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REZENSIONEN Österreich Z Soziol (2014) 39:87–90 DOI 10.1007/s11614-014-0115-9 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 G. Reischauer () Abteilung für Arbeitswissenschaft und Organisation, Technische Universität Wien, Theresianumgasse 27, 1040 Wien, Österreich E-Mail: [email protected] Klaus Kraemer und Sebastian Nessel (Hrsg.) (2012): Entfesselte Finanzmärkte. Soziologische Analysen des modernen Kapitalismus Frankfurt am Main: Campus, 405 Seiten, € 30,80 Georg Reischauer Soziologische Untersuchungen der Finanzmärkte erfreuen sich auch im deutschsprachi- gen Wissenschaftsraum zunehmender Beliebtheit. Nebeneffekt der steigenden Popularität ist eine Vielzahl an Forschungsfokussen und Schauplätzen. Der von Klaus Kraemer und Sebastian Nessel herausgegebene Band kann als Bestreben, die Konturen dieses dynami- schen Forschungsfeldes deutlicher zu machen, gelesen werden. Die darin versammelten Autorinnen und Autoren widmen sich in fünf Themenblöcken den Mechanismen, Folgen und Charakteristika von Finanzmärkten sowie deren Verbindungen zu anderen Theorie- und Gesellschaftssphären. Der erste Teil stellt unterschiedliche Zugänge zur Analyse von Finanzmärkten vor sowie detailliert das Verhältnis von Ökonomie und Soziologie. Nach Klaus Kraemer las- sen sich soziologische Untersuchungen des Finanzwesens zwischen den konstruktivisti- schen social studies of finance sowie politökonomisch orientierten Forschungen rund um die Finanzmarkt-Kapitalismus-These, die den „strukturellen und institutionellen Wandel kapitalistischer Wirtschaftsordnungen“ (S. 29) als Fluchtpunkt ausweist, verorten. Trotz verschiedener Prämissen besitzen beide Stränge den Anspruch, den institutionellen Kon- text von Handlungsorientierungen einerseits sowie die ungleiche Verteilung von Chan- cen und Risiken auf Finanzmärkten und in Finanzunternehmen andererseits sichtbar zu machen. Im Rückgriff auf Habermas treten Andreas Langenohl und Dietmar J. Wetzel für eine Konzeption von entfesselten als kolonialisierenden Finanzmärkten ein. Dem- nach entweichen „systemisch kondensierte Handlungsrationalitäten ihren originären institutionellen Zusammenhängen“ (S. 71) und verursachen innerhalb der angedockten Gesellschaftssphären dieselben für Finanzmärkte typischen Sinnbearbeitungsprobleme und Sinnverengungen. Der Beitrag von Heiner Ganßmann widmet sich dem Zusammen- hang von Unsicherheit, Geldgebrauch und Krise. Im Mittelpunkt steht die der neoklas-

Klaus Kraemer und Sebastian Nessel (Hrsg.) (2012): Entfesselte Finanzmärkte. Soziologische Analysen des modernen Kapitalismus

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Rezensionen

Österreich Z Soziol (2014) 39:87–90DOI 10.1007/s11614-014-0115-9

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

G. Reischauer ()Abteilung für Arbeitswissenschaft und Organisation, Technische Universität Wien,Theresianumgasse 27, 1040 Wien, ÖsterreichE-Mail: [email protected]

Klaus Kraemer und Sebastian Nessel (Hrsg.) (2012): Entfesselte Finanzmärkte. Soziologische Analysen des modernen KapitalismusFrankfurt am Main: Campus, 405 Seiten, € 30,80

Georg Reischauer

Soziologische Untersuchungen der Finanzmärkte erfreuen sich auch im deutschsprachi-gen Wissenschaftsraum zunehmender Beliebtheit. Nebeneffekt der steigenden Popularität ist eine Vielzahl an Forschungsfokussen und Schauplätzen. Der von Klaus Kraemer und Sebastian Nessel herausgegebene Band kann als Bestreben, die Konturen dieses dynami-schen Forschungsfeldes deutlicher zu machen, gelesen werden. Die darin versammelten Autorinnen und Autoren widmen sich in fünf Themenblöcken den Mechanismen, Folgen und Charakteristika von Finanzmärkten sowie deren Verbindungen zu anderen Theorie- und Gesellschaftssphären.

Der erste Teil stellt unterschiedliche Zugänge zur Analyse von Finanzmärkten vor sowie detailliert das Verhältnis von Ökonomie und Soziologie. Nach Klaus Kraemer las-sen sich soziologische Untersuchungen des Finanzwesens zwischen den konstruktivisti-schen social studies of finance sowie politökonomisch orientierten Forschungen rund um die Finanzmarkt-Kapitalismus-These, die den „strukturellen und institutionellen Wandel kapitalistischer Wirtschaftsordnungen“ (S. 29) als Fluchtpunkt ausweist, verorten. Trotz verschiedener Prämissen besitzen beide Stränge den Anspruch, den institutionellen Kon-text von Handlungsorientierungen einerseits sowie die ungleiche Verteilung von Chan-cen und Risiken auf Finanzmärkten und in Finanzunternehmen andererseits sichtbar zu machen. Im Rückgriff auf Habermas treten Andreas Langenohl und Dietmar J. Wetzel für eine Konzeption von entfesselten als kolonialisierenden Finanzmärkten ein. Dem-nach entweichen „systemisch kondensierte Handlungsrationalitäten ihren originären institutionellen Zusammenhängen“ (S. 71) und verursachen innerhalb der angedockten Gesellschaftssphären dieselben für Finanzmärkte typischen Sinnbearbeitungsprobleme und Sinnverengungen. Der Beitrag von Heiner Ganßmann widmet sich dem Zusammen-hang von Unsicherheit, Geldgebrauch und Krise. Im Mittelpunkt steht die der neoklas-

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sischen Ökonomie innewohnende negative Performativität, durch die Akteure in ihrer Praxis zu „theoriekonformen Realitätsdefinitionen“ (S. 84) angeleitet werden. Mittels der Verknüpfung von Ungewissheit und Geldgebrauch schlägt Ganßmann eine Theorierevi-sion vor, die einen „den Krisen verstärkenden, performativen Effekt schlechter Theorie zu vermeiden erlaubt“ (S. 99). Sabine Frerichs führt vor, inwiefern verhaltensökonomi-sche Erklärungen von Krisen sich von denen der Wirtschaftssoziologie unterscheiden. Anstelle naturalistischer Begründungen, die individuelle Unvernunft und menschliches Versagen betonen, verweisen letztere auf die Spezifika der „expansiven Logik und imma-nenten Krisenanfälligkeit eines Systems“ (S. 113), die für Akteure eine verinnerlichte Normalität darstellen.

Gegenstand des zweiten Themenblocks ist die Verflechtung von Finanzmärkten und Realwirtschaft. Klaus Dörre zeigt in seiner Untersuchung des Shareholder-Value-Kon-zepts, wie die dadurch propagierte Kapitalmarktorientierung zur Durchsetzung von kommodifizierenden Unternehmenspraktiken instrumentalisiert wird sowie wie auch in Abwesenheit der Shareholder-Value-Rhetorik eine „kapitalmarktkonforme, hoch flexible, kurzfristorientierte Steuerungsform“ (S. 132) bestehen bleibt. Der Beitrag von Hartmut Hirsch-Kreinsen zentriert die Konsequenzen des Finanzmarkt-Kapitalismus für techno-logische Innovationen. Seine Analyse der mit dem Finanzwesen ge- und entkoppelten Innovationslogiken legt ein Paradoxon frei. Einerseits ist aufgrund von Kennzahlorien-tierung und geringer Kapitalgeberkenntnisse des Einzelunternehmens „ein Erlahmen der bisherigen Innovationsdynamik“ (S. 157) zu beobachten. Doch andererseits ermöglicht genau diese ,Ungeduldigkeit‘ von Kapital, d. h. die starke Koppelung von Finanzmarkt und Innovationsstrategien, risikoreiche Innovationen im Hochtechnologiebereich. Lukas Hofstätter und Philipp Korom beschäftigen sich mit der Frage, ob die durch den Finanz-markt-Kapitalismus induzierten Veränderungen des Finanzwesens auch eine Entbettung der Banken mit sich bringen. Für den Fall Österreich konstatieren die Autoren zwar einen Rückgang der ursprünglich wegweisenden politischen Ideologien zugunsten von gewinn-orientierten Konzernlogiken. Die politischen Machtgeflechte jedoch bestehen – wenn-gleich in verminderter Form – weiter fort.

Der dritte Teil befasst sich mit Voraussetzungen und Folgen von Krisen des Finanz-systems. Axel T. Paul skizziert die Grundlinien einer „spekulativen ,Dialektik von Diversifikation und Mimesis‘“ (S. 182), die er als Lostretmechanismus von Krisen des Finanzwesens konzipiert. Ausgangspunkt ist das einer Spekulation inhärente Risiko, das auf dem Finanzmarkt durch standardisierte Diversifikationsinstrumente einzudämmen versucht wird. Dadurch jedoch, dass diese Techniken „,fundamental‘ nicht miteinander in Wechselbeziehung stehende Vermögenstitel miteinander in Wechselbeziehung“ (S. 190) setzen, konterkariert die einer Standardisierung innewohnenden Mimesis das Ziel der Risikominimierung mittels Diversifikation. Zusammen mit der Unmöglichkeit, zukünf-tige Ereignisse präzise vorauszusagen, potenzieren sich Marktschwankungen so zu Kri-sen. Jenny Preunkert und Georg Vobruba fokussieren in ihrem Artikel Entwicklung und Struktur der Eurokrise. Ihre Rekonstruktion mündet in der Einsicht, dass diese vor allem der mangelnden institutionellen Berücksichtigung der Kooperations- und Konfliktver-hältnisse, die der gemeinsame Währungsrahmen mit sich brachte, geschuldet ist. Natalia Besedovsky zeichnet in ihrer Untersuchung nach, wie Ratingagenturen in ihre macht-vollen Positionen gelangten. Aufgrund deren Selbstbeschreibung „als journalistische

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Organisationen mit moralischen Prinzipien von Unabhängigkeit und Integrität“ (S. 228) gebärden sich Ratings als Meinungen. Sie fallen so unter das Recht auf Meinungsfrei-heit, wodurch Agenturen der Haftung entbunden sind. Die Transformation von Ratings zu ,objektiven Fakten‘ fand jedoch durch die Politik, die sie in Regulierungen integrierte, statt. Uwe Schimank und Silke Stopper demonstrieren, wie Kleinanleger jene Hilflosig-keit, die „latent allgegenwärtig in der Spezifik der Akteurskonstellation des Finanzmarkts angelegt ist“ (S. 247), zu bändigen versuchen. Als Praktiken zur Bewältigung dieser Hyperkomplexität identifizieren sie Beratung und kollektive Selbsthilfe (soziale Hin-sicht); Geschichtenerzählen und Anspruchsreduktion (sachliche Hinsicht); sowie War-ten-Können und kurzentschlossenes Nutzen von Gelegenheiten (zeitliche Hinsicht). Der Beitrag von Birger P. Priddat buchstabiert das Verhältnis von Wissen, Nichtwissen und Vertrauen in der Bank-Kunden-Beziehung aus. Nicht auf Basis von ,besserem‘ Wissen, sondern erst dadurch, dass Kunde und Bankberater Erwartungen von Erwartungen – der Kunde erwartet eine bessere Marktkenntnis sowie dadurch einen höheren Gewinn, der Berater geht von der Vorzüglichkeit der angebotenen Finanzprodukte und einer dadurch legitimen höheren Provision aus – anstellen, entsteht das Gefühl, die ,richtige‘ Anla-geentscheidung getroffen zu haben. Vertrauen, das einer „Transaktion eine moralische Temperatur [leiht], ohne selber Moral zu sein“ (S. 273) und so Nichtwissen substituiert, verstärkt dabei die Bereitschaft, ein höheres Risiko einzugehen.

Das Entscheidungsverhalten auf Finanzmärkten bildet den Fluchtpunkt des vier-ten Themenblocks. Am Beispiel ethischer Investments, islamic finance und politischer Fonds illustriert Sebastian Nessel die „multiplen ökonomischen, wertbasierten und poli-tischen Anlagemotive von Finanzmarktakteuren“ (S. 282). Rolf von Lüde und Christian von Scheve fokussieren in ihrem Beitrag die Anlageentscheidungen privater Haushalte. Die Einbettung in ein bestimmtes Institutionengefüge und die Spezifika des „Zusam-menspiels von Normen und Emotionen in der Risikowahrnehmung“ (S. 323) werden als Erklärung dafür genannt, dass Privatanleger eine relative Resistenz gegenüber exogenen Schocks und sozialem Wandel aufweisen. In seiner Analyse von Emotionen im Finanz-wesen widmet sich Sighard Neckel dem Zusammenhang von Gier und Geld. Gier wirkt als Erwartungslust, deren Motor die Aussicht auf den Eintritt eines Ergebnisses ist, nicht jedoch der Eintritt selbst. Geld stellt aufgrund seiner Unbestimmtheit und Abstraktheit den optimalen Nährboden für Gier bereit. Für Handlungen im Finanzsystem gerät Gier so zu einem Strukturprinzip, das von Akteuren auf der Emotionsebene inkorporiert wurde. Manfred Prisching unternimmt eine Diagnose der spätmodernen Wirtschaftsmentalität. Aufgrund des Zusammenspiels von Vermarktlichung, Optionalisierung, Entmeritokrati-sierung, Normalitätsdiskriminierung, Narzissisierung und Unkonventionalitätsideologi-sierung sind Wirtschaftskrisen daraufhin nicht als Systemfehler, sondern vielmehr als „Intensivierung eines vorherrschenden ,Geistes‘“ (S. 348, H. d. A.) zu begreifen. Stefan Laube beleuchtet die Modi der Unsicherheitsreduktion auf dem höchst volatilen Deri-vatemarkt. Auf Basis dessen symbolischer Rahmung als „autonomes und erratisches Wesen“ (S. 378) mit Handlungsfähigkeit bilden Akteure „kontextspezifische Deutungs- und Handlungsroutinen“ (S. 375) heraus, die Investitionsentscheidungen maßgeblich anleiten.

Der Abschlussteil in Gestalt eines Beitrags von Brigitte Young diskutiert die Regulie-rung des globalen Finanzwesens. Zur Erreichung des Ziels gerechte und faire System-

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architektur plädiert die Autorin für einen Primat der Prozessgerechtigkeit, „die sich mit der Fairness des Prozesses der Verhandlungsmodalitäten befasst“ (S. 395). Die Grund-lagen dafür sollen ein staatliches Mitspracherecht, eine Stimmrechtsverteilung auf Basis von nicht ausschließlich wirtschaftlichen Indikatoren und eine internationalen Zertifizie-rungsstelle für Finanzprodukte schaffen.

Die skizzierten Analysen von Mechanismen, Folgen, Charakteristika und Querver-bindungen der Finanzmärkte bestechen in drei Hinsichten. Die Untersuchungen, die sich großteils an der Finanzmarkt-Kapitalismus-These orientieren, machen erstens die Verschränkung von Finanzwesen und Politik deutlich sowie inwiefern diese sowohl theoretisch als auch empirisch erkenntnisbringend erfasst werden kann. Positiv ist zwei-tens hervorzuheben, dass die Einblicke in die zahlreichen Schauplätze von verschiede-nen Argumentationsebenen aus stattfinden, d. h. sich nicht auf die Mikro-, Meso- oder Makroebene beschränken. Diese Perspektivenvielfalt führt eindringlich die Komplexi-tät des Institutionengefüges vor Augen, in dem das Handeln auf Finanzmärkten und in Finanzunternehmen eingebettet ist. Drittens leisten die Analysen einen wichtigen Beitrag zur Erhellung der Rolle von Finanzmärkten bei der Entstehung von Krisen, ohne sich dabei eindimensionaler Erklärungen zu bedienen. Demgegenüber lässt sich ein Kritik-punkt ausmachen, der das Verhältnis zum zweiten großen Forschungsstrang innerhalb der Soziologie der Finanzmärkte, den social studies of finance, betrifft. Zur deutlicheren Identifizierung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten wäre innerhalb der Themen-blöcke eine stärkere Kontrastierung mit deren Erkenntnissen wünschenswert gewesen. Dieser Einwand mindert jedoch nicht das Gesamtfazit. Klaus Kraemer und Sebastian Nessel ist ein höchst informativer, gut strukturierter und sorgfältig editierter Band gelun-gen. Das Werk stellt den aktuellen Stand der Forschung rund um die Finanzmarkt-Ka-pitalismus-These konzise dar und birgt Anregungen für eigene Projekte. Aufgrund der guten Lesbarkeit sowie dem einen roten Faden spannenden Einleitungskapitel eignet sich der Sammelband jedoch auch als eine Grundlage für die facettenreiche Einführung in die Soziologie der Finanzmärkte.

Georg Reischauer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Arbeitswissenschaft und Organisation an der Technischen Universität Wien. Abschlüsse in Soziologie, Philosophie und Betriebswirtschaft; Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie Wirtschaftsberatung mit Stu-dienaufenthalten in Chicago, Graz, München, Zürich und Warschau. Seine Forschungsfelder sind Wirtschafts-, Organisations- und Managementsoziologie sowie Innovationsmanagement, Organi-sationsdesign und strategisches Management.