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Klangdom & vibrierendes Verbundensein DAS GEHEIME VERMÄCHTNIS DER HILDEGARD VON BINGEN Barbara Frey im Gespräch mit dem Komponisten und Dirigenten Peter Jan Marthé anlässlich der deutschen Erstaufführung seines Oratoriums „KLANGDOM DER HEILIGEN HILDEGARD“ am 8. Oktober 2016 im Rahmen des 9. Internationalen Hildegard von Bingen-Kongresses 2016 im Münster zu Konstanz. Das Gespräch wurde vom 6. bis 8. August 2016 in Wien geführt.

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Klangdom &vibrierendes VerbundenseinDAS GEHEIME VERMÄCHTNIS DER HILDEGARD VON BINGEN

Barbara Frey im Gespräch mit demKomponisten und Dirigenten Peter Jan Marthé

anlässlich der deutschen Erstaufführung seines Oratoriums

„KLANGDOM DER HEILIGEN HILDEGARD“ am 8. Oktober 2016 im Rahmen des

9. Internationalen Hildegard von Bingen-Kongresses 2016 im Münster zu Konstanz.

Das Gespräch wurde vom 6. bis 8. August 2016 in Wien geführt.

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InhaltsverzeIchnIs

BUSINESS & SPHÄRENMUSIK ...................................3

HEXE, MEDIUM, HEILIGE ...........................................5

EIN UNIKAT ......................................................................8

VERTIKALE KOMMUNIKATION ...................................9

AUTHENTISCHES KLANGERLEBNIS ....................... 11

MUSIK HINTER DER MUSIK ..................................... 12

SYMPHONISCH GESTIMMT....................................... 13

DER KLANG DER ZAHLEN ......................................... 15

GEHEIMES VERMÄCHTNIS ....................................... 17

EINE NEUE DIMENSION ............................................20

TEUFLISCHER TRIUMPF .............................................24

MUSIKALISCHER PARADIGMENWECHSEL ..........26

VIBRIERENDES VERBUNDENSEIN ..........................29

QUANTENSPRUNG ......................................................30

GEBURTSSTUNDE DES KLANGDOMS ....................33

MAGIE DES BESEELTEN GESANGES .......................38

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BUsIness & sPhÄrenMUsIK

Herr Marthé, als ich gefragt wurde, ob ich zu einem Gespräch mit Ihnen über Ihr neuestes Opus

„Klangdom der heiligen Hildegard“ bereit wäre, habe ich ohne zu zögern zugesagt. Einerseits war

es die Neugierde, die mich mobilisiert hat, andererseits hatte ich doch beinahe zehn Jahre lang die

Gelegenheit, Ihre vieldiskutierten Ambitionen als Bruckner-Dirigent aus nächster Nähe zu verfol-

gen bzw. auch journalistisch zu betreuen. Bevor wir uns also den Abgründen Ihres vielschichtigen

Werkes zuwenden, gestatten Sie mir eine ganz persönliche Frage. 2009 hatten Sie sich nach dem

Paukenschlag der Uraufführung von Hermann Nitschs gigantischer „Sinfonie – Die Ägyptische“ für

alle völlig unerwartet aus dem Dirigenten-Business verabschiedet. Was veranlasst einen hochkarä-

tigen Dirigenten zu einem solcherart drastischen Schritt – vor allem angesichts der eben erst vorge-

legten, bis zum heutigen Tag konkurrenzlosen Einspielungen von Bruckners „Dritter“, der „Fünften“

sowie der von Ihnen komplettierten, unvollendet hinterlassenen „Neunten“ mit dem European Phil-

harmonic Orchestra, um schließlich ausgerechnet bei Hildegard von Bingen zu landen?

Weil ich eines Tages in einer mich zutiefst erschreckenden Realität aufgewacht bin, die

nicht mehr die meine war. Ich realisierte nicht nur, dass unsere gesamte Lebens-, Denk-,

Wahrnehmungs- und Empfindungskultur größtenteils nur noch von einem widerlichen

materialistischen Nihilismus, von Evaluierung, Pragmatismus und Karrieredenken do-

miniert wird. Mir wurden in diesem Moment auch die drastischen Konsequenzen klar,

dass diese um sich greifende Seuche natürlich auch vor der Musik nicht haltmacht. Mir

wurde schlagartig bewusst, dass es für mich als Dirigent in Zukunft Arbeitsbedingungen

geben würde, die hinsichtlich meines zugegebenermaßen kompromisslosen künstleri-

schen Anspruchs keine befriedigenden Ergebnisse mehr zulassen würden. Dieses und

noch einiges mehr, das ich Ihnen jetzt ersparen möchte, haben zu meiner Entscheidung

geführt, nicht länger die mir anvertrauten Talente für eine frucht- und sinnlose Tätigkeit

zu verschwenden. So gesehen war also meine Entscheidung, der Klassik-Branche end-

gültig den Rücken zu kehren, nur ein logischer Schritt.

Das klingt nach Resignation...

Ganz im Gegenteil!

Sie haben konkrete Pläne?

Wie Sie sehen, bin ich ja nicht ganz untätig geblieben. Mit diesem Hildegard-Projekt

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ist der Anfang für eine spannende Zukunft eingeläutet. Da bricht etwas ganz Neues

auf, dessen langfristige Konsequenzen überhaupt noch nicht abzuschätzen sind. Und

was mich vor allen anderen Dingen antreibt: wir brauchen eine wirklich „neue“ Musik.

Darauf werden wir später eingehend zu sprechen kommen. Wie geht es Ihnen jetzt im Nachhinein

mit Ihrem dirigentischen Exit? Leiden Sie gelegentlich unter Entzugserscheinungen?

Überhaupt nicht. Vor allem mit Bruckners „Fünfter“ bei den Internationalen Bruck-

nertagen 2007 in St. Florian hatte ich einen Punkt erreicht, der auch von mir selbst

nicht mehr überboten werden konnte. Ich hatte als Dirigent alles gesagt, was in mei-

nen Möglichkeiten stand. Es war also Zeit für einen neuen Schritt. Es war immerhin ja

auch ein grandioser Befreiungsschlag für mich ganz persönlich. Ich war endlich auch

innerlich bereit, die Welt der „Musica humana“ weit hinter mir zu lassen – die Musik

des Business-Getöses, des Ehrgeizes, der Selbstbehauptung, des permanenten, voll-

kommen unsinnigen Wettbewerbs jeder gegen jeden.

Und wie lautet nun Ihre Alternative dazu?

Mein ausschließliches musikalisches Interesse gilt jetzt der sogenannten „Sphärenmu-

sik“. Das neue „Klangdom“-Projekt ist ja nichts anderes als das Resultat meiner inten-

siven Beschäftigung mit dieser „Sphärenmusik“, auf die mich letztendlich Hildegard

von Bingen gestoßen hat. Dass ich meinen langen, abenteuerlichen Weg als Musiker

auf diese Weise abrunden kann, ist für mich schon ein ganz besonderes Geschenk. Ein

Weg, der mich vom alpenländischen „Andachtsjodler“ meiner Kindertage orgelspie-

lenderweise in die großen Kathedralen dieser Welt und sodann dirigierenderweise in

die gigantischen, virtuellen Klangkathedralen Anton Bruckners geführt hat; ein Weg,

der mich auch auf den heiligen Berg Athos geführt hat, wo ich die Aura der orthodoxen

Musik atmen durfte; ein Weg, der mich am Beginn meiner Karriere aber auch mit den

Klang-Exzessen der Avantgarde vertraut gemacht hat und der mich schließlich nach In-

dien geführt hat, wo ich für zwei Jahre von Guru Ameer Mohamad Khan in die Geheim-

nisse nicht nur der indischen Musik, sondern der „Musik an sich“ initiiert wurde. Und

all das verbindet sich nun mit meinen aktuellen Klangforschungen und Klangmedita-

tionen am legendären pythagoreischen Monochord und wenn mich gelegentlich doch

wieder ein allzu mächtiges musikalisches Ausdrucksbedürfnis überfällt, dann greife

ich zu meiner steirischen Knopf-Harmonika, mit der ich als Kind meine musikalische

Lebensreise begonnen habe. So schließt sich gewissermaßen der Kreis.

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heXe, MeDIUM, heIlIGe

oder vielleicht doch nicht. Die Uraufführung Ihres Oratoriums „Klangdom der heiligen Hildegard“

am 3. Oktober 2015 im Brixner Dom in Südtirol geriet zum einhelligen Erfolg. Nun gibt es im Rahmen

des Internationalen Hildegard-Kongress 2016 ein Revival davon im Konstanzer Münster. Freuen Sie

sich darüber?

Natürlich freue ich mich. Aber da gibt es noch etwas anderes, das mich in diesem

Zusammenhang wirklich sehr bewegt. Ausgerechnet an diesem Ort wurde vor genau

sechshundert Jahren Jan Huss während des Konstanzer Konzils verbrannt. Was nach-

träglich ziemlich fatale Folgen für Europa und die Kirche haben sollte.

Das hat doch aber mit Hildegard von Bingen relativ wenig zu tun.

Das sehe ich nicht so. Beide verbindet ein ebenso fulminantes wie richtungswei-

sendes Engagement für eine tiefgründige Erneuerung des westlichen Christentums,

dem aufgrund der ungeniert an den Tag gelegten Machtgier und Dekadenz der ins-

titutionellen Amtsträger die ursprüngliche Botschaft Jesu an alle Menschen von der

überwältigenden Freude am Dasein abhandengekommen war.

Wobei jedoch auch nicht verschwiegen werden sollte, dass dieser beiden „fulminantes Engage-

ment“ zu recht unterschiedlichen Ausgängen geführt hat.

Allerdings. Jan Huss ist der Kirche ohne viel Federlesens ans Eingemachte gegangen

und deshalb schnurstracks auf dem Scheiterhaufen gelandet. Hildegard dagegen –

zwar nicht weniger atemberaubend in ihren spirituellen An- und Einsichten – war

ein gutes Stück klüger. Sie hatte es tatsächlich geschafft, ihre sprengstoffhaltigen

Botschaften so geschickt zu tarnen, dass ihr die kirchlichen Glaubenswächter damals

wie heute partout nicht ans Leder konnten.

Inzwischen hat sich ja das Blatt zu ihren Gunsten gewendet. 2012 wurde sie von Papst Benedikt XVI.

nicht nur zur „Ehre der Altäre erhoben“ – d.h. heiliggesprochen – sondern darüber hinaus wurde sie

auch noch zur „Kirchenlehrerin“ gekürt.

Das ist doch wohl eher ein hilfloser Versuch seitens der Kirche noch im allerletzten

Moment auf den globalen Hildegard-Hype aufzuspringen. In Wahrheit hat diese Ins-

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titution beinahe neunhundert Jahre gebraucht, um festzustellen, ob diese Frau nun

tatsächlich eine „Heilige“ war oder doch nur ein unbotmäßiges Frauenzimmer.

Was mich aber echt in Rage bringt: ein wesentlicher Teil dessen, was für Hildegard

von essentieller Bedeutung war, nämlich ihre physische wie auch ihre psychothera-

peutische Heilkunst, ihre faszinierende Edelstein-Kunde, ihre einzigartige „Theorie

der Musik“ und noch so manches andere wird nach wie vor von der Kirche einfach

negiert, um auch nur den leisesten Verdacht auf angebliche „Esoterik“ schon im

Keim zu ersticken.

Nicht genug damit. Ich war immer wieder erstaunt feststellen zu müssen, dass jede

Menge höchster Kirchenfunktionäre, Pfarrer, Ordensfrauen wie Ordensmänner für

Hildegard nur Hohn und Spott übrig haben. Dessen ungeachtet werden von genau

diesen Leuten alljährlich zu ihrem Todestag ihre Gebeine in einer feierlichen Prozes-

sion durch den Ort getragen.

Diese verspätete Kür zur „Kirchenlehrerin“ ist für mich einfach lächerlich. Was soll

sie uns laut römisch-katholischer Kirche denn lehren? Etwa warum wiederverheira-

tete Geschiedene nicht zur Kommunion gehen dürfen? Oder welcher sexuellen Freu-

den wir uns gefälligst auf göttliche Anordnung hin zu enthalten hätten?

Aber lassen wir doch die Toten ihre Toten begraben. Immerhin hat diese ganze Ver-

logenheit meine Neugierde an ihr erst so richtig angestachelt.

Immerhin etwas Positives! Denn daraus ist, wie wir jetzt wissen, Ihr Hildegard-Oratorium entstan-

den. Und das trotz Ihres „ziemlich ambivalenten“ Verhältnisses zu ihr, wie Sie selbst behaupten.

Wie konnte dann ein so imposantes Werk entstehen, das die Menschen in Scharen in Trance und

rückhaltlose Begeisterung versetzt?

Ich kann nicht leugnen, dass mein Verhältnis zu Hildegard von Bingen von Anfang

an – und das ist noch milde ausgedrückt – etwas ambivalent war. Denn irgendwann

musste ich feststellen, dass es gleich mehrere Hildegarden gibt. So etwa die gro-

ße, von sehr vielen respektierte Heilige. Oder Hildegard, die Heilkundige; Hildegard,

das Medium; auch Hildegard, die Prophetin; Hildegard, die Hexe, die Schamanin, die

streitbare Theologin, die selbstbewusste Visionärin, die phänomenale Künstlerin wie

auch die scharfzüngige „Beraterin“ von Päpsten, Kaisern und Königen.

Wer war sie also wirklich? Dazu kam, dass, je mehr ich mich in ihr Werk vertiefte,

desto stärker machte sich ein mich immens irritierender Unterton bemerkbar. Zwi-

schen den unheimlich starken Bildern und Symbolen und den Orakelsprüchen, die sie

als Medium empfangen hatte und den diesen Bildern unterlegten Texten klaffte ein

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unüberbrückbarer Riss. Gott sei Dank erledigte sich dieser „Widerspruch“ sozusagen

schnell ganz von alleine. Ich fand nämlich heraus, dass diese überaus katholisch

fromm anmutenden Texte auf Betreiben ihres damaligen theologischen Assistenten

und strategisch äußerst versierten Mitstreiters und Mönchs Volmar erst in „zweiter

Instanz“ den Bildern unterlegt wurden. Hätte sie also ihre Visionen nicht entspre-

chend „angepasst“, hätten wir nie etwas von einer Hildegard von Bingen erfahren.

D.h., Sie unterstellen ihr, dass sie flexibel genug war, die Brisanz ihrer Visionen etwas abzufedern.

Abfedern? Was bitte heißt da abfedern! Eine potentielle Bombe mit enormer, befrei-

ender Sprengkraft wurde dadurch schlicht und einfach unschädlich gemacht.

Was ist da im Vorfeld wirklich geschehen? Stellen Sie sich doch mal vor, eine katholi-

sche, medial hochbegabte Nonne würde einfach so ungefragt Bildvisionen veröffentli-

chen, die völlig unzensiert der kollektiven Seelenregion der Menschheit entstiegen sind.

Genau das sind aber ihre archaischen Bildvisionen, „Kollektives Unbewusstes“ wurde

diese Seelenregion von C. G. Jung etwas wissenschaftlich unterkühlt genannt.

Bei der Substanz ihrer archaischen Bilder geht es um das Eingemachte; um die um-

werfende Epiphanie einer überkonfessionellen, transzendentalen Wirklichkeit, für

die die traditionelle, rein materialistisch ausgerichtete Schulwissenschaft wie auch

eine konfessionell eingeengte Theologie nur ein hilfloses Achselzucken aufzubrin-

gen vermag.

Das Gefährliche daran ist, dass an diesem „Kollektiven Unbewussten“ grundsätzlich

jeder Mensch teilhätte, auch wenn die meisten davon so gut wie nichts darüber wissen.

O Mann, da war tatsächlich Gefahr im Verzug. Da sahen ihre Vorgesetzten unmittel-

baren Handlungsbedarf. Also alles zurück an den Absender und nochmals alles von

vorne, bitte sehr!

Das ist doch der eigentliche Grund, warum ihre urstarken, ursprünglich kommentar-

losen Bild- & Textvisionen nicht ohne diese furchtbar frommen, strapaziös moralisie-

renden Kommentare an die Öffentlichkeit gelangen durften.

Wie auch immer, ich erlernte durch diese erhellende Erkenntnis eine andere Art des

„Lesens“ ihrer Schriften, die mir sodann die Pforten öffnete in ein mir bisher unbe-

kanntes, atemberaubend weites Land ihrer Gedanken- und Gefühlswelten, in denen

sie lebte, atmete, sich bewegte.

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eIn UnIKat

Ihr Hildegard-Oratorium sorgt ja nicht nur hinsichtlich des Inhaltes ausreichend für Gesprächsstoff.

Auch seine besondere Machart – wenn ich so sagen darf – hat es zweifellos in sich. Ein prominen-

ter Besucher der Brixener Uraufführung äußerte sich etwa dahingehend: „So etwas habe ich zuvor

noch nie erlebt. Das ist einmalig. Das ist ein Unikat. Das hat mit einem traditionellen Konzert nichts

mehr zu tun“. Was ist an diesem Projekt so ungewöhnlich?

Mir war von Anfang an klar, dass ich gerade für dieses spezielle Projekt eine völlig

andere Form der Konkretisierung finden musste, als die eines üblichen Konzertes, wo

das Publikum von den Akteuren besungen bzw. bespielt wird. Und das soll es dann

gewesen sein. Und so kam ich nach langem Suchen irgendwann auf den „Klangdom“.

Die Ausführenden – Sänger und Musiker – bauen gemeinsam mit dem Publikum ei-

nen virtuellen „Dom der Klänge“.

Und wie funktioniert so etwas aus der praktischen Perspektive?

Ich lasse ganz einfach das Publikum mitsingen.

Das haben ja auch schon andere vor Ihnen mit mehr oder weniger Erfolg versucht.

Da reden wir jetzt doch wohl von zwei Paar Schuhen. Mit „Publikumsbeteiligung“

meine ich keinen heute des Öfteren gerne strapazierten PR-Gag, dergestalt, in der

„Matthäuspassion“ das Publikum die Choräle mitsingen zu lassen.

Und was spräche Ihrer Meinung nach gegen eine derartige Form einer aktiven Beteiligung des

Publikums?

Weil das ganz einfach nicht wirklich stimmig ist und deshalb über einen rein ober-

flächlichen Effekt auch nicht hinauslangt. So es überhaupt funktioniert. Wie sollte

ein Konzertbesucher so mir nichts dir nichts in eine Sphäre des Gebetes und der

ergriffenen Andacht fallen, sodass so ein Choral dann zwingend aus den Tiefen des

Herzens emporsteigen könnte? So etwas fällt nicht einfach nur so vom Himmel.

Wenn also kein PR-Gag, welcher Ansatz für eine Publikums-Beteiligung käme dann in Ihrem Projekt

zum Tragen?

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vertIKale KOMMUnIKatIOn

Diesbezüglich verdanke ich keinem Geringeren als dem „King of Kletzmer“, Giora

Feidman die zündende Idee. Er hat mir gezeigt, wo es langgehen könnte. Schon im-

mer lag mir in künstlerischer Hinsicht – egal ob als Dirigent oder auch als Kompo-

nist – etwas bleischwer auf dem Herzen. Nämlich die Überwindung der Form des

„herkömmlichen Konzertes“. Vorne am Podium die aktiven Ausführenden, unten im

Parkett und oben auf den Galerien die passiv Lauschenden. Das war mir persönlich

einfach zu wenig. Nur, wie kann man diese Barriere sinnvoll und glaubwürdig durch-

brechen? Keine Frage, man kann alles Mögliche mit dem Publikum anstellen. Aber

darum geht es nicht. Es muss sinnvoll und glaubwürdig sein.

Was haben Sie bei Giora Feidman gefunden?

Auch in Feidmans Denken spielt die aktive Einbeziehung des Publikums eine zentrale

Rolle. Aber eben nicht aus Spaß, Jux oder Tollerei. Und schon gar nicht als PR-Gag.

Sondern?

Als ich vor einiger Zeit wieder einmal eines seiner Konzerte besuchte, wurde mir

schlagartig bewusst, was genau er mit seinen Konzerten verfolgt. Feidman bringt

über die Musik ein sehr persönliches Anliegen zum Ausdruck – Versöhnung und Ver-

ständigung. Es geht ihm im Grunde um Kommunikation. Im Verlauf eines solchen

Konzertes wirft er immer wieder dem Publikum ganz einfache Melodien zu, das die-

sen „Ball“ auch spontan aufgreift. Es funktioniert echt gut. Im gemeinsamen Sin-

gen wachsen so wildfremde Menschen mit höchst unterschiedlichem Background,

Menschen die sich zuvor noch nie begegnet sind, augenblicklich zu einer einzigen

großen Family zusammen. Es entsteht ein spontanes Verbundensein, das niemanden

kalt lässt. Du nimmst es Feidman total ab, dass es ihn fast schon persönlich zu krän-

ken scheint, dass die Welt um ihn herum offensichtlich ganz anders tickt. Wenn wir

zusammen so wunderbar, in solch herzlicher Verbundenheit singen und musizieren

können, ruft er spontan den Leuten im Saal zu, warum gelingt das dann nicht auch

da draußen?

Mit Ihrem „Klangdom“-Projekt verfolgen Sie also eine ähnliche Linie?

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Nein. Eben nicht. Da gibt es einen gravierenden Unterschied. Und das ist das wirklich

Neue an diesem meinen Projekt. Der „Klangdom der heiligen Hildegard“ zielt auf

etwas ganz anderes ab. Hier steht nicht wie bei Feidman ein humanes Anliegen, so-

zusagen eine „horizontale“, zwischenmenschliche Kommunikation im Vordergrund.

„Klangdom“ steht für die „vertikale“ Kommunikation. Hier geht es darum, über

Klang, über Musik eine Wirklichkeit auf ganz spezifische, konkrete, hautnahe Weise

unmittelbar zu erfahren, die jenseits unserer alltäglichen Realität angesiedelt ist.

Hildegard nennt diese reale Wirklichkeit hinter dem Schleier unserer vermessbaren

physischen Welt „Himmel“, „Paradies“, „wahre Heimat der Seele“ etc. Die Hindus,

die alten Griechen, das alte Ägypten hatten dafür wieder ganz andere Symbole und

Namen. Das sind wohlgemerkt alles nur Namen, Worte, Symbole. Aber die Realität,

die hinter allen diesen Begriffen und Symbolen steht, die gibt es tatsächlich.

„Klangdom“ – ist das jetzt eine Erfindung Hildegards?

Nein, das habe ich „erfunden“, wenn ich das so sagen darf.

Und wie kommen Sie dann ausgerechnet auf einen „Klangdom der heiligen Hildegard“?

Hier hat sich eines aus dem anderen ergeben. Angefangen hatte alles mit diesem

legendären Beschimpfungsbrief Hildegards an die Mainzer Prälaten, der mir im wahrs-

ten Sinn des Wortes „zu-fällig“ zwischen die Finger kam, als mir nämlich eines Tages

ein dicker Wälzer aus dem Bücherregal vor die Füße gefallen ist. Es war die Gesamt-

ausgabe der Hildegard-Briefe. In besagtem Brief hat sich Hildegard aus konkretem An-

lass – genauer wegen der Unterdrückung der Musikausübung in ihrer Abtei durch die

Mainzer Prälaten – unmissverständlich Luft gemacht hat. Nur durch die Musik könne,

so Hildegard, in der aus der großen kosmischen Einheit herausgefallenen Menschheit

die Erinnerung an das verlorene Paradies wieder wachgerufen und damit nachhaltig

eine Rückbesinnung auf unsere wahre Herkunft eingeleitet werden. In heutiger Spra-

che würden wir vom „Verlust der Mitte“ und deren Rückgewinnung reden. Sie war echt

fuchsteufelswild. Da ist absolut nichts von demütiger Unterwerfungsgeste gegenüber

ihren kirchlichen Oberen zu bemerken. Ganz im Gegenteil! Solche Herrschaften – gleich-

gültig ob Domherr, Bischof oder Kardinal, welche die Ausübung der „wahren“ Musik

hintertreiben – seien mit Leib und Seele dem göttlichen Gericht verfallen, wettert sie.

Ja, und dann war da noch eben die „Klangdom-Idee“, die ich schon vor Jahren in einem

ganz anderen Zusammenhang entwickelt hatte.

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aUthentIsches KlanGerleBnIs

Was steckt nun genau hinter dieser Ihrer „Klangdom-Idee“?

Also, „Klangdom“ für sich genommen bedeutet zunächst einmal eine ganz bestimm-

te Art der Erfahrung, wie auch des Umgangs mit Musik, wie auch eine ganz gezielte

Art des Einsatzes von Musik und Klang.

Das hört sich zumindest für mich etwas zu abstrakt an.

Das ist es ganz sicher nicht. „Erfunden“ hatte ich diesen Begriff wie gesagt vor et-

lichen Jahren im Zusammenhang mit meinen Openair-Bruckner-Aufführungen mit

dem European Philharmonic Orchestra auf der 1500 m hoch gelegenen „Gaistal Arena

Leutasch“ am Plateau des Tiroler Wettersteingebirges. Die Wortmarke „Klangdom“

wurde natürlich sofort von zahlreichen Epigonen „aufgegriffen“, wenn auch nicht

wirklich verstanden wurde, was hinter diesem Begriff tatsächlich steht.

Als ich nun im Zuge meiner Hildegard-Recherchen diese unglaubliche Entdeckung

machte, was „Musik“ ihrer Meinung nach ist, bekam dieser Begriff für mich urplötz-

lich eine völlig andere Bedeutung.

Und daraus erwuchs dann eben in Verbindung mit meiner alten „Klangdom“-Idee

eine absolut neue Dimension von authentischer Musikerfahrung, so ganz im Sinne

Hildegards, wie ich mal ohne falsche Bescheidenheit behaupten möchte. Ja mehr

noch, die von mir neu adaptierte „Klangdom“-Idee ist nicht mehr und nicht weniger

der Schlüssel, das geheime Vermächtnis der Hildegard von Bingen für jedermann

unmittelbar zugänglich zu machen.

Auf dieses vermeintliche „Geheime Vermächtnis“, das die eigentliche Basis Ihres Oratoriums bildet,

möchte ich gleich noch eingehen. Zunächst möchte ich von Ihnen noch etwas anderes geklärt wis-

sen. Ich höre Sie wiederholt im Zusammenhang mit Hildegard von einer „wahren“ Musik sprechen.

Was wollen Sie damit andeuten? Wir sind uns, so unterstelle ich Ihnen einmal, darüber einig, dass

es die unterschiedlichsten Arten von Musik gibt, egal ob nun Klassik, Volksmusik, Jazz, Pop, Ethno

etc., die alle ihre Berechtigung und dementsprechend auch ihre Fans haben. Welche Art der Musik

würde denn Ihrer Meinung nach Hildegards Ansprüchen am ehesten genügen?

Die „Musik“, von der Hildegard spricht, hat weder etwas mit Klassik, mit Pop, mit

Folk, mit Jazz zu tun, ja nicht einmal mit ihrer Welt der mittelalterlichen Choräle,

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in der sie selbst tief verwurzelt war.

Woher wollen Sie das so genau wissen?

Dazu braucht man nur einmal ganz genau auf das hinhören, was sie sagt. Das „Auge

des Taifuns“ ihrer singulären „Theorie der Musik“ findet sich in einem einzigen, präg-

nanten Satz mit fünf Worten. Nämlich „die Seele ist symphonisch gestimmt“. Diesen

Satz sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Jede Art von guter Musik kann eine geradezu verblüffende Heilwirkung entfalten wie

auch enorme transformative Kräfte freisetzen. So etwas habe ich nicht nur einmal

am eigenen Leib erfahren dürfen. Aber genau darum geht es eben hier nicht. Wir

müssen mindestens zehn Etagen tiefer hinabsteigen. Es geht um die „Musik“ hinter

der Musik – und nicht um einen bestimmten Stil, um eine Klassifizierung, um eine

Zugehörigkeit zu oder was sonst noch.

MUsIK hInter Der MUsIK

Musik hinter der Musik? Darunter kann ich mir ehrlich gesagt im Moment relativ wenig vorstellen.

Mir zumindest ist bis dato noch kein einziges Zitat bei Hildegard begegnet, wo sie

z.B. gesagt hätte: ich höre gerne Musik, ich singe und spiele gerne, weil es mein

Herz erfreut, weil es mein Gemüt erhellt, weil Musik dunkle Gedanken und melan-

cholische Stimmungen vertreibt oder weil ich dann einfach wieder gut drauf bin,

zumindest für eine gewisse Zeit. Das alles ist ja auch grundsätzlich alles andere als

falsch. Aber Hildegard zielt auf etwas ganz anderes ab. Warum zieht es uns förmlich

zu einer ganz bestimmten Art von Musik hin und nicht nur zu irgendwelcher beliebi-

gen? Ich will es Ihnen sagen: weil unsere Seele eben „symphonisch“ gestimmt d.h.

codiert ist. Unsere Seele ist nicht auf „Donauwalzer“, Beethovens „Pastorale“, Mo-

zarts „Kleine Nachtmusik“ oder Bruckners „Neunte“ programmiert. Eher umgekehrt.

Genannte Musikstücke haben einen gemeinsamen Nenner, der wiederum mit der

„symphonischen Codierung“ unserer Seele aufs Engste verknüpft ist. Und da wären

wir eben bei der „Musik“ hinter der Musik.

Mit dem Begriff „symphonisch“ verbinden wir doch wohl eher so etwas wie ein Orchester, eine

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Symphonie oder eine „Symphonische Dichtung“ wie z.B. Smetanas „Moldau“. All das gab es ja be-

kanntlich zu Hildegards Zeiten noch nicht. Was also meint sie dann mit „symphonisch“?

„Symphonisch“ heißt zunächst einmal „Zusammenklang“ und hat mit „Harmonie-Erle-

ben“, mit „In-Resonanz-treten“ zu tun. Ich trete mit der Welt, mit dem Kosmos über den

Klang in Resonanz, weil die Welt und der Kosmos Klang ist, wie die Inder und später

dann die Pythagoreer dezidiert behauptet haben. „Sphärenmusik“ war einer der Schlüs-

selbegriffe der Pythagoreer. Genau hierin liegt auch der Schlüssel zum Verständnis der

„Theorie der Musik“ der Hildegard von Bingen. Das Universum sei deshalb eine gewalti-

ge, große „Kosmische Symphonie“, weil es der Schöpfer singend (und eben nicht spre-

chend) ins Dasein gerufen habe. Das ist neben dem Geschenk der „Hildegard-Medizin“

ihr ganz großes, bisher in aller Konsequenz noch nicht entschleiertes Vermächtnis.

Übertreiben Sie jetzt nicht ein wenig? Die Sache mit der sogenannten „Sphärenmusik“, die immer

wieder in der Weltliteratur herumspukt, ist doch wohl eher symbolisch-poetisch zu verstehen. Wenn

ich auch ehrlicherweise zugeben muss, dass dies im Gegensatz zur kalten Fakten-Statistik der Wis-

senschaft eine wohltuende, faszinierende Sprache ist, deren Zauber man sich kaum entziehen kann.

Wir müssen uns über eines absolut im Klaren sein. Begriffe wie „Sphärenmusik“,

„Weltenharmonie“ oder eben Hildegards große „Kosmische Symphonie“ sind keines-

wegs nur romantische Metaphern für irreale menschliche Sehnsüchte nach Ordnung,

Schönheit und Harmonie. Es gibt tatsächlich so etwas wie eine real existierende,

universell gültige „musikalische“ Struktur, die auf allen Ebenen des Daseins formge-

bend ist und daher auch mit Mitteln der Wissenschaft exakt nachweisbar sein muss.

Unsere „irdische“ Musik ist nichts anderes als die durch die großen Meister hör-

bar gemachte „Sphärenmusik“, herabtransponiert auf unsere planetarische Schwin-

gungsebene. Die „Sphärenmusik“ ist zugleich „Weltenharmonie“, deren Grundlage

wiederum die „Kosmische Tonleiter“ ist. Mit ihr hätten wir nichts anderes als die

lang gesuchte „Weltformel“ in unseren Händen.

sYMPhOnIsch GestIMMt

Albert Einstein hat bekanntlich bis zum sprichwörtlich letzten Atemzug nach einer derartigen

„Weltformel“ vergeblich gesucht. Ja, es findet unter der neuen Generation der Physiker nahezu ein

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dramatischer Wettlauf nach der Entdeckung einer „Weltformel“ statt. Wenn es diese „Weltformel“

also tatsächlich schon gibt, wie Sie behaupten, warum weiß dann die Wissenschaft noch nichts

davon?

Nun ja, formulieren wir es doch besser mal so: die Wissenschaft will von dieser Art

„Weltformel“ partout nichts wissen. Zumindest bis jetzt noch nicht. Aber mal sehen,

was die glorreiche Zukunft noch so alles ans Tageslicht bringen wird. Die brauchen

immer eine mathematische Formel, die irgendwoher kausal-logisch abgeleitet sein

muss. Aber es gibt noch ein anderes, alternatives, äußerst machtvolles Instrument

der Erkenntnis, das wie das Weihwasser vom Teufel von der Wissenschaft seit dem

Sündenfall der sogenannten „Aufklärung“ verabscheut wird – die Analogie. Sie kann

zwar auf der kausal-logischen Ebene nicht bewiesen werden, was jedoch nicht heißt,

dass sie ihr gegenüber keine absolut gleichrangige Daseinsberechtigung beanspru-

chen könnte.

Wenn sie also keine mathematische Gleichung ist, wie soll diese „Weltformel“ dann aussehen?

Wie eine Tonleiter! Aber eben eine „Kosmische Tonreihe“.

Wie eine Tonleiter? Könnten Sie für mich diese „Kosmische Tonreihe“, wie Sie sagen, auch ganz

konkret zu Papier bringen?

Natürlich kann ich das. Aber das braucht es gar nicht, denn Ihnen ist sie wie auch den

meisten Menschen auf unserem Planeten ohnedies bestens bekannt.

Tatsächlich?

Ja, tatsächlich! Diese „kosmische Tonreihe“ läuft normalerweise unter anderen Na-

men wie z.B. „Obertonreihe“ oder „Naturtonreihe“. Aber das ist eine Verharmlosung.

Eine armselige Verkürzung.

Sie meinen damit doch wohl nicht die C-Dur-Tonleiter, mit der man uns im Musikunterricht trak-

tiert hat.

Ja und nein! Denn die sogenannte „C-Dur-Tonleiter“, die ja die Basis unserer to-

nal-harmonischen Musik ist, ist gleichsam nur ein Folgeprodukt aus der „Kosmischen

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Tonreihe“, die ihrerseits wiederum auf der allgemein bekannten, ganzzahligen Reihe

1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 etc. beruht.

Was hätten mathematische Zahlen mit einer „Kosmischen Tonreihe“ zu tun?

Mathematik wäre ihrem Wesen nach wundervollste Musik, die man sich nur denken

kann. Aber das hat man uns ja aus welchen Gründen auch immer im Mathe-Unterricht

bedauerlicherweise vorenthalten. Diese scheinbar simplen, staubtrockenen, seelen-

losen Zahlen 1, 2, 3, 4 etc., mit denen Buchhalter und Börsenspekulanten virtuos he-

rumjonglieren, haben nämlich in Wahrheit eine Seele, ein Herz. Noch viel mehr – sie

sind KLANG! Wunderbarer Klang!

Schade nur, dass sich eine solcherart poetische Sichtweise der beinharten Welt der Zahlen anschei-

nend noch nicht wirklich herumgesprochen hat.

Aufgepasst, das hat mit Poesie absolut nichts zu tun! Wenn ich auf eine auf den Ton

C gestimmte Saite von 120 cm Länge diese simple Zahlenreihe übertrage in der Form,

dass ich diese Saite in zwei, in drei, in vier, in fünf, in sechs gleiche Teile etc. untertei-

le und sie jedes Mal in Form der Hälfte der Saite, eines Drittels, eines Viertels, eines

Fünftels etc. anzupfe, bekomme ich eine wundervolle, harmonische Tonfolge zu hören,

die in mir eine unerklärlich tiefe Resonanz auslöst. Nüchterne Zahlen wie 1, 2, 3, 4 etc.

werden plötzlich als Klangreihe C-c-g-c1-e1-g1-b1-c2 hörbar! Das ist sie, die sogenannte

„Kosmische Tonreihe“, die Mutter aller Musik. Die „Musik“ hinter der Musik.

Oh ja, das klingt gut. Aber muss es denn unbedingt gleich „kosmisch“ sein?

Der KlanG Der zahlen

Jawohl, weil diese harmonische Zahlenreihe (ist gleich Tonreihe!) in Wahrheit soet-

was wie ein universeller Baustein ist, der weit über den Radius unserer Musik hinaus-

geht. Unsere aus der „Kosmischen Tonreihe“ abgeleitete C-Dur-Tonleiter ist ja nicht

nur die melodisch-harmonische Grundlage für Bachs wundervolles C-Dur-Präludium

aus dem „Wohltemperierten Klavier“, sie ist gleichzeitig der Schlüssel zur „Welten-

harmonik“.

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Bekannt ist, dass die alten Chinesen, die alten Inder schon vor Jahrtausenden um

dieses Mysterium der „Kosmischen Tonreihe“ wussten. Pythagoras hat sie viel später

nicht nur zur Basis seiner Erforschung des Universums gemacht, sondern auch als

Schlüssel zum Verständnis der Entstehung des Universum ausgewählten Schülern

weitergegeben. Und ganze zweitausendfünfhundert Jahre später wird schließlich die

Musikuniversität in Wien das sogenannte „Institut für harmonikale Grundlagenfor-

schung“ beherbergen. Ein inzwischen international anerkanntes Institut mit der Ziel-

setzung, auf wissenschaftlicher Basis in den verschiedensten Seinsbereichen – be-

lebt wie unbelebt – diese einfachen, ganzzahligen, strukturbildenden, musikalischen

Proportionen nachzuweisen.

Wenn also die alten Inder damals schon erklärt haben, dass die Welt in ihrem Inners-

ten Wesen Klang ist, haben wir es jetzt auch wissenschaftlich erhärtet auf dem Tisch.

Ist das nicht ein faszinierender Gedanke, dass diese harmonische Zahlenreihe allen

möglichen Phänomenen um uns herum sozusagen als geheimer Bauplan zugrun-

de liegt? Ob das nun Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ oder die architektonischen

Proportionen eines antiken griechischen Tempels sind; oder die subtilen Strukturen

eines Blütenblattes, die Strukturen von Kristallen oder die ganzzahlige „Quantelung“

in den atomaren Welten oder die Umlaufbahnen der Planeten um die Sonne – überall

sind sie nachweisbar, diese einfachen, harmonischen Proportionen der „Kosmischen

Tonreihe“. Am Anfang war die Klang-Wort-Schwingung. Die „Klang-Wort-Schwin-

gung“ als Urbeginn der Schöpfung! Aus dieser ist alles gemacht. Ja, sie ist sogar

identisch mit Gott. So steht es im Johannesvangelium. Und ich sehe nicht die ge-

ringste Veranlassung, dies in Zweifel zu ziehen.

Und wenn ich nun auch noch von den neuesten Vorstößen der jüngeren Physiker-Ge-

neration und ihrer sogenannten „Stringtheorie“ höre – die Speerspitze der modernen

Physik – sind wir gar nicht mehr so weit weg davon, dass sich der Kreis zu dem, was

die Alten wussten und Hildegard prophezeite, endlich doch noch schließen wird.

Und Sie glauben im Ernst, dass dies Hildegard von Bingen, was die Musik betrifft, auch so ähnlich

gesehen hat?

In gewisser Weise ja!

Von einer „Kosmischen Tonreihe“ ist meines Wissens in ihren Schriften nichts zu lesen.

Hildegards musikalisches Werk beruht wie die gesamte Musik Asiens und des Vor-

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deren Orients, so auch die Musik Europas bis ins hohe Mittelalter herauf auf der

„Kosmischen Tonreihe“, deren Kenntnis und wirkliche Bedeutung seit Pythagoras

jedoch einer strengen Geheimhaltung unterlag. Zwangsläufig stellt sich spätestens

jetzt die Frage: wieviel hat sie tatsächlich an sogenanntem „hermetischen Wissen“

gekannt und wieviel davon hat sie aus welchen Gründen auch immer verschwiegen?

Oder bewusst in ihrem Werk „versteckt“, indem sie dieses Wissen in eine subtile

Symbolsprache gekleidet hat?

GeheIMes verMÄchtnIs

Womit wir also bei des Pudels Kern angelangt wären. Sie bauen Ihr Oratorium auf ein ominöses

„Geheimes Vermächtnis“ in Form eines fingierten Briefes Hildegards an einen unbekannten Finder

in einer fernen Zukunft auf. Gemäß meinem bescheidenen Wissensstand liegt jedoch nirgendwo ein

einschlägiges Dokument vor, das auf so etwas wie ein „geheimes Vermächtnis“ hinweisen würde.

Wie sagte es doch schon Rolf Hochhuth auf unübertreffliche Weise? Die Dokumen-

tengläubigkeit der Historiker ist die sicherste Garantie dafür, dass die Wahrheit nie-

mals ans Licht kommen wird.

Wir brauchen also kein derartiges „Dokument“. Es gibt bei Gott viele Möglichkeiten

für einen Autor, in diesem Fall eine Autorin, etwas ihr Wichtiges gut verschlüsselt

an den Mann zu bringen, vorbei an allen, die ihrem Vermächtnis im Wege stehen

könnten.

Verschlüsselt was?

Das unverhüllt auszusprechen ihr als zum absoluten Gehorsam verpflichtete Tochter

der Kirche Kopf und Kragen gekostet hätte.

Könnten Sie das etwas konkreter auf den Punkt bringen?

Stellen Sie sich bloß mal ganz konkret vor, Hildegard hätte z.B. unverblümt enthüllt,

dass du nicht in den Himmel kommst, indem du möglichst oft zur Beichte gehst und

noch öfter die heilige Kommunion empfängst und möglichst viel im römisch-katho-

lischen Katechismus blätterst, sondern dass der Schlüssel zum „Himmel“ vielmehr

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darin läge, durch die Magie der Musik etwas aufzuwecken, das ganz tief am Grunde

deiner Seele ruht und nur darauf wartet, dass einmal ein Prinz kommen und das

„schlafende Dornröschen“ wachküssen würde. Das wäre die „zweite Geburt“, die Je-

sus auf sehr geheimnisvolle Weise im Johannesevangelium zur Sprache bringt. Erst

dann käme dein wahres Wesen zum Vorschein, das unter dem ganzen Schutt der Er-

ziehung zum künftigen braven Dasein eines untertänigen Herdenschafes bisher ver-

schüttet war. Entledige dich also umgehend deines Kokons wie die Raupe, die sich in

einen prachtvollen Schmetterling wandelt. Streif ab alle dogmatischen Einengungen,

alle opportunistisch pragmatischen Verrenkungen, allen vorauseilenden Gehorsam

gegenüber der Obrigkeit. Erhebe dich, Adler, fliege!

Was denken Sie, was hätten da wohl ihre Vorgesetzten dazu gesagt?

Mir das konkret auszumalen versuche ich lieber nicht. Hat Hildegard Ihrer Meinung nach ein Dop-

pelleben geführt?

Nein, dazu war sie eine viel zu starke Persönlichkeit, vor der selbst die Mächtigsten

ihrer Zeit in die Knie gegangen sind. Aber sie war klug, ehrgeizig und karrierebe-

wusst. Natürlich wusste sie auch, dass ein ähnlich erfolgreicher Weg außerhalb des

Klosters für sie als Frau außerhalb jeglicher Reichweite lag. Weil sie also wusste,

was sie wollte, wusste sie natürlich auch, was zu tun und was zu unterlassen war,

um zu überleben. Gott sei Dank! Denn nur so sind wir heute in reichlichem Maße

zu Nutznießern ihrer einzigartigen, musikalisch-spirituellen Erkenntnisse geworden,

die sie in ihrem Werk gut versteckt hat. Daher ist also auch nicht das vordergründige,

sondern eben das „geheime“ Vermächtnis der Hildegard von Bingen die Essenz des

Textbuches zu meinem Klangdom-Oratorium, wie Sie ja schon gesagt haben.

Sie verwenden auffallend oft den Begriff „geheim“ im Zusammenhang mit Hildegard. Warum und

vor allem was sollte Hildegard zu verbergen gehabt haben?

„Geheim“ heißt, dass von ihr gewisse Dinge nicht explizit ausgesprochen bzw. dar-

gelegt worden sind, obwohl man ahnt, dass da noch etwas ganz anderes, Tieferes,

Machtvolleres mitschwingt. Aus welchen Gründen könnte sie sich denn in Schweigen

gehüllt haben? Weil sie sonst großen Ärger bekommen hätte? Weil sie ansonsten in

die Klapsmühle gesperrt worden wäre oder weil sie ganz einfach keine Notwendig-

keit gesehen hat, ihr fundamentales Wissen um die Magie der Musik an die große

Glocke zu hängen? Wie auch immer, eines ist vollkommen klar: sie hatte Kenntnis

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von Dingen, die einer breiten Öffentlichkeit verborgen waren.

Das behaupten Sie einfach so?

Nein, keineswegs. Alles, was sie Großartiges über die Musik sagt, spiegelt genau das

streng gehütete Geheimwissen der Pythagoreer wieder.

Und wie sollte sie zu diesem Wissen gekommen sein?

Man hat in späterer Zeit in sehr vielen mittelalterlichen Frauenklöstern ein äußerst

sonderbares Instrument entdeckt, das vorallem von Nonnen gespielt wurde – das

sogenannte „Trumscheit“. Übersetzt heißt das schlicht „Trompetenholzstück“. Das

ist ein einsaitiges, mit Bogen gestrichenes Instrument, das auf das sogenannte „py-

thagoreische Monochord“ zurückgeht. Die Pythagoreer benutzten dieses Instrument,

um musiktheoretische Untersuchungen bezüglich der „Sphärenharmonie“ inklusive

der „Kosmischen Tonreihe“ anzustellen. D.h. man konnte auf diesem Instrument gar

keine richtigen Melodien spielen wie auf einer Violine, sondern nur die „Naturtöne“

– eben die „Kosmische Tonreihe“ – zum Erklingen bringen, die ja die Basis der „Sphä-

renmusik“ oder der „Weltenharmonik“ bildet.

Mit Sicherheit war auch Hildegards Abtei wie eben viele andere Nonnenklöster ihrer

Zeit im Besitz eines solchen „Trumscheits“. Das entsprechende „Bedienungshand-

buch“ dazu, also die pythagoreische „Theorie der Musik“, die der Schlüssel zu einem

tieferen Verständnis der Weltschöpfung ist, war so gut wie in allen benediktinischen

Bibliotheken verfügbar. U.a. in den Schriften des Jamblichos, der das pythagoreische

Geheimwissen über die Musik detailliert – d.h. soweit es ihm überhaupt zugänglich

war – für den Westen aufbereitet hatte. Man kann also getrost davon ausgehen, dass

das, was die damalige Zeit an Wissen zusammengetragen hatte, selbstverständlich

auch an Hildegard nicht vorbeigegangen ist. Wenn überhaupt wer am Puls der Zeit

war, dann war es Hildegard von Bingen.

Vermute ich richtig, dass auch dafür ein wissenschaftlich abgesicherter Beweis wohl noch aussteht?

Was zum Teufel wollen Sie denn noch an stichhaltigeren Beweisen haben, als ihre

vielen, vielen Aussagen zur Musik, die sich hundertprozentig mit dem decken, was

die Pythagoreer gewusst, geglaubt, gelehrt und auch authentisch gelebt haben?

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eIne neUe DIMensIOn

Kommen wir zur Sache. Was soll Hildegard über die Musik gewusst haben, was den anderen offen-

sichtlich verborgen blieb?

Lassen Sie mich zunächst noch etwas klarstellen. Wenn ich von einem „Geheimen

Vermächtnis der Hildegard von Bingen“ rede, habe ich natürlich kein verstaubtes

Pergament bei Vollmond in einer halb verfallenen Klosterruine zufällig entdeckt. Ich

habe nur sehr tief in ihren Werken gelesen und bin dabei fündig geworden. Das Re-

sultat hat mir in der Tat die Sprache verschlagen. Und daraus ist eben dann dieses

„Oratorium“ entstanden.

Und wieso ist Derartigem niemand vor Ihnen schon auf die Spur gekommen?

Die Überraschung ist ganz meinerseits, dass meines Wissens bis dato noch niemand

entdeckt hat, dass ausgerechnet Hildegard von Bingen der Nachwelt als ihr großes

Vermächtnis eine völlig neue Dimension des Umgangs mit Musik und Klang hin-

terlassen hat. Andererseits hat es ja auch schon beinahe ganze neunhundert Jahre

gedauert, bis ihre bahnbrechende „Heilkunde“ überhaupt erst entdeckt und sodann

einer breiten Öffentlichkeit zugeführt wurde. Warum sollte dann also nicht auch

ihre um nichts weniger bahnbrechende, zukunftsträchtige „Theorie der Musik“ jahr-

hundertelang ein so kümmerliches Schattendasein führen. Damit ist es aber jetzt

endgültig vorbei.

Wären nicht ihre sicher gewöhnungsbedürftigen Kompositionen für uns heute wichtiger als ihre

vermeintliche „Theorie der Musik“? Was könnten Musiker, Komponisten von ihr lernen?

Hildegards eigentliche musikalische Bedeutung für unsere Zeit liegt keineswegs in

ihren zweifellos originellen Kompositionen. Das wird jetzt so manche Hildegard-Pu-

risten auf die Palme bringen. Ihre eigentliche, zukunftsweisende Bedeutung liegt

vielmehr darin, dass sie für eine Zeit, die für sie damals in einer kaum vorstellbaren

Ferne lag, etwas – wenn auch wie schon gesagt ziemlich gut getarnt – hinterlas-

sen hat, was uns einen atemberaubenden, neuen Horizont erschließt. Ihr geht es

hinsichtlich des Gebrauchs von Musik nicht darum, fromme, erbauliche Gefühle zu

wecken oder einen anspruchsvollen ästhetischen Genuss zu gewährleisten oder viel-

leicht gar durch Musik unseren grauen, mittelmäßigen Alltag zu versüßen.

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Sie hatte anderes im Sinn. Mit ihrem lapidaren Satz „Die Seele ist symphonisch ge-

stimmt“ will sie uns in erster Linie nicht etwa ein Dogma verkünden. Sie will uns in

Bewegung setzen, um fündig zu werden.

Und was genau sollten wir finden?

Ein verlorenes, jedoch für uns eminent lebenswichtiges Terrain. Gemeint ist damit

das verlorene Wissen um die “Klang-Emanation eines urtönend Göttlichen, durch das

sich einst die Weltschöpfung vollzogen hatte“, wie dies der Musikphilosoph Friedrich

Oberkogler in zugegebenermaßen etwas gar feierlichen Worten kundtut.

Aber nichtsdestoweniger klingt gerade hier Hildegards zentrales Thema auf: die Rü-

ckerinnerung an ein vergessenes, verdrängtes, durch eigenes Verschulden verlore-

nes Paradies, d.h. nichts anderes als das abhanden gekommene Wissen um die Ganz-

heit des Seins. Und genau das hat eminent viel mit unserer gegenwärtigen Lage zu

tun. Denn viele der äußerst massiven Probleme auf allen Ebenen, mit denen wir uns

zurzeit global herumschlagen müssen, resultieren auf dem ganz einfachen Tatbe-

stand, dass wir als Konsequenz des Sündenfalls der sogenannten „Aufklärung“ aus

der „EINS“ herausgefallen sind.

EIN-heit. GANZ-heit. Am Anfang steht die EINS, durch die alles mit allem verbunden

ist. Diese für die Menschheit selbstverständliche Verankerung in der Ganzheit hat-

te eben im neunzehnten Jahrhundert als Folge der „Aufklärung“ in Verbindung mit

dem Siegeszug der daraus resultierenden, materialistisch-intellektuellen Naturwis-

senschaften ihr jähes Ende gefunden. Mit eben all den bekannten, fatalen Folgen, die

ich nicht näher beschreiben brauche. Das kann ja heute jeder selbst sehen.

Und deshalb ist das „geheime“ musikalische Vermächtnis der Hildegard eben auch

nicht für ihre eigene Epoche, auch nicht für die unmittelbar darauf folgenden be-

stimmt, sondern für unsere Zeit, weil die vorangegangenen Epochen trotz aller gra-

vierender Missstände des Christentums immer noch in einer alles umspannenden,

göttlichen Einheit geborgen waren.

Dieses Herausfallen aus einem zweifellos grandiosen Geborgenheitsgefühl in einer übergreifenden

„göttlichen“ Einheit ist ja nichts anderes als die Folge der „Aufklärung“. Erst dadurch war es doch

dem Menschen möglich, vorurteilsfrei und ohne jede Zensur die Natur zu erforschen.

Das will ich ja auch gar nicht infrage stellen. Wenn es da nicht den ganz anderen As-

pekt der „Aufklärung“ gäbe. Die perverseste Verzerrung der menschlichen Erkennt-

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nisfähigkeit ist für mich immer noch der biologische Darwinismus. D.h. die Giraffe

kam zu ihrer beeindruckend schönen, majestätischen Gestalt einschließlich ihres

himmelwärts strebenden Halses nicht etwa durch einen allem Sein zugrundeliegen-

den Schöpfungsakt eines genialen, von ungeheurer Liebe und kreativer Spielfreude

inspirierten „Überkünstlers“, der selbstverständlich auch den „evolutionären Pro-

zess“ miteinschließt, sondern einzig allein dadurch, dass ausgerechnet die Blätter,

die die Giraffe zu verspeisen begehrte, eben nur auf sehr hochliegenden Ästen zu

erhaschen waren. Also ist ihr Hals eben entsprechend länger geworden. Das Feuer

eines funkelnden Diamanten; die von keinem irdischen Maler auch nur annähernd

einzufangenden Abendstimmungen; der das Herz brechende Blick eines kleinen Zie-

genböckleins; die betörenden Klangwunder von Mozarts „Großen Es-Dur-Symphonie“

– das alles soll nur Produkt einer zufälligen „Selektion“ oder Produkt unserer neu-

ronal wild feuernden, chemischen Gehirnfabrik sein? Und solche Leute, die diesen

Schwachsinn auch noch ernsthaft vertreten, bekommen heute den Nobelpreis? O

mein Gott, wer hievt da die arme Menschheit aus einer derartigen existentiellen To-

desfinsternis wieder heraus?

Das wäre doch wohl das Feld der Religion!

Wäre! Ja! Aber die hat diesbezüglich total versagt. Wie wär´s also dann z.B. mit

Hildegard von Bingen und ihrer haarsträubend simplen, bereits bekannten Formel

„unsere Seele ist symphonisch gestimmt“? Das heißt neben ihren vielen anderen

Bedeutungen auch, dass wir alle – ob katholisch oder muslimisch, marxistisch oder

chinesisch – auf eine einzige „große Harmonie“ programmiert sind, weil wir eben

daraus hervorgegangen sind und dorthin auch wieder zurückkehren werden. Wozu

denn sonst sind wir wohl auf dieser Welt? Nicht genug damit, Hildegard wird den

ganz Begriffsstutzigen zuliebe sogar noch deutlicher, wenn sie frei weg erklärt, Gott

habe die Schöpfung ins Dasein GESUNGEN!

Nur, wie könnte dieses „Lied“ aussehen, mit dem Gott den Kosmos hervorgezaubert hat? Ein Kir-

chenchoral? Eine Melodie à la Mozarts „Kleine Nachtmusik“?

Nein, es geht um die „Musik“ hinter der Musik. „Musik“, wie sie von Hildegard ver-

standen wird, hat also überhaupt nichts mit dem zu tun, was wir heute unter diesem

Begriff verstehen. Es geht nicht um irgendeine bestimmte Form, einen bestimmten

Stil oder eine der bekannten Sparten. Kein Choralgesang, keine Haydn-Symphonie

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und kein Donauwalzer also.

Wie schon gesagt geht es um das, was die Alten mit dem ominösen Begriff „Sphä-

renmusik“ umschrieben haben. SIE ist der Schlüssel zurück zur verlorenen Ganzheit.

D.h. zu deiner eigenen verlorenen Mitte – von Hildegard als „Paradies“ bezeichnet

– deren wir uns wiedererinnern müssen. Ich wiederhole: Hildegard hat ganz klar von

dieser sogenannten „Sphärenmusik“ gewusst. Das spiegeln unmissverständlich alle

ihre Äußerungen über Musik wider. Sie hat sie halt nur anders tituliert. Sie spricht

von der „Großen kosmischen Symphonie“.

Die sogenannte „Sphärenmusik“ ist ja ein Begriff, der immer wieder wie ein Komet am Horizont

der Weltliteratur aufgetaucht ist. Bisher hatte ich mich an ihm eher als eine schöne Metapher oder

als poetischen Ausdruck der Sehnsucht der Menschheit nach einer Harmonie erfreut, die es in der

Realität nach der Entzauberung der Welt durch die „Aufklärung“ ja nicht mehr gibt.

Bitteschön, „Sphärenmusik“ ist alles andere als nur eine schönklingende, poeti-

sche Metapher ohne tatsächlichen realen Gehalt. Längst schon ist diese sogenannte

„Sphärenmusik“ oder „Weltenharmonie“ Gegenstand eingehendster wissenschaftli-

cher Erforschung, wie sie eben am „Institut für harmonikale Grundlagenforschung“

an der Musikuniversität in Wien seit Jahrzehnten erfolgreich durchgeführt wird. Dass

sich die traditionelle Wissenschaft dennoch wie ein trotziges Kind einer ernsthaften

Auseinandersetzung mit diesem seit vielen Jahrtausenden bekannten, bis in unse-

re Tage herübergeretteten Phänomen der „Kosmischen Tonreihe“, also der von den

Wissenschaftlern aller Zeiten bisher vergeblich gesuchten „Weltformel“ verschließt,

ist ein anderes Problem, das uns nicht länger beunruhigen sollte.

Alle jene dagegen, deren Zahl erfreulicherweise täglich steigt und steigt, die sich

nicht länger von der Diktatur einer längst überholten, einseitigen, materialistisch-in-

tellektuellen, ausschließlich auf kausale Logik fixierten Weltsicht gängeln lassen

wollen, sind eingeladen, einem anderen Weg zu folgen. Es ist der von Hildegard von

Bingen initiierte Weg, die Rückbesinnung auf die vergessene, verlorene, verdrängte

Ganzheit ganz praktisch, bodenfest und konkret anzutreten.

Und wie? Eben über die „Musik“ hinter der Musik. Konkret bedeutet dies das unmit-

telbare In-Resonanz-Treten mit der „Kosmischen Tonreihe“, die in allem Seienden prä-

sent ist und durch die alles Seiende in ein vibrierendes Verbundensein getaucht ist.

Um nichts anderes geht es beim „Klangdom“-Erlebnis. Du hast hier die Möglichkeit,

unmittelbar und hautnah in Resonanz zu treten mit der Musik hinter der Musik, dem

„Ur-Klang“, dem „Klangwort“ des Evangelisten Johannes, aus dem alles geschaffen

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ist, und das Gott selbst ist. Wenn du das schon einmal ganz real in einer „Klang-

dom“-Performance auf atemberaubende Weise erfahren hast, dann siehst du mit

einem anderen Blick auf diese unsere Welt. Ganz so, wie es Eichendorff in seinem

genialen Gedicht beschrieben hat.

Schläft ein Lied in allen Dingen

die da träumen fort und fort

und die Welt hebt an zu singen

triffst du nur das Zauberwort.

...und dieses sogenannte „Zauberwort“ ist doch nichts anderes als eben die „Kosmi-

sche Tonreihe“, die „Weltformel“, der Schlüssel zur verlorenen Ganzheit, die wieder

alles mit allem in Einklang bringt. Nichts anderes meint Hildegard mit ihrem lapida-

ren Satz „unsere Seele ist SYMPHONISCH“ gestimmt.

Der „Klangdom der heiligen Hildegard“ ist also die Einladung an alle Menschen un-

abhängig ihres sozialen Backgrounds, ihres Bildungsgrades, ihrer Konfession oder

Nichtkonfession, dieses vibrierende Verbundensein mit allem sowie mit dem Ur-

grund von allem in überwältigender Weise unmittelbar und hautnah zu erfahren und

auszukosten.

„Klangdom der heiligen Hildegard“ ist eine virtuelle Plattform, über Musik und Klang

mit einer „Dimension“ in unmittelbare Resonanz zu treten, die von Hildegard als das

aus dem Bewusstsein des Menschen verdrängte „Paradies“, unsere wahre Heimat

umschrieben wird. Aber was sind schon Worte? Stroh! Nichts als Stroh, wie Thomas

von Aquin einmal, nämlich am Ende seines so wortreichen Lebens ernüchternd fest-

stellen wird.

teUFlIscher trIUMPF

Und doch geht es ohne die Worte nicht, wir brauchen sie. So paradox das auch immer ist, wir brau-

chen sie, damit wir uns behutsam und schrittweise an etwas herantasten können, was sodann sich

nur dem unmittelbaren Erleben erschließt, jenseits aller verbalen Mitteilbarkeit. Wir haben jetzt

sehr viel gesprochen über „Klangdom“, über die antike und damit natürlich auch über Hildegards

„Theorie der Musik“; wir haben mental hineingespürt in das, was Sie als „Kosmische Tonreihe“ be-

zeichnen; wir haben dem nachgespürt, was „Sphärenmusik“ oder „Weltenharmonik“, wie sie von

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Johannes Kepler genannt wird, für unser Leben bedeutet. Für mich stellt sich spätestens jetzt die

Frage: haben alle diese Überlegungen auch auf Ihre Kompositionsweise einen erkennbaren Einfluss

ausgeübt? Ganz konkret: wie sieht die Musik aus, die die Grundlage Ihres Oratoriums bildet?

Selbstverständlich gibt es diesen Einfluss. Aber lassen Sie mich zuvor noch einige

grundlegende Bemerkungen zur musikalischen Konzeption dieses Stück machen. Es

war für mich von vornherein klar, dass ich eine diffizile musikalische Sprache finden

musste. Das Aufeinanderprallen so unterschiedlicher Welten erforderte vorallem den

Einsatz differenzierter Stile. Da gibt es einerseits die archaische Welt des Glaubens,

die musikalisch ihren Ausdruck findet in monumentalen „Organa“, die der mittel-

alterlichen Klangwelt mit ihren wuchtigen Quart-Quint-Oktav-Harmonien nachemp-

funden sind und dadurch eine zeitlose Aura von Größe und Erhabenheit ausstrahlen.

Die „Musik der Engel“ dagegen basiert auf einer originalen Melodie der Hildegard „O

nobilissima viriditas“, die mehr oder weniger versteckt und vielfach variiert wie ein

Leitmotiv das ganze Werk durchzieht.

Die rein diatonische „Musik der Engel“ wiederum hebt sich der „irdischen“ Musik

gegenüber insofern ab, als dass sie ohne Text nur auf dem Vokal „A“ intoniert wird.

Weil eben die Engel keine „Lieder“ singen wie die Menschen. Sie erschaffen tönend

„Kraftfelder“, mit denen die Menschen wann immer sie es wollen unmittelbar in Re-

sonanz treten können.

Woher wissen Sie das? Haben Sie etwa die Engel singen gehört?

Nein. Aber ich weiß das von der Hildegard. Da gibt es nämlich diese ominöse letzte

Miniatur im Codex „Scivias“, ihrem ersten großen Werk. Diese hat den „Chor der

himmlischen Geister“ zum Inhalt im Zustand des Lobpreises. Das ganze Bild ist

durchzogen von weißen Textbändern. Und was, glauben Sie, steht dort drauf? Nichts!

Absolut nichts! Sie sind leer. Ist das etwa ein Versehen? Ist ihrem Künstlerbüro das

Geld für die Farbe ausgegangen? Oder ist es nur eine menschliche Nachlässigkeit?

Selbstverständlich nicht! Dazu war Hildegard, die den ganzen Fertigungsprozess die-

ses wundervollen Codex akribisch überwacht hat, viel zu anspruchsvoll. Der einzige

Schluss, der daraus zu ziehen ist: der Gesang der Engel ist jenseits aller Worte und

Begriffe angesiedelt. Wie ich schon gesagt habe, der „Gesang“ der Engel ist reine,

sehr hohe energetische Schwingung.

Des Weiteren ist da im Stück aber auch noch eine „atonale“ Klangkomponente mit

im Spiel. Nämlich die „Musik“ des Teufels, dem es laut Hildegard aufgrund seiner ab-

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grundtief verderbten Bosheit nicht gegeben ist, singen zu können. Er bringt nur Ge-

krächze und Kreischen hervor, das sich zu einem infernalischen Getöse hochschau-

kelt. Sozusagen eine „Schwarze Messe des gotteslästerlichen Triumpfes“. Ist es laut

Hildegard dem „großen Lügner, Blender und Verdreher“ doch glattweg gelungen,

einen erheblichen Teil der Menschheit so sehr zu vernebeln, dass sie nur dasjenige

für wahr und existent erklärt, was sie mit den Sinnen sehen und greifen kann. Nicht

genug damit, des Höllenfürsten größter Triumph wäre es, auch nur die leiseste Ah-

nung an des Menschen geistige Urheimat für immer aus dem Gedächtnis desselben

tilgen zu können.

MUsIKalIscher ParaDIGMenWechsel

Aber dabei bleibt es ja bekanntlich nicht, wie wir dem weiteren Verlauf des Stückes entnehmen

können. Denn Hildegard ihrerseits denkt nicht daran, dem „perfiden Widersacher“, wie der Teufel in

Ihrem Textbuch bezeichnet wird, widerstandslos das Terrain zu überlassen.

Und das ist nun der Moment, wo für mich persönlich dieses Stück auf den absoluten Höhepunkt

zusteuert: der Klangdom im „Klangdom“! Hildegard übermittelt uns gleichsam von jenseits des Gra-

bes die nun vom Himmel herabschwebende, verblüffend einfache „Klangdom-Melodie“ als „Wun-

derwaffe“ gegen die subtilen Attacken des Widersachers. Es ist ganz so, als ob sich in diesem

hochdramatischen Moment die Musik selbst auf ihre Elementarteilchen-Ebene reduzieren würde.

Das Resultat ist dann eben eine Melodie, die an Einfachheit und Schlichtheit nicht mehr zu unter-

bieten, aber deren Wirkung umso enormer ist, wie ich an mir selbst erfahren konnte, obwohl ich

diese Musik nur über ein klangliches Surrogat kenne, vom CD-Mitschnitt der Brixner Uraufführung.

Das ist nicht nur Klangmagie, hier präsentiert sich Musik als etwas ganz und gar Anderes, ohne

dass ich dafür ein passendes Wort hätte. Wie kam es dazu, dass Sie sich für eine solche Art von

Musik entschieden haben, die gerade Ihren Kritikern das pure Schaudern über den Rücken jagt?

Dieser Schritt kam für mich keineswegs von ungefähr. Schon viel zu lange rumort es

in mir gewaltig bezüglich der gegenwärtigen Lage unserer sogenannten klassischen

Musik. Sie wirkte auf mich ab einer gewissen Zeit nur mehr wie ein altes, zahnloses

Weib. Ich wusste nur eines, wir brauchen heute echt eine „neue“ Musik“. Damit

meine ich natürlich nicht, dass Rhythmik und Harmonik noch raffinierter werden

müssten, dass wir statt zwölf Töne zukünftig einundsechzig haben sollten oder dass

neue, nie dagewesene Klangfarben hervorgezaubert werden sollten. Die Klassik, die

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Romantik, die Moderne, die Postmoderne, Jazz, Rock, Pop haben so ziemlich alles

ausgereizt, was musikalisch nur möglich ist. Da gibt es unter der Sonne nichts Neues

mehr. Oder du steigst wie Dr. Faustus zu den Müttern hinab.

Von derartigen Selbstreinigungsprozessen lebt ja die ganze Musikgeschichte, wie wir wissen. Auf

eine Epoche des höchsten kontrapunktischen Gepränges wartete eine neue Generation mit ganz

schlichten, einfachen Melodien, Harmonien und Rhythmen auf. Auf Beethovens späte Streichquar-

tette folgte Erik Satie mit seinen „Gymnopédies“. Als man des nervigen Klanggetöses der zeitge-

nössischen Musik überdrüssig war, machte Arvo Pärt mit seinen simpel anmutenden „tintinabu-

li“-Klangspielen international Furore.

Das ist etwas ganz anderes. Mit „neuer“ Musik, wie ich sie verstehe, meine ich nicht,

dass etwas Kompliziertes, Abgehobenes, Verstiegenes durch etwas einfacher Ge-

stricktes ausgetauscht werden soll. Ich suchte nach einer Möglichkeit, über unser

derzeit gültiges, musikalisches System, das die Basis unserer westlichen Musik bil-

det – von Bachs „Kunst der Fuge“ bis zu Michael Jackson „Smooth Criminal“ – hi-

nauszugelangen. Oder in die entgegengesetzte Richtung: dass ich mich vor dieses

System, also zum Stand vor dem „Urknall“ unseres derzeit gültigen musikalischen

„Kanons“ zurückbeame.

Ein tollkühnes Ansinnen. Und wie wollen Sie das anstellen?

In unserer westlichen musikalischen Tradition wurden bislang Töne immer nur wie

Ziegelsteine als „Baumaterial“ verwendet, um daraus Motive, musikalische Themen

oder Melodien herzustellen. Warum sollte nicht der Ton als solcher genügen? D.h.

ich erlebe den Ton als solchen als ein lebendiges, pulsierendes, eine jeweils ganz

spezifische Energie ausstrahlendes Wesen.

Wenn ich also meine, dass wir eine „neue“ Musik brauchen, dann meine ich eben

nicht wie schon gesagt eine auf der horizontalen Ebene verlaufende Differenzierung

der musikalischen Möglichkeiten, sondern einen gewaltigen, vertikalen musikali-

schen Quantensprung der Musik auf eine ganz andere Ebene, wo eben alle bisher

fest einzementierten musikalischen Prinzipien auf den Kopf gestellt werden. Wenn

ich von Quantensprung einer wirklich „neuen“ Musik spreche, dann meine ich damit

einen grundlegenden Paradigmenwechsel.

Und diesen „Quantensprung“ haben Sie nun genau worin für sich gesehen?

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Zurück zu den Urelementen der Musik. D.h. zur „Musik“ hinter der Musik.

Davor aber muss in deinem Kopf das große Aufräumen stattfinden. Tabula rasa. Ich

fahre mit einem Schwamm über eine total vollgekritzelte Tafel. Und plötzlich ist alles

weg. Wunderbar. Vergegenwärtigen Sie sich doch einmal die steile Entwicklung der

Musik von der Renaissance bis hin zur kaum mehr zu überbietenden Komplexität der

Kontrapunktik eines J.S. Bach oder der eines Anton Bruckner. Und dann auch noch die

Zertrümmerung der Tonalität durch Schönberg. Dann kam der Jazz, dann Rock, dann

Pop, dann Hiphop etc. Und was dann?

Strom aus. Black out. Funkstille. Zurück zu den Wurzeln. Wie hatte doch am Uranfang

alles begonnen? Am Anfang war der EINE Ton. EIN Ton als der Beginn der Schöpfung.

Die moderne Wissenschaft spricht dagegen von einem „Bigbang“, als ob ein Knall-

frosch explodiert wäre. Da gab es einfach aus völlig unerfindlichen Gründen einen

lauten Knall. Beng! Daraus soll sich sodann aus ebenso unerfindlichen Gründen rein

zufällig und rein „selektiv“ die unfassbare Schönheit der Schöpfung entwickelt ha-

ben. Es gibt allerdings auch Wissenschaftler, die diese „Urknalltheorie“ in Frage stel-

len. Da ist mir schon wesentlich sympathischer, was wir im Johannesevangelium zu

hören bekommen.

Da gab es am Anfang keinen Bigbang, sondern da war das Urklangwort. Und aus

diesem Urklangwort ist alles entstanden. Das Sichtbare und das Unsichtbare. Und

dieses „Urklangwort“ war, ist und wird immer sein nichts anderes als GOTT selbst,

der sich singend bis in die kleinsten Partikelchen der Schöpfung verströmt.

Zwei Jahrtausende später wird die zeitgenössische Wissenschaft – wie schon gesagt

– mit dem neuesten Schrei, der sogenannten „Stringtheorie“ aufhorchen lassen. Da-

bei geht es um schwingende Miniteilchen von unvorstellbarer Kleinheit, „Strings“ ge-

nannt, die – so wie eine Cellosaite eine unendliche Fülle an Melodien hervorzaubert –

aufgrund ihrer unterschiedlichen, gequantelten Schwingungsfrequenz die unfassbare

Vielfalt des Universums ins Dasein singt. Wenn ich mich recht erinnere, hatten die

Pythagoreer bereits vor zweitausendfünfhundert Jahren Ähnliches verlauten lassen.

Die Vertreter der Wissenschaft lehnen aber strikt derartige interdisziplinäre Querverbindungen

bzw. jegliche Analogien als wissenschaftlich unseriös ab.

Was dieserart „Vertreter der Wissenschaft“ ablehnen oder nicht, ist nur mehr in de-

ren universitären Zirkeln mit ihren entsprechenden Einflussbereichen von Relevanz.

Die Zeichen der Zeit verlauten anderes. Es ist doch wohl kaum mehr zu überhören,

dass sich von „unten“, von der Basis her ein neues integrales Bewusstsein aufzu-

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bauen beginnt, das sich wieder an einer Ganzheitlichkeit des Daseins zu orientieren

gewillt ist, wie dies auch von Hildegard klar postuliert wurde. Dem sollte ab sofort

unsere ganze Aufmerksamkeit gelten.

vIBrIerenDes verBUnDenseIn

Kehren wir zur Musik zurück. Zur „Musik“ hinter der Musik, wie Sie es nennen. Diese „Musik“ hinter

der Musik ist für Sie, wenn ich Sie richtig verstanden habe, nichts anderes als die Naturtonreihe,

oder wie Sie es lieber genannt haben möchten – die Kosmische Tonreihe, die aus dem Grundton,

dem „Einen Ton“, dem „Schöpfungsklangwort“ des Johannesevangeliums gleichsam herauswächst,

wie aus einer einzigen Zelle der Mensch. Dieser „Eine“ Ton rückte also irgendwann in den Fokus

Ihres Interesses.

Ja, aber nicht als philosophisch intellektuelle Fingerübung, sondern als eine prak-

tisch konkrete, sinnliche Anwendung. An und für sich ist ja die Praxis des „EINEN

Tones“ nichts wirklich Neues. Das kannten die Tibeter, die Inder schon seit Ewigkeit.

Ich selbst habe das „Ein-Ton-Singen“ in Indien unter der behutsamen Führung mei-

nes Gurus ganz intensiv praktiziert. Aber erst viel später, im Jahr 2008 bekam ich den

entscheidenden Impuls, die „Praxis des EINEN Tones“ nochmals zu vertiefen. Das war

die Begegnung mit dem Schöpfer des skandalumwitterten „Orgien-Mysterien-Thea-

ters“, Hermann Nitsch, der mir diesbezüglich die Sinne, vorallem aber das innere Ohr

geöffnet hat. „Lasst doch endlich einmal einen einzigen Ton leben! Ein Ton, das ist

mehr als genug.“ So forderte er mit großer Vehemenz. Es war für mich wie eine Of-

fenbarung, auf die ich mein ganzes Leben gewartet hatte. Das schlug bei mir ein wie

ein Meteor. Wir nehmen normalerweise einen Ton als solchen gar nicht war. Sondern

immer nur als Baustein einer Melodie oder eines Akkordes. Und normalerweise rau-

schen in wenigen Sekunden hunderte von Tönen wie ein Regenschauer an unseren

Ohren vorbei, wenn ein Orchester spielt. Aber ein einziger Ton?

Wie gesagt war mir aus meiner indischen Lehrzeit den Umgang mit nur einem Ton

bestens bekannt. So musste ich z.B. jeden Tag bei Sonnenaufgang – das hieß um vier

Uhr morgens – loslegen und ganze vierzig Minuten einen einzigen Ton „tönen“. Vier-

zig Minuten einen einzigen Ton nur gestützt mit dem indischen Harmonium! Monate-

lang immer nur denselben einen Ton! Können Sie sich das vorstellen? Da gibt es nur

zwei Möglichkeiten: entweder du verlierst deinen Verstand oder du erlangst Erleuch-

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tung. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, diese Praxis in mein künstlerisches

Tun zu integrieren. Nicht einmal nach der mich tief beeindruckenden Begegnung mit

Nitsch. Bis dann Hildegard zugeschlagen hat.

QUantensPrUnG

Wurde Ihnen so etwas Ähnliches wie eine Vision zuteil?

(auflachend) Mir fiel einfach nur eines Tages „zu-fällig“ besagte Buchschwarte direkt

vor die Füße. Wahrhaftig, eine recht sonderbare Art von Vision. Aber damit hat sich

mit einem Schlag mein Leben radikal zu verändern begonnen.

Jetzt im Nachhinein kann ich sagen, dass dieser Schritt für mich keineswegs von

ungefähr kam. Wie ich Ihnen ja schon gesagt habe, beschäftigt mich diese tief in

mir rumorende Sehnsucht nach einer „neuen“ Musik. Eine Musik, die in erster Linie

dafür da sein sollte, uns gut zu tun. Denn nicht der Mensch ist für die Musik da, wie

man oftmals gerade im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Musik vermuten

könnte, sondern die Musik ist für den Menschen da. Sie sollte unsere Herzen öffnen

und die grenzenlosen Tiefen unsere Seele aufklingen lassen. Das klingt alles schön,

nett, edel und gut – nur, wie eine solche finden? Die traditionelle Musik konnte mir

nicht weiterhelfen. Und schon gar nicht die Religion.

Da kam ich auf die Idee, mich auf nur scheinbar völlig anderen Jagdgründen her-

umzutummeln. Denn instinktiv fühlte ich, dass es eines universelleren Horizontes

bedurfte, wollte ich zu einer Musik finden, die tatsächlich „neu“ ist.

Und so begann ich meine abenteuerliche Reise ins Wunderland der neu sich aus-

richtenden modernen Wissenschaft. Dort, wo seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis

heute sich die spektakulärsten Enthüllungen ereignen. Die Erkenntnisse der Quan-

tenphysik, der Neurologie, der Zellbiologie haben unser begrenztes Bewusstsein auf

eine neue Stufe gehoben, sodass wir nun imstande sind, alles mit vollkommen ande-

ren Augen zu betrachten. Plötzlich tun sich Felder der Vernetzung auf, die noch vor

wenigen Jahren unvorstellbar waren. Kein Stein bleibt so auf dem anderen.

Warum sollte dieser gigantische „Quantensprung“ des Bewusstseins ausgerechnet

vor der Musik haltmachen? Denn alle diese Dinge sind dazu angetan, unser bisheri-

ges, begrenztes Verständnis der Musik grundlegend auf den Kopf stellen.

Als ich im Zuge meiner intensiven Recherchen nach neuen Horizonten auf das an

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sich abstrus erscheinende Phänomen der „Verschränkung“ stieß, machte es in mei-

nem Kopf „klick“! Das inzwischen wissenschaftlich exakt nachgewiesene Phänomen

der „Verschränkung“ besagt, dass zwei getrennte Teilchen absolut zeitgleich auf

eine Veränderung jeweils eines der beiden Teilchen reagieren, unabhängig von ihrer

„räumlichen“ Distanz. Diese Erkenntnis hatte die Herren der Quantenphysik mäch-

tig erschüttert, denn ein solches absolut synchrones Reagieren auch in einer Dis-

tanz von Millionen Lichtjahre Entfernung setzt das Vorhandensein einer universellen

„Matrix“ oder eben eines „Quantenfeldes“ voraus, das eine solche „Verschränkung“

überhaupt erst ermöglicht. Was also den Herren der Quantenphysik Bauchgrimmen

verursacht – die haben es nämlich gar nicht gerne, wenn ihre Wissenschaft in spi-

rituell-mystische Regionen abdriftet, löst im Musiker allerhöchstes Entzücken aus.

Weil sich hier bestätigt, was die Alten, allen voran die Pythagoreer längst gewusst,

gelehrt und authentisch gelebt hatten, ohne dafür einen exakten wissenschaftlichen

Beweis dafür aus der Tasche ziehen zu können. Der Klang, die „Musik“ hinter der Mu-

sik ist nichts anderes als die „Matrix“, das „Quantenfeld“, das „Universelle Feld“, mit

dem wir über den Klang an jedem Ort der Welt und zu jeder Zeit in Resonanz treten

können. Für Hildegard ist dieses „Universelle Feld“ die „Heimat der in der Dunkelheit

gefangenen Seelen“.

Es ist geradezu kurios, wenn ausgerechnet die Verfechter der modernen Physik, die

verdienstvollerweise dazu beigetragen haben, all diese Dinge ans Licht zu bringen

und jetzt stur darauf bestehen, dass eben diese Dinge absolut nichts mit unserem

Leben zu tun hätten. Dem ist natürlich nicht so und die Ereignisse nehmen auch

ohne die Zustimmung der exakt wissenschaftlichen Gralshüter fröhlich ihren Lauf.

Denn wie man sieht, haben sich alle diese unser bisheriges Verständnis der Wirk-

lichkeit erschütternden Enthüllungen längst segensreich auch über andere Berei-

che ausgegossen. Und so gibt es inzwischen eine „Quantenmedizin“ mit großen und

nachhaltigen medizinischen Erfolgen, es gibt eine „Quantenphilosophie“, die ein bis-

her ausschließlich intellektuell-logisch und kausal ausgerichtetes Denken in die Luft

gesprengt hat. Warum also sollte dieser gigantische „Quantensprung“ des Bewusst-

seins auf allen Ebenen ausgerechnet vor der Musik haltmachen?

Hildegard hat auf die Existenz eines derartigen „Matrix-Feldes“ bereits neunhundert

Jahre vor seiner wissenschaftlichen Entdeckung hingewiesen, wenn sie feststellt,

dass im Kosmos alles mit allem ineinander verschränkt sei. Mevlana Dschelaluddin

Rumi, der wohl größte Mystiker des Islam – und nebenbei Hildegards Zeitgenosse –

bringt diese atemberaubende Wahrheit so auf den Punkt: „Du bist nicht der Tropfen

im Ozean. Du bist der ganze Ozean in einem einzigen Tropfen.“

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Genau dieses umwerfende Erlebnis erwartet dich, wenn du dich auf den „Klangdom

der heiligen Hildegard“ einzulassen bereit bist.

Und wie kann ich nun diese Art des „In-Resonanz-Tretens“ mit dem „Universellen Feld“ via Klang

konkret vollziehen? Singe ich ein bestimmtes Lied?

Der Schlüssel dazu ist eine ganz spezielle Art des „Tonings“, zu dessen Entwick-

lung ich den Anstoß durch meine intensive Beschäftigung mit den Entdeckungen der

Quantenphysik wie auch der „Stringtheorie“ bekommen habe. „Toning“ an sich, also

das längere Verweilen auf einem Ton, um z.B. das Mantra aller Mantras, „OM“ zu tö-

nen, ist ja wie schon angedeutet nichts Neues. Bedauerlicherweise hat aber gerade

diese spezifische Art des Umgangs mit Klang in unserer westlichen Musizierpraxis

keine nachhaltige Resonanz gefunden.

Aber wir haben doch in unserer westlichen liturgischen Tradition etwas durchaus Vergleichbares

aufzuweisen: das „Psalmodieren auf einem Ton“.

Mit Verlaub, das eine hat mit dem anderen absolut nichts zu tun. Während die west-

liche Tradition zwar auch nur einen Ton gebraucht, zugleich aber kilometerweise

Text darüber hinwegsurfen lässt, tönst du entsprechend der östlichen Praxis eine

Viertelstunde und noch länger nur einen einzigen Vokal, nämlich „OOOOOO“! Das

dazugehörige „M“ bildet einfach den Abschluss einer jeweiligen Atem-Sequenz. Die

Wirkung dieser beiden Techniken könnte unterschiedlicher nicht sein. Beim „OM“

schaltet sich allmählich der Intellekt aus und erst dann können sich die Tore nach

innen in die Tiefen unseres Seins öffnen. Was ein kilometerweise abgesungener Text

– seien es jetzt Psalmen oder Hymnen – bewirkt, brauche ich Ihnen wohl nicht extra

darzulegen. Unser Intellekt bekommt entsprechendes kraftvolles „Futter“, um sich

selbst eben nicht abzuschalten. Auf diese Weise wirst du zwar über die kilometer-

langen Texte unendlich viele Informationen über Gott und seine Heilspläne, über die

Beschaffenheit der Erzengel, über die Vorzüge eines tugendvollen Lebens bekom-

men, aber so wirst du niemals erfahren, wer du wirklich bist. Das brauchst du auch

gar nicht zu wissen, das sagt dir ja die Kirche.

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GeBUrtsstUnDe Des KlanGDOMs

Nun aber spielt bei Ihnen noch eine ganz andere Dimension von „Toning“ eine zentrale Rolle. Nicht

nur in Ihrem Hildegard-Oratorium, sondern – wie Sie mir ja vorab erzählt haben – auch in Ihren

stimmpädagogischen Aktivitäten, seien es Ihre Workshops, Ihre Seminare oder Ihre individuelle

Arbeit als Stimm- & Personality-Trainer. In allen diesen unterschiedlichen Bereichen setzen Sie auf

ein sogenanntes „Dreiklang-Toning“.

Lassen Sie es mich präzisieren. Es handelt sich um das „Energetische Dur-Dreiklangfeld-

Toning“, das aus den ersten acht „archaischen“ Tönen der „Kosmischen Tonreihe“

abgeleitet ist.

Ok! Was soll man sich darunter vorstellen?

Die Entdeckung desselben war echt eine hochdramatische Geschichte. Sozusagen

ein vorsehungsmäßiger „ZU-Fall“.

Eines schönen Tages hatte ich urplötzlich das Bedürfnis, auf dem „Korg Kronos“,

meinem Super-Synthesizer den C-Dur-Akkord anzuschlagen und ihn einfach endlos

weiterklingen zu lassen, ohne damit eine bestimmte Absicht zu verfolgen. Nur dieser

C-Dur-Akkord. Ich weiß gar nicht, wieviel Zeit vergangen ist, denn ich war plötzlich

außerhalb jeder Zeit. Der Zeitpfeil ist sozusagen stehen geblieben. Dann „sah“ ich

ohne mein Zutun völlig überraschend vor meinem geistigen Auge ein stark vibrieren-

des, dennoch „stehendes“ Energiefeld um mich herum, das mich gleichsam „einlud“,

mich einfach in es einzuklinken. Intuitiv begann ich extrem langsam auf den einzel-

nen Dreiklangs-Tönen wie auf einer Treppe hinauf und wieder herunterzusteigen.

Genauso wie in der Bibel die Engel auf der „Jakobsleiter“ auf und niedersteigen. Also

c-e-g-c1-e1-c1-g-e-c.

Den am Synthesizer gehaltenen Dreiklangs-Akkord empfand ich plötzlich als das

„Universelle Matrix-Klangfeld“, das das ganze Universum trägt und umspannt. Ich

„wusste“, das ist das Quantenfeld. Diese Erfahrung war überwältigend, einfach un-

beschreiblich.

Aber damit war die Geschichte noch längst nicht zu Ende. Ich zögerte einige Tage,

nochmals eine ähnliche Erfahrung anzupeilen, denn ich hatte Angst, dass es nur eine

Illusion, eine Eintagsfliege gewesen sein könnte. Gerade als ich mit der Wiederho-

lung dieses Experimentes beginnen wollte, überfiel mich aus heiterem Himmel eine

vollkommen negative Stimmung. Es war wie eine schwarze Wolke, dich mich ein-

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zuhüllen begann. Unversehens war ich nicht mehr in Stimmung, ja ich fand die Sache

doof, dämlich und lächerlich und es formierte sich in mir ein geradezu exorbitanter,

unüberwindlicher Widerstand, dieses „Dreiklang-Toning“ nochmals versuchen zu

wollen. Irgendwie schaffte ich es dann doch, den Dreiklang halbherzig anzuschlagen.

Und da ging plötzlich wieder der Vorhang auf. Mit einem Schlag war ich wieder un-

mittelbar mit der ungeheuren Wirkung dieses klingenden „Universellen Energiefel-

des“ verbunden und schlagartig fiel meine miserable seelische und körperliche Be-

findlichkeit wie giftige Schuppen von mir ab. Danach war ich wie neugeboren. WOW!

Aber selbst dann wollte ich immer noch nicht so ganz daran glauben. Als einige Tage

später mit meinem Vocalensemble eine Probe angesetzt war, beschloss ich umge-

hend, dieses Phänomen jetzt mit einer größeren, darauf unvorbereiteten Sänger-

gruppe zu testen. Aber auch in diesem Fall war die Wirkung für alle Beteiligten, die

ja die Hintergründe nicht kannten, unmittelbar und gewaltig.

Das erst war die eigentliche, wirkliche Geburtsstunde und zugleich auch das volle

Aufblühen der „Klangdom“-Idee, die mir ja schon jahrelang im Kopf herumspukte;

die ich auch immer wieder auf ganz unterschiedliche Weise zu realisieren versuchte.

Allerdings stellte sich immer auch gleich wieder wie ein dunkler Schatten, ein scha-

ler Nachgeschmack bei mir ein: echt schön, aber das ist es nicht, mein Lieber. Tut mir

aufrichtig leid!

Aber jetzt! Jetzt war ich endlich am Ziel, das wusste ich.

Jetzt bildet genau dieses von Ihnen so ausführlich beschriebene – gestatten Sie mir die einfache-

re Wortwahl – „Dreiklang-Toning“ die musikalische Grundlage zu Ihrem Oratorium „Klangdom der

heiligen Hildegard“. Wenn wir etwas wirklich ganz genau über Hildegard von Bingen wissen, dann

dieses: so etwas wie einen C-Dur-Akkord kannte sie überhaupt nicht. Wie gehen Sie damit um?

Ich bin Ihnen sehr verbunden, dass Sie eine ganz zentrale musikalische Frage an-

sprechen. Ja, Sie haben absolut Recht mit Ihrer Feststellung. Man stelle sich vor,

dass Hildegard ständig von „Harmonie“, „Symphonie“, „symphonischen Zusam-

menklang“ spricht und dabei nie auch nur etwas annähernd Schönes, Einzigartiges,

Hinreißendes gehört hat wie eben einen brausenden C-Dur-Dreiklang, wie er z.B.

in den grandiosen, emotionalen Höhepunkten in Haydns „Schöpfung“, im „Zarat-

hustra“ von Richard Strauss oder auch in der ultimativen Finale-Coda in Bruckners

„Achter“ aufstrahlt.

Und was ist mit dem Moll-Dreiklang?

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Der Moll-Dreiklang ist unter den ersten acht „archaischen“ Intervallproportionen der

„Kosmischen Tonreihe“ nicht enthalten. Er gehört also nicht zu den sogenannten

„Archonten“, den Urprinzipien, die um den „Thron Gottes“ stehen, um es mal bildhaft

auszudrücken. Er steht also in der Hierarchie viel weiter unten.

Aber zurück zum C-Dur-Dreiklang. Das ebenso Paradoxe ist, dass bei uns im Westen

trotz des Vorhandenseins dieses C-Dur-Dreiklangs ab dem Barockzeitalter wiederum

kaum jemand diesen C-Dur-Dreiklang so erlebt, wie mir dies bei meinem Toning wi-

derfahren ist. Weil in unserer Tradition ein einzelner Ton, ein einzelner Akkord nicht

als solcher erlebt wird, sondern immer nur als ein Mosaikstein in einer endlos da-

hintanzenden Perlenkette von Tönen und Akkorden. Ist das nicht mehr als seltsam?

Das hört sich für mich jetzt ganz so an, als ob es zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Musik

gäbe. Oder vielleicht auch ganz unterschiedliche Arten, Musik zu empfinden.

Ja, das ist tatsächlich so. Es gibt tatsächlich zwei Arten von Musik. Die eine Art ist

die, die wir alle gut kennen und von ganzem Herzen lieben. Es ist diejenige Musik,

die für die äußeren Ohren bestimmt ist. Eine Oper, ein Konzert, eine Rock-Ballade,

ein Kirchenlied, eine Klaviersonate, ja selbst ein gregorianischer Choral gehört hier-

her. Und dann gibt es diese ganz andere Art von „Musik“, die ich eben in diesem

unvergesslichen „Dur-Dreiklang-Toning“ erlebt habe. Dabei geht es eben nicht um

irgendwelche ins Ohr gehende, mitreißende Melodien oder zündende Rhythmen oder

das Auftürmen von ausgeklügelten Harmonien.

Hier geht es um das „Universelle Schwingungsfeld“, das in unser hörbares Frequenz-

spektrum herabtransponiert ist – bekanntlich bewegt sich das normale menschliche

Hörspektrum in einem Frequenzbereich von etwa 30 bis 16.000 Hertz. Wir reden hier

also von der „Musik“ hinter unserer bekannten Musik. Und genau das ist die „neue“

Musik, die wir brauchen. Eine Musik, die nicht unsere äußeren Ohren bedient, sondern

in die Tiefe geht, die mit unserer Seele korrespondiert. Wenn unsere Seele, wie Hilde-

gard sagt, „symphonisch“ gestimmt ist, müssen wir eben dem nachspüren, WIE diese

„symphonische“ Stimmung geartet ist. Und das erfahren wir wie schon gesagt detail-

liert bei den Pythagoreern wie auch bei Platon wie später auch bei Johannes Kepler.

In diesem Zusammenhang muss ich nochmals auf schon Gesagtes zurückkommen.

Nicht nur Mikro- & Makrokosmos, sondern auch die „Weltenseele“ ist laut Platon von

den einfachen harmonischen Klangzahlen-Proportionen der Kosmischen Tonreihe 1:2,

2:3, 3:4, 4:5, 5:6 etc. voll durchwirkt. Weil eben der ganze Kosmos von dieser Kosmi-

schen Tonreihe durchwirkt ist, deshalb kommuniziert auch unsere individuelle Seele

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mit der sphärenharmonikalen „Weltenseele“.

Das und nichts anderes meint Hildegard, wenn sie uns den Hinweis gibt, unsere See-

le sei „symphonisch“ gestimmt. Und immer wenn uns Musik tief berührt, erwacht in

uns die große Sehnsucht der Kommunion unserer individuellen Seele mit dem gro-

ßen Ganzen, aus dem wir klingend-tönend hervorgegangen sind.

Es geht also grundsätzlich um das die Seele tief berührende Urerlebnis aller Musik.

Aber wir dürfen dabei nicht stehen bleiben.

Was hindert uns also daran, uns augenblicklich auf die Suche zu machen, den Grund

des Urerlebnisses aller Musik in uns selbst zu finden? Denn nach Ansicht der Hil-

degard sind wir dazu berufen, unmittelbar und hautnah mit diesem universellen,

tönenden, schwingenden Energiefeld in Resonanz zu treten. Jetzt, heute, hier.

Aber etwas so ganz und gar Fremdes ist diese Art von „Musik“ auch unserem west-

lichen, europäischen Kulturkreis nun auch wieder nicht. Hie und da blitzt so etwas

wenn auch nur für einen minimalen Moment in der Musikgeschichte auf. Ein äußerst

markantes, derartiges Aufblitzen der „Musik“ hinter der Musik hat sich bei Richard

Wagner in Form seines berühmt gewordenen „Rheingold“-Vorspiels ereignet.

Wagner war doch wohl eher der auf die Zukunft ausgerichtete Revolutionär, denn ein Mann mit

dem wehmutsvollen Blick rückwärts.

Schauen sie, wir können im Verlauf der wechselvollen Musikgeschichte etwas sich

Wiederholendes beobachten. Die Musik beginnt jeweils in ganz einfachen melodi-

schen, harmonischen, rhythmischen Strukturen, wird aber dann zusehends komple-

xer, um sodann für einen Wimpernschlag wieder zum Elementaren, Einfachen, Ur-

anfänglichen zurückzukehren. Ich scheue hier den Begriff „primitiv“ nicht, weil er

den Nagel auf den Kopf trifft. Alles Gekünstelte ist weggepustet. Musica nudata. Die

„nackte“ Musik.

Und das ist das Pulsieren des lebendigen Atems, das Tönen der Stimme und schließ-

lich die Urharmonie, die „Kosmische Tonreihe“ und der aus dieser Kosmischen

Tonreihe abgeleitete Dur-Dreiklang. So geschehen beim Wechsel von der äußerst

komplexen Musik der Spätgotik zur Renaissance; vom Hochbarock zur sogenannten

„Vorklassik“ oder auch vom hochgeschraubten Jazz zum elementaren Rock und Pop.

Auch bei Richard Wagner ereignet sich für einen ganz kurzen Augenblick der Sturz

der Musik in ihrer inzwischen wieder immens gewachsenen Komplexität von schwin-

delerregenden Höhen hinab zu den Ebenen des Urprimitiven. Ganze 136 Takte nur Es-

Dur-Dreiklang. Vier Minuten nichts als Es-Dur. Was passiert hier eigentlich? Die „Mu-

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sik“ hinter der Musik zeigt hier ihr Antlitz. Auch bei Bruckner ereignete sich diese

Sehnsucht nach der „Musik“ hinter der Musik. Bruckner, der größte Kontrapunktiker

nach Johann Sebastian Bach setzt sich an die Orgel von St. Florian und spielt reine

Dreiklänge und hält diese endlos lang aus. „Ist er verrückt geworden? Was macht er

denn da? Immer nur den gleichen Akkord?“, schreit der lauschende, völlig irritierte

Abt von St. Florian wutentbrannt zu ihm hinauf auf die Empore. „Weil´s halt gar so

schön is“, kontert ihm Bruckner prompt. „Ist es nicht wie ein reinigendes Seelen-

bad?“ DAS ist „Musik“ hinter der Musik! DAS ist „Klangdom“ pur!

Anders die Inder, die bekanntlich stundenlang ihr „OM“ nur auf einem einzigen Ton singen. Ist nicht

die Kraft eines Tones der Konzentration und der Versenkung in den „Göttlichen Urgrund“, um mit

Meister Eckhart zu sprechen, wesentlich zuträglicher, als Ihr Dur-Dreiklangfeld, das uns wohl eher

dazu verführt, uns in der Schönheit des Daseins zu verlieren?

Dieses sogenannte „Tönen“ auf einem Ton, das Sie meinen, ist etwas völlig anderes.

Hier geht es vorallem darum, über den stehenden Ton die Tore nach innen aufzu-

schließen. Dagegen ist das „Dur-Dreiklangfeld“ wie eine grandiose Kathedrale, ein

virtueller Raum, der mich einlädt, ihn tönend – also aktiv und nicht passiv distan-

ziert! – zu betreten.

Natürlich kann ich mich all dem verschließen. Augen zu, Ohren zu, Herz und Seele

dichtmachen. Bloß nicht die Kontrolle abgeben. Dann bleibe ich eben „draußen“ an

der Oberfläche. Ok, das ist deine Entscheidung, der Mensch ist frei, es zwingt dich

niemand zu deinem Glück.

Bist du dagegen bereit, dich einzulassen, dich ganz fallen zu lassen, wird das

Dur-Dreiklangfeld zum unmittelbar und hautnah erlebten, „universellen schwin-

gend-tönenden Energiefeld“, das dich trägt. Hier erlebst du das universelle Schwin-

gungsgitter, das die Basis aller materialisierten „Erscheinungen“ des Daseins ist.

Von den Zellen, den Atomen, Molekülen bis zu den Milchstraßen. Dieses universelle

Schwingungsgitter, es wird auch „universelle Matrix“ genannt, die allem zugrunde

liegt, ist das „WORT“, durch das alles geworden ist. Ist der „Logos“, das KlangWort,

das alles trägt, erhält und mit Lebensatem erfüllt.

Gerade von Hildegard von Bingen wird diese Sichtweise der Musik voll bestätigt,

wenn sie sagt, durch den SCHALL des „WORTES“ sei der Kosmos ins Dasein gerufen

worden. Wobei man natürlich diese beiden Zentralbegriffe richtig verstehen muss.

„Schall“ ist Schwingung, ist Klang, ist Ton, ist Melodie, ist Harmonie, ist Rhythmus,

ist Sprache.

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Das „Wort“ dagegen ist Logos ist SINN! Das Wort ist eine Kombination von Konsonan-

ten und Vokalen, die zusammengefügt einen Sinn, eine Information, eine Message

ergeben. Wie Sie wissen besteht das hebräische Alphabet nur aus den Konsonanten.

Das sind die physikalisch erforschbaren, messbaren, zählbaren Elemente, Dinge, Ge-

setzmäßigkeiten des Kosmos. Also die Ebene, die den Sinnen und deren Gerätschaf-

ten zugänglich sind. Auf dieser Ebene bleibt bekanntermaßen die Naturwissenschaft

stehen. Aber den dahinterliegenden SINN, die nicht ausgeschriebenen Vokale, die

Seele der Dinge, die muss jeder persönlich suchen und finden.

MaGIe Des Beseelten GesanGes

Peter Jan Marthé, wir sind nun am Ende unseres Hildegard-Diskurses angelangt. Wie schon zu

Beginn, möchte ich deshalb dieses so facettenreiche Gespräch auch wieder mit Ihnen persönlich

beenden.

Hildegard, „diese große, widersprüchliche Heilige, Heilkundige, Medium, Prophetin, Hexe, Scha-

manin, streitbare Theologin, selbstbewusste Visionärin, phänomenale Künstlerin wie auch scharf-

züngige Beraterin von Päpsten und Königen“, wie Sie sie ja titulieren – was haben Sie von ihr

Bleibendes gelernt? Im Gegensatz zur eher traditionellen Sichtweise der Kirche, was Bedeutung

und Wirkungsbereich der Hildegard von Bingen betrifft, sehen Sie in ihr doch wohl eher eine große

Anstifterin, noch unerforschte geistige und spirituelle Kontinente zu entdecken bzw. zu erforschen.

Ja, richtig. Wir müssen unsere Ohren sensibilisieren für alles, was dazu beitragen

könnte, unseren Planeten aus dieser bedauernswerten Sackgasse eines einseitigen,

materialistischen Weltbildes herauszuführen.

Als ich mich immer intensiver mit Hildegard zu beschäftigen begann, hatte ich einen

schrecklichen Alptraum. Ein schwerer, offener Pferdefuhrwagen donnerte über eine

staubige Landstraße in einer völlig menschenleeren Gegend. Auf dem Fuhrwagen be-

fand sich ein schwarzer Sarg. Vorn auf dem Bock saßen zwei Kardinäle, die fortwäh-

rend lauthals lachten, während der eine, der die Zügel in der Hand hatte, die Pferde

mit der Peitsche gnadenlos antrieb. Ich wusste, dass sie nach Rom unterwegs waren.

Aber zu meinem panischen Schrecken sah ich, dass sie direkt auf einen Abgrund

zurasten, ohne auch nur die geringsten Anstalten zu machen, abzubremsen. Ich woll-

te wissen, wer im Sarg lag. In diesem Augenblick wurde ich gewahr, dass der Sarg

ja ein Glasfenster hatte. Im Sarg selbst lag Hildegard in ihrer vollen Nonnentracht.

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Aber sie war gar nicht tot. Verzweifelt versuchte sie durch wilde Mimik und Gestik et-

was mitzuteilen. Aber so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte sie nicht verstehen.

Ich grübelte endlos lang über diesen Traum nach. Irgendwann zündete es bei mir

wiedereinmal ganz unerwartet, wie schon so oft in meinem Leben.

Hab einfach die Chuzpe und hole sie raus aus dem katholisch-dogmatischen Korsett.

Ich tat es und dann wurde es echt spannend. Denn plötzlich strahlte Hildegard eine

schier unendliche Fülle universeller Spiritualität aus, wenn auch die Sprache, die Po-

esie, die Symbolik eben in der christlichen Welt beheimatet ist. Aber nicht mehr un-

terdrückend, lähmend, einengend wie durch die Institution Jahrtausende lang prakti-

ziert, sondern heilend und befreiend auf allen Ebenen. Ihr großes Werk war eben, die

Herrlichkeit des „Himmels“ mit der Magie und der Schönheit der Erde zu verbinden.

Von diesem Zeitpunkt an stand für mich persönlich fortan nicht mehr die turbulente

Auf-und-Ab-Geschichte ihres Lebens im Vordergrund des Interesses. Auch nicht die

Auseinandersetzung mit ihren vielschichtigen theologischen, ganzheitlich-medizini-

schen, therapeutischen, spirituellen und künstlerischen Einsichten. Vielmehr begann

sich mein Fokus voll und ganz auf ihr bis jetzt unentdeckt gebliebenes Vermächtnis

zu konzentrieren, die „Theorie der Musik“. Ein Vermächtnis, das zu keinem anderen

Zeitpunkt sich den Weg ans Licht der Öffentlichkeit bahnen hätte können, als eben

gerade jetzt. Weil es für uns alle NOT-wendig ist. Notwendig zum Überleben.

Einer Epoche, die nach den verheerenden Folgen der Aufklärung das Kostbarste ver-

loren hat, was der Mensch überhaupt haben kann – das intuitive Wissen um die gro-

ßen Zusammenhänge des Daseins und das tiefe Verankert-Sein darin – weist sie mit

einer umwerfend simplen Formel – wie schon gesagt die von den Physikern der neu-

eren Generation so verzweifelt gesuchte „Weltformel“ – einen für jedermann (und

natürlich auch für jedefrau) gangbaren Pfad zurück in die verlorene, Alles-mit-Al-

lem-verbundene Ganzheitlichkeit.

Es ist an der Zeit, alle Menschen guten Willens, unabhängig von ihrer Herkunft, ihres

Standes, ihrer Sprache, ihrer Kultur, ihrer Religion anzustiften, sich nicht länger der Dik-

tatur einer materialistisch-intellektuellen Wissenschaftlichkeit zu beugen, die es zu-

stande gebracht hat, das grandiose Kunstwerk „Kosmos“ in immer kleinere Teile aufzu-

spalten, bis schließlich jeglicher Sinnzusammenhang des Daseins ausgelöscht war.

Angesichts dieser für uns prekären Situation, in der sich die Welt heute befindet, tut

es gut, über die neunhundert Jahre hinweg, die uns Zeitgenossen von Hildegard von

Bingen trennen, ihr ungläubiges Kopfschütteln über uns wahrzunehmen. Eigentlich

müssten wir es besser wissen. Der Kosmos, das sichtbare und unsichtbare Univer-

sum, der „Hyperraum“ einschließlich aller seiner bis jetzt nur in den Gehirnen der

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zeitgenössischen Superphysiker herumspukenden „Paralleluniversen“ bis hinab zur

gequantelten Mikrowelt der Elementarteilchen sind so wie unsere Seele ebenfalls

„symphonisch“ gestimmt.

Welcher Art von Rattenfänger von Hameln bedurfte es da wohl, uns von diesem

Urwissen, das jeder Mensch seit seinem ersten Atemzug tief verborgen am Grunde

seines Herzens in sich trägt, wegzulocken? Den Schlüssel für den Weg zurück zur

verlorenen Seinsmitte legt Hildegard in unsere Hände. Greifen wir doch zu!

Und was hat sie nun mit Ihnen ganz persönlich gemacht?

Hm. Hm. (nach einer sehr langen Pause des Nachdenkens)

Musik hat mir seit ich denken kann immer alles bedeutet. Und trotzdem gab es im-

mer wieder auch tiefe persönliche Krisen, wo mir die Musik, „mein Alles“ abhanden-

zukommen drohte.

Hildegard hat mich in den späten Jahren meines Lebens also nochmals auf die aben-

teuerliche Reise geschickt, um endlich etwas zu finden, das ich intuitiv schon immer

seit meiner Beschäftigung mit Musik gesucht, aber immer nur Bruchstücke davon

gefunden habe. Die „Musik hinter der Musik“, das „Schöpfungsklangwort“ des Jo-

hannesevangeliums, die „Weltenharmonik“ des Johannes Kepler. Ich hatte wirklich

grandiose Lehrer, die mir allesamt auf die eine oder andere Weise die Augen geöff-

net haben. Aber nur Hildegard verdanke ich es, mit einem einzigen Satz, bestehend

aus fünf Worten den ultimativen Durchbruch erlebt zu haben. So hat sie mir auf die-

se Weise indirekt dazu verholfen, das „Harmonische Dreiklangfeld-Toning“ zu ent-

decken, das ja die musikalische Basis aller meiner zukünftigen „Klangdom“-Projekte

bilden wird.

Ja, ich habe erst jetzt so richtig begriffen, soll die Musik tatsächlich wieder die Her-

zen der Menschen erreichen, müsste der erste Schritt der sein, dass wir Musikmacher

(sowohl die schöpferischen wie auch die „nachschöpferischen“) uns wieder ganz auf

die „primitiven“ d.h. ursprünglichen Grundelemente der Musik rückbesinnen. Hierin

hat für uns die „Harmonikale Grundlagenforschung“ Großartiges ans Tageslicht be-

fördert. Nämlich den wissenschaftlichen Nachweis einer unmittelbaren Verbindung

zwischen unserer „symphonischen“ Gestimmtheit und der real existenten „Sphären-

musik“. Das ist zunächst schon einmal eine sehr tragfähige, intellektuelle Basis für

eine „neue“ Musik, die wir so dringend brauchen.

Aber das allein genügt nicht. Musik braucht auch den lebendigen Atem, die Seele,

damit sie wirken kann. Das heißt, wir müssen darüber hinaus in unserem Tun die

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Seele der Musik überhaupt erst einmal erwecken. Diese findet sich aber nicht in

einer Partitur. In dieser Hinsicht hat die musikalische Tradition der byzantinischen

Ostkirche dasjenige am Leben erhalten, was uns im Westen vollkommen verloren

ging. Und die entsprechende Zauberformel lautet: Nur durch die Magie des beseelten

Gesanges steigt der Geist herab. Das ist eine klare Bedingung. Wer also die Partitur

einer „Mozartmesse“ zur Hand nimmt und diese nach ein paar knappen Proben mehr

schlecht als recht absingt und dabei glaubt, dass dies auch nur im mindesten etwas

mit Mozart zu tun hat, ist ein hoffnungsloser Ignorant.

Aber selbst das genügt noch nicht für das Aufblühen einer „neuen“ Musik, die dieses

Prädikat tatsächlich verdient.

Und in diesem Punkt hat mir allein Hildegard von Bingen den Weg gewiesen. Es

ist die letzte und höchste Dimension der Musik schlechthin, die wir erreichen kön-

nen, nämlich die spirituelle. Sie fordert uns auf, mit dem Urgrund über die Musik in

unmittelbare Resonanz zu treten, weil unsere Seele eben „symphonisch“ gestimmt

ist. Sie lässt aber auch nicht den geringsten Zweifel aufkommen, dass es für dieses

hohe Ziel klare Bedingungen gibt. Wir durchschreiten dieses höchste und letzte Tor

nur dann, wenn wir auch etwas zu investieren bereit sind: verzehrende brennende

Sehnsucht, grenzenlose Hingabe, bärenstarke Demut, himmelstürmende Begeiste-

rung und ein alles übersteigendes Ausmaß an LIEBE.

Unsere alte lateinische Liturgie hatte dafür eine lakonisch knappe Formel: Sursum

corda. Schwing ganz einfach dein Herz zu Gott empor.

Die Inkarnation dieser unendlichen LIEBE hier auf unserem Planeten ist und bleibt

für mich persönlich Jesus, der „Gesalbte“, wie ihn die Bibel betitelt.

Summa summarum: mit diesem neugewonnenen Wissen beschenkt, darf ich hof-

fentlich noch einige Zeit einer unter den vielen segensreich tätigen Mitarbeitern im

Weinberg des Herrn sein.

(Barbara Frey, bis 1998 freie Musik- und Kulturjournalistin. Lebt seitdem zurückgezogen bei Wien)

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IMPressUMautorin: Barbara Frey

herausgeber: Peter Jan Marthé

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