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KINDHEIT – MITTEN IN DEN BERGEN Als ich zur Welt kam, waren der Aufstand im Warschauer Ghetto niedergeschlagen, die Deutsche Wehrmacht vor Stalingrad besiegt, in Frankfurt am Main „Die Kluge“ von Carl Orff uraufgeführt worden und „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint Exu- péry erstmals erschienen. 35 Geburten gab es in diesem Jahr in der Gemeinde mit ih- ren drei Ortschaften, die Männer waren im Krieg und die Frauen mussten die Arbeiten tun. „Das Kloster“, wie die alte Armen-, Versorgungs- und Waisenanstalt genannt wur- de, die auch als Gebäreinrichtung diente, war mit Verwundeten und Infizierten belegt, sodass einige aus unserem Jahrgang außerhalb der Gemeinde in anderen, nämlich deutschen, Orten geboren wurden, was später manchmal zu ratlosen Fragen wegen der Staatsbürgerschaft führte. Das Leben war schwierig, für manche knapp und arm, doch die direkten Gräuel des Krieges erreichten das Tal zum Glück nicht, der Hitler- wahnsinn allerdings schon, und zwar kräftig. Mein Vater und einer meiner Onkel waren bekannt für ihren Widerstandsgeist, was dem Onkel eine Sonderbehandlung in einem Irrenhaus eintrug, an der sein Selbstbewusstsein und sein Lebensmut zerbrachen, und dem Vater, der durch einen Arbeitsunfall schwer behindert war und den Hitlergruß verweigert hatte, die Drohung eines der Obernazis, ihn deswegen an die Front zu bringen. Als ich, schon ein junger Erwachsener, einmal mit dem Sohn eines solchen Nazihampelmanns sprach, meinte dieser, da hätte mein Vater halt „mittun“ müssen, so wie seiner, dem sei es in der Nazizeit gut gegangen und „danach sowieso“. Auch solche Fische schwammen damals herum. Zum Glück gab es aber auch Menschen. 1949 wurde unser Jahrgang eingeschult. Im Ort, und damit in unserer ersten Klas- se, waren wir acht Schüler, die ein wenig aus dem gewohnten Rahmen fielen. Die Mädchen waren dreimal so zahlreich wie die Buben, kein einziges Kind kam aus einem landwirtschaftlichen Anwesen, obwohl die bäuerliche Bevölkerung damals noch über 50 Prozent ausmachte, und niemand von uns stammte aus einer der angesehenen oder wichtigen Familien, die das Wort in der Gemeinde hatten. Die Schule war eine achtklassige Volksschule, die in meiner Schulzeit zuerst im Mesnerhaus untergebracht war, später im 1951/52 neu erbauten Schulhaus, das in den Klassenzimmern große helle Fenster hatte und hinten angebaut eine Turnhalle, in der auch die Heimataben- de, die Krippenspiele u. Ä. abgehalten wurden. Es gab noch die Trennung in Sommer- und Winterschule, eine Trennung, die dazu führte, dass Kinder aus Bauernfamilien oder solche, die auf die Alpen gingen, in den letzten Wochen vor den Sommerferien nicht mehr in den Unterricht mussten. Das war für die Freigestellten einerseits eine Zum Glück gab es aber auch Menschen. :::::: Anton Amann, geboren 1943, stammt aus Mittelberg im Kleinwalsertal. Er arbei- tete bereits als Kind u. a. als Knecht, Almhirte und Senn und absolvierte dann eine Berufsausbildung zum Huf- und Wagenschmied. Nach der Matura an der Aufbau- mittelschule in Stams studierte er Soziologie, Ökonomie und Sozialpolitik in Wien. 1982 übernahm er die Professur für Soziologie und Sozialgerontologie am Institut für Soziologie der Universität Wien. Zu diesen und anderen Forschungsschwerpunkten, u. a. Bildung und Beruf sowie Stadt- und Wissenssoziologie, entstanden zahlreiche Bücher und weit über 200 wissenschaftliche Artikel. Prof. Anton Amann ist Geschäfts- führer des Paul F. Lazarsfeld-Archivs an der Uni Wien und lebt in Gerasdorf. 47 Kindheitsgeschichten :::::: Kinderarbeit, Ohrfeigen und Schirennen mit internationaler Beteiligung :::::: Das Leben ging schneller – für manche direkt in den Tod. :::::: Freude und ein Erlebnis ungeheurer Befreiung, andererseits tauschten sie die Freude gegen harte Arbeit. Ich war als Pfister sechs Sommer auf Kuhalpen, ich wurde, wie mein Bruder und viele andere auch, zu jeder Arbeit gebraucht und nicht geschont und nicht selten kam es vor, dass ich doch lieber wieder in der Schule gesessen wäre. Trotz Kinderarbeit, autoritärer Männer, die Ohrfeigen austeilten, trotz knapper Lebensbedingungen, erinnere ich mich gerne an manche Zeiten meiner Kindheit, vielleicht auch deshalb, weil es noch eine übersichtliche Welt war. Es gab noch wenige Autos, und wenn eines daher fuhr, erkannte man schon am Motorgeräusch, wer auf der Straße war. Zu der Zeit eine Schotterstraße mit Frostaufbrüchen und Schlaglöchern, wo mein Vater jahrein jahraus arbeitete. Wenn jemand aus dem Ort eine weite Reise unternahm, war das ein Gesprächsthema für viele, wenn Schirennen mit internationaler Beteiligung veranstaltet wurden – international hieß Österreich und Deutschland –, wurden die auswärtigen Rennläufer manchmal noch unentgeltlich in Privathäusern einquartiert. Als ich um die 17 Jahre alt war, hatte sich diese kleine Welt gewaltig verändert. Mei- nen Erinnerungen aus der Kindheit schlug sie ins Gesicht. Hotels und Schilifte waren gebaut worden, Seilbahnen, neue Straßen und Wege. Den „Fremden“ konnte nicht zugemutet werden, zu Fuß in ihre Absteigen zu wandern. Die Pferde, die Handwagen, die meisten Bauern waren verschwunden. Das alte Kloster war fort. Die Postbusse, nun Gelenkbusse, brauchten einen großen Platz zum Wenden. Die Siechen waren in ein neues Heim gebracht worden, etwas abseits vom Dorf. Dort kamen jetzt auch wieder die Wöchnerinnen unter. Der Weg war frei, damit alles schneller gehen konnte. Auch das Leben ging schneller. Für manche mit dem Auto oder den Schiern direkt in den Tod. Nicht alle waren mit diesen Beschleunigungen einverstanden. Der alte Pfar- rer sprach von den Kosmonauten noch als den Lunauten und von dem Versuch, ins Weltall zu reisen, als einem Frevel gegen Gottes Schöpfung. Auch der Gemeindearzt war nur teilweise glücklich. Immer mehr Schifahrer, die immer schneller unterwegs waren, hießen für ihn, den ganzen Winter Beine und Arme einzugipsen. Er richtete in seiner Ordination ein eigenes Gipszimmer ein. Aus einer Gemeinde mit etwa 2500 Einwohnern zur Zeit meiner Kindheit ist ein Tourismuszentrum mit über 5000 Einwoh- nern – eine „Top-Destination“ – geworden. Hotels und Banken, Fremdenpensionen, Schilifte, Bergbahnen, Spielcasino und Einkaufsmärkte bestimmen heute das Bild. Die heute jung sind, leben mit derselben Selbstverständlichkeit dort, wie wir es einst in unserer Welt getan haben. Anton Amann im Alter von fünf Jahren ::::::

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kIndheIt – mItten In den bergen

Als ich zur Welt kam, waren der Aufstand im Warschauer Ghetto niedergeschlagen, die Deutsche Wehrmacht vor Stalingrad besiegt, in Frankfurt am Main „Die Kluge“ von Carl Orff uraufgeführt worden und „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint Exu-péry erstmals erschienen. 35 Geburten gab es in diesem Jahr in der Gemeinde mit ih-ren drei Ortschaften, die Männer waren im Krieg und die Frauen mussten die Arbeiten tun. „Das Kloster“, wie die alte Armen-, Versorgungs- und Waisenanstalt genannt wur-de, die auch als Gebäreinrichtung diente, war mit Verwundeten und Infizierten belegt, sodass einige aus unserem Jahrgang außerhalb der Gemeinde in anderen, nämlich deutschen, Orten geboren wurden, was später manchmal zu ratlosen Fragen wegen der Staatsbürgerschaft führte. Das Leben war schwierig, für manche knapp und arm, doch die direkten Gräuel des Krieges erreichten das Tal zum Glück nicht, der Hitler-wahnsinn allerdings schon, und zwar kräftig. Mein Vater und einer meiner Onkel waren bekannt für ihren Widerstandsgeist, was dem Onkel eine Sonderbehandlung in einem Irrenhaus eintrug, an der sein Selbstbewusstsein und sein Lebensmut zerbrachen, und dem Vater, der durch einen Arbeitsunfall schwer behindert war und den Hitlergruß verweigert hatte, die Drohung eines der Obernazis, ihn deswegen an die Front zu bringen. Als ich, schon ein junger Erwachsener, einmal mit dem Sohn eines solchen Nazihampelmanns sprach, meinte dieser, da hätte mein Vater halt „mittun“ müssen, so wie seiner, dem sei es in der Nazizeit gut gegangen und „danach sowieso“. Auch solche Fische schwammen damals herum. Zum Glück gab es aber auch Menschen.

1949 wurde unser Jahrgang eingeschult. Im Ort, und damit in unserer ersten Klas-se, waren wir acht Schüler, die ein wenig aus dem gewohnten Rahmen fielen. Die Mädchen waren dreimal so zahlreich wie die Buben, kein einziges Kind kam aus einem landwirtschaftlichen Anwesen, obwohl die bäuerliche Bevölkerung damals noch über 50 Prozent ausmachte, und niemand von uns stammte aus einer der angesehenen oder wichtigen Familien, die das Wort in der Gemeinde hatten. Die Schule war eine achtklassige Volksschule, die in meiner Schulzeit zuerst im Mesnerhaus untergebracht war, später im 1951/52 neu erbauten Schulhaus, das in den Klassenzimmern große helle Fenster hatte und hinten angebaut eine Turnhalle, in der auch die Heimataben-de, die Krippenspiele u. Ä. abgehalten wurden. Es gab noch die Trennung in Sommer- und Winterschule, eine Trennung, die dazu führte, dass Kinder aus Bauernfamilien oder solche, die auf die Alpen gingen, in den letzten Wochen vor den Sommerferien nicht mehr in den Unterricht mussten. Das war für die Freigestellten einerseits eine

Zum Glück gab es aber auch

Menschen.

::::::

Anton Amann, geboren 1943, stammt aus Mittelberg im Kleinwalsertal. Er arbei-tete bereits als Kind u. a. als Knecht, Almhirte und Senn und absolvierte dann eine Berufsausbildung zum Huf- und Wagenschmied. Nach der Matura an der Aufbau-mittelschule in Stams studierte er Soziologie, Ökonomie und Sozialpolitik in Wien. 1982 übernahm er die Professur für Soziologie und Sozialgerontologie am Institut für Soziologie der Universität Wien. Zu diesen und anderen Forschungsschwerpunkten, u. a. Bildung und Beruf sowie Stadt- und Wissenssoziologie, entstanden zahlreiche Bücher und weit über 200 wissenschaftliche Artikel. Prof. Anton Amann ist Geschäfts-führer des Paul F. Lazarsfeld-Archivs an der Uni Wien und lebt in Gerasdorf.

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47Kindheitsgeschichten ::::::

Kinderarbeit, Ohrfeigen und Schirennen mit internationaler

Beteiligung

::::::

Das Leben ging schneller – für manche direkt

in den Tod.

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Freude und ein Erlebnis ungeheurer Befreiung, andererseits tauschten sie die Freude gegen harte Arbeit. Ich war als Pfister sechs Sommer auf Kuhalpen, ich wurde, wie mein Bruder und viele andere auch, zu jeder Arbeit gebraucht und nicht geschont und nicht selten kam es vor, dass ich doch lieber wieder in der Schule gesessen wäre.

Trotz Kinderarbeit, autoritärer Männer, die Ohrfeigen austeilten, trotz knapper Lebensbedingungen, erinnere ich mich gerne an manche Zeiten meiner Kindheit, vielleicht auch deshalb, weil es noch eine übersichtliche Welt war. Es gab noch wenige Autos, und wenn eines daher fuhr, erkannte man schon am Motorgeräusch, wer auf der Straße war. Zu der Zeit eine Schotterstraße mit Frostaufbrüchen und Schlaglöchern, wo mein Vater jahrein jahraus arbeitete. Wenn jemand aus dem Ort eine weite Reise unternahm, war das ein Gesprächsthema für viele, wenn Schirennen mit internationaler Beteiligung veranstaltet wurden – international hieß Österreich und Deutschland –, wurden die auswärtigen Rennläufer manchmal noch unentgeltlich in Privathäusern einquartiert.

Als ich um die 17 Jahre alt war, hatte sich diese kleine Welt gewaltig verändert. Mei-nen Erinnerungen aus der Kindheit schlug sie ins Gesicht. Hotels und Schilifte waren gebaut worden, Seilbahnen, neue Straßen und Wege. Den „Fremden“ konnte nicht zugemutet werden, zu Fuß in ihre Absteigen zu wandern. Die Pferde, die Handwagen, die meisten Bauern waren verschwunden. Das alte Kloster war fort. Die Postbusse, nun Gelenkbusse, brauchten einen großen Platz zum Wenden. Die Siechen waren in ein neues Heim gebracht worden, etwas abseits vom Dorf. Dort kamen jetzt auch wieder die Wöchnerinnen unter. Der Weg war frei, damit alles schneller gehen konnte. Auch das Leben ging schneller. Für manche mit dem Auto oder den Schiern direkt in den Tod. Nicht alle waren mit diesen Beschleunigungen einverstanden. Der alte Pfar-rer sprach von den Kosmonauten noch als den Lunauten und von dem Versuch, ins Weltall zu reisen, als einem Frevel gegen Gottes Schöpfung. Auch der Gemeindearzt war nur teilweise glücklich. Immer mehr Schifahrer, die immer schneller unterwegs waren, hießen für ihn, den ganzen Winter Beine und Arme einzugipsen. Er richtete in seiner Ordination ein eigenes Gipszimmer ein. Aus einer Gemeinde mit etwa 2500 Einwohnern zur Zeit meiner Kindheit ist ein Tourismuszentrum mit über 5000 Einwoh-nern – eine „Top-Destination“ – geworden. Hotels und Banken, Fremdenpensionen, Schilifte, Bergbahnen, Spielcasino und Einkaufsmärkte bestimmen heute das Bild.

Die heute jung sind, leben mit derselben Selbstverständlichkeit dort, wie wir es einst in unserer Welt getan haben.

Anton Amann im Alter von fünf Jahren

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Page 2: kIndheIt – mItten In den bergen - Bucherverlag

Ich bin als Zweitältester in einer großen Familie mit fünf Brüdern und einer Schwes-ter aufgewachsen. Wir hatten eine Landwirtschaft und mein Vater war – bevor er Bür-germeister wurde – noch relativ viel zuhause. Wir Kinder waren aber großteils allein auf weiter Flur und hatten unglaubliche Freiräume, was unser kreatives Potenzial geweckt hat. Im Sommer mussten wir selbstverständlich – und mehr oder weniger gerne – mitarbeiten. Wir waren nicht im Kindergarten und meist uns selbst überlassen. Es gab wenig Verbote, es war lässig und frei. Eine unkontrollierte Kindheit, die mir sehr viel gebracht hat. Wir haben Hütten gebaut, Spiele gespielt, voneinander ge-lernt. In der Regel waren wir draußen, wo wir in einem offenen Umfeld unsere Grenzen ausloten konnten, Ängste überwinden, Mut beweisen. Klar hat man hin und wieder eine Watsche kassiert, viel wichtiger war aber, dass ein Experimentierfeld da war – ein Freiraum, den wir miteinander erobern konnten. Diese Gegenwelt, diese unbeobach-tete Kinderwelt, federte vieles ab, weil schon auch sehr mit Ängsten gespielt wurde. „Noch ein Mal und du kommst auf den Jagdberg.“ Mit dieser Drohung bin ich groß geworden. An einem meiner damaligen Freunde haben sie ein Exempel statuiert und ihn wirklich hinaufgebracht. Das tut mir heute noch weh.

Die Disziplinierungsphase begann dann in der Schule – mit Verboten, die für mich nicht nachvollziehbar waren und nicht argumentiert wurden. Anfang der 60er Jahre herrschte in der Schule noch ein ganz anderes Regiment und ich habe so manche Prü-gelstrafe eingesteckt. Vor allem meine Lehrerin in der zweiten Klasse Volksschule war viel mit dem Rohrstock unterwegs. Sehr beeindruckt hat mich das aber nicht. Manche Lehrer haben subtilere Methoden angewandt und mit Verachtung oder Demütigung gestraft – das war für mich weitaus problematischer. Dass wir immer gemeinsam in einer Clique unterwegs waren, hat aber vieles kompensiert. Meine ganze Schulzeit hindurch war ich nie ein guter Schüler. Ich habe oft provoziert, bin immer eher in Op-position gegangen und habe nie ohne weiteres geschluckt, was man mir serviert hat.

Zu meinem Vater hatte ich ein eher distanziertes Verhältnis. Er war aber auch im-mer mein Reibebaum, obwohl ihm das Widerständische an mir eh gefallen hat. Ich galt als das „schwarze Schaf“ der Familie und war – als der Spirit der 68er auch nach Vorarlberg übergeschwappt ist – viel unterwegs, mit Poncho und langen Haaren, der Musik von Bilgeri & Köhlmeier, Jimmi Hendrix und „The Doors“. Ich bin oft tagelang nicht nach Hause gekommen und man hat mich des Öfteren gesucht, auch mit der

«der rohrstock hat mIch wenIg beeIndruckt»

Bernhard Amann, geboren 1954 in Hohenems, ist das zweite von sieben Kindern des früheren Hohenemser Langzeitbürgermeisters Otto Amann. Er absolvierte die Textilschule. Die darauf folgende Schlosserlehre brach er nach einem Jahr ab. In dieser Zeit begann auch sein politisches Engagement. Mitte der 70er Jahre besuchte Bernhard Amann die Sozialakademie und gründete das autonome Jugendzentrum Konkret. Ebenso rief er u. a. den Verein „Hilfe und Selbsthilfe für Drogenabhängi-ge“, das „Ex & Hopp“, Radio Proton und den Kulturverein „Transmitter“ ins Leben. Bernhard Amann ist als Selbstständiger in der Drogenberatung sowie autonomen Jugend- und Kulturszene tätig. Seit 2013 ist er Obmann der IG Kultur.

Lässig und frei ::::::

Schwarzes Schaf mit

Poncho und langen Haaren

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49Kindheitsgeschichten ::::::

Polizei. Ich erinnere mich, dass mich mein älterer Bruder von einem Zeltfest am Fuß-ballplatz holen wollte und makabererweise gesagt hat, mein Vater läge im Sterben. Ich bin natürlich gleich mitgegangen, nachdem mir meine Kumpels schon das Beileid gewünscht haben ... Ich habe von meinem Vater aber sicher meine Beharrlichkeit, dran zubleiben, sich einzusetzen, zu kämpfen und sich nicht einschüchtern zu lassen. Auch meine freie Kindheit hat mich diesbezüglich geprägt – und meine verrückte Ver-wandtschaft väterlicherseits. Bei uns war immer etwas los.

Meine Pubertät war auch eine Zeit des politischen Aufbruchs, der Beginn der Kreisky-Ära. Wir wollten anders sein, uns unterscheiden, uns abgrenzen, und hat-ten dazu ausreichend Möglichkeiten – weit mehr als Jugendliche heute. Ich war als einer der Jüngsten dann auch bei Flint dabei, obwohl ich Flint nicht als die Zäsur sehe, wie es oft dargestellt wird. Da war kein konstanter Widerstand da, um wirk-lich eine Gegenwelt zu schaffen. Das ist zeitversetzt erst Mitte der 70er Jahre mit der Jugendhausbewegung gekommen. 1970 – mit 16 – habe ich die erste Veranstaltung organisiert. Für Jugendliche gab es damals nicht viel, die Katholische Jugend, die Pfadfinder und das Kino. Mein Vater hat uns dann das Angebot gemacht, dass wir einen Jugendraum für die Junge ÖVP haben könnten, so war ich zwei Jahre lang Obmann der „JVP“. Wir hatten über 120 Mitglieder, waren für die Legalisierung von weichen Drogen und die Absetzung des damaligen Landeshauptmanns Herbert Kessler. Da beide Forderungen nicht erfüllt wurden, hab‘ ich mich in der Jugendhaus-bewegung engagiert, wo ich mich absolut wohl fühlte.

Kinder sollen glücklich werden. Egal wie. Ich würde Häuser des Widerstands grün-den, wo sie Beharrlichkeit lernen, Widerstandsfähigkeit und Respekt, vor allem auch vor anderen Kulturen. Sie brauchen keine Pädagogen, die ihnen sagen, was richtig und falsch ist, sondern Räume zum Experimentieren und sozialen Lernen, wo sie sich ihren Neigungen entsprechend entwickeln können. Und ich würde jedem Kind einen Papa wünschen, denn Kinder brauchen einen Vater genau so wie eine Mutter. Wichtig ist, dass Kinder spüren, dass man sie gern hat, und sie sich aufgehoben fühlen.

Freie Kindheit und verrückte

Verwandtschaft

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Bernhard Amann

mit seinem Vater 1958

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Flint und Politik ::::::

Häuser des Widerstands

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von fussball und anderen dIngen

Viele Erinnerungen an meine Kindheit haben sich mir tief eingeprägt: die Melancholie, die ich fühlte, als ich mit meinen Eltern an einem föhnigen Wintertag unter herabfallenden Buchenblättern zum Wildpark in Feldkirch hinaufwanderte. Ich schmiegte mich an Mama – den heimeligen Pelzmantelgeruch habe ich heute noch in der Nase. Wöchentlich ein Fixpunkt: Oma kommt auf Besuch, sitzt lesend und schwatzend am Tisch, der kleine Herwig daneben, Mama bügelt: Wasserdampf und der Geruch von heißen, feuchten Leintüchern. Dazu natürlich Neil Diamond und Konsorten auf Radio Vorarlberg. Nur manchmal lief zufällig pünktlich zum Eintreffen meines Vaters Katja Ebsteins „Dann heirat´ doch dein Büro!“ ...

Fußball im Sommer: Beim Gedanken daran steigen Glücksgefühle hoch. Wir hat-ten einen großen Rasenplatz hinterm Haus, einen fußballbegeisterten Vater sowie eine Mutter, die das Treiben jedenfalls schön fand und – wie die Nachbarn – Ernteein-bußen im Gemüsegarten in Kauf nahm. Wir spielten in den Ferien täglich, bis es stock-dunkel war, in die schwüle Nacht hinein, mit der ganzen Nachbarschaft, mit Kollegen, Freunden, den Schulkameraden meiner Brüder. Unterschiedlichste Menschen jeden Alters und jeden sozialen Hintergrundes begegneten sich hier. Man hatte Spaß oder stritt, danach saß man zusammen, trank Limo – und irgendwann später dann auch Bier.

Ebenso faszinierend war für uns das Element Wasser. Nach jedem Sommerregen strömten wir Kinder auf die Straße und schoben mit den Füßen das Wasser aus den Lachen, bauten Bachläufe ins Kies und zogen Gräben in tieferliegende Areale der Kuhwiese, sodass dort oft gar nicht so kleine Seen entstanden. Etwas spät, aber doch: „Sorry, Herr Bauer, aber Ihr Gras wuchs ja danach trotzdem weiter!“ Wasser beschäf-tigte uns aber auch auf unseren Streifzügen: Die Ill ist ja ein übel regulierter Kanal, aber wir hatten unsere Lieblingsplätze am Fluss, wo wir zwischen den riesigen Ufer-steinen unsere eigenen kleinen Kanalsysteme und Stauseen errichteten, mit Schleu-sen aus Köpfen von Glasflaschen mit Bügelverschluss. Apropos Lebensräume: Ein eigenes Haus zu besitzen, ein geschütztes Rückzugsgebiet zu haben, das war damals ein Traum. Wir begannen, überall Hütten zu bauen, bis uns Ameisen, Schlangen oder die Angst vor Unbekanntem wieder vertrieben. Eine Hütte mit mehr Bestand durfte ich schließlich in unserem Garten errichten. Ich nannte sie „Haus Bauer“.

Manchmal zogen wir auch einfach durch die Nachbarschaft, um irgendwas anzu-stellen. Regelmäßig wagten wir einen Ausflug zur Schattenburg, um dort mit raffinier-

Neil Diamond und Konsorten

auf Radio Vorarlberg

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Herwig Bauer, 1973 in Feldkirch geboren und aufgewachsen. Er studierteArchitektur an der UNAM México City, der TU Innsbruck und Wien: Diplom bei Cuno Brullmann. 1994 gründete er die Workshopreihe „Feldkircher KreAktiv- Wochen“, aus der sich das poolbar-Festival entwickelt hat. Sechs Wochen lang wird für über 20.000 Gäste „Kulturelles von Nischen bis Pop“geboten. Aktuell leitet Herwig Bauer gemeinsam mit Heike Kaufmann das poolbar-Festival in Feldkirch sowie das Festival poolbar mit pratersauna in Wien und ist u. a. im Marketing beim Wiener Monopol Verlag tätig. Er lebt mit seiner Lebensgefährtin und seinem Sohn in Feldkirch. Foto: Matthias Rhomberg

Sorry, Herr Bauer!

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51Kindheitsgeschichten ::::::

Bande: Herwig Bauer (vorne)

mit seinen Brüdern

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teren Gerätschaften exotische Münzen aus dem (wegen uns?) vergitterten Hofbrun-nen zu fischen, bis uns der Koch verjagt hat. Wir waren (hurra!) oft unbeaufsichtigt und manche Szene ging gerade noch gut aus. Ein Beispiel: Der mit Abstand Älteste in der Runde lauter kleiner Kinder – er hatte schon einen Oberlippenflaum – präsen- tierte uns zu Silvester stolz seine Schweizerkracher. Wir waren alle neugierig und steck-ten unsere kleinen Köpfe zusammen – bis er plötzlich schrie: „Jetzt laufen!“ Er hatte einen brennenden Kracher in eine Glasflasche gesteckt. Ist aber nichts passiert.

Mein bester Freund Robert war immer dabei und der Legende nach hatte er ge-zählte sieben „Löcher im Kopf“: Wenn wir an Bohnenstangen Blecheimer befestigten, um damit Fechtkämpfe auszutragen, fiel ihm der Eimer auf den Kopf; wenn wir wette-ten, wer schneller auf dem Betonfrühbeet-Mäuerchen balancieren konnte, krachte er mit dem Kopf an die Kante. Einmal erwischte es auch mich ernsthaft: Ich brachte auf dem Fahrradsitz mein Bein in die Speichen des Rads meiner Mutter – aber wenn ich meinem Vater glauben darf, war ich beim Sprint durch die Nachbarswiese selbst mit Liegegips noch der Schnellste. Ich weiß nur noch, dass ich vor lauter Herumrennen an der Ferse ein großes Loch in den Gips gewetzt hatte.

Löcher im Kopf und im Gips

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Üble Erinne rungen an

unangenehme Zwänge

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Mein Vater erzählt mir – und vor allem anderen – nach wie vor stolz, dass ich in der Volksschule immer den anderen geholfen hätte. Mir sind vor allem meine schweiß- nassen Hände übel in Erinnerung, wenn es darum ging, „schön“ zu schreiben. Als Linkshänder verschmierte ich oft das Geschriebene.

Als drittes von drei Kindern hatte ich das Glück, dass meine Eltern schon „Routi-niers“ waren. Ich bekam Schutz und Wärme, aber auch viele Freiheiten. Meine Eltern gaben mir immer das Gefühl, das Richtige zu tun – eigentlich bis heute. Unser eigener Sohnemann ist jetzt vier Jahre alt. Er leistet schon kräftig Widerstand gegen Unge-wolltes und hinterfragt die Dinge – darin will ich ihn bestärken. Ich möchte ihm viel Freiheit und Vertrauen angedeihen lassen. Sein herzhaftes Lachen, wenn wir über- mütig Blödsinn machen, ist ein Traum. Noch schöner aber ist sein stolzer Blick, wenn er etwas ganz allein geschafft hat. Diesen Blick will ich so oft wie möglich genießen und (mit Bewunderung) erwidern dürfen.

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Page 4: kIndheIt – mItten In den bergen - Bucherverlag

Ich habe zwei Kindheiten. Eine frühe in der Steiermark und die späte dann in Vorarlberg. Ich bin eine Migrantin – das Kind einer österreichischen Gastarbeiterin in der Schweiz, das mit elf Jahren auf Familienzusammenführung pochte. Die Be- griffe „Migration“ und „Gastarbeiter“ waren mir damals natürlich nicht geläufig. Wahrscheinlich würden sich die Verwandten mütterlicherseits, die in den 1950er und 1960er Jahren in der Schweiz Arbeit und ein besseres Leben suchten, auch dage-gen verwehren. Ich war damals, 1970, also weder Gastarbeiter- noch Migrantenkind, sondern ein kleines Mädchen, das zu seiner Mutter ziehen wollte.

Meine Eltern waren Teenies, 17 und 19 Jahre alt, als ich auf die Welt kam. Sie ein bisschen Brigitte Bardot, er hatte was von James Dean. So sah ich sie später, wenn ich Familienalben durchblätterte. Am Abenteuer Familie scheiterten die beiden nach wenigen Jahren. Sie gingen ihrer Wege, meinen kleinen Bruder und mich ließen sie bei den Großeltern meiner Mutter. Die Oma, so nannten wir die Uroma, hatte Übung im Aufziehen von Kindern. Selbst hatte sie 13, fünf davon „kamen davon“, wie man damals sagte. Die Zweitälteste der Uroma, meine Großmutter, hatte drei Kinder. Ein deutsches (Krieg), ein englisches (Besatzung) und ein schweizerisches (Wiederaufbau). Sie wurden auch bei der Oma groß. Die Kinder bei den Alten in der Steiermark zu lassen, hatte in meiner Familie mütterlicherseits Tradition.

Wir wohnten mitten in der Natur. Neben dem kleinen Haus der Wildbach, dahinter der Wald. Wiesen, Felder zum Rennen und Toben, Katzen zum Liebhaben, Schafe zum Herumjagen und Hunde zum Fürchten. Im Garten mit Beeren und Obst waren wir nicht so gern gesehen wie auf dem Acker. Kartoffeln setzen, Kartoffelkäfer suchen, Kartoffeln ernten. Da konnte man Kinderhände gut gebrauchen. Mir war das Erdbeer-pflücken lieber. Das Leben mit Oma und Opa hatte große Vorteile. Schon recht müde, ließen sie uns viele Freiheiten. Das bedeutete für mich aber auch, sehr früh selbststän-dig zu sein, Verantwortung zu übernehmen. Auf den kleinen Bruder schauen, Haus-aufgaben ohne Hilfe machen, im Haushalt zur Hand gehen. Meine Kleider hab ich mit zehn selbst gewaschen, meinen Schulalltag selbst organisiert. Für die Oma schrieb ich die Adressen auf ihre internationale Korrespondenz, am Abend musste ich ihr aus den Kompressionsstrümpfen helfen.

„Das Kind lernt leicht“ hieß es. Das Kind hatte ein Ziel, es wollte ins Gymnasium und raus aus dem kleinen Dorf. Kaum im Gymi, Mittelschule sagte man damals, warf ich einen lästigen Ballast ab: den sonntäglichen Gottesdienst. Schließlich hatte die

Jutta Berger, geboren 1958 in Bruck an der Mur, verbrachte ihre Kind heit in der Steiermark und in Vorarlberg. Sie ist Journalistin und arbeitet als Redakteurin für die Tageszeitung „Der Standard“. Ehrenamtlich engagiert sie sich im Jüdischen Museum Hohenems. Mit ihrem Ehemann lebt sie in Bregenz. Sie hat zwei erwachsene Kinder und ein Enkelkind (Charlotte). Foto: Christian Grass

eIn freIes kInd landet Im kloster und wIrd erwachsen

Zwei Teenies und ein Baby

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53Kindheitsgeschichten ::::::

An wesenheit nun keine Auswirkung mehr auf die Religionsnote, der Dorfpfarrer konnte mich nicht mehr in die Kirche zwingen. Meine Begründung damals, in einem Schulaufsatz formuliert: „In die Kirche gehen die Nachbarinnen eh nur, damit sie ihre neuen Dirndlkleider herzeigen können und über andere tratschen.“

Eine brave, kleine Christin war ich trotzdem. Ich schleppte im Advent mit der Oma eine Madonna von Haus zu Haus, um dann mit den Nachbarinnen zu singen und zu beten. In den Raunächten ging die Oma mit der Weihrauchpfanne durch die Nachbar-häuser und ich mit dem Mariazellerwasser-Kessel. Ob ich voran ging oder hinterher weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall haben wir die bösen Geister vertrieben.

In der zweiten Gymi kam dann der große Schnitt. Ich drohte in Vierern zu ertrinken, machte mir ernsthaft Gedanken um meine Zukunft und fand, dass mich jetzt endlich jemand erziehen sollte. Meine Mutter zog aus der Schweiz nach Vorarlberg, holte zu-erst mich, dann meinen Bruder zu sich. Weil sie berufstätig war, kam ich ins Kloster. Halbintern. Leider nur halbintern. Ich hatte doch all die romantischen Mädchenbü-cher über das Internatsleben gelesen! Es dauerte nur wenige Wochen und ich musste erkennen, wie sehr Mädchenromane und Klosterrealität auseinanderklafften. Meine internen Schulkolleginnen, von ihren Hoteliers- oder Diplomateneltern mangels Zeit ins Internat gesteckt, waren todunglücklich. Der Wechsel aus der steirischen Freiheit ins strenge Regime der Klosterschwestern fiel mir furchtbar schwer. Plötzlich war alles reglementiert. Die Kleidung, der Lesestoff, die Freizeit, das Essen. Auch ohne elekt-ronische Hilfsmittel schaffte die Klosterherrschaft die permanente Überwachung ihrer Zöglinge. Wir Schülerinnen setzten Solidarität gegen Unterdrückung und Ungerech-tigkeit. Die Klassengemeinschaft war verschworen, viele wurden widerborstig, wider-ständig. Altersmilde betrachtet hat der Klosterdrill meine Eigenständigkeit gestärkt, meinen Sinn für Ungerechtigkeit geschärft. Das Verhältnis zu Autoritäten ist seither gestört. Was nicht immer ein Vorteil ist …

Wäre ich heute ein kleines Mädchen, würde ich mir wünschen: Wald, Wiesen, viele süße Erdbeeren, liebevolle Menschen, die mit mir spielen und mich ernst nehmen, Erwachsene, die geduldig Dinge erklären, genau dann, wenn ich sie wissen will. Eine bunte Schule hätte ich dann gerne, mit Kindern, die sich gegenseitig helfen, mitein-ander lernen, und Lehrerinnen und Lehrern, die Kinder lieb haben.

Madonna schleppen und

Geister vertreiben

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Klassenfoto: Jutta Berger

in der zweiten Reihe, als Sechste

von links

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Und dann Drill im Kloster

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Page 5: kIndheIt – mItten In den bergen - Bucherverlag

Was bedeutete für Sie als Kind

„Glück“?

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Gibt es ein Kindheits-

erlebnis, eine Freundschaft/

Beziehung,das/die beson-

ders prägend war?

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rock‘n‘roll

Ich bin ein Nachkriegskind aus Hohenems, kann mich noch an französische bzw. marokkanische Soldaten erinnern, die in Militärlastern über die Kaiser-Franz- Josefstraße flitzten. Mein Vater, der 1944 aus der Wehrmacht desertiert war, erlebte das Kriegsende in Israel und Ägypten in englischer Gefangenschaft. Vier Jahre vor meiner Geburt war er wieder heimgekehrt. Die Nazis hatten für Familien von Deser-teuren nichts übrig, sämtliche „Begünstigungen” waren also gestrichen worden, meine Mutter musste sich mit ihren vier Kindern so schlecht und recht durchschlagen. Mein Bruder starb in jenen Tagen an Diphtherie. Als ich 1950 zur Welt kam, haus-ten wir in einem kleinen geschindelten Häuschen, eingekrallt von Efeuranken, in der Bergmannstraße. Wir hatten nicht viel, waren eigentlich arm, wie die meisten, aber ich assoziiere fast nur glückliche Gefühle, wenn ich an meine Kindheit denke. Wir waren ab 1955 wieder eine große Familie, sechs Kinder, Mama, Papa, Oma – die Franzosen weg und Österreich frei von Besatzern.

Zwei Dinge: Abenteuer erleben, draußen in der Welt – (ich bin schon als Drei- jähriger mit dem Dreirädle Richtung Bahnhof abgedüst, bis mich der Dorfgendarm gestellt hat ...) und gleichzeitig die Gewissheit zu haben, jederzeit in ein heimeliges Nest zurück zu dürfen, das Mama wie eine Glucke versorgte.

An eine traurige Geschichte erinnere ich mich noch sehr genau: ein brütendheißer Julitag kurz vor Schulschluss, wir Erstklässler hatten einen herrlichen Badetag im alten Rhein erlebt und wollten, nach einem hitzigen Fußballspiel, noch ein letztes Mal ins Wasser. Mein Sitznachbar Bertram Drexel sprang jubelnd ins kühle Grün und tauchte nicht mehr auf. Herzversagen. Ein sechsjähriger Bub! Meine erste Erfahrung mit dem Tod. Ich werde seine blauen Lippen nicht vergessen.

Besonders prägend war sicher meine Freundschaft mit Michael Köhlmeier. Wir sind als Nachbarskinder aufgewachsen und erlebten eigentlich die wichtigsten Jahre wie ein eingeschweißtes Brüderpaar. Die meiste Zeit verbrachten wir draußen, in den Wäldern, der Hirschrüthi, am Schloßberg, im Ried oder im Emser Baggerloch, haben unsere Parallelwelten gezimmert, in denen wir heute noch zu Hause sind ...

In welchem Milieu sind Sie aufgewachsen,

wie sah Ihre Familie aus?

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Reinhold Bilgeri, geboren 1950, ist Professor für Philosophie, Deutsch und Geografie, Singer, Songwriter, Schriftsteller, Drehbuchautor, Filmregisseur und Produzent. Seinen ersten großen musikalischen Erfolg landete er mit dem Lied „Oho Vorarlberg“ gemeinsam mit Michael Köhlmeier Anfang der 70er Jahre. Mit 20 Charthits schrieb Reinhold Bilgeri vor allem in den 80er bis Mitte der 90er Jahre Popgeschichte. 2005 erschien sein erster Roman„Der Atem des Himmels“, der von ihm selbst fürs Kino verfilmt und produziert wurde (Buch, Regie, Produktion, Music Supervisor). Reinhold Bilgeri lebt mit seiner Frau Beatrix Kopf-Bilgeri und Tochter Laura, die 1995 geboren wurde, in Kalifornien.

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55Kindheitsgeschichten ::::::

Wie gesagt, kaum dunkle Schatten – ja, Angst vor Enge war eigentlich die einzige Angst, die ich hatte, ich war scheint‘s ein bissel wild und schwer zu bändigen, ange-eckt hab‘ ich überall, bis aufs Bundesheer bin ich aus sämtlichen Institutionen geflo-gen, Pfadfinder, Ministranten, Jungschar usw. – deshalb wurde ich dann auch mit zehn in ein Feldkircher Internat gesteckt ... was meine Energien nur noch verdoppelt hat. Auch diese Episode endete mit Rauswurf. Rock‘n‘Roll!

Ich hatte von Anfang an von einem Künstlerleben geträumt, Musiker, Schriftstel-ler, Filmemacher ... freischaffend, unabhängig sein, ich wollte Theaterwissenschaften studieren. Ein Horror für meine Eltern, also absolvierte ich, um die Situation zu kal-mieren, brav ein Lehramtsstudium, wurde Professor am Gymnasium Feldkirch und bereitete gleichzeitig, heimlich, den Sprung ins „wahre Leben” vor. Hat sich bezahlt gemacht, am Ende waren alle zufrieden.

Woran erinnern Sie sich nicht

gerne? Was hat Angst gemacht,

eingeengt?

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Was haben Sie als Vater an-

ders gemacht als ihre Eltern, was haben Sie

weiter-gegeben?

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Reinhold Bilgeri (2. v. r.) im

Sommer 1959 mit Mutter und

Geschwistern

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Für meine Tochter Laura, die sowohl meinen Freiheitsdrang als auch die künstleri-sche Ader geerbt hat, wollte ich früh genug die richtigen Weichen stellen und sie von Anfang an bei der Umsetzung ihrer Träume unterstützen. Sie sollte das tun, was sie am besten kann und am liebsten macht – die Grundvoraussetzung für ein zufriedenes Leben. Seit sie zwölf war, hatte sie glasklare Vorstellungen von ihrer Zukunft – sie wollte Schauspielerin werden, ein abenteuerliches Leben führen und ihr Glück in Amerika versuchen, am besten im Zentrum der Filmindustrie, in Hollywood. Genau dort leben wir heute und freuen uns auf das Kommende ...

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Wir sind uns einig – die Kindheit bringt wohl eine wesentliche Voraussetzung, wie wir unser Leben später meistern können. Nur – was verstehen wir unter einer sogenannten „glücklichen Kindheit“. Ich denke, da gehen die Meinungen weit aus- einander. Als ich eingeladen wurde, meine eigene Kindheit zu reflektieren, habe ich zuerst das Wort „glücklich“ hinterfragt. Macht uns das in der Kindheit glücklich Erlebte auch in Zukunft glücklich? Oder sind es nicht vielmehr auch die Brüche und dunkleren Seiten in unserer Kindheit, die uns die Kraft und Substanz geben, in unserem spä-teren Leben Herausforderungen anzunehmen? Welche Perspektive erlauben wir uns selber, wenn wir an unsere Kindheit denken? Vertrauen wir dem dankbaren Staub der Erinnerungen oder wagen wir auch einmal einen schonungsloseren Blick auf unsere Vergangenheit?

Beim Schreiben ziehen wie kleine Wölklein am Sommerhimmel die Postkartenbil-der der Vergangenheit an mir vorbei. Reflexartig tauche ich ein in eine Zeit, als es noch keine Sorgen, keine Verantwortung, keine Pflichten, Termine, Ängste und Vergangen-heit gab. Nur ein Jetzt und Zukunft ohne Ende. Spontan fallen mir vertraute Bilder ein, bewusste Erinnerungen an eine Kindheit im Vorarlberg der sechziger und siebziger Jahre. Die Radio-Sendung „Autofahrer unterwegs“ erinnert mich an sonnige Fami-liensonntage mit gegrilltem Schweinskotelett und selbst gemachten Pommes frites. Inzwischen gibt es auch die Autofahrersendung schon längst nicht mehr. Verschwun-den sind die vertrauten Klänge, so wie unsere Kindheit verblasst, wenn die eigenen Kinder schon langsam erwachsen werden.

Das, was wir Kindheit nennen, was wir als unsere Kindheit in Erinnerung haben, ent-steht erst viele Jahre später und nimmt langsam Gestalt an. Erzählungen, alte Fotos und der tausendmal gehörte Familienanekdotenschatz – mit jedem gemeinsamen Lachen formen wir unsere Kindheit über Jahrzehnte laufend weiter. So wird Kindheit ein besonderes Kapitel unserer Lebensgeschichte, ein Sehnsuchtsthema, verklärt, bunt eingefärbt und, im Idealfall, ein Ort der lebenslangen inneren Zuflucht. Oder auch ein dunkler Abschnitt unserer Geschichte, an den wir nicht denken wollen und der uns ein Leben lang mit quälenden Gedanken verfolgt.

Ein Blättern durch die abgegriffenen Fotoalben verstärkt den Traum von der Idylle der frühen Jahre. Nicht zuletzt, weil damals in Vor-Selfie-Zeiten ein Foto nur bei be-sonderen Anlässen gemacht wurde, im schönen Kleid und in guter Stimmung, bei

Angelika Böhler, geboren 1960 in Dornbirn, entschied sich schon früh für die Kommunikation. Nach der Matura am BG Gallusstift in Bregenz studierte sie Germanistik, Publizistik und Kommunikationswissenschaften in Wien und arbeitete bei verschiedenen Tageszeitungen. Ab 1985 war sie Redakteurin beim ORF Vorarlberg mit Schwerpunkt Politik und Wirtschaft, von 1988 bis 2000 Moderatorin von „Vorarlberg Heute“. 2000 gründete sie ihre eigene Firma für PR- und Kommunikationsberatung in Dornbirn. Angelika Böhler ist zudem Moderatorin namhafter Wirtschaftsveranstaltungen, wie etwa des Vorarlberger Wirtschaftsforums. Sie ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in Dornbirn.

dIe kIndheIt, eIn sehnsuchtsthema

So wird Kind-heit ein Ort der lebens-

langen inneren Zuflucht.

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57Kindheitsgeschichten ::::::

der Erstkommunion, am ersten Schultag, an Weihnachten oder im Urlaub. Fotos und Geschichten als Teil der persönlichen Geschichtsschreibung, willkürliche Ausschnitte, die unserem Leben dennoch eine entscheidende Richtung geben.

Es steckt viel Wahrheit hinter diesen glänzenden Erinnerungen. Wenn ich aus heu-tiger Sicht an meine bewussten Kindheitserinnerungen zurückdenke, war es eine heile Welt. Eine Welt, in der Familie in weiten Kreisen noch als Vater-Mutter-Kinder-Ge-meinschaft funktioniert hat, in der die Mutter zu Hause war, Marmelade und saure Champignons eingekocht hat und uns Töchtern aus Hämmerle-Stoffen aus dem Res-ten-Lädele Dirndl geschneidert hat. Wir waren viel im Freien, haben mit den Nach-barkindern gespielt und gestritten, haben uns in der Schule über Lehrer geärgert und über Lob gefreut. Dass wir eine gute Ausbildung bekommen und studieren werden, war selbstverständlich und ein Ziel, das wir bei allen Auf und Abs in unseren schu-lischen Karrieren nie aus den Augen gelassen haben. Eine wunderbare Zeit, in der alles einfach schien, und alles möglich war. Mit einem Rückhalt zuhause, der bis heute Stärke gibt.

So jedenfalls erzählen es uns die gespeicherten Erinnerungen. Wenn ich meine Kindheit aus den Augen meiner Töchter betrachte und etwas an der Oberfläche krat-ze, tauchen auch andere Bilder auf. Die Kehrseite der Geborgenheit ist der Wunsch nach Abenteuer und Veränderung. Endlich einmal weg vom biederen Vorarlberg, hinaus in die Welt.

Auch das Familien-Idyll wurde moderner. Meine Mutter, die lange berufstätig war und uns Kinder für damalige Zeiten sehr spät bekommen hat, wollte irgendwann nicht mehr länger nur Hausfrau sein. Als wir im Gymnasium waren, hat sie wieder zu arbei-ten begonnen, zwar nur Teilzeit, aber wir erlebten plötzlich, was es bedeutet, im Alltag Verantwortung zu übernehmen. Ich bin meiner Mutter heute noch dankbar für ihre Entscheidung und ich weiß, dass uns ihre frühe Emanzipation – auch meinem Vater gegenüber, der zunächst von dieser Idee wenig begeistert war – stark geprägt hat. Wir lernten früh selbständig zu sein und vor allem, dass eine Frau ihr eigenes Geld verdienen soll, auch wenn sie noch so gut verheiratet ist. Ein Grund-Gen der Unab-hängigkeit, das wir früh vererbt bekamen. Natürlich wurde bei uns auch gestritten – wir Schwestern untereinander sowieso, später auch mit den Eltern. Meinem Vater ha-ben diese Streitgespräche immer Spaß gemacht. Er ist stundenlang mit uns gesessen, auch spätnachts, wenn wir noch Freunde mit nach Haus gebracht haben, und hat mit uns diskutiert. Über das Leben und die Politik, die Fragen der Zukunft und der Gegen-wart. Wir lernten zu diskutieren, auszuteilen und einzustecken und das zu entwickeln, was man heute „Streitkultur“ nennt. Ich bin meinem Vater unendlich dankbar dafür.

Welche Rolle spielen die Eltern in unseren Kindheitserinnerungen? Sind sie Haupt-darsteller oder Statisten in unserem frühen Lebensstück? Um ehrlich zu sein – die Hauptrolle unserer Kindheit spielen wir natürlich selber – keine Frage. Die Eltern werden meist ins Publikum verbannt, als unsere besten Kritiker, die immer wissen, wie das Stück weitergehen soll. Nur interessiert uns genau das nicht, diese Zurufe von einem Publikum, das doch keine Ahnung hat. Auch das ist eine Kindheitserinnerung,

Das Familien-Idyll wurde moderner.

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Die Eltern: Hauptdarsteller oder Statisten?

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Angelika Böhler 1964: Post-

karten-Idylle in Vor-Selfie-

Zeiten

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die ich erst ausgraben musste. Dass liebe kleine Kinder nicht mit allem einverstanden sind, dass sie sich gegen die liebenden Eltern abgrenzen müssen, lautstark protes-tieren, rebellieren und so richtig dagegen sein – auch grundsätzlich. Und dennoch nehmen wir für später genau das mit, was uns damals an unseren Eltern so gestört hat. Eine paradoxe Situation – unsere Eltern sind unsere stärksten Vorbilder, ob wir wollen oder nicht. Manchmal muss ich heimlich lächeln, wenn ich mit meinen Töchtern Situationen erlebe, die wie ein Déjà-vu aus meiner eigenen Kindheit herausspringen. Offensichtlich haben meine Eltern sehr viel richtig gemacht mit ihren Kindern. Zu einer gelungenen Kindheit gehört meiner Überzeugung nach das ganz normale Leben, das auch Krisen und Konflikte erlaubt, und die Erfahrung, das alles zu bewältigen.

Was ich von meiner Kindheit an meine Kinder weitergeben möchte? Das sichere Gefühl, dass die Welt für sie offen steht und die Freiheit, ihre eigenen Wege gehen zu dürfen. Wir sollten Kinder mehr in Ruhe lassen und ihnen nicht zu viel zumuten. Sie brauchen liebevolle Grenzen und vor allem gute Vorbilder, denn unsere Vor-bildwirkung ist mindestens so stark wie unsere mehr oder weniger glücklichen Er-ziehungsversuche.

Kinder brauchen liebevolle

Grenzen und vor allem gute

Vorbilder.

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59Kindheitsgeschichten ::::::

bItter-süss

Wenn ich mich zurück erinnere, dann fällt mir immer der schwierige Abschied von meinem Großvater ein. In den 1970er Jahren gehörte mein Vater zu den unzähligen Gastarbeitern, die in Deutschland und Österreich nach Arbeit suchten, um ihren Familien ein besseres Leben zu ermöglichen. Mein Großvater, Hüseyin, war mein großes Vorbild und die zentrale männliche Person in meinem Leben. Mitte der 1980er Jahre beschloss mein Vater, dass auch wir – meine Mutter und mein älterer Bruder – nach Österreich migrieren sollten. Ich war damals sieben Jahre alt und sehr glücklich über diese Option. Erst am Flughafen Wien realisierte ich, dass ich meinen Großvater für eine lange Zeit nicht wiedersehen würde. So kam es dann auch! Mein Großva-ter starb und ich hatte keine Möglichkeit, ihn ein letztes Mal zu treffen. Gleichzeitig war ich als Kind überwältigt von den Lebensmittelgeschäften „Konsum“ und „SPAR“ ebenso wie von den Spiel- und Fußballplätzen. Sie waren für mich etwas ganz Beson-deres, zumal es in Erzincan, meiner Geburtsstadt in der Türkei, nichts Vergleichbares gegeben hatte. Auch die Abwesenheit des Militärs (Mitte der 1980er Jahre wurden die Kurdengebiete in der Türkei mit großer Militärpräsenz und massivem Militärein-satz unter Kontrolle gehalten) war für mich eine neue Erfahrung. Kurz gesagt: Eine bitter-süße Erinnerung zeichnet meine Kindheit aus.

Gerne denke ich an die Metzgerei Hämmerle und an unseren Vermieter zurück, der mich immer wieder ins Gasthaus mitnahm und mir damit die Tür zur Lauteracher Gemeinschaft öffnete.

Während des Sportunterrichts in der Volksschule mussten sich alle Schüler im Kreis aufstellen und sich im Rahmen eines Spiels die Hände reichen. Ich habe immer wieder beobachtet, wie meine Schulkameraden nach dem Ende des Spiels an ihren Händen rochen, als hätte ich sie mit etwas anstecken können. Auf dieses Erlebnis hätte ich gerne verzichtet.

Eine bezeichnende Episode meiner Kindheit ist auch, dass mich meine Lehrerin in der zweiten Klasse Volksschule durchfallen ließ, obwohl ich ihr mehrmals erklärt hatte, dass ich dem Unterricht nicht folgen konnte. Das Verhalten meiner Lehrerin war für mich sehr prägend. Ebenso wie die Hilflosigkeit meiner Eltern im Alltag, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren und sich selbst nicht helfen konnten. Mein Bruder und ich mussten alles für sie erledigen. Ich lernte, mich auf mich selbst zu verlassen und entwickelte eine starke emotionale Bindung an die deutsche Sprache.

Abschied vom Großvater

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Tür zur Gemeinschaft

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Erlebnisse, die fürs Leben

prägten

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Hüseyin I. Çiçek, geboren 1977 in Erzincan in der Türkei, kam mit sieben Jahren nach Vorarlberg und wuchs in Lauterach auf. Nach der Hauptschule entschloss er sich zu einer Maurerlehre bei I+R Schertler. Ab 2002 studierte er an der Universität Inns-bruck und University of New Orleans Katholische Theologie, Politikwissenschaften und Geschichte. Derzeit ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa, der Universität Erlangen sowie als Lehrbeauftragter an der FH Vorarlberg und am Europäischen Institut für Integration, Migration und Islam- themen tätig. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Lauterach.

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Page 8: kIndheIt – mItten In den bergen - Bucherverlag

Viel Verwandt-schaft, keine

Urlaube

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Wichtige Be- zugspersonen

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Ängste hatte ich keine. Mein Großvater lehrte mich sehr früh Boxen.

Wir hatten ein sehr einfaches Familienleben. Mein Vater arbeitete als Hilfsarbeiter auf dem Bau und meine Mutter als Putzfrau. Beider Einkommen war ausreichend für die Miete und andere existenzielle Notwendigkeiten. Unser Hauptritual war gemein-sam Abend zu essen. Die Freizeit verbrachten wir meistens mit der Familie meines Onkels. Im Sommer waren wir Kinder oft schwimmen und im Winter – naja, ich mag den Winter nicht! Für Urlaube reichte das Einkommen meiner Eltern nicht aus. Mein Vater spendete einen Teil seines Gehalts für Verwandte in der Türkei, zudem gab es bei uns die „Tradition“ Urlaub nicht.

Die Beziehung zu meinen Eltern wurde nach meiner Pubertät immer besser und heute ist sie großartig. Mit meinem Bruder habe ich ein freundschaftliches Verhältnis. Er ist fast sieben Jahre älter als ich und deswegen, zumindest bin ich davon überzeugt, konnten wir keine intime Geschwisterbeziehung aufbauen.

In der Türkei war es mein Großvater, in Österreich waren es manchmal unsere Nachbarn oder Freunde.

Für mich war die Zeit in der Pflichtschule Fluch und Segen zugleich. Ich musste meinen Platz bzw. meine Identität in Vorarlberg – während meiner Schulzeit – neu finden und wusste nicht wie. Auch verstand meine erste Lehrerin in der Volksschule nicht, welche Förderung ich von ihr gebraucht hätte und ich konnte mich nicht mittei-len. Ich bin damals sehr ungern zur Schule gegangen und war froh, als alles vorbei war.

Ich hatte eine abwechslungsreiche Kindheit.

Meine Frau und ich versuchen, unseren Kindern so viel an Liebe und Fürsorge zu bieten wie nur möglich. Auch haben wir ihre Großeltern in unmittelbarer Nähe positioniert, somit müssen sie nicht auf einen Teil ihrer Familienbande verzichten. Ich wünsche meinen Kindern so viel Selbstvertrauen und Gottvertrautheit wie nur mög-lich. Ich wünschte, dass die Schule nicht vor 9 Uhr beginnen würde!

Die Schule: Fluch und

Segen

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Glückliche Kindheit?

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::::::Familienbande

Ängste? ::::::

Vom ersten Kindheitsfoto

noch nicht wirklich erfreut:

Hüseyin (l.) als Vierjähriger

mit Bruder und Cousine

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61Kindheitsgeschichten ::::::

Abenteurerin ::::::

„Wenn ein Mensch dich quält, verzeih’ ihm und versteh’: Es ist ihm selbst nicht wohl, sonst tät’ er dir nicht weh.“ Diesen Satz, über den ich schon als sechsjähriges Kind nachgedacht habe und der mir bis heute in steter Erinnerung blieb, schrieb mir meine Mama in mein Erstklässler-Poesie-Album. Nach vielen Momenten des Glücks und gefühlt noch zahlreicheren bitteren Enttäuschungen, die das Leben so mit sich bringt, fiel mir das vergilbte Poesie-Büchlein beim letzten Wohnungswechsel wieder in die Hände.

An meine frühe Kindheit habe ich kaum Erinnerungen, nur die, dass mich mein von allen Leuten als seelenguter Mensch beschriebener Opa jeden Tag liebevoll auf Händen trug, mir Natur- und Tiergeschichten erzählte, sich mit mir um die Kaninchen oder das verletzte Rotkehlchen kümmerte, der mich im Leiterwagen durch unsere Lau-teracher Siedlung zog und der mich geduldig anlächelte, wenn ich fasziniert mit sei-ner Glatze spielte. Er ist neben mir gestorben, als ich auf dem Sandhaufen Schlösser baute, den er für mich gemacht hatte vor unserem neuen Haus in Hörbranz. Ich war sechs Jahre alt. Die Liebe meiner Oma war so innig, dass einem vor lauter Umarmung und Geschmuse die Luft weg blieb. Mit ihr ging ich auf Reisen, sie nahm mich überall hin mit, zu ihrer Schwester ins westdeutsche Feuchtwangen und zur Verwandtschaft nach Carlsfeld in die damalige DDR. Am liebsten war ich in Pferdeställen und ver-sprach meinem gleichaltrigen Freund unterm Esstisch im Nachbarhof, dass wir heira-ten, wenn wir groß sind.

Ich war immer ein unruhiger Geist mit einer lebhaften Phantasie, aber auch mit sachlichem Verstand, man konnte mir nie ein X für ein U vormachen. Ich war eine quir-lige und neugierige Abenteurerin mit verrückten Ideen, aber doch im ersten Moment schüchtern, wofür ich in späteren Jahren als arrogant angesehen wurde – allerdings nur von Leuten, die mich nicht kannten. In Hörbranz wohnten wir am Waldrand, ideal, um Indianer zu spielen, Füchse, Dachse und Rehe zu entdecken und Baumhäuser zu bauen. In der Volksschule war ich anfangs sehr leise, fast ängstlich, bis ich mich an meine Klassenkameraden gewöhnt und ein paar Freundschaften geschlossen hatte.

An Schwester Augustina kann ich mich gut erinnern. Sie hat uns im Religionsunter-richt vom körperlich auferstandenen Jesus erzählt und davon, dass die Liebe zwischen Mann und Frau etwas Sündiges sei und die meisten Frauen beim Kinderkriegen ster-

keIn x für eIn u

Verena Susanne Daum, geboren 1964 in Bregenz, wuchs in Lauterach und Hörbranz auf. Nach Auslandsaufenthalten in Hongkong und den USA war sie ab 1987 bei Russmedia im Management tätig, leitete die Wochenzeitung WANN & WO und war von 2012 bis 2015 Chefredakteurin der „VN“. Verena Daum arbeitet als selbst-ständige Autorin und Journalistin und widmet sich in ihrem Blog www.progression.at der ethischen und ökologisch-sozialen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung. Sie veröffentlichte u. a. die Bücher „Dom Erwin“ (2006) und „Verantwortungslos – Zivil-courage für ein Ende des Kriegs gegen die Menschlichkeit“ (2015). Work in progress ist ihre Info-Plattform www.garden-eden.org. Verena Daum lebt in Bregenz.

Schlösser aus Sand und erster

Abschied

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Page 9: kIndheIt – mItten In den bergen - Bucherverlag

Verena Daum mit dem

Papa und den Großeltern

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Affenliebe ::::::

::::::Eine Enttäu-schung, die

haften blieb

ben würden. „So ein Quatsch“, dachte ich mir, „wenn jemand tot ist und der Körper verwest, dann steht er nicht mehr auf … und die Mama hat meinen Bruder und mich bekommen und lebt noch“. Eine Mitschülerin stammte aus einer armen Familie, sie war ständig erkältet, hatte immer eine laufende Nase und musste die alten Sachen ihrer Geschwister tragen. Einmal kam sie in einem viel zu kleinen und zu kurzen Rock in die Schule, woraufhin sie von Schwester Augustina eine schallende Ohrfeige bekam. Ich hatte unendliches Mitgefühl mit dem Mädchen und eine Wahnsinns-Wut auf die Religionslehrerin, die mein kindliches Gerechtigkeitsempfinden und gesunden Haus-verstand mit Füßen trat.

Mein Bruder und ich wurden von unseren Eltern materiell sehr verwöhnt. Es hatte ein bisschen was von Affenliebe. Was vorne keinen Platz hatte, schoben sie uns hinten rein. Als Kriegskinder bzw. Nachkriegsgeneration waren sie wie die meisten anderen auch amerikanisiert und ehrgeizig. Mein Vater hat es verbissen mit viel Fleiß aus der Armut heraus zum Baumeister gebracht, war stolzer Ehemann einer wunderschönen Frau und die Kinder sollten es einmal besser haben. Hübsch anzuschauen waren wir ja, um den Vorstellungen der Eltern zu entsprechen, waren jetzt Titel und Ansehen wichtig. Nicht für uns Kinder. Wir müssen diesbezüglich für unseren Vater eine herbe Enttäuschung gewesen sein. Sogar kurz vor seinem Tod konnte er mir nur sagen, dass er stolz auf mich ist, weil ich beruflich erfolgreich geworden bin. Er konnte nicht an-ders, er mochte mich schon irgendwie – auf seine Art eben.

Die Mama versuchte zeitlebens zu richten und zu schlichten und jedem sich an-bahnenden Konflikt auszuweichen. Mein Klassenvorstand in der Volksschule hatte die Angewohnheit, die Schüler zu maßregeln, indem er ihre Haare hinter den Ohren pack-te, um den Finger drehte und die Kinder daran hochzog. Ein Mitschüler hatte eines Tages sein Schulbuch zuhause vergessen und schnappte sich kurzerhand meines. Zu meiner Verblüffung bezichtigte mich der Lehrer des Diebstahls. Meine Mutter wurde in die Schule zitiert und ich freute mich auf ihre Bestätigung, dass ich keine Diebin bin. Es kam anders. Mama fragte den Herrn Lehrer nur: „Was kostet das Buch. Ich bezahle das.“ Die Angst vor der sadistischen Bestrafung, die mir und meinem Schulkamera-den drohte, war nichts im Gegensatz zu der Enttäuschung, die ich damals empfand.

Das gute und sichere Gefühl, geliebt zu werden, geborgen zu sein in dieser Liebe, habe ich in meiner Kindheit durch meine Großeltern gespürt. Sie haben mich stark gemacht, so stark, dass ich mich schon früh zu einem Freigeist und Querdenker ent-wickeln konnte. Jedes Kind dieser Welt sollte in Liebe geborgen sein können. Das wünsche ich von Herzen.

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63Kindheitsgeschichten ::::::

Woran erinnerst du dich gerne?

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forscherdrang

Freiheit. Wir waren meist auf uns gestellt und alles spielte sich draußen ab. Es gab viel mehr Wiesen, mehr Raum, um sich zu bewegen, mehr Möglichkeiten, um Spiele zu spielen. Spiele, die die Kinder von heute nicht mehr kennen. Meine Kindheit war voll von diesen Spielen. „Spata-Seckla“ zum Beispiel, das mit alten Besenstielen ge-spielt wurde, oder „Bienala“ – da musste eine Zehn-Groschen-Münze möglichst nah an eine Wand geworfen werden. Wir haben auch viel Zeit auf der Straße verbracht. Mit Völkerball oder dem Glockenspiel: Eine Fahrradglocke wurde auf die Mitte der Straße gelegt und man fuhr mit dem Fahrrad so knapp vorbei, dass die Glocke zur Seite spickte. Die Straßen waren damals leer. Auf der Lindauerstraße sind wir Roll-schuh gefahren. Unsere Abenteuerlust und unser Forscherdrang waren unersättlich. Zum Beispiel haben wir das Sumpfgas entflammt, das sich im Winter unter dem Eis im Hafen in Lochau gebildet hat. Mit Lianen sind wir über den Ruggbach. Aus Hülsen von liegen gebliebenen Platzpatronen der Soldaten aus der Kaserne in Lochau haben wir mit Nägeln Pfeile konstruiert und damit die Fische in der Leiblach abgeschossen. Die haben wir dann um zehn Schilling an Türken verkauft, die daraus Hamburger gemacht haben. Später bedeutete Freiheit dann Skateboard-Fahren. Einmal bin ich mit dem Skateboard die Eichenbergstraße runter. Nach einer Kurve lag noch Kies vom Winter. Ich bin erst im Spital wieder aufgewacht. Wir haben danach ein Lied geschrieben: „I really feel free with my skateboard under me“. Auch meine Vespa stand für dieses Lebensgefühl – mit der bin ich mit einem Freund einmal auf der Autobahn im Wind-schatten eines Lkw nach München gefahren.

Ich habe noch den Geruch von frischem Brot in der Nase. Wir hatten eine Bäcke-rei zuhause. Mein Vater war Bäcker und meine Mutter im Verkauf und im Haushalt, wo sie sich mit einem Hausmädchen abwechselte. Zu Weihnachten hat die ganze Familie – meine zwei Schwestern, mein Vater, meine Mutter und ich – gemeinsam Kekse gebacken.

Die Schulzeit, vor allem in der Hauptschule. Das für mich wichtigste Fach – Musik – ist damals wegen Lehrermangels ausgefallen. Weiters auch Englisch. Vie-le Lehrer waren ein Albtraum, jeder hatte eine andere Methode – die einen haben Kopfnüsse verteilt, die anderen haben uns an den Haaren gezogen. Einer hat sie uns büschelweise ausgerissen. Da ging es am am Schluss der Stunde darum, wer die vielen Haare vom Boden zusammenkehrt. Undenkbar heute.

Was fällt dir als Erstes ein,

wenn du an deine Kindheit

denkst?

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Toni Eberle, geboren 1960 in Bregenz, wuchs in Lochau und Bregenz auf, und besuchte nach der Hauptschule zwei Jahre „versehentlich“ die Handelsakademie. Nach dem Tod seines Vaters absolvierte er eine vierjährige Lehre zum Goldschmied. 1994 gründete er die „Toni Eberle Group“ und etablierte sich im Bereich Jazz‘n‘Funk. Seit 2006 arbeitet er mit der Sängerin Aja, mit der er seit 2004 auch privat zusammen ist. Toni Eberle veröffentlichte zahlreiche CDs. Er komponiert Film- und Theatermusik und hat eine Lehrtätigkeit am Jazzseminar Dornbirn. Mit Aja gewann er 2014 eine internationale Duo-Kompetition. Toni Eberle hat zwei Söhne und lebt mit seiner Familie in Dornbirn.

Was war weniger gut?

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