staltung zu analysieren und nach seiner kommunikati-

Bei Erweiterung des Wissens macht sich von Zeit zu Zeit eine Unordnung

nötig; sie geschieht meistens nach neueren Maximen, bleibt aber immer

provisorisch.Goethe; Maximen und Reflexionen 1268

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Tag der Fachdidaktiken 2002Handlungswissen entwickeln

ven Wirkung zu fragen. Im Ergebnis der sachgerechtenAnalyse ist der Sinn eines Textes zu erfassen und beiliterarischen Texten nach Sinngebungsmöglichkeiten zusuchen, die der ästhetischen Eigenart des Textes gerechtwerden.

Der Schüler als Produzent –Kompetenzen im Verfassen von Texten

Das Interpretieren eines Textes, das Reflektieren undBewerten seiner Aussagen realisiert sich prinzipiell

in der mündlichen oder schriftlichen Darstellung. Ne-ben der mangelnden Lesekompetenz haben deutscheSchüler große Defizite in ihrer Sprachhandlungskompetenz.Ihnen fehlen die notwendigen Sprachkenntnisse, sie wis-sen oft nicht, wie ein Text zu strukturieren ist, nur inAnsätzen verfügen sie über ein Potential an sprachlichenVarianten. Das Bewusstsein und die Bereitschaft für ei-nen produktiven, auch korrigierend, eingreifenden Um-gang mit Sprache ist, wenn überhaupt, oft nur bei lei-stungsstarken Schülern zu beobachten. Bestehen schonbei der Rezeption Schwierigkeiten, einen Text in seinerStruktur zu analysieren, weil die notwendigen Kenntnis-se fehlen, fällt dieses Defizit in der Textproduktion nochdeutlicher ins Gewicht.

Abgeleitet aus diesen Problemen scheinen mir beider Gestaltung des Deutschunterrichts vor allem 5Aspekte bedeutsam, die hier knapp zu benennen sind:

1. Konsequenter als bisher ist davon auszugehen, dassdas gegenstandsgerechte Analysieren eines Textes einegrundlegende Voraussetzung für das Interpretieren, Re-flektieren und Bewerten der Aussagen/Informatio-nen eines Textes ist. Im Umgang mit fiktionalen undnichtfiktionalen Texten ist daher die Analyse konsequentals eigenständige komplexe Tätigkeit zu realisieren.Sie ist darauf gerichtet, den Text in seiner Struktur undseinen Elementen bewusst wahrzunehmen und sie istdeutlich von der Interpretation abzuheben.

2. Die Fähigkeit zur Analyse, dass heißt Beobach-tungen an einem Text zu machen und diese unter ausge-wählten Aspekten und Fragestellungen zu systematisie-ren, setzt beim Rezipienten Kenntnisse voraus. Kennt-nisse haben damit funktionale Bedeutung für dieFähigkeitsentwicklung. Ein gegenstandsgerechter Um-gang mit einem Text ist in dem Maße möglich, wie be-kannt ist, aus welchen Elementen und Strukturen einText aufgebaut ist und welche Funktion diese bei derKonstruktion des Textganzen haben.

3. Um das Analysieren als komplexe Tätigkeit durch-führen zu können, sollte der Schüler wissen, welcheHandlungsmöglichkeiten ihm im Umgang mit Texten ge-geben sind und wie diese sich in einer Folge von Schrit-ten umsetzen lassen. Die Analyse wird in dem Maßebewusst und zielgerichtet vollzogen, wie dem Schülerder Sinn dieser Tätigkeit bekannt ist und wie er die ein-zelnen Handlungen und deren Funktion im Gesamt-prozess kennt. Der Schüler sollte also zunehmend sicherüber ein notwendiges Handlungswissen verfügen.

4. Fähigkeiten entwickeln sich in und durch Tätigkei-ten. In dem Maße, wie der Schüler immer wieder aufgefor-dert wird, die Tätigkeit des Analysierens in ihren unterschied-lichen Schritten/Handlungen an verschiedenen Texten undTextsorten auf der Grundlage erworbenen Sach- undHandlungswissens bewusst zu vollziehen, wird seine Fähig-keit entwickelt, diese Tätigkeit zunehmend selbständig undsicher auch an unbekannten Texten durchzuführen.

5. Soll die Lese-und Sprachhandlungs-kompetenz des Schü-lers langfristig und sy-stematisch entwickeltwerden, ist das Stoff-Zeit-Verhältnis imDeutschunterricht kri-tisch zu prüfen. Zu klä-ren ist, ob literarischeBildung einem stoff-zentrierten oder einemhandlungsorientiertenfachdidaktischen Kon-zept folgt. Folgt man,wie oben verdeutlicht,einem handlungsorien-tierten Ansatz, ist mit Blick auf die zur Verfügung ste-hende Zeit für mehrmaliges vertiefendes Lesen, Nach-denken, Verständigen über Deutungsvarianten, Auspro-bieren, Suchen nach sprachlichen Varianten ... – alsozugunsten vielfältiger rezeptiver und produzierenderHandlungen am und mit dem Text – der literarischeKanon in seiner Begründung neu zu überdenken. Dabeigeht es nicht um eine oft formal vorgegebene Quantitätund Qualität von Texten, sondern der einzelne fiktionaleoder nichtfiktionale Text bekommt die Funktion einesexemplarisch ausgewählten Gegenstandes. Dieser An-satz hätte letztlich auch Konsequenzen für die Funktionund Gestaltung des bevorstehenden Zentralabiturs imLand Brandenburg.

Bezogen auf die Entwicklung von Analysefähigkeitals einem wesentlichen Qualitätsmerkmal der Lese-

kompetenz sind einzelne der genannten Positionen anausgewählten Beispielen genauer auszuführen. Die Aus-wahl der Beispiele soll verdeutlichen, dass möglicheLösungsansätze sich nicht auf den Deutschunterrichtbegrenzen lassen, sondern durchaus von fachüber-greifender Bedeutung sind:

Als Einstieg in eine Unterrichtssequenz zur Entwick-lung von literarischem Epochenverständnis erhielten dieSchüler einer 11. Klasse zunächst eine schematischeDarstellung mit einem Überblick über die Entwicklungliterarischer Epochen und Strömungen in Deutschlandzwischen 1730 und 1840 (vgl. Abbildung I).

Ihre Aufgabe war es, zunächst den Text genau zu beob-achten und für sie wichtige Informationen daraus abzuleitenund daran anschließend die Ergebnisse ihrer individuellenAnalysetätigkeit schriftlich thesenartig zusammenzufassen.

„Neben der mangelnden Lesekompetenz

haben deutsche Schüler große Defizite in

ihrer Sprachhandlungskompetenz. Ihnen

fehlen die notwendigen Sprachkenntnisse;

sie wissen oft nicht, wie ein Text zu

strukturieren ist; nur in Ansätzen

verfügen sie über ein Potential an

sprachlichen Varianten.“

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Tag der Fachdidaktiken 2002Handlungswissen entwickeln

Die hospitierenden Studenten waren erstaunt, wie viel Zeitdie Schüler für die Lösung dieser Aufgabe benötigten. Dabei über-sahen sie jedoch eine wichtige Bedingung: Tätigkeiten setzen Kennt-nisse voraus. In dem Maße wie bekannt ist, welche Fragen, Problemeund Widersprüche im Zusammenhang mit literarhistorischerPeriodisierung auftreten, lassen sich die im Text enthaltenen Informa-tionen schnell erschließen und systematisieren. Über diese Kenntnisseverfügten die Schüler aber zu Beginn der Unterrichtssequenz nicht.

Somit entsprachen die mit der Aufgabe verbundenen Anforde-rungen nach den Kriterien der PISA-Studie der KompetenzstufeV, also der Expertenstufe. Die Schüler mussten• verschieden tief eingebettete Informationen lokalisieren und orga-nisieren – aus einem Text, dessen Inhalt und Form ihnen unver-traut sind und• indirekt erschließen, welche Informationen für die Aufgabe rele-

vant sind.Einen nicht geringen zeitlichen Umfang nahm zunächst tat-

sächlich das Lokalisieren der im Text enthaltenen Informationenin Anspruch. Das war vor allem auf Probleme im Verstehen derAufgabenstellung und der durch sie ausgelösten Tätigkeit zurück-zuführen. Den Schülern fehlten Erfahrungen im Umgang mit ei-ner solchen offenen Aufgabe. In der Regel werden ihre Tätigkeiteneindeutig auf das erwartete Ergebnis gelenkt, etwa durch Ergän-zungen wie:

• „Achte dabei besonders auf die zeitliche Einordnung ein-zelner Epochen.“,

• „Prüfe, wie sich die Epochen herausbilden.“,• „Beachte, dass zu einzelnen Autoren konkrete Aussagen

getroffen werden.“Für langes Suchen, Probieren und für Irrtümer fehlt im Un-

terricht in der Regel die Zeit. Der Lehrer will schnell die richtigenAntworten abfordern. Der Stoff muss geschafft werden.

Nach etwa 10 Minuten – länger als ursprünglich geplant –waren die Schüler zu den angestrebten Ergebnissen gekommen.Allerdings war festzustellen, dass sie zwar die im Text implizier-ten Informationen erschlossen hatten, diese aber nicht thesenartigzusammenfassen konnten. Mit Blick auf die Entwicklung vonSprachhandlungskompetenz stoßen wir hier auf ein Problem, dasunter handlungsorientiertem Aspekt recht aufschlussreich ist: AbKlassenstufe 8 ist das Erörtern ein Schwerpunkt des Mutter-sprachunterrichts. Der Schüler lernt grundlegende Elemente derErörterung in ihrer kommunikativen Funktion kennen, These -Gegenthese, Argument - Gegenargument, Beispiele. Er soll ler-nen, diese Elemente in der Rezeption zu erschließen und in dereigenen Textproduktion bewusst anzuwenden.

Beobachtungen zeigen jedoch, dass die Schüler diese sprachli-chen Handlungen bis in die Abiturstufe nicht oder nur unbefriedi-gend beherrschen. Das ist meines Erachtens vor allem darauf zu-rückzuführen, dass diese Sprachhandlungen zu wenig in ihrer funk-tionalen Bedeutung bestimmt, in unterschiedlichen kommunikati-ven Situationen bewusst gemacht und geübt werden. So eignet sichder Schüler das Wissen formal an, setzt es aber für sich nichtzielgerichtet und produktiv um.

Die Schüler entnahmen der schematischen Darstellung fol-gende Informationen:

1. Es gibt in der literaturgeschichtlichen Periodisierung eineUnterscheidung zwischen literarischen Epochen und Strömungen.Diese Information wurde von den Schülern zuerst erschlossen. Of-fensichtlich besannen sie sich auf ihr Handlungswissen, dass fürdas Verständnis einer schematischen Darstellung zunächst dieLegende studiert werden sollte.

2. Es gibt zeitliche Abschnitte, in denen mehrere literarischeEpochen und Strömungen nebeneinander existieren. Diese Beob-achtung führte bei einigen Schülern zu Erstaunen und Fragen,denn bisher waren sie eher von einer chronologisch geordneten Ab-folge der Epochen ausgegangen.

3. Einige literarische Epochen leiten sich aus anderen ab,andere entwickeln sich aus sich selbst heraus.

4. Es gibt Autoren, die sich offensichtlich nicht in eine einzel-ne Epoche einordnen lassen.

Hier kamen die Schüler allerdings – gelenkt durch dieLegende und wegen fehlender biographischer Kenntnis-se – zu einer anderen Aussage: Es gibt Autoren, die ein

Abbildung I:Die Literaturepochenim Überblick.(Nach: R. Lindenhahn, Ar-beitshefte zur Literaturge-schichte. Romantik; Cornelsen1999)

Pro captu lectoris habent sua fata libelli.Terentianus Maurus, De litteris 1286

Bücher haben ihre Schicksale je nach Auffassungsgabe des Lesers.

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kentron - extra - S. 19

Tag der Fachdidaktiken 2002Handlungswissen entwickeln

Bindeglied zwischen den Epochen bilden. So hatten dieSchüler zwar den Sachverhalt erschlossen, verstanden ihnaber nicht und konnten ihn vor allem nicht einordnen.

Aus diesem von den Schülern selbst erkanntenKenntnisdefizit ließ sich gemeinsam eine Fragestellungfür den weiteren Unterricht ableiten, der nun auch fürden Schüler von Relevanz war: Warum können dieseAutoren nicht in eine bestimmte Epoche eingeordnetwerden?

In einem zweiten Unterrichtsschritt erhielten die Schü-ler einen Überblick über Auszüge aus Inhaltsverzeich-

nissen drei verschiedener Lehrbücher für den Literatur-

unterricht (vgl. Abbildung II). In der vergleichendenTextanalyse sollten sie auch hier für sich wesentliche In-formationen erschließen .

Unter dem Aspekt des Informationserwerbs schien die Auf-gabe zunächst leichter, denn der Kontext und die Informations-relevanz der Texte waren nun bekannt. Erschwerend kam aller-dings die Tätigkeit des Vergleichs hinzu. Die Schüler musstenalso einen systematisierenden Zugang zu den Texten gewinnen.Gleichzeitig mussten sie das für den Vergleich wichtige Handlungs-wissen aktivieren, dass für das Erschließen von Gemeinsamkeitenund Unterschieden Vergleichskriterien festzulegen sind. Diese warenihnen durch die vorherige Aufgabe in gewisser Weise vorgegeben.

Nach einem zeitlichen Aufwand von etwa 15 Minuten ka-

Periodisierungsansätze in Lehrbüchern für den Literaturunterricht

CORNELSEN, Texte, Themen, Struk-turen

Das Zeitalter des Feudalismus (8.-18. Jh.):Vom Mittelalter zum Barock

Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschen-bach., Nibelungenlied, Martin Opitz, AndreasGryphius, Grimmelshausen

Das Zeitalter der bürgerlichen Revolution(1730-1848): Von der Aufklärung bis zumVormärzAufklärung (1730-1800)

Immanuel Kant, Christoph Martin Wieland, Gott-hold Ephraim Lessing, Georg Christoph Lichten-berg, Georg Forster, Gottlieb Konrad Pfeffel

Sturm und Drang (1765-1785)Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Johann Kas-par Lavater, Johann Wolfgang Goethe, Maler Mül-ler, Friedrich Schiller, Gottfried August Bürger,Christian Friedrich Daniel Schubart

Klassik (1786-1832)Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe

Romantik (1795-1840)Novalis, Joseph von Eichendorff, Karoline vonGünderode, Ludwig Tieck, Rahel Varnhagen vonEnse, Friedrich Hölderlin

Vormärz (1830-1848)Heinrich Heine, Bettina von Amim, WilhelmWolff, Georg Büchner, Ferdinand Freiligrath, Ge-org Weerth

Von der gescheiterten Revolution 1848 biszum ErstenWeltkrieg (1848-1914)

BSV, Geschichte der deutschen Literatur

Klassik 1786-1810Voraussetzungen – Johann Joachim Winckelmann –Immanuel Kant – Der junge Goethe – Goethe inWeimar – Der alte Goethe – Friedrich von Schiller –Friedrich Hölderlin – Heinrich von Kleist – Jean Paul– Johann Peter HebelRomantik 1797-1830Frühromantik

Friedrich Schleiermacher – Johann Gottlieb Fichte– Friedrich Wilhelm Schelling – Wilhelm Hein-rich Wackenroder – Ludwig Tieck – Novalis –August Wilhelm Schlegel – Friedrich Schlegel –Frauen der Romantik

Heidelberger und späte RomantikClemens Brentano – Achim von Arnim – JohannJoseph von Görres – Jacob und Wilhelm Grimm –Friedrich de la Motte Fouqué – Adelbert von Cha-misso – Zacharias Werner – Schicksalsdramen –Dichtung der Freiheitskriege – Joseph von Eichen-dorff – E.T.A. Hoffmann

Zwischen Restauration und Revolution:Biedermeier – Junges Deutschland undVormärz 1815-1848Biedermeier

Drama: Franz Grillparzer – Ferdinand Raimund– Johann NestroyRoman: Karl Leberecht Immermann – HistorischerRoman – Willibald Alexis – Jeremias Gotthelf –Adalbert Stifter – SealsfieldLyrik: Friedrich Rückert – August Graf vonPlaten-Hallermünde – Nikolaus Lenau – Annettevon Droste-Hülshoff – Eduard Mörike

Junges Deutschland und VormärzHeinrich Heine – Georg Büchner – Ludwig Börne– Karl Gutzkow – Heinrich Laube – FerdinandFreiligrath – Georg Herwegh – Christian DietrichGrabbe

Bürgerlicher Realismus 1848-1898

KLETT, Literatur von den Anfängenbis zur Gegenwart

Klassik 1795 - 1830Bild der EpocheLiterarisches LebenTheorie und Formen der LiteraturAutoren

• Wieland• Herder• Goethe• Schiller• Hölderlin

Romantik 1795 - 1830Bild der EpocheLiterarisches LebenTheorie und Formen der Litertur Autoren

• Frühromantik: Wackenroder, Tieck, Novalis,Schlegel• Hochromantik: Brentano, Arnim, Eichendorf• Meister der schwarzen Romantik: Hoffmann• Am Rande der Romantik: Jean Paul, Kleist

Biedermeier und Vormärz 1815 - 1850

Abbildung II

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kentron - extra - S. 20

Tag der Fachdidaktiken 2002Handlungswissen enwickeln

men die Schüler zu folgenden Ergebnissen individueller Tätigkeit:• Die zeitliche Einordnung der einzelnen Epochen ist in den

drei Quellen unterschiedlich. Besonders auffällig sind die Unter-schiede bei der Klassik.

• Die Gliederung innerhalb einer Epoche ist unterschiedlich.• Es gibt Unterschiede bei der Auswahl von Epochen und

Strömungen.• Und – was für die Schüler, gemessen am eigenen Kenntisdefizit

besonders interessant war – die Autoren Hölderlin, Kleist und JeanPaul werden in allen drei Quellen unterschiedlich eingeordnet.

Im Sinne wissenschaftspropädeutischen Arbeitens sollten dieSchüler im Ergebnis ihrer Analysetätigkeit unter anderem die Ein-sicht gewinnen, dass es keine einheitlichen wissenschaftlichen Positio-nen bei der literarhistorischen Periodisierung gibt, dass einzelne Quellendeutlich voneinander abweichen und damit immer auch ein verglei-chender und kritischer Umgang mit ihnen notwendig ist.

Der Versuch, die Schüler anzure-gen, aus den gemachten Beobach-tungen Fragen abzuleiten, die fürdie weitere Auseinandersetzung mitliterarischen Epochen interessantsein könnten, etwa, wie wird dieEinordnung der Autoren JeanPaul, Hölderlin und Kleist in dieunterschiedlichen literarischen Epo-chen begründet, nach welchen Kri-terien wird die zeitlich sehr unter-schiedliche Eingrenzung für einzel-ne Epochen vorgenommen, führtenleider nicht zum gewünschten Er-folg. Beobachtungen zeigen, dass esSchülern schwer fällt, Fragen zustellen. Zum einen erkennen sie denSinn dieser Tätigkeit nicht, zumanderen fehlt ihnen die für dasFragenstellen notwendige Fähigkeit,die Probleme und Widersprüche ineinem Sachverhalt zu erkennenund daraus Ansätze für die weite-re Auseinandersetzung abzuleiten.

Soll also – wie beispielsweise auch der Rahmenplanfür die Sekundarstufe II fordert – die methodische Kom-petenz der Schüler entwickelt werden, soll der Schüleran der Planung des Unterrichts beteiligt werden, sinddafür objektive Bedingungen zu schaffen. Ich sehe indiesem Zusammenhang vor allem folgende:• Der Schüler muss für eigene Vorschläge zur Gestal-tung des Unterrichts über notwendige Kenntnisse ver-fügen, das heißt er sollte wissen, welche Gegenstände,Fragen und Probleme zur Auswahl stehen und für denweiteren Unterricht relevant sein können.• Der Schüler sollte über das notwendige Hand-lungswissen zum Erarbeiten planerischer/konzeptionel-ler Vorstellungen verfügen oder/und dieses im Prozessseiner Tätigkeit entwickeln. Das heißt er sollte wissen,

o dass man Fragen stellen muss und wie man dieseableitet,o dass eine logische Abfolge für das Beantworten der

Fragen festzulegen ist und wie man sich diese erar-beitet,o dass für die Auseinandersetzung mit den Fragen Ma-terialien zusammenzustellen und auszuwerten sind undo dass die geplante Arbeit in einen zeitlichen Rahmeneinordnen ist.

• Um diese unter dem Aspekt wissenschaftspropä-deutischen Arbeitens bedeutsamen Kompetenzen zuentwickeln, ist für die Tätigkeit des Schülers vor allemeine Bedingung zu schaffen: Ihm ist die notwendige Zeitzur Verfügung zu stellen.

Ausgehend von diesen fachspezifischen Erfahrungen, diesich meines Erachtens durchaus auch auf andere

Fächer übertragen lassen, soll abschließend ein Projektvorgestellt werden, mit dem wir versuchen wollen, Gren-zen, die im einzelnen Unterrichtsfach für das wissen-schaftspropädeutische Arbeiten oft gesetzt werden,durch einen fächerübergreifenden Ansatz zu überwinden.Einige Bemerkungen vorab:

Vor etwa einem Jahr wurde an der Voltaire-Gesamt-schule Potsdam die Idee geboren, im Rahmen der Ko-operation Universität – Schule ein neues Unterrichts-fach als Wahlgrundkurs für die Sekundarstufe II einzu-richten. Der ursprüngliche Gedanke war, diesen Kursals ein fächerübergreifendes Fach anzulegen, an demneben Lehrern auch Mitarbeiter der Universität Pots-dam mit Unterrichtsanteilen vertreten sind. Der Unter-richt sollte zum Teil auch an der Universität stattfinden.Wie für den Projektunterricht oft üblich, war das The-ma, unter dem sich alle vereinen sollten, relativ schnellgefunden: Kulturgeschichtliche Studien Berlin – Bran-denburg.

Im Rahmen der konzeptionellen Arbeit an diesemFach, an der ich beteiligt war, bestätigte sich jedoch sehrschnell, dass das Thema zwar ein mögliches, aber nichtdas eigentliche Bindeglied dieses Faches sein kann, dennallein durch das Thema und die daraus abgeleitete Zu-ordnung von Stoffen würden sich Qualität und Inhaltdes Faches nicht deutlich genug von einem bisherigenoffenen Fachunterricht abheben.

Aufgrund der Defizit-Erfahrungen, die ich inzwi-schen in der Arbeit mit meiner Abiturklasse gewonnenhatte, sah ich eine Lösung darin, das Fach vom Thema-tischen weg stärker auf die Entwicklung von Handlungs-kompetenzen zu lenken. Mit Blick auf die Befähigungdes Schülers zum wissenschaftspropädeutischen Arbei-ten ging ich davon aus, dass das Analysieren eine kom-plexe Tätigkeit ist, die an unterschiedlichen Gegenstän-den, mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen undMethoden zu den grundlegenden Tätigkeiten in nahezujeder Wissenschaft gehört.

Damit wurde nicht ein Thema, sondern eine kom-plexe Zielgröße zum fächerübergreifenden Bindegliedgewählt: Die Entwicklung von Analysefähigkeit.

Das sollte sich auch in der Bezeichnung des Facheswiderspiegeln. Der Wahlgrundkurs wurde unter dem Titel„Propädeutik“ beim Ministerium beantragt und zum

„Im Sinne wissenschaftspropädeutischen

Arbeitens sollen Schüler im Ergebnis

ihrer Analysetätigkeit die Einsicht

gewinnen, dass es keine einheitlichen

wissenschaftlichen Positionen bei der

literaturhistorischen Periodisierung gibt,

dass einzelne Quellen deutlich

voneinander abweichen und damit immer

ein vergleichender und kritischer Umgang

mit ihnen notwendig ist.“

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kentron - extra - S. 21

Tag der Fachdidaktiken 2002Handlungswissen entwickeln

Schuljahr 2002/2003 bestätigt. Er umfasst die zwei Se-mester der Klassenstufe 13. Vorgesehen ist die Möglich-keit, den Wahlgrundkurs als fünftes Abiturfach anzuer-kennen. Eine mögliche Form der Abiturprüfung wäre,dass der Schüler eine Abschlussarbeit einreicht und die-se verteidigt, vergleichbar einer universitären Hausarbeit.

Um zu verdeutlichen, wie sich die oben genanntenPositionen in der unterrichtspraktischen Arbeit konzep-tionell umsetzen, soll auf wesentliche Zielaspekte die-ses Wahlgrundkurses verwiesen werden:• Hauptaufgabe des Unterrichtsfaches ist es, dem Schü-ler grundlegendes Handlungswissen zu vermitteln, umihn auf ein Studium – unabhängig von der konkretenStudienrichtung – vorzubereiten. Insofern haben dieauszuwählenden Gegenstände / Inhalte vor allem ex-emplarische Funktion. Mit der zunehmend komplexen,selbständigen und eigenverantwortlichen Tätigkeit desSchülers an unterschiedlichen Gegenständen werdenvor allem folgende Ergebnisse angestrebt:• Als Grundlage für seine Fähigkeitsentwicklung eignetsich der Schüler Kenntnisse an

o einerseits über die Gegenstände, Erkenntnis-interessen/ Fragestellungen und Methoden unter-schiedlicher Wissenschaftsgebiete,o andererseits aber auch über den universitärenStudienbetrieb, die Funktion von Vorlesungen, Se-minaren, Projekten, Kolloquien, über Fakultäten, In-stitute, Lehrbereiche/Professuren, Lehre und For-schung. Er erweitert und vertieft seine Kenntnisseo über unterschiedliche Möglichkeiten der Informati-onsbeschaffung/Recherche, deren Möglichkeiten undGrenzen in unterschiedlichen wissenschaftlichen undkulturellen Einrichtungen im Raum Potsdam/Berlin,o über Möglichkeiten der differenzierten und kriti-schen Informationsverarbeitung und der mündlichenund schriftlichen Präsentation von Forschungs-/Untersuchungsergebnissen.

• In zunehmend selbständiger, ge-genstandsgerechter und ergebnis-orientierter Tätigkeit entwickelt derSchüler Fähigkeiten

o zum Nutzen von Vorlesungenals Möglichkeiten konzentriertenWissenserwerbs,o zur aktiven Teilnahme an Se-minaren und Kolloquien alsMöglichkeit Fragen zu stellen,Probleme zu diskutieren, sichmit unterschiedlichen wissen-schaftlichen Positionen kritischwertend auseinander zu setzen,o zum kompetenten Umgangmit wissenschaftlicher Literatur(Bibliographieren, Exzerpieren,Konspektieren, Zitieren, Erar-beiten von Übersichten undSchemata),o zum kompetenten Umgang

mit wissenschaftlichen Methoden und einem wissen-schaftlichen Begriffsapparat,o zum Erarbeiten eines Thesenpapiers, eines Refe-rats und einer wissenschaftlichen Hausarbeit,o zur Darstellung von eigenen Untersuchungs-ergebnissen über unterschiedliche Formen der Prä-sentation (Referat/Vortrag, Unterrichtsstunde, Arti-kel in einer wissenschaftlichen oder populärwissen-schaftlichen Zeitschrift, Feature, Film, CD-Rom,Website),o zur individuellen Arbeit und zur Arbeit in Klein-gruppen,o zur kurz-, mittel- und langfristigen Planung eigenerArbeit, von der Themenfindung bis zur Präsentation.

Eine besondere Spezifik dieses Kurses ergibt sich dar-aus, dass diese Kenntnisse und Fähigkeiten an unter-schiedlichen Gegenständen und Fragestellungen aus ver-schiedenen Fächern und Wissenschaftsgebieten entwik-kelt werden. Von der Lehrkraft ist jeweils zu prüfen,welche Gegenstände für bestimmte Zielaspekte über diegrößten Potenzen verfügen. Insofern ist jeder exempla-risch auszuwählende Gegenstand nach seinem spezifi-schen Beitrag zum Erreichen der angestrebten Ergeb-nisse zu befragen.

Orientiert an den beiden Kurshalbjahren scheint mitBlick auf die Kompetenzentwicklung der Schüler eineZweiteilung des Kurses unter folgender Schwerpunkt-setzung sinnvoll:

Im ersten Kurshalbjahr die Vermittlung grundle-gender Kenntnisse und erster Fähigkeiten an gemeinsamund individuell zu bearbeitenden Aufgabenstellungen alsGrundlage für das selbständige und eigenverantwortlicheArbeiten im Teil 2 des Kurses. Dazu wird ein Überblicküber mögliche Wissensgebiete, Gegenstände und Frage-stellungen geschaffen, die sich für die Auswahl zur indivi-duellen Bearbeitung anbieten. Einbezogen werden wis-

„Soll die methodische Kompetenz derSchüler entwickelt werden, muss derSchüler an der Planung des Unter-richts beteiligt werden, sind dafürobjektive Bedingungen zu schaffen.“

Man müßte in vielen Dingen den gegenwärtigen Zustand der Literatur und

Jugenderziehung und folglich der Staatsverwaltung verändern.Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand

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Tag der Fachdidaktiken 2002Mathematik nach PISA

senschaftliche Mitarbeiter unterschiedlicher Wissenschafts-bereiche der Geistes- und Naturwissenschaften und Lehr-kräfte unterschiedlicher Fächer, um die jeweils fachspezi-fischen Arbeitsmethoden zu vermitteln.

Das zweite Kurshalbjahr legt den Schwerpunkt aufdie individuelle Bearbeitung eines wissenschaftlichenThemas in Kleingruppen, mit kurzfristigen Aufgaben derPräsentation von Zwischenergebnissen und einer lang-fristigen Aufgabenstellung, deren Ergebnis in einer demgewählten Gegenstand angemessenen Form im Werteeiner Klausurersatzleistung zu präsentieren ist. DieUnterrichtsform entspricht eher dem Charakter vonKonsultationen und Kolloquien. Sie dient der Reflexionüber die eigenen Tätigkeiten, der Auswertung von Er-gebnissen in den Kleingruppen, oder auch der Verstän-digung zwischen den verschiedenen Arbeitsgruppen.

In die Arbeit der Kleingruppen werden Studentender Uni Potsdam einbezogen, für sie bietet sich damiteine besondere Form von Praktikum. Für Konsultatio-nen stehen die jeweiligen Fachlehrer zur Verfügung. Inden Gruppenberatungen/Kolloquien sind alle einbezo-genen Fachlehrer präsent.

Für den ersten Wahlgrundkurs haben schon mehrSchüler als erwartet ihr Interesse angemeldet. Unter demThema: „Analysieren als grundlegende wissen-schaftliche Tätigkeit“ wurde für das im kommendenSchuljahr beginnende 1. Kurshalbjahr die Zusammenar-beit mit drei Wissenschaftsgebieten der Geisteswissen-schaft geplant,• der Sprach- und Kommunikationstheorie,

• der Literatur- und der• Geschichtswissenschaft.

An ausgewählten Gegenständen sollen sich die Schü-ler grundlegende Kenntnisse über Methoden der Text-analyse aneignen und diese zunehmend kompetent selbstan unterschiedlichen Texten anwenden. Einen wesentli-chen Effekt versprechen wir uns vor allem von der Ein-sicht des Schülers, dass der Umgang mit oft gleichenTexten von unterschiedlichen Erkenntnisinteressen ge-prägt ist und damit zu unterschiedlichen Zugängen undMethoden und letztlich auch Ergebnissen im Umgangmit ihnen führt.

Geplant ist allerdings, die Auseinandersetzung mitder Analysetätigkeit für die Schüler nicht nur auf dieGeisteswissenschaften zu beschränken, sondern zuneh-mend auch Wissenschaftsbereiche der Naturwissenschaf-ten in den Kurs einzubeziehen. Die Erfahrung von Dif-ferenz scheint uns für den bewussten Umgang mit derTätigkeit besonders bedeutsam.

Wir gehen davon aus, dass mit einem solchen Fachein möglicher Ansatz gefunden wurde, Handlungs-kompetenzen des Schülers durch eine fächerüber-greifende Konzentration auf Tätigkeiten zu entwickeln.Ein Ansatz, der meines Erachtens auch für die Gestal-tung der Ganztagsstunden an den Gesamtschulen zunutzen ist, der langfristig auch zu einer veränderten Sichtauf den Fächerkanon führen kann und der die Ausein-andersetzung anregt, über Sinn und Gegenstand des ein-zelnen Unterrichtsfaches nach dem „PISA-Schock“, wiees Fahrholz u.a. nennen, nachzudenken.

Produktive Aufgaben nach TIMSSMathematikunterricht nach PISA mit produktivenAufgaben und Arbeitsaufträgen

von Prof. Dr. Thomas Jahnke, Institut für Mathematik, Universität Potsdam

Prof. Dr. Thomas Jahnke,Institut für Mathematik,Universität Potsdam.Tel.: 0331 - 977 [email protected]

Deutschlands Schülerinnen und Schüler in denJahrgangsstufen 7 und 8 wurden bei der Dritten

Internationalen Mathematik- und Naturwissenschafts-studie (TIMSS) in Mathematik nur mittelmäßige Leistun-gen im Vergleich mit mehr als 40 Nationen bescheinigt.Sie rangierten um Klassen hinter ihren asiatischen Alters-kollegen in Singapur, Korea, Japan und Hongkong, aberz. B. auch deutlich hinter denen aus Schweden, derSchweiz, Dänemark, den Niederlanden, Österreich undFrankreich – und das, obwohl sie im Schnitt ein halbesJahr älter waren, als die Testbedingungen vorschrieben.

Eine Forschergruppe des Max-Planck-Institutes fürBildungsforschung in Berlin resümiert u. a. :

• Die Mathematikleistungen der internationalen Spit-zengruppen, die von asiatischen Ländern gebildet wird,liegen für deutsche Schülerinnen und Schüler in uner-reichbarer Höhe. Die Schülerleistungen in diesen Län-dern stehen für ein qualitativ anderes Niveau mathema-tischen Verständnisses.

• Die Schülerinnen und Schüler der Mehrzahl dernord-, ost- und westeuropäischen TIMSS-Teilnehmer-staaten gehören im Fach Mathematik einer leistungsstär-keren Gruppe an, deren Testwerte im Durchschnitt etwaeine halbe Standardabweichung über den mittlerenMathematikleistungen der deutschen Schülerinnen undSchüler liegen.1

1 Baumert, Jürgen; Lehmann, Rainer u.a.: TIMSS – Mathematisch-naturwisschenschaftlicher Unterricht im internationalen Vergleich.Opladen 1997, S. 23

„Deutschlands Schülern in den Jahrgangsstufen 7 und 8 wurden bei der Dritten

Internationalen Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie in Mathematik nur

mittelmäßige Leistungen im Vergleich mit mehr als 40 Nationen bescheinigt.“

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kentron - extra - S. 23

Tag der Fachdidaktiken 2002Mathematik nach PISA

Selbst wenn man der eindimensionalen Skalierungder Testleistungen und einem Vergleich mit Test-ergebnissen aus fernen Kulturen skeptisch gegenübersteht, bleiben doch die Ergebnisse deutscher Schülerin-nen und Schüler auch im direkten Vergleich bedenklich.So wird z. B. ihre Lösungshäufigkeit bei allen 56 Aufga-ben der Anforderungsart „Anwendungsbezogene undmathematische Probleme“ (Solving Problems) von derihrer Schweizer Altersgenossen übertroffen, im Schnittum mehr als 9 %.

Mögliche Erklärungen für dieseLeistungsunterschiede

Naturgemäß lassen sich die Ergebnisse einer solchumfangreichen internationalen Studie nicht auf

wenige Parameter zurückführen oder einfach erklären.Dennoch formuliert die erwähnte Forschergruppe fol-gende Vermutung:

Die Muster der deskriptiven Ergebnisse sprechendafür, systematische Erklärungen für Leistungsunterschie-de in der die Schule tragenden Kultur – der generellenWertschätzung schulischen Lernens und der Bereitschaftzu Anstrengung und spezifischen Unterstützungsleis-tungen – sowie in der Gestaltung des Fachunterrichtsselbst zu suchen. TIMSS wird zeigen, dass im Fach-unterricht weniger die allgemeinen sozialen Interaktions-formen, sonder vielmehr die Aufgabenstellung und dieim Bearbeitungsvorgang ausgelösten kognitiven Prozes-se für unterschiedliche Leistungserklärungen verantwort-lich sind.2

Um nicht nur Schülerleistungen zu testen und zuvergleichen, sondern auch über die Realität des Mathe-matikunterrichtes in drei ausgewählten LändernAufschluss zu erhalten, war eine der Komponenten derTIMSS-Studie die Videotape Classroom Study (TIMSS-Video).

In der Zeit von Oktober 1994 bis Mai 1995 wurdein Deutschland, Japan und den USA eine zusätzlicheVideo-Studie zum Mathematikunterricht im 8. Jahrgangdurchgeführt. In allen drei Ländern wurde aus der Stich-probe der Hauptuntersuchung eine kleinere Zufalls-stichprobe von Klassen gezogen, in denen Mathematik-unterricht videographiert werden sollte. In Deutschlandwurden 100, in Japan 50 und in den USA 818 Klassen indie Video-Studie einbezogen. In diesen Klassen wurdejeweils eine möglichst alltägliche Mathematikstunde – inDeutschland waren es in 43 Klassen jeweils drei Stun-den – videographisch aufgezeichnet. Für die Aufzeich-nung waren professionelle, besonders geschulte Kame-raleute verantwortlich. Die Stunden wurden mit einerKamera aus der Sich des „idealen“ Schülers aufgenom-men. Die Lehrkräfte wurden zum Verlauf der video-graphierten Unterrichtsstunde und deren Position in derjeweiligen Unterrichtseinheit befragt. Das Unterrichts-material wurde dokumentiert.3

Bei der Auswertung der Stunden konstatierte dieinternationale Forschungsgruppe an der University oft

California in Los Angeles unter der Leitung von Prof.Dr. James Stigler wesentliche, charakteristische Unter-schiede des Mathematikunterrichtes in Deutschland, Ja-pan und den USA.

Ein Kennzeichen deutschen Mathematikunterrichtesist danach, dass Schülerinnen und Schüler als vorherr-schende Aktivität in Einzelarbeit Routineprozedurenüben. Aus der Sicht ihrer Lehrerinnen und Lehrer ste-hen mathematische Fertigkeiten als Unterrichtsziel imVordergrund, alternative Lösungswege sind kaum gefragt.

Mathematikunterricht in Deutschlandund Japan

D ie großen nationalen Differenzen erklären dieTIMSS-Forscher mit unterschiedlichen kulturellen

Skripten: Wir wissen, dass sich der Mathematikunterrichtvon Schulform zu Schulform, aber auch innerhalb einerSchulform von Schule zu Schule und von Klassen zu Klas-sen unterscheidet. Diese Unterschiede können erheblichsein. Im internationalen Ver-gleich scheinen sie jedoch er-staunlicherweise zu schrum-pfen (...). Die offensichtli-chen Unterschiede zwischenden Ländern lassen denMathematikunterricht in ei-nem Land geradezu homo-gen erscheinen: Der Mathe-matikunterricht scheint un-terschiedlichen kulturellenSkripten zu folgen. [So] las-sen sich länderspezifischemodale Formen des Mathe-matikunterrichts in der Se-kundarstufe I beschreiben.

Eine typische Mathema-tikstunde in Japan hat etwafolgenden Verlauf:

• Der Lehrer stellt derKlasse ein komplexes undkognitiv anspruchsvollesmathematisches Problem,dessen Lösung nicht unmittelbar evident ist.

• Die Schüler arbeiten einzeln oder in Gruppe- oderPartnerarbeit an der Problemlösung.

• Verschiedene Schüler, die vom Lehrer aufgrundder unterschiedlichen Lösungswege ausgewählt wurden,präsentieren der Klasse alternative Aufgabenlösungen,die an der Tafel dokumentiert werden.

• Im Unterrichtsgespräch werden die verschiedenenLösungswege diskutiert.

• Der Lehrer fasst die Ergebnisse des Unterrichts-gesprächs in einem kurzen Lehrervortrag zusammen undnotiert sie an der Tafel.

• Die Schüler bearbeiten in Einzel- oder Gruppen-arbeit ähnliche, aber auf neue Anwendungskontexteübertragene mathematische Aufgaben.

„Ein Kennzeichen deutschen

Mathematikunterrichtes ist, dass

Schülerinnen und Schüler als

vorherrschende Aktivität in Einzelarbeit

Routineprozeduren üben. Aus der Sicht

ihrer Lehrerinnen und Lehrer stehen

mathematische Fertigkeiten als

Unterrichtsziel im Vordergrund,

alternative Lösungswege sind kaum

gefragt.“

2 Baumert, Jürgen; Lehmann, Rainer u.a.: TIMSS – Mathematisch-naturwisschenschaftlicher Unterricht im internationalen Vergleich.Opladen 1997,S. 193 loc. cit. S. 53f

Ex oriente lux, ex occidente luxus.Stanislaw Lec

Aus dem Osten kommt das Licht, aus dem Westen der Luxus.

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Tag der Fachdidaktiken 2002Mathematik nach PISA

Selbst wenn man der eindimensionalen Skalierungder Testleistungen und einem Vergleich mit Test-ergebnissen aus fernen Kulturen skeptisch gegenübersteht, bleiben doch die Ergebnisse deutscher Schülerin-nen und Schüler auch im direkten Vergleich bedenklich.So wird z. B. ihre Lösungshäufigkeit bei allen 56 Aufga-ben der Anforderungsart „Anwendungsbezogene undmathematische Probleme“ (Solving Problems) von derihrer Schweizer Altersgenossen übertroffen, im Schnittum mehr als 9 %.

Mögliche Erklärungen für dieseLeistungsunterschiede

Naturgemäß lassen sich die Ergebnisse einer solchumfangreichen internationalen Studie nicht auf

wenige Parameter zurückführen oder einfach erklären.Dennoch formuliert die erwähnte Forschergruppe fol-gende Vermutung:

Die Muster der deskriptiven Ergebnisse sprechendafür, systematische Erklärungen für Leistungsunterschie-de in der die Schule tragenden Kultur – der generellenWertschätzung schulischen Lernens und der Bereitschaftzu Anstrengung und spezifischen Unterstützungsleis-tungen – sowie in der Gestaltung des Fachunterrichtsselbst zu suchen. TIMSS wird zeigen, dass im Fach-unterricht weniger die allgemeinen sozialen Interaktions-formen, sonder vielmehr die Aufgabenstellung und dieim Bearbeitungsvorgang ausgelösten kognitiven Prozes-se für unterschiedliche Leistungserklärungen verantwort-lich sind.2

Um nicht nur Schülerleistungen zu testen und zuvergleichen, sondern auch über die Realität des Mathe-matikunterrichtes in drei ausgewählten LändernAufschluss zu erhalten, war eine der Komponenten derTIMSS-Studie die Videotape Classroom Study (TIMSS-Video).

In der Zeit von Oktober 1994 bis Mai 1995 wurdein Deutschland, Japan und den USA eine zusätzlicheVideo-Studie zum Mathematikunterricht im 8. Jahrgangdurchgeführt. In allen drei Ländern wurde aus der Stich-probe der Hauptuntersuchung eine kleinere Zufalls-stichprobe von Klassen gezogen, in denen Mathematik-unterricht videographiert werden sollte. In Deutschlandwurden 100, in Japan 50 und in den USA 818 Klassen indie Video-Studie einbezogen. In diesen Klassen wurdejeweils eine möglichst alltägliche Mathematikstunde – inDeutschland waren es in 43 Klassen jeweils drei Stun-den – videographisch aufgezeichnet. Für die Aufzeich-nung waren professionelle, besonders geschulte Kame-raleute verantwortlich. Die Stunden wurden mit einerKamera aus der Sich des „idealen“ Schülers aufgenom-men. Die Lehrkräfte wurden zum Verlauf der video-graphierten Unterrichtsstunde und deren Position in derjeweiligen Unterrichtseinheit befragt. Das Unterrichts-material wurde dokumentiert.3

Bei der Auswertung der Stunden konstatierte dieinternationale Forschungsgruppe an der University oft

California in Los Angeles unter der Leitung von Prof.Dr. James Stigler wesentliche, charakteristische Unter-schiede des Mathematikunterrichtes in Deutschland, Ja-pan und den USA.

Ein Kennzeichen deutschen Mathematikunterrichtesist danach, dass Schülerinnen und Schüler als vorherr-schende Aktivität in Einzelarbeit Routineprozedurenüben. Aus der Sicht ihrer Lehrerinnen und Lehrer ste-hen mathematische Fertigkeiten als Unterrichtsziel imVordergrund, alternative Lösungswege sind kaum gefragt.

Mathematikunterricht in Deutschlandund Japan

D ie großen nationalen Differenzen erklären dieTIMSS-Forscher mit unterschiedlichen kulturellen

Skripten: Wir wissen, dass sich der Mathematikunterrichtvon Schulform zu Schulform, aber auch innerhalb einerSchulform von Schule zu Schule und von Klassen zu Klas-sen unterscheidet. Diese Unterschiede können erheblichsein. Im internationalen Ver-gleich scheinen sie jedoch er-staunlicherweise zu schrum-pfen (...). Die offensichtli-chen Unterschiede zwischenden Ländern lassen denMathematikunterricht in ei-nem Land geradezu homo-gen erscheinen: Der Mathe-matikunterricht scheint un-terschiedlichen kulturellenSkripten zu folgen. [So] las-sen sich länderspezifischemodale Formen des Mathe-matikunterrichts in der Se-kundarstufe I beschreiben.

Eine typische Mathema-tikstunde in Japan hat etwafolgenden Verlauf:

• Der Lehrer stellt derKlasse ein komplexes undkognitiv anspruchsvollesmathematisches Problem,dessen Lösung nicht unmittelbar evident ist.

• Die Schüler arbeiten einzeln oder in Gruppe- oderPartnerarbeit an der Problemlösung.

• Verschiedene Schüler, die vom Lehrer aufgrundder unterschiedlichen Lösungswege ausgewählt wurden,präsentieren der Klasse alternative Aufgabenlösungen,die an der Tafel dokumentiert werden.

• Im Unterrichtsgespräch werden die verschiedenenLösungswege diskutiert.

• Der Lehrer fasst die Ergebnisse des Unterrichts-gesprächs in einem kurzen Lehrervortrag zusammen undnotiert sie an der Tafel.

• Die Schüler bearbeiten in Einzel- oder Gruppen-arbeit ähnliche, aber auf neue Anwendungskontexteübertragene mathematische Aufgaben.

„Ein Kennzeichen deutschen

Mathematikunterrichtes ist, dass

Schülerinnen und Schüler als

vorherrschende Aktivität in Einzelarbeit

Routineprozeduren üben. Aus der Sicht

ihrer Lehrerinnen und Lehrer stehen

mathematische Fertigkeiten als

Unterrichtsziel im Vordergrund,

alternative Lösungswege sind kaum

gefragt.“

2 Baumert, Jürgen; Lehmann, Rainer u.a.: TIMSS – Mathematisch-naturwisschenschaftlicher Unterricht im internationalen Vergleich.Opladen 1997,S. 193 loc. cit. S. 53f

Ex oriente lux, ex occidente luxus.Stanislaw Lec

Aus dem Osten kommt das Licht, aus dem Westen der Luxus.

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kentron - extra - S. 25

Tag der Fachdidaktiken 2002Mathematik nach PISA

In Deutschland werden mathematische Konzepte imUnterrichtsgespräch, das auf eine einzige Lösung hin-führt, entwickelt, in den USA vom Lehrer vorgestelltund von den Schülern angewandt.

Japanischer Mathematikunterricht zeichnet sichdurch intelligente Formen des Anwendens und Übensaus. Die von den Schülern erarbeiteten Konzepte wer-den in variierenden Situationen angewandt und damitverfügbar gemacht. Übungen sind oft abwechslungs-reicher und kognitiv anspruchsvoller.

Die oftmals offenen Aufgabenstellungen im japani-schen Mathematikunterricht lassen Lösungen unter-schiedlicher Güte zu. Dies scheint eine Form impliziterIndividualisierung innerhalb der leistunsheterogenenJahrgangsstufe zu sein.6

Mathematikunterricht nach japanischem Skript be-

darf geeigneten Materials. Der Anker solcher Stundensind komplexe, kognitiv anspruchsvolle Probleme, andenen die Schülerinnen und Schüler dann arbeiten undEinsichten gewinnen.

Produktive Aufgaben für einenproduktiven Unterricht

Das Buch und die textgleiche CD-ROM ProduktiveAufgaben für den Mathematikunterricht in der Sekundarstufe I

(Cornelsen Verlag Berlin, Best.-Nr.: 543609 für das Buchund 543610 für die CD-ROM) stellen solches Unterrichts-material zur Verfügung. Nach einer ersten Gebrauchsan-leitung und zwei einführenden Beiträgen zu Notwendig-keit, Charakter und Einsatz solcher Aufgaben sind 110Probleme mit zahlreichen Abbildungen zu den Themen

• Messen, Schätzen, Rechnen• Zahlen und Zahlverständnis• Geometrische Figuren

• Daten darstellen und analysieren• Funktionen und Graphen• Terme aufstellen und umformen• Probieren und Studieren

zum Kopieren bzw. Ausdrucken vorbereitet. DieLösungshinweise sind ausführlich, erschließen das Auf-gabenumfeld mathematisch und betten es didaktisch ein.Außerdem werden den Aufgaben jeweils Stichworte, dermathematische Schulstoff und die Schulstufe zugeord-net. Ein Stichwortverzeichnis ermöglicht die Suche nachmathematischen und nicht-mathematischen Begriffen.Während das Buch ein direktes Kopieren gestattet, fin-den sich auf der CD-ROM die Aufgaben und Lösungenals PDF-Files für einen schönen Ausdruck und alsWORD-Dokumente, die die Lehrkraft ihren Bedürfnis-sen und ihrer Lerngruppe entsprechend redigieren kann.

... auch im Sinne des BLK-Programms SINUS

Auch die staatliche Reaktion auf die mittelmäßigenLeistungsergebnisse deutscher Schülerinnen und

Schüler bei der Dritten Internationalen Mathematik- undNaturwissenschaftsstudie (TIMSS), das Programm derBund-Länder-Kommission (BLK) zur „Steigerung derEffizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichenUnterrichts“ (BLK-Programm SINUS) widmet sich inzwei seiner elf inhaltlichen Schwerpunkte ausdrücklichder Entwicklung von Aufgaben:

• Modul 1: Weiterentwicklung der Aufgabenkultur immathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht

• Modul 8: Entwicklung von Aufgaben für die Ko-operation von Schülern.Die Produktiven Aufgaben für den Mathematikunterricht in derSekundarstufe I wollen nicht zuletzt den an diesem Ver-such beteiligten und auch den nichtbeteiligten Schulenund Lehrkräften Ideen und Anregungen bieten.

„Japanischer Mathematikunterricht ist

Problemlöseunterricht. Er schult

mathematisches Verständnis und

mathematisches Denken.

Mathematikunterricht in Deutschland und

den USA ist eher

Wissenserwerbunterricht, der auf

Beherrschung von Verfahren zielt.“

6 Baumert, Jürgen; Lehmann, Rainer u.a.: TIMSS – Mathematisch-naturwisschenschaftlicher Unterricht im internationalen Vergleich.Opladen 1997, S. 215

Das Buch und die textgleiche CD-ROM „Produktive Aufgaben für den Mathematikunterricht in der Sekundarstufe I“ (Cornelsen VerlagBerlin, Best.-Nr.: 543609 für das Buch und 543610 für die CD-ROM) stellen produktives Unterrichtsmaterial zur Verfügung. Nach einerersten Gebrauchsanleitung und zwei einführenden Beiträgen zu Notwendigkeit, Charakter und Einsatz solcher Aufgaben sind 110 Proble-me mit zahlreichen Abbildungen zum kopieren bzw. ausdrucken vorbereitet.

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kentron - extra - S. 26

Tag der Fachdidaktiken 2002Kompetenz in Physik

Kompetenzen beim Lösen von

Physikaufgaben in der Sekundarstufe Ivon Prof. Dr. Wieland Müller, zur Zeit Ministery of Education and Training, Tran Khat

Prof. Dr. Wieland Müller,zur Zeit Ministery of Edu-cation and Training,TEACHER TRAININGPROJECT,471 Tran Khat Chan [email protected]

Aufgaben spielen in allen Phasen des Physikunterrichtseine zentrale Rolle. Leider wissen wir bisher nur wenig

darüber, welche Aufgaben im Physikunterricht vorherr-schen und wie sie eingesetzt werden. Studien, die deutschenPhysikunterricht analysieren, beginnen erst [1]. Eine Ana-lyse von Sekundarstufen-I-Physiklehrbüchern verschiede-ner Verlage zeigt [2], dass in den untersuchten Lehrbüchernbeim Stoffgebiet Mechanik (Abb. 1) und Routineaufgabenbzw. formale Aufgaben zu den jeweils angebotenen Lern-inhalten überwiegen. Aufgaben zu Alltagsvorstellungen bzw.zu Erfahrungen mit zurückliegenden Unterrichtsinhalten,zum Vernetzen von Lerninhalten und zur Problemlöse-kompetenz sind nur in Ansätzen vorhanden. Aufgaben,die mehrere Lösungswege zulassen, kommen nicht vor. Eineentsprechende Analyse zum Stoffgebiet Optik in den vierLehrbüchern führt zu einem ganz ähnlichen Ergebnis.

Die TIMS- und PISA-Studien haben gezeigt, dassdeutsche Schülerinnen und Schüler mit dem Lö-

sen von Routineaufgaben akzeptabel zurechtkommen,dass sie aber große Schwierigkeiten haben, Aufgabenzu lösen, in denen es um eine anspruchsvolle und sinn-volle Anwendung des Gelernten geht. Aufgaben, indenen unterschiedliche Lösungswege möglich sind, er-weisen sich für die meisten Schülerinnen und Schülerals kaum lösbar“ [1]. Im Rahmen des BLK-Modellver-suchs gibt es eine Reihe von Bemühungen zur Weiter-entwicklung der Aufgabenkultur [3], [4], [5]. Ausgehendvon den Lehrplanempfehlungen des Deutschen Ver-eins zur Förderung des mathematischen und naturwis-senschaftlichen Unterrichts (MNU) [6] halten wir fol-gende Zielstellungen für Physikaufgaben für bedeut-sam (Abb. 2):

Folgende grundlegenden Aufgabentypen sollten fürden Physikunterricht entwickelt und im Unterricht ein-gesetzt werden.1. Aufgaben, die alltagsgebundene (Fehl) Vorstellungenbzw. Erfahrungen thematisieren und überwinden hel-fen.2. Aufgaben, die dem Aufbau von Routinen dienen.3. Aufgaben zum Festigen und Vernetzen von Lern-inhalten.

Abb. 1: Aufgabenana-lyse verschiedener Phy-siklehrbücher zum Stoff-gebiet Mechanik der Se-kundarstufe IAbb. 2: Zielstellungenfür Physikaufgaben

Kurzfassung

Mit geeigneten Aufgabentypen können Schülerinnen und Schüler im Physikunterricht nicht nur Faktenwissen und physikalische Prinzipienlernen, sondern auch verschiedene Kompetenzen erwerben und festigen.Ausgehend von einer Analyse der Aufgaben in deutschsprachigen Physiklehrbüchern werden im Beitrag vier Aufgabentypen mit Beispielen

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kentron - extra - S. 27

Tag der Fachdidaktiken 2002Kompetenz in Physik

4. Problemorientierte Aufgaben mit verschiedenen Lö-sungswegen und Aufgaben, die eine motivierende Ein-bettung in den Unterricht ermöglichen.5. Konstruktionsaufgaben

1. Beispiele für Aufgaben, diealltagsgebundene Fehlvorstellungen bzw.Erfahrungen thematisieren undüberwinden helfen:

Merkmale dieser Aufgaben:• sie beziehen sich auf Beschreibungen des Alltags mitphysikalischem Hintergrund,• sie schließen Texte, graphische Darstellungen und Ex-perimente ein.

Die Aufgaben liefern einen Beitrag zu folgenderKompetenzentwicklung:• Erkennen der physikalischen Fragestellung anhand derAlltagsbeschreibung,• Erklären bzw. Beschreiben des physikalischen Zusam-menhangs der Alltagserscheinung• Kommunizieren bei der Erklärung von Alltags-phänomenen.

Beispiel 1: Die kalte Cola.Andreas möchte seine Coladose während einer Wan-derung kühl halten. In seinem Rucksack findet er einePlastiktüte, einen Wollpullover und etwas Alumi-niumfolie. In welchen dieser Gegenstände sollte er dieColadose am besten einwickeln? Begründe deine Ant-wort! [1]

Die physikalischen Zusammenhänge sind hier nichttrivial. Es geht darum, die Wärmeausbreitung von derUmgebung zur kalten Cola so gering wie möglich zuhalten. Wenn es um den besten Wärmeschutz mit nureinem der Gegenstände geht, so muss der Pullover ge-wählt werden. Die Aluminiumfolie scheint bereits ausdem Grund auszuscheiden, das es sich um ein StückMetall (guter Wärmeleiter) handelt. Allerdings reflektiertdie spiegelnde Folie eben auch die Wärmestrahlung, wennman sie um die Flasche wickelt. Insbesondere jüngereSchülerinnen und Schüler werden evtl. Schwierigkeitenhaben zu erkennen, dass ausgerechnet der Pullover, derdoch „eigentlich“ Dinge warm hält, hier dazu dient, et-was zu kühlen.

Beispiel 2: Tagsüber hell – wieso eigentlich?Tagsüber ist es in einem Zimmer hell, auch wenn die Son-ne nicht durch das Fenster scheint. Wie kommt das? [1]

Lösung: Dieses einfache Alltagsphänomen berührteine grundlegende Lernschwierigkeit im Optikunter-richt, nämlich die physikalische Vorstellung des Sehens.Diese Lernschwierigkeit kann durch eine überzeugendeDemonstration der Lichtstreuung überwunden werden.Dazu wird farbige Pappe oder farbiges Velourspapier voreine lichtstarke Lampe gehalten. Es ergeben sich deutli-

che Farbeffekte an den Wänden und der Decke einesverdunkelten Raumes. Bereits ein weißes Blatt Papier,das von der Lampe beleuchtet wird, ergibt deutlicheAufhellungseffekte.

2. Beispiele für Aufgaben, die dem Aufbauvon Routinen dienen:

Merkmale dieser Aufgaben:• sie sollten keine einfachen Einsetzübungen fordern,sondern in lebensweltlichen Kontext eingebunden sein,• sie dienen der Reproduktion von Wissen und Können,• sie schließen Experimente, Tabellen und grafische Dar-stellungen ein.

Die Aufgaben liefern einen Beitrag zu folgenderKompetenzentwicklung:• Beherrschen geeigneter Lösungsalgorithmen undThermumformungen• Erkennen physikalischer Größen/Begriffe aus demText,• Verwenden geeigneter Einheiten,• Interpretieren von Messtabellen und Diagrammen ausphysikalischer Sicht,• Beherrschen von experimentellen Verfahren.

Beispiel 3: Das Fahrraddiagramm [7]Von einer Radfahrerin ist das folgende Weg (s)-Zeit (t)-Diagramm (Abb.2) aufgenommen worden. Beschreibemit eigenen Worten die Tachometeranzeige am Fahr-rad! Was geschieht zwischen A und B und zwischen Bund C?

Lösung: Schülerinnen und Schüler haben großeSchwierigkeiten, solche Diagramme richtig zu interpre-tieren. Nicht selten wird die Kurve selbst als Weg ange-sehen. Es geht darum, zu erkennen, dass auf dem Wegvom Ursprung nach A die Radfahrerin mit relativ klei-ner Geschwindigkeit fährt. Dann beschleunigt sie von Anach B und fährt schließlich schneller, aber mit gleich-bleibender Geschwindigkeit von B nach C.

Man könnte die Aufgabe auch so stellen, dass mandie Schüler bittet, eine Geschichte zu dem Diagrammzu erzählen, d.h. sich Situationen auszudenken, in de-nen der Graph entsteht [1].

Abb. 3: Weg-Zeit-Dia-gramm einer Radfahrerin

skizziert: Aufgaben, die Fehlvorstellungen thematisieren und überwinden helfen, Aufgaben zum Aufbau von Routinen, Aufgaben zumFestigen und Vernetzen von Lerninhalten sowie problemorientierte Aufgaben mit verschiedenen Lösungswegen.Der Physikunterricht braucht eine andere Aufgabenkultur.

Kurzfassung (Fortsetzung)

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kentron - extra - S. 28

Tag der Fachdidaktiken 2002Kompetenzen in Physik

3. Beispiele von Aufgaben, die demFestigen und Vernetzen von Lerninhaltendienen:

Merkmale dieser Aufgaben:• sie sollen den zurückliegenden Stoff mit neuenSachinhalten vernetzen,• sie ermöglichen kommulatives Lernen und machen denZuwachs von Kompetenz für den Schüler erfahrbar.

Die Aufgaben liefern einen Beitrag zu folgenderKompetenzentwicklung:• Übertragen bekannter physikalischer Grundprinzipi-en durch Analogieschlüsse auf neue Sachverhalte,• Aufspüren von Zusammenhängen durch Anwendenelementarer Modellvorstellungen zur Lösung von kom-plexen Fragestellungen,• Einordnen neuer Wissenselemente in das vorhandeneGefüge von Alltags- und Fachwissen sowie Herstellenvon Verknüpfungen,• Kommunizieren und Kooperieren beim Bearbeiten vonAufträgen.

Beispiel 4: Die Wärmflaschenwaage:Eine Wärmflasche wird randvoll mit Wasser gefüllt undmit einem 2,5 m Schlauch verbunden (Abb. 4). Auf dieWärmflasche wird ein Brett gelegt. Ein Schüler steigtauf das Brett und drückt mit seinem Gewicht das Was-

ser in den hochgehaltenenSchlauch bis sich eine konstan-te Höhe eingestellt hat.• Stelle die physikalischen Grö-ßen zusammen, die gemessenwerden müssen, um mit dendargestellten Anordnungen dasGewicht zu bestimmen!• Entwickle zu den Methodengeeignete Experimentieran-ordnungen, um die Praktikabi-lität dieser Methoden zu über-prüfen!

Lösung: Mit Hilfe der Glei-chung für den Schweredruck,der Gleichung für den Auflage-druck und des NewtonschenGrundgesetzes kann mit dieserAnordnung das Gewicht be-stimmt werden.

p = r × g× h, p = F/A und F = m×g folgt: F = r×g×h×ABeim Lösen dieser Aufgabe können Problem-

lösungskompetenzen gefördert werden, indem denSchülerinnen und Schülern Gelegenheit geboten wird,sich zunächst selbständig mit dem Problem auseinanderzu setzen. Wird diese Aufgabe im üblichen lehrer-zentrierten Unterricht verwendet, ergeben sich dieseMöglichkeiten nicht [1].

4. Beispiele für problemorientierteAufgaben mit verschiedenenLösungswegen und Aufgaben, dieeine motivierende Einbettung in denUnterricht ermöglichen:

Merkmale dieser Aufgaben:• sie sollen mehrere Zugangsweisen/Lösungswege zulassen,• sie ermöglichen eine bessere Einbettung in denLernprozess (Gruppenarbeit, Lernzirkel, Präsentieren voneigenen Experimenten und Problemlösungsstrategien).

Die Aufgaben liefern einen Beitrag zu folgenderKompetenzentwicklung:• Analysieren der Problemstellung und selbständiges Pla-nen von Lösungswegen,• Auswählen, Erschließen und Verarbeiten von Infor-mationen aus verschiedenen Medien,• Aufstellen von Hypothesen bzw. Prognosen sowieEntwickeln von Experimenten zu ihrer Überprüfung,• Entwickeln von Problemstrategien und Anwenden vonphysikalischen Argumentationsmustern (physikalischeKonzepte),• Kommunizieren und Kooperieren beim Bearbeiten vonProblemstellungen,• Präsentieren von eigenen Lösungswegen.

Beispiel 5: Mit dem Fahrrad die geneigte Ebene hinab [1]Eine Schülerin rollt mit ihrem Fahrrad ohne zu treteneine verkehrsarme und abschüssige Strasse hinab. Wiegroß ist die potenzielle Energie der Schülerin und desFahrrades beim Start und wie groß ist die kinetischeEnergie am Ende der abschüssigen Straße? WelcherAnteil der potentiellen Energie findet sich in der kineti-schen Energie wieder?

Hinweise zur Lösung: Am besten wäre es, wenn derVersuch im Freien durchgeführt werden könnte. Ersatz-weise oder ergänzend kann man ein „Modellexperiment“im Klassenraum durchführen. Die Schüler sollen zu-nächst in kleinen Gruppen beraten, wie sie mithilfe ein-facher Messanordnungen den Höhenunterschied an dergeneigten Strasse und die Endgeschwindigkeit desFahrradfahrers bestimmen wollen. Für diese Messungenbieten sich mehrere Varianten an. Am einfachsten wärees, den durchschnittlichen Winkel der abschüssigen Stra-ße per Peilung (Wasserwaage und Winkelmesser) zu be-stimmen. Man könnte auch zu den beiden in den Abbil-dungen 5 und 6 skizzierten Varianten greifen. Schließ-lich gibt es auch die Möglichkeit – bei ausreichend gro-ßem Höhenunterschied – die Luftdruckdifferenz zu be-stimmen und so auf die Höhendifferenz zu schließen.Als Varianten zur Messung der Endgeschwindigkeit bie-ten sich das Ablesen des Tachometers am Fahrrad oderdie Geschwindigkeitsmessung mit Bandmaß und Stopp-uhr an. Um die aufgeführten Kompetenzen beim Bear-beiten von Problemlösungsprozessen zu unterstützen,muss auf eigenständiges Arbeiten der Schülerinnen undSchüler Wert gelegt werden [1].

Abb. 4: Die Wärm-flaschenwaage

• [1].Duit, R., Fischer, H. E., Müller, W.: Vielfalt und Anregung statt Routine – Der Physikunterricht braucht eine andere Aufgaben-kultur. In: Unterricht Physik 13, 2002, Nr. 67, S. 4.• [2] Müller, W.; Horn, M.: Trainieren von Kompetenzen beim Lösen von Physikaufgaben in der Sekundarstufe I. In: Brechel, R. (Hrsg.):Zur Didaktik der Physik und Chemie – Probleme und Perspektiven. Vorträge auf der Tagung für Didaktik der Physik/Chemie in Berlin,September 2000. Alsbach: Leuchturm, 2001, S. 345-347.• [3] Prenzel, M.; Duit, R.: Ansatzpunkte für einen besseren Unterricht : Der BLK-Modellversuch „Steigerung der Effizienz des mathema-tisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“. In: UP 10 (1999), Heft 54, S. 32-37.

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Tag der Fachdidaktiken 2002Kompetenzen in Physik

Beispiel 6: LichtumlenkungEine brennende Kerze sendet Licht aus. Wie lässt sichauf dem Schirm hinter dem Hindernis ein Bild derKerzenflamme erzeugen?

Für die Konstruktion einer „Lichtumlenkung“ darfstdu Spiegel, Lochblenden, Linsen, Prismen oder anderedurchsichtige Gegenstände, wie Lichtleiter und Folien,verwenden.

Lösung: Dies ist eine anspruchsvolle Aufgabe. VieleSchülerinnen und Schüler werden „einfach darauf losprobieren“. In solchen Fällen muss man sie bitten, ersteinmal eine Zeichnung anzufertigen, wie das Problemzu lösen ist.

Abb. 5: Schlauchwaage

Abb.7: Wie kann man das Bild der Kerzeauf dem Schirm erzeugen?

Abb. 6: Wasserwaage mit Falllot und Winkelmessersowie Laserpointer

• [4] Häußler, P.; Lind, G.: Erläuterungen zu Modul 1: Weiterentwicklung der Aufgabenkultur im mathematisch-naturwissenschaftlichenUnterricht des BLK-Modellversuchs. http://blk.mat.uni-bayreuth.de/material/ipn.html• [5] Fischer, H.; Draxler, D. : Aufgaben und naturwissenschaftlicher Unterricht. In: MNU 54(2001), Heft 7, S. 388-393.• [6] MNU: Physikunterricht und naturwissenschaftliche Bildung – aktuelle Anforderungen. Empfehlungen zur Gestaltung von Rahmenplä-nen bzw. Richtlinien für den Physikunterricht. In: MNU 54 (2001), Heft 3, Seiten I – XVI.• [7] Arons, A.: Homework and Test Questions for Introductory Physics Teaching. (ISBN: 0-471-13707-3)• [8] Bredthauer, W. u.a. Impulse Physik, Klasse 8-10, Stuttgart: Klett, 2001. (ISBN:3-12-772422-5)

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Tag der Fachdidaktiken 2002Innovatives aus der Arbeitslehre

Ansätze einer innovativen Lernkultur

durch Kooperation von Schule und

Wirtschaft am Beispiel der Fächer

Arbeitslehre und Technikvon Dr. Olaf Czech, Institut für Arbeitslehre/Technik, Universität Potsddam

Dr. Olaf Czech,Institut für Arbeitslehre/Technik,Universität Potsdam,Tel.: 0331 - 977 [email protected]

Auch ohne PISA regt sich was

In kaum einer Zeit hat sich die Wirtschafts- und Ar-beitswelt so radikal und schnell verändert wie heute.

Dieser Tatsache können sich die Ausbildungsein-richtungen nicht verschließen. Schon lange vor PISAklagte die Wirtschaft über mangelnd ausgeprägte Kom-petenzen der Schülerinnen und Schüler beim Übergangvon der allgemeinbildenden Schule in weiterführendeBildungs- und Ausbildungssysteme. Das, was wir überPISA bisher und heute erfahren haben, dürfte uns ei-gentlich nicht erschrecken. Wenn die Wirtschafts- undArbeitswelt sich verändert, muss sich auch die Schuleverändern. Noch immer ist aber der Unterricht nacheinem 45-Minuten-Takt ausgerichtet, und der größte Teildes Unterrichts besteht in Belehrungen verbalsymbo-lischer Art. Gewerbliche sowie industrielle, naturwissen-schaftliche und soziale Praxisfelder fristen in den Schu-len ein Randdasein. So kann die Ganzheitlichkeit derZusammenhänge unserer Lebensbereiche nicht erfasstwerden, können keine Fähigkeiten zum Handeln undEntscheiden erworben werden. Betrachtet man beispiels-weise die Strukturierung der gymnasialen Oberstufe inAufgabenfelder, wird eine Ansammlung von Unterrichts-fächern festgestellt, die in ihren historischen WurzelnÄhnlichkeiten aufweisen und über viele Jahrzehnte inihrer zementierten Form verharren (Czech 1997, S. 99).Bemühungen zum Öffnen des Technikunterrichts sindseit geraumer Zeit zu verzeichnen. So wie die Technikwis-senschaften sich den Sozialwissenschaften öffnen, ist esnotwendig, dass der Technikunterricht sich dengesellschaftswissenschaftlichen Unterrichtsfächern zu-wendet (Czech 2002, S. 207). Der GegenstandsbereichTechnik befasst sich schon lange nicht mehr ausschließ-lich mit technischen Artefakten, sondern bildet das Zen-trum, um das die Handlungszusammenhänge des Herstel-lens, des Verwendens und des Entsorgens gruppiertwerden (Grunwald 2002, S. 39). Drei wesentliche Ziel-aspekte könnten dieser Einschätzung entgegenwirken.

Voraussetzung für eine kritische Handlungsfähigkeitist die Vermittlung einer soliden Sach- und Methoden-kompetenz sowie die Ausprägung der Sozial- undPersonalkompetenz. Die Rahmenbedingungen für dieAuswahl grundlegender inhaltlicher Bereiche unterlie-gen weiteren Anstrengungen in den verschiedenstenForschungsfeldern.

Bildungskonzepte der Ausbildungseinrichtungenunterschiedlicher Stufen müssen entstaubt und Freiräu-me für praxisnahe, handlungsorientierte Inhalte undVerfahren geschaffen werden.

Die Verstärkung der Einblicke in die Wirtschafts-und Arbeitswelt ist in den allgemeinbildenden Schulenebenso notwendig wie in der Lehrerbildung. Die Bear-beitung von Projekten aus der Wirtschaft kann diesemDefizit entgegenwirken.

Ausgangsbedingungen

Gegenstand des Konzeptes ist das allgemeinbilden-de Fach Technik der gymnasialen Oberstufe. Aus-

gehend von den Vorwendeerfahrungen mit der wissen-schaftlich praktischen Arbeit in den Klassen 11 und 12werden gegenwärtig Kontakte zu Brandenburger Unter-nehmen aufgebaut. Im Gegensatz zur wissenschaftlichpraktischen Arbeit bei der die Schüler direkt im Betriebarbeiteten, sollen betriebliche Probleme heute in derSchule unter engem Praxisbezug bearbeitet werden.

Politische Unterstützung erfährt das Vorhaben durchjüngste Beschlüsse der Landesregierung Brandenburg mitdem Ziel, Wirtschaft, Schule und Hochschule enger zu-sammen zu führen. Konkrete Aktivitäten sind in dem„Netzwerk Zukunft. Schule + Wirtschaft für Branden-burg“ mit Unternehmensverbänden und Industrie- undHandelskammern ausgewiesen. Die Absicht liegt darin,in einer möglichst vielschichtigen Weise Verbindungenzur Wirtschaft zu knüpfen und das auf einer breiten ge-sellschaftlichen Ebene. Das Netzwerk weist folgendeSchwerpunktbereiche aus:

Lang ist der Weg durch Lehren, kurz und wirksam der durch Beispiele.

Seneca, Epistulae morales ad Lucillum, 6. Brief

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Tag der Fachdidaktiken 2002Innovatives aus der Arbeitslehre

• Gesprächskreise mit Schulen, Betrieben, Sozialpartnern,Hochschulen und Arbeitsämtern;• Stärkung der Ausbildungsfähigkeit, Verbesserung derBerufsorientierung;• Gründung von Schülerfirmen, Existenzgründer-seminare;• Kooperationsvereinbarungen zwischen Schulen, Be-trieben und Hochschulen;• Schülerbetriebspraktika;• Curriculumentwicklung und Lehrkräftefortbildung;• Innovationsförderung und Wettbewerb.

Das Fraunhofer-Institut für Chemische Technolo-gie in Pfinztal bei Karlsruhe gründete 1996 die InitiativeTheoPrax. Im Gegensatz zur heutigen allgemeinen Aus-bildungssituation besteht der methodische Ansatz beiTheoPrax darin, besonders in den naturwissenschaftlich/technischen Disziplinen die Stärkung von Fähigkeitendurch konsequente Integration von industriellen Pro-blemstellungen in Form von Projekten in die Ausbil-dung zu integrieren (vgl. Eyerer 2000, S. 199). Die Ideebestand darin, dass Vertreter der Industrie Problemeformulieren, die schon immer in Angriff genommenwerden sollten, für die aber bisher die Zeit fehlte. Schüler-gruppen erarbeiten dann unter Anleitung der Lehrer undMitarbeiter des Fraunhofer-Instituts Lösungsvorschläge.Erste Erfolge trugen dazu bei, weitere TheoPraxKommunikationszentren zu gründen, u.a. am Fraunho-fer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP inGolm.

Konzeptansatz

Erfahrungswerte der wissenschaftlich praktischen Ar-beit als auch von TheoPrax sollen genutzt werden,

ein neues aufgabenorientiertes Lernen in den FächernWirtschaft-Arbeit-Technik der Sekundarstufe I, demFach Technik in der Sekundarstufe II und in der Lehrer-ausbildung für die genannten Unterrichtsfächer zu ent-wickeln. Dafür ist vorgesehen, die bestehende Zusam-menarbeit mit dem Kommunikationszentrum vomFraunhofer Institut in Golm weiter auszubauen. DasKonzept soll durch nachfolgende inhaltliche Aspektebesonders bestimmt werden:• Eine zielstrebige Erweiterung der Beziehungen zwi-schen Schule und Wirtschaft schafft objektive Einblickein die Wirtschafts- und Arbeitswelt.• Die Schüler erwerben durch solche Problembearbei-tungsprozesse Fähigkeiten, wie Teamfähigkeit, Kommu-nikationsfähigkeit und weitere Kompetenzen.

Das methodische Grundkonzept wird aus der be-sonderen Stellung des Projekts mit seinen Interdepen-denzen im Technikunterricht abgeleitet (vgl. Abb. 1) undist stark an die Projektmethode angelehnt (vgl. Abb. 2).

Die Abbildung 3 zeigt typische Praxismethoden desTechnikunterrichts im Vergleich zur Projektmethode inden Bezügen zu unterschiedlichen Handlungskriterien.Klassen oder Kurse werden in Teilgruppen gegliedert,die in hohem Maße selbstständig und eigenverantwort-lich über einen längeren Zeitraum zusammen arbeiten.

Projekte und ihre Tendenzen im Technikunterricht___________________________________________________________________________

Kompetenzbereiche

Sachkompetenz Methodenkopetenz Sozialkompetenz Personalkompetenz

Arbeitsbereiche

Planen BewertenAusführen

MathematikNaturwissensch.DeutschFremdsprachenPolitische BildungInformatikPhilosophie

Fäc

herb

erei

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Projekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imProjekte imT e c h n i k -T e c h n i k -T e c h n i k -T e c h n i k -T e c h n i k -T e c h n i k -

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Wirtschaft

Arbeit

TechnikInha

ltsb

erei

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Abb. 1

„Die Verstärkung der Einblicke in die Wirtschafts- und Arbeitswelt ist in

den allgemeinbildenden Schulen ebenso notwendig wie in der Lehrerbildung.“

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Tag der Fachdidaktiken 2002Innovatives aus der Arbeitslehre

Projektverlauf___________________________________________________________________________

Projektauftrag

• Kompetenzentwicklung• Praxisorientierung• Berufsorientierung• Patent? Übertragung

Abb. 2

Schule Wirtschaftund

Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-Vorstellen der Lösungsvarianten beim Auf-traggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variantetraggeber und Entscheidung für eine Variante

Erstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des ProjektplanesErstellen des Projektplanes

InformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnungInformationsgewinnung

Entwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von LösungsvariantenEntwerfen von Lösungsvarianten

Bearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten VarianteBearbeiten der favorisierten Variante

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Präsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im UnternehmenPräsentation der Ergebnisse im Unternehmen

AnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahmeAnnahme AblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnungAblehnung

Überführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die PraxisÜberführen in die Praxis UrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschungUrsachenforschung

Innovation:• PR• Steigern der Qualität• Steigern des Gewinns• Verbessern der Arbeitssicherheit

„Die Idee besteht dar-in, dass Vertreter derIndustrie Problemeformulieren, die schonimmer in Angriffgenommen werden soll-ten, für die aber bisherdie Zeit fehlte.“

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Tag der Fachdidaktiken 2002Innovatives aus der Arbeitslehre

Lernende und Lehrende werden zunehmend gleichwer-tige Gruppenmitglieder.

Im Gegensatz zu TheoPrax sollen die Themen ausder Wirtschaft nicht außerhalb des Unterrichts inArbeits- oder Interessensgemeinschaften bearbeitetwerden, sondern rahmenplanintegriert im Pflicht- bzw.Wahlpflichtunterricht fester Bestandteil des Unterrichtswerden. Die notwendigen aufgabenspezifischen Kennt-nisse sprengen somit an einigen Stellen den Rahmender vorgegebenen Themenfelder im Rahmenlehrplan,sind curricular aber vorgesehen. Der schulinterne Rah-menplan sowie einzelne Konzepte für den fächer-verbindenden Unterricht berücksichtigen diese auf-gabenspezifischen Kenntnisse. Somit können verschie-dene Unterrichtsfächer mit den entsprechenden Lehr-kräften wechselseitig oder auch gleichzeitig in das Pro-jekt eingebunden sein. Dieses Vorgehen ermöglicht den

Schülerinnen und Schülern Realitätsnähe bei Hand-lungsabläufen in Unternehmen.

Diese besondere Form der inhaltlichen Gestaltungdes Unterrichts wird in der Lehrerausbildung in denLehramtsstudiengängen Arbeitslehre SI/P und LG inForm von Projektstudien in der Studienordnung ausge-wiesen. Das bedeutet, die von den Unternehmen zurVerfügung gestellten Aufgaben werden im Rahmen die-ser Lehrveranstaltung und durch punktuellen Kontaktzum Auftraggeber bearbeitet und verteidigt.

Die von uns ausgelöste Initiative stößt bei allen Be-teiligten auf erwartungsvolles Interesse. Wenn nun dasInteresse auch noch Initiativen auslöst und diese gebün-delt werden, könnte es ein Beitrag zum interessanterenpraxisorientierten Lernen werden, ein Lernen, welchesweitere Lernmotive bei den Schülerinnen und Schülernentwickelt und fächerübergreifende Wirkung hat.

Lehrgang Betrieberkundung Betriebspraktikum Expertenbefragung techn. Experiment

Information InnovationKommunikati-

onOrganisation Produktion Applikation Evaluation

ProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjektProjekt

Praxismethoden im Technikunterricht und ihre dominierenden Bezüge zu Handlungskriterien__________________________________________________________________________________________

Abb. 3

„Die von uns ausgelöste Initiative stößt bei allen Beteiligten auf erwartungsvolles Interesse. Wenn nun das

Interesse auch noch Initiativen auslöst und diese gebündelt werden, könnte es ein Beitrag zum interessanteren

praxisorientierten Lernen werden, ein Lernen, welches weitere Lernmotive bei den Schülerinnen und

Schülern entwickelt und fächerübergreifende Wirkung hat.“

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Tag der Fachdidaktiken 2002Innovatives aus der Arbeitslehre

Konzeptumsetzung

Zur Verwirklichung des Konzeptes sind mindestenszwei Beteiligte notwendig, das Unternehmen, wel-

ches die Aufgabe zur Verfügung stellt und eine Schu-le mit der entsprechenden Bereitschaft der Lehrkraft,die mit den Schülerinnen und Schülern die Aufgabebearbeitet. In der gegenwärtigen Phase arbeitet dasInstitut für Arbeitslehre/Technik mit dem Fraunho-fer Institut für Angewandte Polymerforschung IAPin Golm gemeinsam an der Frage, wie entsprechendeThemen durch die Unternehmen bereitgestellt wer-den können. Dabei sind die fachlichen Bearbeitungs-

horizonte ebenso zu beachten, wie die Erreichbar-keit des Betriebes.

Die eingehenden Themen werden in einem Themen-pool allen Interessenten zur Einsicht und Auswahl be-reitgestellt. Nach entsprechenden pädagogischen Ge-sichtspunkten werden die Themen durch die betreuen-den Lehrkräfte ausgewählt. Inwieweit die Schüler und/oder Studenten in die Auswahl einbezogen werden kön-nen, muss noch untersucht werden.

Die Arbeit der Projektgruppen sollte nach folgen-den Schritten erfolgen:• Erarbeiten eines Projektstrukturplanes einschließlichKostenplan (vgl. Abb.4). Daraufhin trifft der Betrieb erst

Angebot zum Projekt (Thema):......................................................................................................................_______________________________________________________________________________• Projekt-Thema

• Projektziel(e) möglichst genau formulieren

•Umsetzungsschritte zum Ziel definieren

• ProjektstrukturplanProjekt in Inhaltsphasen einteileninnerhalb der Projektphasen Aufgaben- bzw. Arbeitspakete definierenPhasenergebnisse und Ergebnisse der Aufgaben- bzw. Arbeitspakete definierenAufgaben des Auftraggebers mit einbeziehen

¤ Projektteam-Verzeichnis anlegenProjektbetreuer, Teammitglieder und als Ansprechpartner einen Teamsprecher verbindlich festlegenKontaktadresse, Telefonnummer, Faxnummer, e-Mail aller Teammitglieder

¤ Terminplan aufstellenDen Inhaltsphasen und Aufgaben-/Arbeitspaketen Bearbeitungszeiten zuordnenTerminplan zwecks Übersichtlichkeit grafisch darstellenMeilensteine festlegenTermin für Zwischenbericht, Abschlussbericht und Abschlusspräsentation festlegen

¤ Kostenplan: Projektkalkulation durchführenSachmittelkosten (z.B. Materialkosten, Telefonkosten, Internetkosten, Laborkosten u.ä.), Reisekosten

¤ Zahlungsbedingungen festlegen(z.B. 1/2 oder 1/3 der Summe nach Auftragserteilung, den Rest bei Projektschluss)

¤ eventuell Sondervereinbahrungen festhalten(Geheimhaltungsvereinbahrungen, Nutzungsrechte der Projektergebnisse u.ä.)

¤ Erweitertes AngebotÄnderungen z.B. in der Kalkulation des Zeit- und Kostenaufwandes während der laufendenProjektarbeit mit dem Auftraggebenr besprechen und in Form eines erweiterten Angebotes einreichen

¤ Gültigkeit des Angebots

• Datum, UnterschriftenTheoPrax Abb. 4

Literaturliste:

• Czech, O. (1997): Technische Bildung – ein Beitrag zur Abiturreform. In: Ludgar Fast,• Harald Seifert (Hrsg.): Technische Bildung. Geschichte, Probleme, Perspektiven. Didaktische Materialien zur technischen Bildung. Wein-heim 1997, S. 91-100• Czech, O. (2002): Positionen zur Technikdidaktik – Gymnasiale Oberstufe. In: G. Banse, B. Meier, H. Wolffgramm (Hrsg.) Technik-bilder und Technikkonzepte im Wandel – eine technikphilosophische und allgemeintechnische Analyse. Karlsruhe 2002, S. 195-207

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Tag der Fachdidaktiken 2002Innovatives aus der Arbeitslehre

entgültig die Entscheidung, ob er den Auftrag erteilt odernicht.• Projektbearbeitung mit notwendigen Kontakten zumAuftraggeber.• Erarbeiten einer Dokumentation der Ergebnisse, z. B.in Form eines Abschlussberichts, Zeichnungen, multi-medialen Darstellungen oder Modellen. Die erarbeite-ten Ergebnisse werden in einem entsprechenden Rah-men vor dem Auftraggeber verteidigt.

Die „0-Serie“ läuft

Erste Erfahrungen werden gegenwärtig in zwei Kur-sen der gymnasialen Oberstufe gesammelt. Im Sally-

Bein-Gymnasium Beelitz wird für eine Marketing Firmaeine jugendfreundliche Internetseite zum Thema „Wis-senschaft und Bildung in Potsdam“ erstellt. Ein zweiterKurs entwirft eine CD zur Präsentation der auftrag-gebenden Firma. Eine Projektgruppe des Instituts fürArbeitslehre/Technik entwirft Messegeschenke aus neu-en Kunststoffen für das Fraunhofer-Institut IAP.

Weiterführende Fragen

Bei der bevorstehenden Neubearbeitung der Rahmen-pläne für die gymnasiale Oberstufe werden für das

Fach Technik eine Reihe von Fragen weiterhin zu bear-beiten sein. Gleiches trifft für die inhaltliche und organi-satorische Realisierung in der Schule zu. Einige dieserFragen sollen hier genannt werden.• Welche Hinweise benötigen die Unternehmen zur For-mulierung der Aufgabenstellung entsprechend den An-forderungen und dem Umfang der Aufgabenstellung?• Durch welches Verteilungssystem gelangen die vonden Unternehmen zur Verfügung gestellten Aufgabenin die Schulen?• Welchen Anforderungen muss ein Klassifikations-muster der Aufgabenstellungen entsprechen, um denunterschiedlichen Jahrgangsstufen und Ausbildungsein-richtungen gerecht zu werden?• Welche Hinweise benötigen die Schulen, Lehrerin-nen und Lehrer zur Auswahl, didaktisch-methodischenAufbereitung und zur Organisation?• Welche curricularen Detailfragen sind in Abhängig-keit der Aufgabenstellungen zu lösen?

„Im Gegensatz zur wissenschaftlich praktischen Arbeit, bei der die Schüler direkt im

Betrieb arbeiteten, sollen betriebliche Probleme heute in der Schule unter engem

Praxisbezug bearbeitet werden.“

• Welche organisatorischen Probleme sind in den Schu-len grundsätzlich zu lösen?• Welche Besonderheiten lassen sich zu traditionellenUnterrichtsprojekten erkennen, die einer weiteren di-daktisch-methodischen Bearbeitung bedürfen?

Kooperationspartner:

• Arbeitgeberverband Berlin-Brandenburg• Technologie- und Gründerzentrum Fläming GmbH• Pädagogisches Landesinstitut Brandenburg• Fraunhofer-Gesellschaft, Institut für AngewandtePolymerforschung, Golm

• Eyerer, P. (2000): „TheoPrax“ Bausteine für lernende Organisationen, Stuttgart 2000• Grunwald, A. (2002): Das Technische und das Nicht-Technische. Eine grundlegende Entscheidung und ihre kulturelle Bedeutung. In: G.Banse, B. Meier, H. Wolffgramm (Hrsg.) Technikbilder und Technikkonzepte im Wandel – eine technikphilosophische und allgemein-technische Analyse. Karlsruhe 2002, S. 37-46

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Impressum

kentronJournal zur Lehrerbildung

Herausgeber:Universität Potsdam, Zentralstelle für Lehrerbildung,

Dr. Roswitha Lohwaßer

Redaktion:Dr. Roswitha Lohwaßer, Nicole Schulz,

Sascha Lohwaßer, Tim Riemann, Dennis Jacobs

Vertrieb:Universität Potsdam, Zentralstelle für Lehrerbildung

Layout:Dennis Jacobs

Lektorat:Viola Grellmann

Druck:Druckerei des AVZ der Universität Potsdam

Am Neuen Palais 1014469 Potsdam

Anschrift der Redaktion:Universität Potsdam

Zentralstelle für LehrerbildungPostfach 60 15 53

14415 PotsdamTel.: 0331 - 977 2561Fax: 0331 - 977 2196

E-Mail: [email protected]

Artikel, Anregungen und Bemerkungen senden Siebitte an die Zentralstelle für Lehrerbildung.

Sie können auch persönlich bei uns vorbei schauen:Zentralstelle für Lehrerbildung

Universitätskomplex GolmHaus 14, Zimmer 5.38