Upload
khesrau
View
226
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
8/9/2019 KFZ - Kaltstart-Festivalzeitung / # 06 / 1. Jahrgang
1/12
Fr23.-So25.Juli
Kaltstart
KFZFesivalzeitun
1.Jahrgan#
2010
6
Ringfrei
berdiePublikumsgesprc
he
beimKALTSTART
SturmfreiHauspartybe
imjngsten
RegisseurdesFestivals
Bauchfrei
DieTanzperformancebeim
YOUNGSTAR-Fest
8/9/2019 KFZ - Kaltstart-Festivalzeitung / # 06 / 1. Jahrgang
2/12
8/9/2019 KFZ - Kaltstart-Festivalzeitung / # 06 / 1. Jahrgang
3/12
Kalar
WarumeinFestivalsprechenmussauchmitdenen,
diezuschauen.EinPldoyerfrdasPublikumsgespr
ch
von Stephanie Drees
Auf Theaterfestivals wird traditionell viel gesprochen. Gut
und richtig ist das, denn frei nach Kunstalphatieren wie dem
aufstrebenden Jungdramatiker Nis-Momme Stockmann
ist das Theater ein Wesen mit vielen Kpfen, die alle etwas
anderes denken. Das allgemeine Sinnieren ber die darstel-
lenden Knste soll dem Zwiegesprch mit einer Hirn-Hydra
gleichen.
Ich denke lieber an die Handbewegung einer Zuschauerin, die
bei einem anderen Festival eine dipus-Inszenierung kom-
mentierte. Im Publikumsgesprch war zunchst genauso viel
los wie in den ersten zehn Minuten auf der Bhne, auf der die
Schauspieler, Zitat Regisseur, lautlos nach Hlderlins Text
tasteten. Die Dame brachte sich ein mit purer Ehrlichkeit:
Also, als erstmal gar nichts passierte, da kam mir so ein
Impuls, da wollte ich pltzlich Kommt ein Vglein geogen
singen. Einfach so. Der Kommentar hatte deutlich mehr Un-
terhaltungswert als die vorangegangene Inszenierung.
Das Publikumsgesprch: Manchmal wird es einfach so
zum diskursiven Kopfsalat. Die direkte Auseinandersetzung
mit dem Zuschauer, der nicht in der knstlerischen Elfen-
beinturm-WG wohnt, halten viele Theatermacher fr wichtig.
Sicher ist aber auch: Facettenreiche, strittige, kurz gute Pu-
blikumsgesprche sind selten, weil sie etwas brauchen, das
leicht aussieht, aber schwer ist: eine starke Moderation. Das
Publikumsgesprch: Die Vorhlle fr Moderatoren und den
Rest der Theatercrew?
Alle gemeinsam auf Traumreise
Das KALTSTART ist ein besonderes Festival, nicht nur wasdie Quantitt der Produktionen angeht. Das Besondere ist vor
allem der sthetische Rundumschlag: eine Theatermesse,
die sich zum Ziel gesetzt hat, die Landschaft der Bhnen-
kunst abzubilden, in all ihrer strukturellen und sthetischen
Vielfalt. Das klingt nach Reibungspotential, nach reichlich
Gesprchsstoff. Doch schaut man ins Programmheft, sieht es
in Bezug auf ofziellen Verbaltaustausch mehr als mau aus.
Fast ausschlielich die Sparte FINALE wartet mehrmals mit
dem guten, alten Nachgesprch auf. Beim KALTSTART lsst
sich eine kleine Typologie der Publikumsgesprchsverlufe
aufmachen: Es gibt die persnlichen mit einem Touch von
Therapiesitzung, die aufklrenden, in denen alle gemein-
sam auf 50 Jahre Rezeptionssthetik pfeifen und die kriege-
rischen, in denen es um die theatrale Wurst geht.
Vglein,trinkvomQaselwein
Nach Stcken wie wund.es.heim.innen./nacht, die schon im
Titel nebliger als jede Akte-X-Einstellung anmuten, bittet der
motivierte Moderator die Zuschauer, ihre Augen zu schlieen
und sich an den Moment in der Inszenierung zu erinnern, der
ihnen am eindringlichsten war. Keine unschne Idee, auch
wenn kurzzeitig Traumreisen-Meditationserinnerungen aus
dem Religionsunterricht aufblitzen. Nicht alle Zuschauer
kommen aus dem gemeinsamen Mentalurlaub wieder heim.
Von dieser Haltung leicht berrascht, schaut der junge Mode-
rator, selbst Regisseur, leicht bedppelt drein.
Anders bei dem Gesprch zu Philoktet, in dem der Regis-
seur auf Anfrage einiger Zuschauer sein Best-of der Meta-
phern erklrt: Ja, ein Spieler war die personizierte Wunde
des Helden. Sicher spannend, aber auch ein bisschen viel
knstlerische Transparenz.
Persnlicher und dialogischer geht es da im Publikums-
gesprch zu Der Kick zu: Eine relativ kleine Anzahl von
Zuschauern verrt erstaunlich ehrlich, was sie an der Insze-
nierung ergriffen hat und was nicht. Aber ein persnliches
Gesprch mit vielleicht fnfzehn Leuten im Raum inklusive
Knstlern ist natrlich einfacher zu fhren als eine groe
Gruppe Menschen zu motivieren, ber metaphorisch-ver-
schachtelte Kunst zu sprechen. Vor allem, wenn es um ein
Stck geht, das sich dokumentarisch mit hrtester, erscht-
terndster Realitt beschftigt. Liegt der Nhrboden fr
Gewalt berall? Eine Frage, die sich alle gemeinsam stellen.
Publikumsgesprch wie dieses sind selten, weil sie besonde-
re Momente einfangen.
Verbrderung mit den Rampensuen
Was tun, um diese Momente huger erleben zu knnen? In
jedem Fall muss auf der groen KALTSTART-Theatermesse
huger das Tabernakel mit dem Wein herumgehen, der die
Diskurszunge lockert. Das lsst sich im direkten wie bertra-
genden Sinne verstehen. All die Hobbyforscher, Streithhne,
Rampensue, die das Publikum zu bieten hat, mssen ins
Quasselboot geholt werden. Warum? Weil Austausch ber
Kunst zu Kunst fhren kann. Die Formate drfen dafr so
mannigfaltig sein, wie das Theater selbst: Speed-Gesprchs-
runden im Duo, gemeinsame Rckschauen, theatrale Traum-
reisen. Ja, das will ich auf einem Festival sehen: Hnde, die in
Publikumsgesprchen kleine Vgel imitieren.
en,
as ingt
toff..
s.
m t
st
ufe
Ra
ua
Kun
n, n enen a e geme
thet ie kr i
ale Wurst geht.
er austa
art
hgesprch au
der P
nen./
aus
au
heim.
e-
,
u lie
zu erinner
KFZThema
8/9/2019 KFZ - Kaltstart-Festivalzeitung / # 06 / 1. Jahrgang
4/12
04 / 05
Trmin
16.00 Uhr-21.00 Uhr // My favourite
thing // LOKAL
16.00 Uhr // Pissoirs // Balkon (Su-
sannenstrae/Bartelsstrae)
18:0 0 Uhr // Alles Meins // Haus
III&70 / Anbau18.00 Uhr // Pissoirs // Balkon (Su-
sannenstrae/Bartelsstrae)
19:30 Uhr // (K)EI(N)LAND - Studie
zur deutschen Seele 1 //
Haus III&70 / Saal
20: 00 Uhr // Der Mann der die
Welt ass // Terrace Hill
20: 00 Uhr // Von Motten, Bier und
Taschenlampen - Eine Geschichte
ber pfandfreie Einseitigkeit //
Foolsgarden Theater e.V. //
TERMINNDERUNG
21:30 Uhr // Erstmal schn hinset-
zen // Hamburger Botschaft
22:00 Uhr // Alte Sehnsucht // 13ter
Stock (Bar Rossi)
22:15 Uhr // The Fan in the Mirror
// Terrace Hill
Sonntag 25. Juli 2010
12:00 Uhr // Taxi Altona- Ich war
ein Arbeitsplatz // Haus III&70 /
Parkplatz (Abfahrt)
15:00 Uhr // Taxi Altona- Ich war
ein Arbeitsplatz // Haus III&70 /
Parkplatz (Abfahrt)
16.00 Uhr-21.00 Uhr // My favourite
thing // LOKAL
16.00 Uhr // Pissoirs // Balkon (Su-
sannenstrae/Bartelsstrae)
18:0 0 Uhr // Striptease 2010 //
Waagenbau
20: 00 Uhr // Von Motten, Bier und
Taschenlampen - Eine Geschichte
ber pfandfreie Einseitigkeit //
Foolsgarden Theater e.V.
19.00 Uhr // all1 forum: no secret
garden // Neuer Kamp 30 (Vorplatz
Knust)
19:0 0 Uhr // Alles Meins // Haus
III&70 / Anbau
20: 00 Uhr // Krpergewicht. 17% //
Zeisehallen
20.00 Uhr // Pissoirs // Balkon (Su-
sannenstrae/Bartelsstrae)
20:00 Uhr // stand-by-me // Knust
20.00 Uhr // WALD-CITY // Schul-
terblatt 58
21:30 Uhr // GIB MIR EINEN KUSS -
Portrt einer Bestie // Zeisehallen
22:00 Uhr // Fringe Live-ElektroSession in Kooperation mit dem
13ten Stock // 13ter Stock (Bar
Rossi)
Freitag 23. Juli 2010 Samstag 24. Juli 2010
Vorschau
15:00 Uhr // Taxi Altona- Ich war
ein Arbeitsplatz // Haus III&70 /
Parkplatz (Abfahrt)
18:0 0 Uhr // Taxi Altona- Ich war
ein Arbeitsplatz // Haus III&70 /
Parkplatz (Abfahrt)
16.00 Uhr-21.00 Uhr // My favourite
thing // LOKAL
16.00 Uhr // Pissoirs // Central Park
18.00 Uhr // Die Zofen // Neuer
Kamp 30 (Vorplatz Knust)
18:0 0 Uhr // Pimper my City, Du
Nomadensau // Haus III&70 /
Anbau
19.00 Uhr // Pissoirs // Central Park
19:0 0 Uhr // Striptease 2010 //
Waagenbau
19.00 Uhr // WALD-CITY // Eingang
Schanzenpark (Schanzenstrae/
Kleiner Schferkamp)
20.00 Uhr // Die Zofen // Neuer
Kamp 30 (Vorplatz Knust)
20: 00 Uhr // Sitz ich, die man nicht
rief, die Siebte! // monsun theater
/ Werkstattraum
20: 00 Uhr // Titanic // 13ter Stock
(Bar Rossi)
20: 00 Uhr // Woyzeck // Haus
III&70 / Saal
20:30 Uhr // Finnisch - Solostck
fr eine Frau // Foolsgarden The-ater e.V.
22:30 Uhr // Silke Rudolph - Ein
paar Dinge, die ich ber mich
weiss //Haus III&70 / Saal
22:30 Uhr // Flamba Feuershow //
Central Park
Wie knnen wir den Kapitalismus, nach ber
100 Jahren Leben in ihm, noch getrennt von
uns betrachten? Welchen Einuss hat er auf
unsere Beziehungen, wie wir Entscheidungen
treffen und Sinn nden? Nis-Momme Stock-
manns Stck Der Mann der die Welt ass ist
keine postdramatische Kapitalismuskritik,
es erzhlt von echten Menschen. Dominique
Schnitzer zeigt es in einer sozialrealistischen
Inszenierung. Kein lustiger Vorschautext.
Auch kein lustiger Abend wahrscheinlich.
Aber darum gehts heute auch nicht.
von Laura Naumann
Heue r Sie im Agebo:Das Theater Heidelberg mit
Der Mann der die Welt ass
von Nis-Momme Stockmann.
Wer immer du auch bist, du hinterlsst einen Ab-
druck (gewidmet J.B.G.B.) der Satz muss sein,
sagt Anna Nigulis von Fehlinterpretierte Projek-
tionsche. Er ist das Mantra von Von Motten,
Bier und Taschenlampen eine Geschichte ber
pfandfreie Einseitigkeit! Auch nach einer einsei-
tigen Liebe bleibt also etwas. Oder? Drei Spiele-
rinnen begeben sich in die Rollen von Ihm und
Ihr und einer Projektionsche. Jeder, der mal
realisieren musste, dass er sich nur in die Vorstel-
lung einer anderen Person verliebt hat, wei, wie
diese Flche aussieht. Der Text dieses Versuchs
ber die einseitige Liebe ist von Anna Nigulis, mit
Jannika Jira, Julian Horeyseck und Jonas Link
inszeniert sie ihn als Bildertheater zwischen Per-
formance und Dialog. Letztlich ist das Stck dazu
da, um festzustellen, dass man nicht immer gleich
in die Tischplatte beien muss, sagt Nigulis. Das
ist doch mal ein Versprechen. Also, ihr einsamenHerzen, die ihr noch auf die Kuppelkrfte der Ab-
schlussparty wartet dieses Stck ist fr euch!
Eiame Herze, hau her!Die Fehlinterpretierten Projektionschen
starten einen Aufruf zur emotionalen Halt-
barkeitsverlngerung
von Alexandra Mller
Sa. 24.07. und So. 25.07 | 20 Uhr | Foolsgarden |Urauffhrung
So. 25.07 | 20 Uhr | Terrace Hill
8/9/2019 KFZ - Kaltstart-Festivalzeitung / # 06 / 1. Jahrgang
5/12
Kalar
in der Truppe fehlt. Man knnte jetzt ber Nationalitten
sprechen, ber Hautfarben, ber Religion: Von allem gibt es
eine Menge Variationen im Raum. Man knnte es aber auch
lassen, die Mdchen sprechen ja auch nicht darber, und
wenn, dann machen sie sich lustig ber solche billigen Zu-
ordnungen. Viel wichtiger ist die Frage, wer von der Truppe
aus Wilhelmsburg und wer aus Eimsbttel kommt. Und wer
am Sonntag welche Frisur trgt.
Am Sonntag tanzen bei Exit Paradise nur fnf der 15
Mdchen aus Opuku-Preachs Truppe mit die anderen
sind schon in den Sommerferien. Sie fhren auch nurAusschnitte vor, die Auffhrung ist nur ein Auftakt fr das,
was die Ruff Monkeys im nchsten Jahr vorhaben: Eine
groe Bhnenshow zusammen mit den Performerinnen von
She She Pop. Was jetzt beim KALTSTART unter dem Label
YOUNGSTAR luft, ist nur eine Art Trailer fr das YOUNGS-
TAR 2011, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Jugendliche
aus prekren sozialen Verhltnissen oder mit Migrations-
hintergrund eine Mglichkeit zur knstlerischen Entfaltung
zu geben. Neben der Auffhrung der Ruff Monkeys wird die
Installation Traumfabrik Kopf von Sascha Piroth gezeigt,
beides im Rahmen eines groen Festes mit Kaltgetrnken
und Cevapcici. Auerdem wird ab Freitag ein Tanzworkshopmit dem Monkeys angeboten.
Es geht um Liebe. Und darum, wer wann wie
wen mit wem betrogen hat
Bei den Ruff Monkeys geht es am Sonntag grob gesagt
um die Liebe. Um Jungs und Mdchen hauptschlich um
Jungs und um komplizierte Verwicklungen. Amel redet
auf persisch darber, dass sie nach dem Studium heiraten
mchte, und ein Haus haben, und Hunde, und Kinder, und
so weiter. Bench sagt, dass sie lieber ihre Liebe auf viele
Mnner verteilt. Aber, sagt Binta, das sind nur Rollen.
Niemand hier ist Anti-Liebe. Wir lieben die Liebe. Das istein Satz, der die Mdchen erst zum Lachen bringt, dann
zum Schnattern, und dann zu einem Gesprch darber, wer
wann wie wen mit wem betrogen hat. Aber nicht aufschrei-
ben, sagt Karina. Nachdem das geklrt ist, bringt Opoku-
Preach ihre Truppe wieder in die Ausgangspositionen, nur
Bench dreht sich noch einmal um, und fragt besorgt, ob
denn jetzt auch die ganzen Fkalausdrcke, wie sie sagt,
in der Zeitung stnden. Verdammte Scheie, nein. Nur ber
die Liebe, da drber steht etwas drin.
Jumping Monkeys. Foto: Jan Fischer
Bench muss dreiig Sit-ups machen. Sie war unkonzen-
triert, ist ein paar Mal neben dem Takt gelandet, hat ein
paar Schritte nicht richtig hinbekommen. Die Choreogran
Mable Opuku-Preach steht davor und zhlt mit, aber auf die
ese Art: Neun neun machs richtig neun schaffst
dus, oder sollen wir schon mal nach Hause gehen? Opu-ku-Preach ist eigentlich kein eser Drill Instructor: Sie
lacht, whrend sie zhlt. Sie ist nur die quirlige Hterin
dieses Sacks voll Flhe namens Ruff Monkeys, der gerade
Auschnitte aus dem Stck Exit Paradise probt, das am
Sonntag im Rahmen der YOUNGSTAR-Sparte des KALT-
START aufgefhrt wird.
Wenn die Ruff Monkeys proben, gehrt es dazu, dass sie,
sobald ein bisschen Luft zwischen den Tanztrainingsein-
heiten ist, ein Gewirr aus Lachen, Tratsch und nett ge-
meinten Neckereien erzeugen, das sofort wieder abbricht,
wenn die Musik einsetzt. Die Truppe funktioniert, weil
Opuko-Preach nicht nur Sit-Ups verteilt, sondern meistens
mitlacht, mittratscht, mitneckt.
Hautfarbe? Religion? Egal.
Wichtig ist, wer aus Wilhelmsburg kommt
Die Ruff Monkeys proben in den Rumen des LuKuLuLe
e.V., im dritten Stock, schon im ersten Stock ist die Musik zu
hren: Soulig ist das, was da die Treppe runterkommt, zum
Mitwippen. In dem Raum selbst ist es ein bisschen, als wre
man in eine Mischung aus Flashdance und Sister Act
geraten: Eine Wand ist ein riesiger Spiegel, die vier Md-
chen Karina, Amel, Binta und Bench, die nicht wirklich so
heit, aber hier so genannt werden will, weil das ein guter
Tnzerinnenname ist trippeln in sauberen Schritten
davor herum und betrachten sich beim Tanzen, whrend
Opuko-Preach mal mitzhlt, mal mittanzt, weil die fnfte
Sread he LoveEin Probenbesuch bei der Tanzgruppe Ruff Monkeys
vor ihrem Auftritt mit Exit Paradise beim YOUNGSTAR
von Jan Fischer
So. 25.07 | 15 bis 21 Uhr | Park Fiction beim Pudel Club |Eintritt frei
Vorschau
8/9/2019 KFZ - Kaltstart-Festivalzeitung / # 06 / 1. Jahrgang
6/12
06/ 07
Titanic ist eine dankbare Vorlage fr eine Persiage.
Der inzwischen zweiterfolgreichste Film aller Zeiten (ab-
gelst vom 3D-Mega-Dingsbums Avatar, ebenfalls von
James Cameron) glnzt nicht nur mit erstklassigen Effek-
ten und einem teils groartigem Schauspieler-Ensemble
(zu dem auch sehr wohl auch DiCaprio gehrt, selbst wenn
das niemand wahrhaben will), sondern auch einer Liebes-
geschichte, manifestiert in einem grauenhaften Drehbuch
voller Kitsch und Herzschmerz, mit Dialogen, die auf einem
Lebkuchenherz besser aufgehoben wren und einer merk-
wrdigen Dramaturgie, die wechselt zwischen Schiffsun-
glck und Liebesgetolle, Schiffsunglck und Liebesgetolle
sowie einer alten Erzhlerin, die der Geschichte vorn und
hinten einen Deckel gibt und uns so einen McPop-Burger
anbietet, den jeder frisst und jeder kennt, egal ob Arthouse
oder Mainstream, Mann oder Frau.
Die Kellnerinnen Alberta und Elli sind noch auf Arbeit, als
sie sich gemeinsam die lange Oscar-Nacht anschauen.
Dabei dient die Bartheke der Bar Rossi als Austragungs-
ort. Das ist ungewhnlich, aber auch das erklrte Ziel der
Freien Bhne Neuwied: Theater an ungewhnlichen Orten
spielen, Bhnen schaffen, wo eigentlich keine Bhnen sind.
So sitzt man also mehr oder weniger bequem vor der Bar
und schaut den beiden dabei zu, wie sie den Film chronolo-
gisch nachspielen - aus Frust, weil die Kate den Oscar nicht
bekommt.
So folgt nach den etwas langwierigen und langweiligen er-
sten zehn Minuten ein fulminanter Schnelldurchlauf durch
die bekanntesten Szenen, die schnsten Dialoge, pointiert
aufgefhrt. Eine Persiage geht immer dann in die Hose,
wenn man das zu persiierende Objekt entweder nicht liebt
oder nicht richtig verstanden hat. Dem ist in diesem Fall
nicht so: Tobias Krechels Bhnenversion, unter der Regie
von Boris Weber, glnzt mit liebevollen Details und strot-
zendem Ideenreichtum: Da wird ein Riesenbaguette als
Titanic missbraucht, geschmckt mit Bar-Utensilien, um
Schornsteine und Turbinen darzustellen. Da wird die Szene
auf der Reling, in der Kate kurz vor dem Selbstmord steht
und Leo ihr zur Rettung eilt, direkt auf der Theke gespielt.
Und als die beiden zum ersten Mal miteinander schlafen,
entzndet jeder Sto, jedes Sthnen, ein Konfettifeuerwerk.
Das ist zwar nichts, was noch nie dagewesen ist, aber in der
Dichte und punktgenauen Ausfhrung schon wahnsinnig
witzig. Highlight: Celine Dions Ballade in ihrer herzergrei-
fendsten Form da bekommt die Formulierung einen Song
schmettern endlich eine adquate Bedeutung.
Sterben ist nicht wirklich witzig, wohl wahr. Aber hier geht
es auch eher um das Phnomen Titanic. Das Stck lebt
von seinen Referenzen, davon, Popkultur zu sein. Es feiert
in seiner Spritzigkeit auch letztendlich das, was der Ansto
von Allem gewesen ist: Rose. Oder wie Elli am Ende befreit
zu Alberta sagt, die Jack imitierend am Boden liegt, versun-
ken in den Tiefen des Ozeans: Ich habe berlebt.
Gottseidank.
von Khesrau Behroz
Die RMS Titanic, neu interpretiert mit Partyschirmchen.Foto: Laura Naumann
Bei rund 18 Millionen Kinobesuchern in Deutschland ist die
Wahrscheinlichkeit gro, dass das Publikum den Film ge-
sehen hat. Es kennt die Bilder, wei um die Liebesgeschich-
te zwischen Jack Dawson und Rose DeWitt Bukater, die
tragischen Umstnden, unter denen sie sich kennen lernen
und dem noch tragischeren Umstand, unter dem zumindest
einer von ihnen stirbt. Alberta und Elli (groartig gespielt
von Cynthia Thurat und Verena Brakonier), die zwei Dar-
stellerinnen der Bhnenversion, knnten exemplarisch fr
den Teil des Publikums stehen, das sich vernarrt hat in den
Streifen, jede einzelne Szene aus dem Stregreif prsentie-
ren kann - und entsetzlich, gar so entsetzlich gelitten hat,
als Kate Winslet 1997 bei den Oscar-Verleihungen keinen
Preis bekam und stattdessen zuschauen wusste, wie Helen
Hunt das Goldmnnchen entgegennahm.
Eimal Baguete Tiai, bite!Die Bhnenversion des Dampfer-Dramas glnzt mit
pointiertem Humor, viel Slapstick und akuter Groartigkeit
8/9/2019 KFZ - Kaltstart-Festivalzeitung / # 06 / 1. Jahrgang
7/12
Kalar
Am Anfang steht schon das Ende. Zwei bergroe
Michelangelo-Engel blicken von der Leinwand, der
linke sttzt versonnen den Kopf aufs Kinn, whrend
der rechte sich ber die Musik beschwert. Immer
nur Feng-Shui-Mucke, das rockt nicht, aber was soll
man machen. Mindestens noch zwei Ewigkeiten lang
laufen die Engelschre.
Die Azubis im Himmel so kann das Ergebnis
eines Workshops aussehen. Das Seminar In weni-
gen Schritten zur erfolgreichen Selbstentleibung
der beiden Performer Kai Fischer und ChristopherWei ist gut besucht. Es soll eine kleine Einfhrung
sein in das freiwillige Sterben. Der Selbstmord, ein
gesellschaftliches Phnomen: Zwischen ffentlicher
Ausschlachtung von prominenten Fllen und Tabui-
sierung des Themas changiert eine seltsame Nega-
tivfaszination. Selbstmrder sind entweder Opfer der
Gesellschaft oder Opfer ihrer selbst. In jedem Fall
irgendwie beschdigt. Was also, wenn zwei zurech-
nungsfhige Menschen das Thema mal systematisch
angehen? Die freie Theatergruppe Azubis hat dafr
zwei Charaktere kreiert: Jens, ein lockerer Bierdo-
sen-Typ mit Basecap, kurzen Hosen und HamburgerSlang, ist federfhrend in der Publikumsbespaung,
whrend Jens mit Minigeln an der Mtze die
leiseren Parts bernimmt.
Antike Texte, vorgetragen unter einem Regenschirm
aus Nimm-Zwei-Bonbons, werden ankiert durch
ber den Tod philosophierende Pfannkuchen und
die Kurzzeit-Rckkehr von Promi-Selbstmrdern
wie Kurt Cobain. Suicide Boys ist eine Revue, die
als collagierte Kulturgeschichte funktioniert. Die
Inszenierung bricht das komplexe Thema Freitod
ohne falsche Piettspuffer auf viele kleine, wunder-
bare Momente herunter. Unaufdringlich arbeiten dieSelbstmord-Brder mit lmischen Effekten, projizie-
ren die Kulisse eines Koffertheaters mit einer Minika-
mera an die Wand und tanzen zu Gitarrenklngen um
ein angedeutetes Feuer. Denn in anderen Kulturen ist
der Selbstmord durchaus ritualisiert was sich, wie
die Forscher schnell merken, nicht eins-zu-eins auf
unsere Sozialisation bertragen lsst.
Die Azubis arbeiten mit dem Clash: Trashstehtik
trifft Bildungstheater, goldene Leggins kontrastieren
historische Kostme, Dante-Zitate die Generation X.
Daraus ergibt sich ein subtiles Theatermosaik. Fast
ein wenig kurz kommt einem der Abend vor. Aber wie
es schon in einer Trauerrede heit: Die Besten gehen,
wenns am Schnsten ist.
Die Bese gehe,wen am Scse isZwei Suicide Boys prsentieren
eine charmante Selbstmord-Revue
von Stephanie Drees
Interessanter Raum, ja, damit starten die drei
Spieler vom Dresdner die Bhne e.V. in ihren Abend
Pimper my city, du Nomadensau!. Dann gehen
sie aus dem Publikum auf die Bhne und erklren,
dass sie diese in den nchsten 70 Minuten als ihren
Lebensraum wahrnehmen werden. Die vierte Wand
wird weiter geffnet, als sie, dem Thema des Abends
entsprechend, in einige Runden Stadt-Land-Fluss
starten. Dabei bitten sie das Publikum um Hilfe, beim
A- und Stopp-Sagen und beim Entscheiden, ob
Antworten wie X-Man Wolverine wrde auch nach
Berlin ziehen - also nix wie hin auf die Frage
Werbeslogan mit X gltig sind.
Nebenbei erzhlen die Spieler aus ihrem Leben, wo-
her sie kommen, was sie nach Dresden verschlagen
hat. Bis dahin ist das lustig und macht Lust auf mehr.
Dann werden Hornbrillen und Hippiehaarbnder an-
gezogen und es folgen verschiedene Kapitel rund um
die Stadt und den jungen urbanen Menschen (1: Was
zieht mich in die Stadt? 2: Was macht die Stadt mit
mir?), die kaum mehr Geschichten erzhlen ber die
drei jungen Leute, fr die wir gerade beginnen, uns zu
interessieren. Da mssen Subjekte gestylt, Sozialisa-
tionsmll erkannt, Cities gedated, Individualisierung
erzwungen und gehasst und Schuldige gefunden wer-
den dafr, warum das schreckliche Leben zwischen
den Stdten so ist, wie es ist. Der Platzmangel zum
Beispiel, der allgemeine Hype, die Gentrizierung,
die Architektur.
Stze mit Identi-, Authenti-, Soziali-, Subjekti-,
Konsum- ... knnen zwar knallen und zeugen von
Diskurskenntnis, brauchen aber etwas mehr, um
zu leuchten. Das Feuilleton wie ein well-made play
vortragen? Vielleicht lieber nicht. Stze wie Wir spie-
len exaltierte Knstler und feiern unsere Existenz
wirken dann seltsam ernsthaft statt ironisch und
bleiben Fremdkrper im Raum und in den Mndern
der Spieler dabei sind diese Stze Hauptbestandteil
des Abends. Es wirkt, als htte das Regiekollektiv viel
Pollesch gesehen und das dann mit groem Schau-
spiel mixen wollen. Ein Widerspruch.
Schn ist es wieder, wenn die Wortut ein Ende hat
und die eine Spielerin nach dem Applaus auf der Bh-
ne sitzen bleibt, weil sie vorher angekndigt hatte,
so lange zu warten, bis etwas passiert. Greift denSpiel-Gedanken vom Anfang wieder auf, ist irgendwie
privat und doch nicht, beansprucht den Lebensraum
fr sich. Like.
Wer imer hiereigelic we?Der die Bhne e.V. der TU Dresden mit
einem Abend ber Lebensraum
von Laura Naumann
8/9/2019 KFZ - Kaltstart-Festivalzeitung / # 06 / 1. Jahrgang
8/12
08 / 09
Wer jemals versucht hat, einen Text zu schreiben,
der wei, dass das schwer ist. Das weie Blatt ist
vielleicht ein Klischee, aber es ndet sich doch in fast
jedem Schreibdokument zu Beginn und will gefllt
werden, am besten mit groartigen Gedanken und
Worten. Und das dauert. V ielleicht sind die ersten
Worte noch leicht und machen Spa aber schnell
beginnt der Kampf. Besonders in der Lyrik. Diese
Vorgnge kann man selbst eigentlich kaum beschrei-
ben. Klingt gleich auch wieder so weinerlich.
Ach, ach, ach.
Nun hat sich aber Regisseurin Katrin PltnerHlderlins Gedicht Aussicht vorgenommen und in
einem Ein-Mann-Tanzstck aufgelst. Der Tnzer
und Schauspieler Marcus Hering, ein schlanker Mann
mit ausdrucksstarkem Gesicht und groen Augen,
erkundet zu Beginn des Stcks den Raum im Terrace
Hill. Er fhrt die Wand mit seinen Hnden ab, zieht
an Ngeln, untersucht die Dreckspuren an der Wand.
Ohne Worte.
Dann beginnt er mit Geruschen. Brummen, Sir-
ren, Z-, F-, Sch-Laute. Sie formen sich langsam zu
Worten: Hering rennt in einen der beiden Ausgnge,
hinten an der Bhne, im Off ruft er pltzlich: Offen!Es werden immer mehr Worte, die er ndet fr sein
Gedicht, aber auch die Suche wird immer anstren-
gender in seinem panischen Lauf reit Hering sogar
den Tanzboden von der Bhne und deutet ein Dar-
unterschlpfen an, um sich gleich wieder umzuent-
scheiden und wie ein aufgescheuchtes Huhn auf die
dicke Sule vor der Bhne zuzurennen und sich an sie
zu klammern.
Bisweilen entwickelt dieses verzweifelte Ringen
sogar eine eigene Komik. In den vielen kleinen Ideen,
zum Beispiel wenn Hering an sich herunterschaut,
die Schweiecken auf seinem Oberteil sieht undverdutzt nach oben schaut und Schwarzes Wasser!
ruft oder wenn er eine Wand untersucht und daran
braune Flecken entdeckt, seine Fe von unten an-
schaut und lakonisch kommentiert: Spuren! Sind das
meine? - Oh. Ja.
Aber die Komik entsteht auch darin, dass Hering sich
sehr ernst nimmt in seinem manchmal fast pein-
lichen Exaltieren und Suchen und genau das triff t
einen Punkt: Sein Kampf um die richtigen Worte ist
nicht nur klischeehaftes Knstlerleiden, sondern
hat auch eine selbstironische Seite. Genau wie beim
Schreiben. Natrlich kann auch ein Tanzstck diekreativen Prozesse nicht erklren, aber es kann die
inneren Vorgnge ins Krperliche bersetzen und so
miterlebbar machen.
Z! F! Sc! Ofe!!!Aussicht Hlderlin tanzt sich
durch die Schriftstellerseele
Bevor sie mit Max (Bjrn Bchner) von zu Hause ab-
haut, nimmt Anna (Anne Wuchold) erst einmal einem
Zuschauer seinen Lolli aus dem Mund und wirft ihn
weg. Merke: Jetzt wird es ernst betroffen Ses
lutschen, das geht schlielich nicht. Nur passt dieser
Ernst nicht zu Anna, denn Anna ist, zumindest auf der
Textebene des Jugendbuches Habe ich dir eigentlich
schon erzhlt von Sibylle Berg, eine lssige Fn-
ger im Roggen-Erzhlerin, die voll und ganz ber
die Ironie ihrer Sprache funktioniert. In Jan Krgers
Inszenierung jedoch schimpft sie ziemlich uncool
rum, trotzig und verstockt, als msste sie so den
dramatischen Subtext zwischen den coolen Sprchen
der Text-Anna entlarven und auf die Bhne zerren.
Wo das Buch subtil ist, da wirkt die Darstellung platt
und einfallslos: Da wird mit Taschenlampen unterm
Gesicht gefuchtelt, wenns gruselig wird, da wird
rumgehpft, wenn man sich freut und wenn Anna und
Max sich ganz arg mgen, dann tanzen sie miteinan-
der. Yeah.
Fast wirkt es, als sei es Ziel der Inszenierung, den
konventionellen Plot und die Klischees der Vorlage
auszustellen: Wenn sie nicht gerade von Psycho-
pathen entfhrt werden oder aus Eifersucht ge-
trennte Wege gehen, kommen Max und Anna nmlich
Richtung Sden trampend wunderbar klar, alles vllig
undramatisch. Und vielleicht wre man als Zuschau-
er ja wirklich mal betroffen, wenn Anna erzhlt, wie
sie ihrer Mutter ein Weihnachtsfest vorbereitet und
dafr nur Ablehnung erfhrt, wenn diese Geschichte
nicht schon genau so an Tausenden von Reibretternkonstruiert worden wre und einem nicht von der
Bhne so humor- und ironiefrei vermittelt wrde.
Da hilft es auch nicht, dass die Zuschauer hautnah
an den Darstellern um den Bhnenrand sitzen. Die
unangenehmen Dinge stellen die strkeren Gefhle
her, heit es an einer Stelle. Das trifft dann zu, wenn
man nicht stndig darauf hingewiesen wird, diese Ge-
fhle genau jetzt haben zu mssen. Dann doch lieber
einen ssauren Lutscher, als eine Auffhrung ohne
Nachgeschmack.
Lucer rau!Anna in der Inszenierung vonHabe ich dir eigentlich schon erzhlt
ist sich selbst vllig fremd
von Alexandra Mller
von Jan Berning
8/9/2019 KFZ - Kaltstart-Festivalzeitung / # 06 / 1. Jahrgang
9/12
Kalar
Es sind die Motive, die Sattler aus dem Text extrahiert, die
psychologischen Muster, nach denen Aglajas Wirklichkeit
funktioniert. Wir drfen nichts lieb gewinnen, schreibt sie
mit Kreide auf die Ksten denn das Zuhause verdampft,
wenn man nachts auch nur die Tr ffnet.
Kein Zuhause zu haben und dennoch gefangen zu sein,
dieses Gefhl ndet sich als immer neues Bild zwischen
den Ksten wieder. Weil es nach Auen nur die Illusion fr
das Publikum gibt, und nach innen keinen Abstand, weil die
Eltern die einzigen Bezugspersonen fr die Kinder sind,
werden die Dramen der Eltern zu ihren Dramen. Da ist der
Vater, der Clown, der sich in selbstgedrehten Filmen als
Held inszeniert und Aglajas Schwester missbraucht. Da ist
die Mutter, die abends an ihren Haaren in der Zirkuskuppel
hngt und ihre Kinder mit der Angst gefgig hlt, dass sie
abstrzen knnte, weil sie nicht brav waren. Oder ihnen von
dem Kind erzhlt, das sich im Maissack versteckte und in
die Polenta geworfen wurde.
Die Bhne wird zur Manege
Am deutlichsten wird die Ambivalenz zwischen Unsicher-
heit und Magie, wenn die beiden Akrobaten sich gegenseitigan ihren Armen in die Hhe stemmen, sich an Seilen bis zur
Decke drehen. In diesen Momenten, in denen die Zirkus-
knstler die Bhne in eine Manege verwandeln, wnscht
man sich, dass Theater immer so spannend sein knnte
obwohl es doch gerade die Illusion ist, die Aglajas ngste
berdeckt.
Ihr denkt, das sei alles Spa, ruft sie den Zuschauern zu,
da sind schon die Augen ganz gro geworden in den Reihen.
Denn Aglaja erzhlt die Geschichte, wie sie von ihrer Mutter
nackt in Variets ausgestellt wird, wie einen kuriosen
Schwank. Und wendet sich damit vom tragischen Ton der
Vorlage ab, die Theaterwelt als Antithese nutzend. Das gehtso lange gut, wie sie sich in dieser Zirkuswelt aufhlt. Als
sie in ein Heim kommt, lter wird, Missbrauch und den Tod
der Mutter erfhrt, k ippt die Situation, wirkt die Geschichte
gehetzt: denn die Bhnensituation bleibt der Zirkus und
Annekathrin Bach spielt weiterhin ein Kind, auch wenn
dieses Kind in der Textvorlage lngst zur Jugendlichen
geworden ist.
Ganz bestimmt aber ist der Abgleich der Theaterfassung
mit dem Roman mig. Denn die Inszenierung leistet etwas
Entscheidenderes: Eine Geschichte nicht nur zu illustrie-
ren, sondern auch zu verkrpern, Illusion und Psychologie
nebeneinander zu stellen: Magie bis hoch in die imaginreZirkuskuppel, Abgrnde, tief wie der Zrichsee.
von Jan Berning
Artisten auf Kisten. Foto: Lisa Kraatz
Vielleicht ist man diesem Mdchen schon begegnet, viel-
leicht wenn man den Aufbau eines Zirkus beobachtete und
sie zwischen den Akrobaten umherstreifen sah, einen spt-
tischen Ausdruck auf dem Gesicht, den bunten Rock ber
der Hose. Abends der strahlende Auftr itt in der Manege undam nchsten Tag schon wieder unterwegs: lange Nchte,
ferne Stdte, Abenteuer und Geheimnis ein Traum.
Die rumnische Autorin Aglaja Veteranyi war ein solches
Mdchen. 2002 hat sie sich kurz vor ihrem 40. Geburts-
tag bei Zrich das Leben genommen. Zuvor aber mit dem
Roman Warum das Kind in der Polenta kocht ihre Ge-
schichte verffentlicht, die der Regisseur Fabian Sattler am
Ballhaus Rixdorf in Berlin inszenierte. Aglajas Kindheit ist
ein stndiges Reisen, ein einziger Auf- und Abbau. Schon
zu Beginn wird die Bhne auseinander genommen, von den
beiden stummen, ungerhrt lchelnden Akrobaten (Danny
Prhl und Benjamin Eichhorn), die das Personal von AglajasGeschichte verkrpern. Die zwei Meter hohen Ksten, aus
denen das Bhnenbild besteht, werden zu strzenden Wn-
den und zum Wohncontainer, zu Traumwelt und Hochseil,
Manege und Gefngnismauer.
Kein Zuhause haben
und dennoch gefangen sein
Mit dem Selbstbewusstsein eines Kindes, das dem Publi-
kum seine Welt als Show verkauft und gleichzeitig ihrem
Hund unter der Bettdecke ihre Sorgen erzhlt, entfhrt Ag-
laja in eine Welt zwischen Magie und Abhngigkeit, maximal
ernst genommen von der Darstellerin Annekathrin Bachund doch mit kindlicher Aufregung und unschuldigem Stolz.
Surz au der KupelFabian Sattlers magische Inszenierung von
Warum das Kind in der Polenta kocht entzaubert die Zirkuswelt
8/9/2019 KFZ - Kaltstart-Festivalzeitung / # 06 / 1. Jahrgang
10/12
Timo hat sturmfrei: Seine Eltern sind im Urlaub, drei
Wochen noch. Und im Anschluss an sein Stck Jim
Jones liebt Nelly Diener ldt er ein. Die Wegbeschrei-
bung war einfach: U-Bahn-Station Lattenkamp, dann
anrufen. Es ist schon lngst dunkel, schwer zu sagen,
was fr eine Gegend das ist. Der einzige andere Mensch
an der Station ist der Mann im Dnerladen, der unterbe-
schftigt auf seinen Drehspie starrt .Timo geht fast sofort ran, seine Stimme kommt doppelt:
Aus dem Handy, dann, leicht versetzt, von irgendwo
oben, von einem Balkon. Einfach bei Kocielnik klin-
geln, sagt er und legt auf. Das Treppenhaus ist su-
berlich gewischt, und die Kocielniks haben eine dreie-
ckige Porno-Badewanne im Bad. Eine der drei besten
Wohngegenden in der Stadt, sagt Timo und ascht in
eine Zimmerpanze. Dann versucht er, die indirekte
Beleuchtung der Schrankwandvitrine einzuschalten,
in der eine unzhlbare Zahl Engel ausgestellt sind. Im
Hintergrund luft erst Nirvana, Nevermind, klar, dann
diese The-Doors-Best-Of-CD, die jeder hat. Nur: Es istkaum jemand da. Timo, natrlich, seine beiden Schau-
spieler: Luke Malchow, der gerade Abitur gemacht hat,
und Max Mehlhose-Lfer, Schulabbrecher und in ein
paar Wochen FSJ-ler, auerdem Marie, die stndig Toa-
st, Popcorn und geriffelte Pommes aus der Kche holt,
dann noch einer, der auf dem Sofa liegt, Kunst studiert
und so gut wie nichts sagt, und einer, der sich die meiste
Zeit ber im Nebenraum aufhlt und sich auf Youtube
Hip-Hop-Videos anschaut.
Die Dose Pils in meiner Hand
wird niemals leerGrtenteils sind alle frisch von der Schule, und sie
lungern rum. Im Grunde genommen eine Fortsetzung
von Timos Stck, in dem es um Jugendliche mit jugend-
lichem Ego und jugendlichen Trumen geht, die gerade
frisch von der Schule sind und in dieser waberigen Lee-
re zwischen Studium, Schule und Zivi herumlungern.
Das Stck ist sehr privat, sagt Luke, und Timo reicht
eine Schssel in Curryketchup gebadeter Pommes um
den Tisch wie einen Joint. Timo ist ein guter Gastgeber:
Die Dose Schloss-Pils in meiner Hand scheint niemals
leer zu werden, und sie bleibt immer kalt.
Jim Jones ... erzhlt Geschichten, die Timo, Luke und
Max erlebt oder gehrt haben das Arbeiten auf dem
Weihnachtsmarkt, das Ausgehen auf dem Kiez und das
Vorglhen davor, die alte Geschichte von dem uner-
reichbaren Girl - und baut aus diesen Geschichte eineCollage, in der es um die Bendlichkeit der Generation
geht, der die drei angehren. Luke und Max stehen
dabei auf der Bhne, Timo sitzt im Publikum und gibt
Anweisungen: Jetzt Slapstick, Erzhl mal das mit
dem Zivi im Krankenhaus, Machs nochmal und mei-
ne es!, solche Sachen. Im Hintergrund luft auf einem
Laptop eine Powerpoint-Prsentation mit Berufen
durch, die eigentlich niemand der drei ergreifen will:
Maurer, Elektriker, Erotiklmdarsteller.
Es geht nicht ums Finanzielle
sondern um FreundschaftDas Problem an dem Stck ist, dass es kein Ende hat:
Dass da drei Jungs in unendlichen Annherungskrei-
sen um sich selbst rotieren, bis in die Unendlichkeit
Geschichten aneinanderkleben knnten und am Ende
auch nichts neues zu vermelden haben, auer, dass sie
ratlos sind. Das allerdings tun sie in von Timo schn
schrg gelegten Stzen wie: Da geht es jetzt nicht so
um das Finanzielle so: ich den Eistee, ihr den Wod-
ka sondern um Freundschaft. Das sind dann auch
die Stze, die Lacher produzieren diese Das-kenne-
ich-auch-Lacher, die es bei Stand-Up-Comedy immer
gibt, und das ist es dann auch, was den Abend bei Timo
ausmacht: Dieses Hineingleiten in das altbekannte
Gefhl all dieser Partys in sturmfreien Wohnungen von
Freunden, und natrlich wrde man jetzt gerne ber
einen Exzess berichten, wrde gerne berichten, dass
der ganze Abijahrgang samt Anhang sturmklingelt und
die Timos Party steil geht, dass mindestens drei Paare
sich trennen und fnf sich nden, dass noch jemand
vom Balkon kotzt und jemand anders Weinglser an die
Wand schmeit. Aber das passiert nicht. Stattdessen
bietet Timo noch Aldi-Whisky an, den niemand haben
will, und wedelt mit der Taz von vor zwei Tagen, in der
ein Interview mit ihm ist. Die schreiben, sagt er, dass
wir das Stck aus Ratlosigkeit gemacht haben. Aber das
stimmt nicht.
Eine Generation oben ohne. Foto: Paula Reissig
10 / 11
Timo Kocielnik, Autor und Regisseur von
Jim Jones liebt Nelly Diener, hat sturmfreie Bude.
Ein Partybesuch nach der Auffhrung.
von Jan Fischer
Di wabrig Ler nac dr Scul
8/9/2019 KFZ - Kaltstart-Festivalzeitung / # 06 / 1. Jahrgang
11/12
Booog
bog bog..!
Kalar
Die Regeln: Schneide die verschiedenen Boote aus dem Programmheft aus und
stecke sie in Korkenstckchen. Haltet eine Flasche mit eurem liebsten Hochprozentigen
bereit: Jeder, der auf ein Wodka!-Feld kommt, muss einen groen Schluck trinken.
Jeder Spieler hat einen einzigen Wodka-Joker: Er darf dann anstelle der Aufgabe im
Aufgabenfeld einen weiteren Schluck nehmen. Mit Wrfeln beginnen darf die
Spielerin mit der wenigsten Theatererfahrung.
- Da Trinksil
StartZil
2
Erzhl den anderen von
deinem peinlichsten
Kindheitserlebnis und
sei dabei total authen-
tisch.
3
4
Bastel dir eineNerdbrille ausdeinem Lieblings-KFZ-Cover
5
Eierlikr!
6
Schminke dichmit irgendetwas,das du im Raumndest.
7
Mach den anderendie KALTSTART-Meerjungfrau.
8 9
10
Erlutere ausfhrlich
und berzeugend,
warum das KALTSTART
mehr Geld braucht.
11
12
Falte dir aus der
miesesten Kritikenseite
einen Papierhut undtrage ihn fr den Rest
des Spiels.
13
14
15
Yeah der Haupt-
stadtkulturfonds hat
sich gemeldet:
5 Felder vor.
16 Stell dein KALTSTART-Lieblingsstck panto-
mimisch dar.
17
Shake your Bootyzu einem Lieddeiner Wahl.
18
Eierlikr!
19
Spiel dein
Lieblings-Youtube-Videonach20
Erklr deiner ktiven
Cousine in Berlin,
warum sie sofort
beim KALTSTART
auaufen soll
21
22
23
Zeig den anderen deinen
nackten Arsch und fhl
dich performativ dabei.
24Tausche mit deinem
rechten Sitznachbarn die
Kleidung und trage sie
fr den Rest des Spiels
wie ein Kostm
25
Erarbeite mit den anderen
einen Kostenvoranschlag fr ein
Projekt, das du nchstes Jahr
realisieren willst.
26
Eierlikr!27
Ruf deine Mutter an und
frag sie, wie gutes Theater
aussehen muss.
28
29
Eierlikr!
31
30
Ziel! Macht richtig laut
Musik und feiert bis zum
Abwinken. Und tanzt!
Und Wodka!
32
KFZ
8/9/2019 KFZ - Kaltstart-Festivalzeitung / # 06 / 1. Jahrgang
12/12
Die Festivalzeitung KFZ zum KALTSTART HAMBURG 2010
wird herausgegeben vom Kaltstart e.V.
Redaktion:Khesrau Behroz, Jan Berning, Stephanie Drees, Clara Ehrenwerth,
Jan Fischer, Alexandra Mller, Laura Naumann, Jan Oberlnder (V.i.S.d.P.),
Johannes Schneider.
Titelfoto: Jan Fischer
Gestaltung: www.kirschcake.net.
Auflage: 500.
Redaktionsblog unter www.kaltstart-hamburg.de/blog.
Schreibt uns unter [email protected].
Face-to-face : Lokal, Max-Brauer-Allee 207, 22765 Hamburg
Mit freundlicher Untersttzung von:
Da mssen wir jetzt einfach mal ehrlich zu uns sein:
Wir haben alles irgendwann mal kaputt gekriegt, was
wir irgendwann mal geliebt haben. Wir sind alle schonmal euphorisch gewesen - und haben hinterher nie
verstanden, warum eigentlich. Das gilt sowohl fr
Ex-Freundinnen und Ex-Freunde, als auch fr Phno-
mene wie die Kelly Family.
Und es gilt fr Pop-Songs. Die nden wir oftmals
so geil, dass wir sie in der Dauerschleife hren, sie
mittrllern mit irgendeinem Ding in der Hand, das im
entferntesten an ein Mikrofon erinnert, so geil, dass
wir eigene Tanz-Performances kreieren in unseren
vier Wnden, vor dem Spiegel stehen danke, danke,
ich nehme den Preis sehr gerne an und dabei grenz-
debil grinsen.Nach dem zwanzigsten Mal jedoch haben wir genug
und wenn Andere auf Parties eben jene Songs spielen,
nden wir sie uncool und doof und berhaupt: Was
soll denn dieser ganze Mainstream-Schei! Naja, be-
sonders fair sind wir eben auch nie gewesen, und uns
an die eigene Nase zu greifen nden wir albern.
Genauso faszinierend wie Pop-Songs sind die so
genannten Loop Stations. Mit denen nimmt man einen
Ton auf, den das Gert von selbst wiederholt und dann
nimmt man noch mehr Tne auf und legt sie alle ber-
einander - und heraus kommt ein vermeintlich
von Khesrau Behroz
Wiederholugser
faszinierender Sound: Oh, schau, ist das geil, die
ertnen ja alle gleichzeitig! Als htte man das Feuer
entdeckt. Oder den FKK-Strand.Ja, so geil ist das mal gewesen. Aber inzwischen
wirken die Loop Stations in ihrem Einsatz nur noch
aufgezwungen, unnatrlich, affektiert. Ich habe beim
KALTSTART schon drei Stcke gesehen, die dieses
Gert zum Einsatz gebracht haben. Man wre auch
wunderbar ohne ausgekommen, aber es ist zurzeit of-
fenbar angesagt, dieses Patchwork-Theater: Man baut
nicht nur die Bhne live vor dem Publikum zusammen,
sondern auch die Gerusche. Postdramatik und so.
Mich wrde es ja nicht wundern, wenn es bald das
erste Stck gibt, das direkt bei der Premierenauffh-
rung seine Schauspieler castet. (Kategorie: Die KFZliefert kostenlose Regie-Einflle. Gern geschehen.)
Dabei sind die Loop Stations an sich eine feine Sache.
Sie helfen Musikern, die eigene Stimme zu dubben,
wenn es sonst niemanden in ihrem Rcken gibt. Sie
helfen Multitalenten, auf der Bhne ein wenig anzu-
geben und alle Instrumente selbst zu spielen. Und
Sie helfen Schauspielerinnen und Schauspieler, auf
der Bhne etwas zu tun, wenn sie sonst nichts zu tun
haben. Ist doch auch super. Ist doch auch super (oh
ja). Ist doch auch super (oh ja) (oh no).
IMPRESSUM
KFZKolumne:AffektierteEffekte VI