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MAX POHLENZ HIPPOKRATES UND DIE BEGRÜNDUNG DER WISSENSCHAFTLICHEN MEDIZIN Berlin 1938 HIPPOKRATESSTUDIEN (= Nachr. Ges. Wiss. Göttingen, phil.-hist. Kl., Fachgr. i, N. F., Bd. 2, S. 67— = Nr. 4) Göttingen 1937 [Gnomon 18 (1942) S. 65—88] Am Eingang zur Hippokratesforschung unseres Jahrhunderts steht der häufig, auch von Pohlenz wieder zitierte Satz von Wilamowitz: „Hippokra- tes ist zur Zeit ein berühmter Name ohne den Hintergrund irgend einet Schrift 1 ." Von dieser Feststellung ausgehend, versuchte Wilamowitz nur sehr vorsichtig, von der Person des berühmtesten Arztes zu einigen der zahl- reichen Schriften, die unter seinem Namen erhalten sind, eine Brücke zu schlagen. Diese skeptische Tendenz griff weiter; sie ging dahin, Hippokrates ganz vom Corpus zu trennen, und fand ihren Höhepunkt in dem Versuch von L. Edelstein 2 , zu beweisen, daß sämtliche Schriften des Corpus Hippo- craticum ursprünglich anonym umlaufende Einzelschriften gewesen seien, denen erst alexandrinische Willkür den Namen des großen Arztes beigelegt habe. Wäre das richtig, so wäre nicht nur jede Anknüpfung ,hippokratischer' Schriften an Hippokrates, sondern auch jeder Versuch zur Sichtung und zur Gruppenbildung innerhalb des Corpus als müßig erwiesen. Aber dieser Be- weis konnte nicht gelingen 3 . Vielmehr haben im letzten Jahrzehnt wieder die Versuche eingesetzt, nicht nur Schriften des Corpus zu Gruppen zusam- menzufassen, sondern sie auch zur Person des Hippokrates in Beziehung zu setzen. Andeutungen von Wilamowitz folgend, hat K. Deichgräber einen engsten Kreis hippokratisch-koischer Schriften aus Epidem. i und 3 und dem Prognostiken gebildet 4 . Auch die großen chirurgischen Schriften 1 SBBerl. 1901, 16. 2 und die Sammlung der hippokratischen Schriften 1931, iiöff.; 138 ff. 3 Vgl. Gnomon 9, 72 ff. (o. S. 138 ff.). 4 Die Epidemien und das Corpus Hippocraticum. AbhBerl. 1933, Phil.-hist. Kl. 3. Brought to you by | University of Connecticut Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 1/7/14 9:11 AM

Kleine Schriften zur antiken Medizin () || 7. Max Pohlenz: Hippokrates und die Begründung der wissenschaft¬lichen Medizin, Berlin 1938. Max Pohlenz: Hippokratesstudien, in: Nachr

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MAX POHLENZ

HIPPOKRATES UND DIE BEGRÜNDUNG DER WISSENSCHAFTLICHENMEDIZIN

Berlin 1938

HIPPOKRATESSTUDIEN(= Nachr. Ges. Wiss. Göttingen, phil.-hist. Kl., Fachgr. i, N. F., Bd. 2,

S. 67— = Nr. 4)Göttingen 1937

[Gnomon 18 (1942) S. 65—88]

Am Eingang zur Hippokratesforschung unseres Jahrhunderts steht derhäufig, auch von Pohlenz wieder zitierte Satz von Wilamowitz: „Hippokra-tes ist zur Zeit ein berühmter Name ohne den Hintergrund irgend einetSchrift1." Von dieser Feststellung ausgehend, versuchte Wilamowitz nursehr vorsichtig, von der Person des berühmtesten Arztes zu einigen der zahl-reichen Schriften, die unter seinem Namen erhalten sind, eine Brücke zuschlagen. Diese skeptische Tendenz griff weiter; sie ging dahin, Hippokratesganz vom Corpus zu trennen, und fand ihren Höhepunkt in dem Versuchvon L. Edelstein2, zu beweisen, daß sämtliche Schriften des Corpus Hippo-craticum ursprünglich anonym umlaufende Einzelschriften gewesen seien,denen erst alexandrinische Willkür den Namen des großen Arztes beigelegthabe. Wäre das richtig, so wäre nicht nur jede Anknüpfung ,hippokratischer'Schriften an Hippokrates, sondern auch jeder Versuch zur Sichtung und zurGruppenbildung innerhalb des Corpus als müßig erwiesen. Aber dieser Be-weis konnte nicht gelingen3. Vielmehr haben im letzten Jahrzehnt wiederdie Versuche eingesetzt, nicht nur Schriften des Corpus zu Gruppen zusam-menzufassen, sondern sie auch zur Person des Hippokrates in Beziehung zusetzen. Andeutungen von Wilamowitz folgend, hat K. Deichgräber einenengsten Kreis hippokratisch-koischer Schriften aus Epidem. i und 3 unddem Prognostiken gebildet4. Auch die großen chirurgischen Schriften

1 SBBerl. 1901, 16.2 und die Sammlung der hippokratischen Schriften 1931, iiöff.; 138 ff.3 Vgl. Gnomon 9, 72 ff. (o. S. 138 ff.).4 Die Epidemien und das Corpus Hippocraticum. AbhBerl. 1933, Phil.-hist. Kl. 3.

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[65/66] Pohlenz, Hippokrates 189

άγμών und περί άρθρων εμβολής sollten ihm nahestehen; doch bringt esihre besonders streng fachliche Richtung mit sich, da der Philologe b ndigeAussagen, die vom Inhalt ausgehen, ber sie schwer machen kann5. Pohlenzbilligt im wesentlichen diese Zusammenstellung von Deichgr ber. Er nimmtmit noch gr erer Sicherheit als jener diesen engsten Schriftenkreis f r dengro en Hippokrates selbst in Anspruch. Aber der Schl ssel zum Verst ndnisdes Hippokrates liegt f r ihn nicht in diesen spezialwissenschaftlichen Wer-ken, sondern in der klimato'logischen Schrift Περί αέρων υδάτων τόπων,deren unbequemen und unzutreffenden Titel er durch die gl ckliche Ver-deutschung „ ber die Umwelt" ersetzt, und in der mit ihr engstens zusam-mengeh rigen Schrift „ ber die heilige Krankheit" (περί ίρής νούσου). DieSchrift ber die Umwelt war von Galen bis Littre und dar ber hinaus zumengsten Kreis der hippokratischen Schriften gerechnet worden. Erst Wilamo-witz, der sie demselben Verfasser wie die Schrift von der heiligen Krankheitzuwies, hatte sie aus diesem Kreis entfernt und damit auch die Zustimmungvon Deichgr ber gefunden 6. Der Versuch von P. hat also, wenn er gelingt,den Wert einer Neuentdeckung. Unabh ngig von ihm hat neuerdings auchW. Nestle die beiden Schriften mit ihrer ,meteorologischen' Medizin wiederdem Verfasser von Epidem. i und 3 und dem Prognostiken, d. h. also Hip-pokrates zuweisen wollen7.

Die Untersuchung von P. st t, indem sie von der Schrift ber die Um-welt ausgeht, sogleich in ein Gebiet lebhaftester Auseinanderset2ung vor,der besonders die Frage der Komposition dieser Schrift in den letzten Jah-ren ausgesetzt gewesen ist8. P. nimmt Stellung zu den beiden Teilen derSchrift, die er als Abhandlung ber „Umwelt und Gesundheitszustand" und„Umwelt und Volkstum" voneinander unterscheidet; es sollen zwei in sicheinheitliche Abhandlungen desselben Verfassers sein. Demselben Mann gibter auch die Schrift von der heiligen Krankheit, wor ber seit Wilamowitz inder Forschung grunds tzlich bereinstimmung besteht9. Er charakterisiertdie Pers nlichkeit, die hinter den beiden Schriften steht, untersucht den wis-senschaftlichen Einflu , den sie auf Mit- und Nachwelt ausge bt hat, undversucht nachzuweisen, da diese wissenschaftlich einflu reiche Pers nlich-keit mit Hippokrates identisch sei. Eine Zusammenfassung ber Hippokra-tes und die Begr ndung der wissenschaftlichen Medizin beschlie t das

5 Audi P. berl t in diesem Fall den Medizinern die letzte Entscheidung (8ο). Ichwerde daher in dieser Besprechung auf die chirurgischen Schriften nicht eingehen.

6 Wilamowitz a. a. O. 21. Deichgr ber a. a. O. 126 f.7 Hippocratica. Hermes 73, 1938, 17 S. Vom Mythos zum Logos 1940, 232.8 Vgl. Edelstein a. a. O. i ff. mit der Besprechung von Joh. Mewaldt, DLZ. 1932,

254ff. Deichgr ber a.a.O. 112ff. H. Diller, Wanderarzt und Aitiologe. Philologus,Suppl.-Bd. 26, 3,1934 (WuA.) mit der Besprechung von A. Palm, Gnomon 13, 1937,297 ff. K. I. Geizer, Die Schrift vom Staate der Athener 1937, 95 ff.

9 Vgl. O. Regenbogen, Symbola Hippocratea, Diss. Berl. 1914, 24 ff. M. Wellmann,Archiv f. Gesch. d. Med. 22, 1929, 290 ff. Deichgr ber 122 ff. WuA. 94 ff. Nestlea. a. O.

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190 Pohlenz, Hippokrates [66/67]

Ganze; eine ähnliche Skizze seines Hippokratesbildes hat P. in einem Auf-satz der „Antike"10 gegeben, nachdem er schon in der „Geistigen Arbeit"einen kurzen Bericht über die Ergebnisse seiner Hippokratesforschung erstat-tet hatte11. Vorbereitet wurden diese Untersuchungen durch Hippokrates- lStudien, die 1937 in den Nachrichten der Göttinger Gesellschaft der Wissen-schaften erschienen12. Sie setzen sich zunächst mit textkritischen Problemender Schrift über die Umwelt auseinander und handeln dann von literarischenBeziehungen hippokratischer Schriften, insbesondere der beiden im Mittel-punkt des Hippokratesbuches stehenden Werke, doch ist auch von einzel-nen anderen Schriften und schließlich von Fragen des Sprachgebrauches inhippokratischen Schriften die Rede. Da die Hauptprobleme dieser Studiensich mit solchen des Hippokratesbuches verschlingen, so wird es zweckmäßigsein, beide miteinander zu besprechen13.

Da der zur Verfügung stehende Raum möglichste Konzentration derBesprechung erfordert, so wird sie sich auf diejenigen Fragen beschränken,die auf das Hippokrates-Problem und den Versuch seiner Lösung hinfüh-ren. Da die Medizinhistorie nach der Unsicherheit der letzten Jahrzehntedas begreifliche Verlangen nach einem philologisch fundierten Hippokrates-Bild hat14, so muß alles das besprochen werden, was geeignet ist, die Fragezu beantworten, ob P. dieses Bild gegeben hat. Die Besprechung wird sichdieser Antwort in drei Stufen nähern: sie wird zunächst den Aufbau derSchrift von der Umwelt und ihr Verhältnis zur Schrift von der heiligenKrankheit noch einmal betrachten; sie wird dem nachgehen, was P. überden wissenschaftlichen Einfluß der Schriften gesagt hat, und sie wird endlichdie Kardinalfrage zu beantworten versuchen, ob der Mann, der hinter die-sen Schriften steht, wirklich Hippokrates sein kann. Alles andere muß bei-seite bleiben, auch zahlreiche interessante Fragen der Textkritik, soweit sienicht unmittelbaren Einfluß auf die Interpretation des Ganzen haben15. l

10 15,1939, i ff-" 5, 1938, Nr. 6, 7 f.12 Vgl. den Titel dieser Besprechung.13 In der Besprechung zitiere ich das Hippokrates-Buch ohne nähere Bezeichnung, die

Studien mit dem Zusatz NGG.14 Vgl. P. Diepgen, Hippokrates 1938, 1237 ff.15 Als Grundlage für die Textgestaltung der Schrift von der Umwelt erkennt P. die

Zeugen an, die ich in meiner Arbeit über die Überlieferung der hippokratischenSchrift (Philologus, Suppl.-Bd. 23, 3, 1932 = Überl.)als selbständige Träger der Überlieferung erwiesen hatte, d. h. den Vatican, gr. 276(V), die Randnoten Gadaldinis (Gad), die spätantike lateinische Übersetzung (L vet)und die mittelalterliche lateinische Übersetzung (L rec), die ihrerseits auf einearabische Übersetzung des Hunain ibn Ishäq zurückgeht. Durch die Güte von FranzPfaff habe ich von dieser arabischen Version schon seit längerer Zeit eine deutscheÜbersetzung in Händen, ebenso von den nur hebräisch erhaltenen Resten desGalen-Kommentars zu . . . . Ich hoffe, daß das von Pfaff mit unendlicher Mühebereitgestellte Material trotz der zeitbedingten Schwierigkeiten noch einmal für dieTextgestaltung der Schrift wird ausgewertet werden können.

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[68l6<)] Pohlenz, Hippokrates 191

Dieses Ganze der Schrift von der Umwelt sieht P., wie schon angedeu-tet, als zwei selbständige Schriften, eine medizinisch-prognostische über Um-welt und Gesundheitszustand (Kap. i/ ) und eine geographisch-ethnogra-phische über Umwelt und Volkstum (Kap. 12/24). Beide sollen von dem-selben Verfasser wie die Schrift von der heiligen Krankkheit verfaßt wordensein und zwar zunächst die Schrift von der heiligen Krankheit, dann der me-dizinische und schließlich in einem gewissen zeitlichen Abstand der geogra-phische Teil der Schrift von der Umwelt. Über die Prioriät der Schrift vonder heiligen Krankheit besteht in letzter Zeit ziemlich weitgehend Einig-keit 16. Dagegen herrscht über Aufbau und Zusammengehörigkeit der Schriftvon der Umwelt ein Hin und Her der Meinungen, das an der Lösbarkeitdieses Problems Zweifel aufkommen läßtI7. Noch konservativer als P. tre-ten Mewaldt, Palm und Deichgräber dafür ein, daß die überlieferte Schrifteine ursprüngliche Einheit ist; dafür sprach sich auch der durch den Kriegder Wissenschaft zu früh entrissene Ital Geizer aus. Auf der anderen Seitehatte Edelstein sehr scharf geschnitten: er ließ für den ursprünglichen Plander Schrift, wie er durch die Einleitung (Kap. 1/2) bezeichnet werde, nurdie Kapitel über die Ortslage zu Winden und Sonne (Kap. 3/6) und überdie Jahreszeiten (Kap. 10) gelten. Außer kleineren Zusätzen (Kap. n) seiendie Kap. 7/9 über die Wasser erst nachträglich in diesen Zusammenhang ein-gelegt und durch eine Einfügung in der Einleitung (56, 7/9) mit ihnen ver-bunden worden. Der ethnographische Teil sei eine ganz selbständige Schrift,nur durch Zufall der Überlieferung mit dem ersten Teil verbunden. Ichselbst hatte versucht, die Einheitlichkeit des ersten Teils zu erweisen; denzweiten hatte ich einem anderen Verfasser zugesprochen, der jedoch den Ver-fasser des medizinischen Teils gekannt habe.

Dieses Kompromiß befriedigt mich nicht mehr. Nach langer Beschäf-tigung mit dem Problem scheint mir wichtiger als jedes Dekret i über dieZusammengehörigkeit der Schrift und über die Verfasserfrage die deutlicheBezeichnung der unleugbaren Schwierigkeiten und ihrer Ursachen. Wenn ich

Den Versuch von P., dem Barberinus B einen gewissen Überlieferungswert zu retten(NGG. 67 Anm. i, 73), halte ich für unangebracht. P. verlangt, daß die Ent-stehungszeit von B noch einmal untersucht wird. Ich habe gezeigt, daß B von derTextanordnung in Cornarius' lateinischer Übersetzung von 1546 und von den Gadal-dini-Noten der Galen-Juntina von 1565 abhängig ist (Überl. 26. 29). Dazu paßt ausge-zeichnet die Mitteilung, daß B nach einer Notiz im neuen Katalog der Barberini aufder Vaticana nicht mehr wie früher ins 15., sondern ins 17. Jh. gesetzt wird(Überl. 9). Ich glaube daher, daß die Wissenschaft, die mit wenig Arbeitskräftenvor großen Aufgaben steht, dieses Problem als erledigt beiseite lassen kann. Was P.an brauchbaren Lesarten von B anführt, sind Konjekturen, wie man sie in Ausgabenjener Zeit überall trifft; daß B eine Handschrift ist, unterscheidet sie grundsätzlichnicht von späthumanistischen Drucken (vgl. Uberl. 29). Außer den bisher rezipiertenLesarten von B ist besonders — gegenüber anderen Vorschlägen — der Zusatz von

vor 65, 32 Hbg. zu erwägen, auf den P. NGG. 73 hinweist.i* Vgl. Wellmann 310. WuA. 100 f. P. 35.17 Vgl. die Literatur S. 189 Anm. 8.

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192 Pohlenz, Hippokrates

sie trotzdem wieder — unter m glichstem Verzicht auf Einzelproblematik —mit einem neuen L sungsversuch verbinde, so geschieht auch das vor allem,um das Problem m glichst scharf hervortreten zu lassen. Man wird, wie mirjetzt scheint, einerseits sehr radikal sein m ssen, andererseits doch dieganze berlieferte Schrift als Einheit zu behandeln haben.

Das Hauptproblem liegt in der Schwierigkeit, Einleitung und Ausf h-rung miteinander zur Deckung zu bringen. Die Behandlung von Asien undEuropa tritt in Kap. 12 v llig unvermittelt auf; niemand kann nach derLekt re der Einleitung und des ersten Teils der Schrift derartiges erwarten.Trennt man nun aber den zweiten Teil der Schrift ab, so findet doch wiedermanches, was in der Einleitung steht, in den medizinischen Kapiteln keineEntsprechung: von der Lebensweise der Bewohner ist dort nur wenig und im-mer nur als von einer Folge, nicht als von einer Ursache anderer Faktoren, vonder Bodenbeschaifenheit berhaupt nicht die Rede. Das aber sind wichtigeMitursachen ethnischer Eigenschaften im zweiten Teil. Von der Lebensweiseals verursachendem Moment k rperlicher Eigenschaften ist besonders in denKap. 15. 18. 20. 22 die Rede18, und die spezielle Kennzeichnung der Boden-beschaffen l heit, wie sie ^6, 16/18 gegeben wird, findet vor allem in Kap.24 ihre Entsprechung18a. Diesen Unstimmigkeiten zwischen Einleitung und

18 Auch in den verwendeten Kategorien stimmt der Satz der Einleitung ber dieLebensweise 56, 19/20 besser zu den Ausf hrungen des zweiten als zu denen desersten Teils. In diesen (57, 21. 58, 20. 60, 22) wird rein medizinisch untersucht, wiegewisse klimatisch bedingte Konstitutionstypen sich zum Essen und Trinken ver-halten. In der Einleitung ist diese medizinische Betrachtungsweise zur Gegen ber-stellung von zwei Typenreihen gr eren oder geringeren k rperlichen Leistungs-willens erweitert; das pa t zur Gegen berstellung von Asiaten und Europ ern imzweiten Teil. Im einzelnen stellt die Einleitung den Typus des verw hnten, ver-weichlichten Menschen, der gern trinkt, sich den Luxus des Fr hst cks erlaubt undk rperlich nichts leistet, gegen den Menschen, der Sport und k rperliche Anstrengungliebt, reichlich i t und nicht trinkt. Diese Begriffe der Gegen berstellung sind ausden Anschauungen der Gymnasten genommen. Ich verwies schon WuA. 25 aufAristoph. Nub. 414 ff. Da verhei t der Wolkenchor dem philosophischen NeophytenStrepsiades: (wie gl cklich wirst du sein) ει ,μνήμων εί και φροντιστής καΐ τοταλαίπωρον ενεστιν / εν τη ψυχή, και μη κάμνεις μήθ' έστώς μήτε βαδίζων / μήτεφιγών αχθει λίαν μήτ' άριστον επιθυμείς / οίνου τ' απέχει και γυμνασίων καίτων άλλων ανόητων. Hier ist in sehr witziger Weise die φιλογυμναστία durch dieφιλοσοφία ersetzt, aber auch sie verlangt von ihrem Adepten φιλοπονία und Verzichtauf Fr hst ck und Trinken. Da der sporttreibende Mensch kr ftig essen mu , sagtKritias in seinen eugenischen Vorschriften Vors. 88 B 32, da er neben reichlicherErn hrung wenig trinken darf, setzt der hippokratische Prorrhetikos 2, i (9, 6 L.)voraus. Damit er brigt sich der Vorschlag von P. (NGG. 70), ̂ 6, 20 έδωδοί um derAntithese willen in ήσσον έδωδοί oder όλιγεδωδοί zu ndern.

I8a Auf diese Zusammenh nge weisen mit besonderem Nachdruck Palm a. a. O. 306und Geizer a. a. O. 97 f. hin. Geizers Versuch, die Kap. 12/24 als Exkurs zuKap. i/ii aufzufassen, wird man allerdings aufgeben m ssen, zumal er auch f r diepseudoxenophontische Schrift vom Staat der Athener, zu deren Erkl rung Geizerdie Schrift von der Umwelt heranzieht, nicht das leistet, was er leisten soll. Vgl.Gnomon 15, 1939, 120 und P. 26 Anm. 9.

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//o/71] Pohlenz, Hippokrates 193

Ausf hrung, die durch die einzelnen bereinstimmungen nur noch undurch-sichtiger werden, gesellen sich Verschiedenheiten der Form in den einzelnenPartien. Die Kap. 3/6 und 10 ber Ortslage und Jahreszeiten tragen progno-stischen Charakter, der auch im Anfang der Wasserkapitel noch scheinbarfestgehalten wird (vgl. 60, 12 ff.). Aber bald wird dieses prognostischeSchema hier ersetzt durch eine Wertungsskala der verschiedenen Gew sser(Kap. 7), durch meteorologische Ausf hrungen (Kap. 8) und durch eineKrankheitsaitiologie (Kap. 9)19. Im ethnographischen Teil tritt das aitiolo-gische Element in den Vordergrund: es wird nach den Ursachen der Verschie-schenheiten der V lker gefragt20. Kleine sachliche Widerspr che sind zwi-schen prognostischem Teil, Wasserkapiteln und Ethnographie festzustel-len21; man soll sie nicht durch Text nderungen vertreiben wollen22.

Diese Unstimmigkeiten in Disposition, Form und Inhalt erfahren nuneine besonders interessante Beleuchtung, wenn man die Schrift von der hei-ligen Krankheit heranzieht. Seit Wilamowitz ist anerkannt, da ihr Verfassermit dem der Schrift von der Umwelt identisch sein solla. Es ist mir f r dieBeurteilung der Schrift von der Umwelt von jeher besonders wichtig gewe-sen, da diejenigen Aussagen, die unbedingt zur Gleichsetzung ihres Ver-fassers mit dem der Schrift von der heiligen Krankheit zwingen, weil sie dieAuswertung der dort vorgetragenen Lehren darstellen, sich nur im progno-stischen Teil der Schrift finden24.

Dort wird mit den klimatologischen und physiologischen Voraussetzungen derSchrift von der heiligen Krankheit, mit der Lehre von der Wirkung des S d- und Nord-winds auf das Gehirn und den brigen K rper gearbeitet. Die Wasserkapitel stehendiesen Voraussetzungen sachlich fremd gegen ber 25} im ethnographischen Teil wird zwarauf S tze aus der Schrift von der heiligen Krankheit angespielt, aber ein tieferer innererZusammenhang | ist nicht festzustellen 26. Auf die prognostischen Partien, die einennotwendigen inneren Zusammenhang mit der Schrift von der heiligen Krankheit zeigen,und nur auf sie verweist aber der erste Satz der Einleitung (56, 2/7): ,Wer die Medizinrecht betreiben will, mu die Jahreszeiten und ihre Wirkungen kennen; sie sind sehrvoneinander verschieden, unter sich und in den Umschl gen von einer zur ndern; fernermu er die Winde kennen, die warmen und die kalten, in erster Linie die allen Men-schen gemeinsamen (d. h. diejenigen, die ihren Einflu auf die Gestaltung der Jahres-zeiten aus ben, wie das in Kap. 10 in dem st ndigen Gebrauch der Charakteristikaβόρειον und votiov zum Ausdruck kommt 27), ferner aber auch die in jedem Lande ein-

19 Vgl. Edelstein n ff. 25 ff. WuA. 22 ff.20 WuA. 30 ff.21 WuA. 24 ff. 29.22 P. versucht, 77, 4 φλεγματίαι δε ήσσον ή χολώδεες durch die nderung ήσσόν τε

χολώδεες in bereinstimmung mit 57, 18. 58, 13 zu bringen (28 Anm. i).23 Vgl. S. 189 Anm. 6. Die Skepisi von Edelstein 181 Anm. i kann unber cksichtigt blei-

ben, da sie mit seiner allgemeinen atomisierenden Anschauung ber den Schriften-bestand des Corpus Hippocraticum zusammenh ngt.

2* Vgl. WuA. 94 ff. ιοί.25 WuA. 102 f.26 WuA. 107 ff. Vgl. auch u. S. 196 f.27 Vgl. auch WuA. 8.

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194 Pohlenz, Hippokrates

heimischen.4 Die Empfehlung zu dieser Vorschrift folgt in Kap. 2: ,Wenn man dies(d. h. nach unserer Deutung: die Winde und ihre Wirkung) gut kennt, m glichst alles,oder doch das meiste, so bleiben dem, der in eine ihm unbekannte Stadt kommt, wedereinheimische Krankheiten noch die Beschaffenheit der Verdauungsorgane verborgen ...Im Verlauf des Jahres kann man auch ber die Krankheiten Voraussagen treffen, dieaus dem Wechsel der Jahreszeiten hervorgehen.' Eine Empfehlung der zu solcher Be-trachtung notwendigen astronomischen Kenntnisse und eine Verteidigung dieser .meteoro-logischen' Medizin beschlie t die Einleitung.

Zwei Punkte also werden als die Grundlagen f r die Prognosen desArztes hingestellt: Winde und Jahreszeiten. Der Leser der Schrift von derheiligen Krankheit wei , da sie engstens zusammengeh ren als die Fak-toren, die die Grundqualit t der Luft (kalt und warm, feucht und trocken)bedingen, deren Beschaffenheit die Grundursache der Krankheiten ist28.Von den Winden, die ξύννομα (57, 15) bzw. έπιχώρια (^8, 8) sind, sprechenin diesem Sinn die Kap. 3 und 429. Die Kap. 5 und 6 daigegen scheidenaus dem urspr nglichen Plan aus, da sie nur scheinbar von der Lage vonSt dten nach bestimmten Winden hin sprechen. In Wirklichkeit f llen siedas Schema der Ortslage durch eine Orientierung nach der Sonne und ent-sprechen damit nicht dem ersten Satz der Einleitung. Wenn sie auch in an-gemessener Weise auf den Begriffen der Schrift von der heiligen Krankheitund der Kap. 3/4 weiterbauen30, so sind ihre Aussagen doch nosologischleer: die Krankheiten in der Oststadt sollen berhaupt geringer und schw -cher sein, aber denen in der S dstadt gleichen (59, 23/4), w hrend die Be-wohner der Weststadt an allen vorhergenannten Krankheiten teilhaben,aber an keinen speziellen Krankheiten leiden (59, 35). Diese letzte Aussagebedeutet in Wahrheit den endg ltigen Verzicht auf die angek ndigte Ab-sicht, dem Arzt die Prognose aus der Wirkung der Winde zu erm glichen.Da die Wasserkapitel ohnedies nicht der propositio entsprechen, so bleiben

28 Vgl. besonders n. L v. 13. 18. — Neben dem Wetter steht in π. ά. ΰ. τ. 57> 2 um

der Vollst ndigkeit willen die Di t. Auch die Krankheiten, die aus ihrer Ver nderungf r den einzelnen hervorgehen, kann der Arzt im Lauf des Jahres voraussagen. Denner kennt die naturgegebene Di t der Bewohner in einer Stadt bestimmter Lage(57, 2i. 58, 20). Er stellt also auch die Di t unter die klimatologischen Feststellungenund kennt sie nicht als selbst ndigen Faktor. ber die Erweiterung dieser rein medi-zinischen Aussagen zur Gegen berstellung zweier Typen verschiedenen k rperlichenLeistungswillens in dem Satz 56, 19/20 vgl. Anm. 18.

29 Ich hielt es WuA. 107 f r n tig, den Satz 58, 27 τα τε ήθεα άγριώτερα ή ήμερώτεραzu streichen, weil ich ihn weder formal noch inhaltlich gut im Zusammenhang unter-bringen konnte. Aber er pa t genau zu dem, was in π. t. v. 15 (6, 388 L.) steht:,Die durch berma von Schleim in ihren geistigen Funktionen Gest rten sind ruhigund schreien und toben nicht, die durch berma von Galle Erkrankten aberschreien, sind b sartig und nicht ruhig, sondern tun immer etwas Unberechenbares*.Da die Bewohner der Nordstadt mehr unter der Einwirkung der Galle als desSchleims stehen (58, 13), so ist ihre Art nat rlich ,mehr wild als zahm'. Die Stelle inder Schrift von der heiligen Krankheit ist m. W. die erste in der Literatur, die denPhlegmatiker' und den .Choleriker' als geistige Typen gegeneinander stellt und sieauch inhaltlich schon so bestimmt wie die sp tere Temperamentenlehre.

30 Vgl. WuA. ιοί.

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Pohlenz, Hippokrates

weiter für den ursprünglichen Plan die Aussagen über die Jahreszeiten inKap. .

Hieraus ist nur der Satz 66, 4/8 zu entfernen, der auf das jetzige Gefüge der Schriftverweist. Er will die Aussagen über die Jahreszeiten nach denen über Ortslage undWasser regulieren. Man wird zunächst geneigt sein, diesen Satz als einen Beweis derEinheitlichkeit des medizinischen Teils der Schrift anzusehen3!. Er ist es auch; nurgilt das nicht für die ursprünglich zugrunde liegende Skizze. Er wird mit der einseitigwertenden Gegenüberstellung von guter und schlechter Ortslage der Differenzierung derKap. 3/4 gar nicht gerecht, sondern verrät sich durch seine ausschließliche Beziehung aufdie ebenso einseitig wertenden Aussagen der Kap. 5/6 (und auf Teile von Kap. 7).

Das Kap. n ergänzt die Aussagen über die Jahreszeiten durch Angabeder für die Prognose wichtigen astronomischen Daten, wie das schon inKap. 2 angedeutet war; der Ausblick auf therapeutische Vorschriften, inden die Schrift damit ausklingt, ähnelt dem Abschluß der Schrift von derheiligen Krankheit (Kap. 18. 6, 394 f. L.). Einen Grund zur Aussonderungdes Kapitels aus dem ursprünglichen Plan sehe ich nicht32. Dagegen hat derethnographische Teil natürlich nichts mit der ursprünglichen Absicht zu tun,den Arzt die generelle Prognose in einer unbekannten Stadt, in die erkommt, auf Grund von Wind und Wetter lehren zu wollen.

Diese knappe, in sich geschlossene Skizze wurde erweitert. Die Gegen-überstellung von Nord- und Südwind wurde zu einer schematischen Darstel-lung der gesundheitlichen Bedeutung der Ortslage nach den vier Himmels-richtungen ausgebaut; Aussagen über den gesundheitlichen Wert verschiede-nen Wassers schlössen sich an, und schließlich sollte die klimatologische Ge-genüberstellung verschiedener topographischer Gegebenheiten zur großengeographisch-ethnographischen Konfrontation der beiden Erdteile erweitertwerden. Berücksichtigt wurden diese Erweiterungen, so gut es ging, durcheine Ergänzung der Einleitung 56, 7/21. Zunächst wurden die Wasser alswichtigste Erweiterung des ersten Teiles erwähnt. Aber die propositio hatteursprünglich in Wahrheit nicht von der Ortslage gesprochen, sondern nurdie warmen und kalten Winde erwähnt. Jenes wird nachgeholt in einemSatz, der von Voraussetzungen spricht, die wir schon aus Kap. 2 kennen:,Wenn man in eine Stadt kommt, die man nicht kennt, muß man ihre Lagezu den Winden und zur Sonne erwägen.' Da hiermit die Betrachtung derOrtslage unter einen neuen Gesichtspunkt gestellt war, so wird auch die Er-wähnung der Wasser, nunmehr mit konkreten Beispielen, wiederholt; esfolgt die Bodenbeschaffenheit, die erst im ethnographischen Teil berücksich-tigt wird, und die Lebensweise der Bewohner, deren Berücksichtigung fürden ethnographischen Teil bedeutsamer ist als für den medizinischen. So waralso auch der zweite Teil berücksichtigt; mehr ließ sich dafür nicht tun, dadie Behandlung von Asien und Europa sich nun einmal nicht unter die vor-gegebene Vorstellung vom Arzt, der in eine fremde Stadt kommt, pressen

31 Vgl. Deichgräber 117. WuA. 19.32 Vgl. WuA. 13 ff. gegen Edelstein 24.

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196 Pohlenz, Hippokrates [73/741

lie . Die Unstimmigkeiten zwischen Einleitung und Ausf hrung w ren soerkl rt. Es erkl rt sich auch der nicht selbstverst ndliche Aufbau der Aus-f hrung. Kap. 5/6 schl ssen sich nat rlich an Kap. 3/4 an. In Kap. 5/6 spie-len die Aussagen ber die Wasser der Ost- und Weststadt schon eine sehrwichtige Rolle (59, 14/15. 29/32). Von da f hrte ein nat rlicher Weg zurBehandlung der ·— brigen Wasser. Damit scheint die zwangloseste Erkl -rung f r das schwierige λοιπών 6o, 10 gefunden zu sein33. Da die Aussagenber Asien und Europa ganz ans Ende r ckten, ist selbstverst ndlich. Schon

aus dem Aufbau der Einleitung und des Ganzen ergibt sich damit der Schlu ,da ein und derselbe Mann die urspr ngliche Skizze um die an sich verschie-den i orientierten Partien 5/6, 7/9 und 12/24 erweitert hat. Sie werdenauch durch Einzelheiten zusammengehalten, so 5/6 und die Wasserkapiteldurch den Verweis 66, 4/8 und durch ihren wertenden Charakter, w hrenddie hnlichkeit im Schema der Gegen berstellung von Osten und WestenKap. 5 und 6 mit der Beurteilung von Asien und Europa in Kap. 12 und 23zusammenschlie t34.

Es bleibt die Frage, ob es der Verfasser der urspr nglichen prognosti-schen Skizze Kap. 1/4 und ιο/ι ι — und damit auch der Schrift von der hei-ligen Krankheit — selbst war, der diese Erweiterung vorgenommen hat.Die oben S. 70 ber hrten sachlichen Verschiedenheiten machen mir das un-wahrscheinlich. Den Ausschlag scheint mir auch hier das Verh ltnis zurSchrift von der heiligen Kankheit zu geben.

Ich hatte schon WuA. 107 ff. zu zeigen versucht, da im ethnograpischen Teil dieSchrift von der heiligen Krankheit nicht wie im prognostischen in der Art benutzt wird,da ihre klimatologischen und physiologischen Voraussetzungen der weiteren Arbeitzugrunde gelegt werden, sondern da es sich hier mehr um Zitate einzelner S tzehandelt, wie man sie auch von einem Fremden bernehmen kann. In dieser Auffassungbin ich durch die Beobachtung von Nestle 35 best rkt worden, da in der Polemik gegendie Annahme einer besonderen g ttlichen Verursachung bestimmter Krankheiten inder Schrift von der heiligen Krankheit (Kap. i und 18) die atmosph rischen Erscheinun-gen als θεια bezeichnet werden, w hrend in dem entsprechenden Zusammenhang in der

33 Man wird das Wort schon beibehalten und erkl ren m ssen, obwohl es nur in Vsteht; die Auslassung durch den Lateiner und den Araber, w hrend Gad schweigt,sieht nach einer Verlegenheitsauskunft aus. P. (NGG. 75 ff.) versucht auf einemweiten Umweg aus der schwer deutbaren Aussage bei Athen, z, 46 b εν δε τφ περίυδάτων Ιπποκράτης καλεί το χρηστό ν ΰδωρ πολύτιμον f r unsere Stelle πότιμονals das hippokratische Wort zu gewinnen, das dem λοιπών in V und dem πολύτιμονbei Athenaios zugrunde liege. Aber da selbstverst ndlich auch in den Kap. 3/6 dieWasser als Trinkwasser angesehen werden, so ist das kein passendes Distinktiv f rden neuen Abschnitt. Au erdem kann ich mir selbst bei der Voraussetzung gr terLeichtfertigkeit schwer einen Exzerptor vorstellen, der unbesehen das falsche πολυ-τίμων aus dem Hippokrates-Text „freudig als hippokratische Glosse herausge-fischt" haben sollte.

34 Vgl. K. Tr dinger, Studien zur griechisch-r mischen Ethnographie 39 Anm. i. Wieich jetzt glaube, habe ich WuA. 89 ff. diese hnlichkeit zu Unrecht abzuschw chenversucht.

35 Hermes 73, 1938, 2 ff.

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/74/7Ji7 Pohlenz, Hippokrates 197

Sdirift von der Umwelt dieser Begriff auf die ganze ausgedehnt, d. h. aber vomStandpunkt der Schrift von der heiligen Krankheit aus verwässert wird. Ich halte es fürunwahrscheinlich, daß ein Denker so mit seinen eigenen Gedanken umgeht, wie ich auchnicht glaube, daß er den ursprünglichen Aufbau seiner Gedanken durch Erweiterung soentstellen würde, wie es in der Schrift von der Umwelt geschehen ist.

Ich nehme also an, daß die Schrift von der Umwelt von einem Mannüberarbeitet wurde, der mit dem Verfasser der Schrift von der heiligenKrankheit und der ursprünglichen prognostischen Skizze . . . . 1/4 +

/11 nicht identisch war36. Allerdings zeigt die Weiterführung von Ge-danken des Vorbildes, daß der Überarbeiter seinem Vorgänger nahegestan-den haben muß. Er wird sein Schüler gewesen sein; auch kann er nicht durchgroßen Zeitabstand von ihm getrennt gewesen sein. Aber die Wertungeiner Schrift wird natürlich davon beeinflußt, ob sie nach unserem Urteil auseinem Guß ist oder nicht. Ich gestehe, daß ich l mich darin in einem gewissenGegensatz zu P. fühle, daß ich wenigstens die Schrift von der Umwelt, wiesie uns heute vorliegt, nicht ganz so hoch einschätzen kann wie er. Ich haltesie als Ganzes für das anregende Werk eines vielseitig interessierten Mannes,aber nicht für eine schöpferische Leistung ersten Ranges. Aber es bleibtnoch die Schrift von der heiligen Krankheit, deren Leistung zweifellos ein-heitlicher und bedeutender ist.

P. veranschlagt die Wirkung beider Schriften auf die Mit- und Nachweltsehr hoch, entsprechend der sachlichen Bedeutung, die er ihnen beimißt. Eswird festgestellt werden müssen, ob der wissenschaftliche Einfluß beiderSchriften tatsächlich so weit reicht, wie P. glaubt, und zwar sowohl inner-halb wie außerhalb des Corpus Hippocraticum. Man braucht dabei die Un-tersuchung der beiden Schriften nicht voneinander zu trennen, auch wennman die Schrift von der Umwelt in ihrem jetzigen Bestand einem anderenVerfasser gibt. Denn beide sind zweifellos miteinander überliefert worden,und die Schrift von der Umwelt dürfte erst in ihrer erweiterten Form an dieÖffentlichkeit getreten sein.

So hat die hippokratische Notizensammlung . , die den Epidemien-Büchern nahesteht, offenbar bereits die ganzen medizinischen Darlegungen der Schriftvon der Umwelt gekannt und ausgenutzt 37. Ich halte es auch für möglich, daß in demkleinen Stück . die Schrift von der heiligen Krankeit vorgeschwebt hat38

und daß der eklektische Verfasser der Schrift von der Diät in der Formulierung seinerForderung, der Diätetiker solle die meteorologischen und klimatologischen Gegeben-heiten, unter denen der Mensch steht, berücksichtigen (i, 2. 6, 470 L.), von der Schriftvon der Umwelt abhängig ist39. Aber in der Ausführung dieser Forderung zeigt dieSchrift über die Diät (2, 37. 38) ganz andere geographische Vorstellungen und auch eine

36 Nestle, Vom Mythos zum Logos 231 Anm. 136, nennt allerdings meinen Versuch,die Übereinstimmung beider Schriften aus der Benutzung von . t. v. durch den Ver-fasser von . . . . zu erklären, „sehr künstlich". Ich glaube aber, daß die kompli-zierte Sachlage auch eine komplizierte Lösung erfordert.

37 Vgl. Überl. 139. P. 48 Anm. 5. NGG. 86. Etwas zurückhaltender Deichgräber 125 f.38 P. 48 f. NGG. 89 ff.39 P. 44 Anm. 2. NGG. 83 ff.

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198 Pohlenz, Hippokrates

abweichende Auffassung der beiden Hauptwinde; wir m ssen damit rechnen, da esnoch andere klimatologische L sungsversuche neben dem der Schrift von der Umweltgegeben hat.

An anderen Stellen hippokratischer Schriften l t sich der von P. behauptete Ein-flu der Schriften von der heiligen Krankheit und von der Umwelt sicher ausschalten.So soll in περί φύσιος παιδιού Kap. 8 die Form der Feststellung, da der Same vomgan2en K rper kommt και από των άσθενέων ασθενής και από των ισχυρών Ισχυρή(7,48° L.), von der entsprechenden Aussage in π. ί. v. Kap. 2 (6, 364 L.) abh ngig sein(P. 44 Anm. i). Dort handelt es sich um die Vererbung von Krankheiten, und der Zusatzlautet dementsprechend από τε των ύγιηρών ύγιηρός από τε των νοσερών νοσερός 4°.In π. φΰσιος παιδιού handelt es sich um die Vererbung des Geschlechts und andererEigenschaften von Vater und Mutter; die St rke und Schw che des Samens, der vonbeiden Teilen kommt, ist daf r eine wichtige Voraussetzung, wie schon Kap. 6 (6, 478 L.)zeigt. Von einer Abh ngigkeit der einen Aussage von der anderen kann also keine Redesein. Beide Schriften formulieren eine in rztekreisen umlaufende These 4i unabh ngigvoneinander ihrem Gedankengang gem .

Epidem. 6, 5, 5 steht der Aphorismus, da der Seele Umherwandern f r die Men-schen Denken (Bewu tsein) sei. P. (59 f. NGG. 87 ff.) erkl rt diesen Satz aus der Lehreder Schrift von der heiligen Krankheit, da das Bewu tsein des Menschen von der unge-st rten Zirkulation der Luft, der Tr gerin des Lebens und aller geistigen F higkeitenim K rper, abh nge; das ist einleuchtend, wenn auch der Aphoristiker der Epidemiennichts davon sagt, da er sich die Seele als ,Luft' vorstellt. Aber diese Lehre ist keineoriginale Leistung des Hippokratikers, sondern geht auf Diogenes von Apollonia zu-r ck (vgl. Vors. 64 A 19,43. 45). Die Epidemien k nnen also ebensowohl direkt aufDiogenes wie auf die Schrift von der heiligen Krankheit zur ckgegriffen haben; ja wahr-scheinlich wird man noch weitergehen m ssen. Deichgr ber (61) hat richtig gesehen, dader Satz der Epidemien mit Heraklits Vergleichen der Seele mit der Spinne im Netz(Vors. 22 B 673) zusammenh ngt; an anderer Stelle werde ich zeigen, da DiogenesHeraklits Seelenlehre ins Physiologische bertragen hat. Aus der Formulierung desAphorismus wird man mit Deichgr ber schlie en d rfen, da der Arzt hier tats chlichheraklitisieren wollte.

Noch deutlicher ist die heraklitische Formulierung in Epidem. 6, 5, 2. Freilich istdie Deutung schwierig: ,Des Menschen Seele entsteht immer neu bis zum Tode'; ην δεέκπυρωθίί, άμα τη νοΰσφ και ή ψυχή το σώμα φέρβεται. P. (NGG. 87) bersetzt:„Geht aber im Zusammenhang mit der Krankheit auch die Seele in Feuerzustand ber,so wird der Leib verzehrt". Er setzt also das Komma zwischen ψυχή und το σώμα.Dann bekommt 8μα die verwaschene Bedeutung ,in Zusammenhang mit'. Ich zieheDeichgr bers oben angegebene Interpunktion vor (a. a. O. 53, vgl. 61): „Ger t die Seelein Feuerzustand, so verzehrt sie in Gemeinschaft mit der Krankheit den K rper."Konkret vorgestellt ist wohl, wie P. meint, als Krankheit ein t dliches Fieber. Dannaber ist die Ausdeutung ausgesprochener Heraklitismus: die menschliche Seele erg nztsich immer wieder, sei es durch Einatmung (Vors. 22 A 16, 129 f.), sei es durchάναθυμίασις aus dem K rper (22612); geht sie in ihren wesensgem en, feurigenZustand ber, so ,weidet' sie sich zusammen mit der Krankheit am K rper: d. h. sie ziehtdie feurigen Bestandteile aus dem K rper an sich und tut so zusammen mit der Krank-heit das Ihre zur Zerst rung des K rpers. Bei dieser Formulierung mu man sogar fragen,ob man berhaupt Diogenes als Vermittler voraussetzen soll; sicher wird man daraufverzichten, zur Erkl rung die Schrift von der heiligen Krankheit heranzuziehen, die berdas Ph nomen des Todes gar nicht gesprochen hat (P. 60. NGG. 88).

4° Danach π. ά. υ. τ. Kap. 14. 69, 14 f - > in der Tat weniger passend, da es sich hiernicht um Vererbung von Krankheiten, sondern von Konstitutionsmerkmalen handelt;vgl. WuA. 108.

« Vgl. WuA. 58.

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Pohlenz, Hippokrates 199

Das bleiben zun chst Einzelheiten. Medizingeschichtlich bedeutsamerist P.s Versuch, die Krankheitsaitiologie in der knidisdhen Schrift π. νούσων2, i/i i als abh ngig von der Schrift von der heiligen Krankheit hinzustel-len (49. NGG. 91 ff.), l

Er stellt NGG. 93 — nach dem Vorgang von Wellmann, Archiv f. Gesch. d. Med.22, 1929, 304 — die Krankheitsaitiologien von krampfartigen Anf llen in Λ. νούσων2, 8 und π. L v. 7 nebeneinander, die allerdings alles notwendige Material zur Beur-teilung des Verh ltnisses enthalten. Die w rtlichen bereinstimmungen gehen sehr weit,desgleichen die sachlichen hnlichkeiten: die Anf lle werden aus einer berw ltigungdes warmen Bluts durch kalten Schleim erkl rt, der, aus dem Kopf herabf e end, dasBlut abk hlt und in seiner Bewegung hemmt. Neben dem Schleim kennen beide Schrif-ten anderweitig als wichtige Krankheitsursache die Galle. Der wesentliche Unterschiedist, da die Schrift von der heiligen Krankheit au erdem noch von der St rung derZirkulation der Luft spricht, wovon der Knidier nichts wei . P. meint, der Knidierhabe dieses Moment „ausgeschaltet"; dann h tte er gerade das f r die Schrift von derheiligen Krankheit Wesentliche ausgeschaltet. Das ist an sich schon unwahrscheinlich.Au erdem wissen wir aber, da die Knidier die Krankheiten von jeher auf Schleim undGalle zur ckf hrten und dem Kopf bei der Entstehung bzw. der Weiterleitung dieserS fte eine wichtige Rolle zuschrieben; die Kombination der peripatetischen Berichte berdie beiden ltesten Knidier Euryphon und Herodikos zeigt das klar 42. Wir wissenferner, da π. νούσων 2 eine Teilredaktion des Hauptwerks der knidischen Schule, derΚνίδιαι γνώμαι, ist 43. Diese Κνίδιαι γνώμαι haben zweifellos nicht nur therapeutische,sondern auch aitiologische Lehren gegeben; das zeigen nicht nur die peripatetischenBerichte ber Euryphon und Herodikos, sondern z. B. auch die Schrift π. των εντόςπαθών, die vielleicht zur selben Redaktion der Κνίδιαι γνώμαι geh rt wie π. νούσων2 44. Die Aitiologien von π. των εντός παθών arbeiten gleichfalls mit dem Verh ltnisvon Schleim und Galle zum Blut (vgl. z. B. Kap. 12.18. 29 u. a.). Da die Aitiologien inπ. νούσων 2, i/ii f r sich zusammengestellt sind, bedeutet also nicht, da sie nicht zumurspr nglichen Bestand der Κνίδιαι γνώμαι geh rten und von anderer Literatur ab-h ngig w ren (P. NGG. 92). Am wenigsten kommt als Vorbild die Schrift von derheiligen Krankheit in Frage. Vielmehr ist ganz klar, da diese auf den knidischenLehren von Blut, Schleim und Galle weiterbaut. Sie hat sie erg nzt durch die diogenischeLehre von der Bedeutung der Luft, und sie hat weiter die Bedeutung, die bei denKnidiern dem Kopf f r die Krankheitsentstehung zugemessen wird, durch die sch rferpr zisierte Rolle ersetzt, die sie dem Gehirn zuweist. Dieses klare medizingeschichtlicheVerh ltnis darf man nicht auf den Kopf stellen. Grunds tzlich mu berhaupt gesagtwerden, da man die Breite der damaligen medizinischen und sonstigen wissenschaft-lichen Entwicklung untersch tzt, wenn man die Wissenschaftsgeschichte jener Zeit aufdas literarische Verh ltnis von ein paar uns zuf llig bekannten Schriften zueinander zureduzieren versucht.

Auch die ber hmte Lehre der Schrift π. φύσιος ανθρώπου von den vierS ften Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle mu man in einen viel brei-teren Zusammenhang einordnen. Sie erfordert besondere Aufmerksamkeit,da wir — im Corpus Hippocraticum eine Singularit t — durch die peri-patetische Doxographie den Namen ihres Verfassers, Polybos, kennen, der

42 Vgl. Excerpta Menonia in Suppl. Aristot. 3, i ed. Diels 4, 31 ff. 40 ff.43 Vgl. J. Ilberg, Griechische Studien f r H. Lipsius, 1894, 35 f. Die rzteschule von

Knidos 1925, 4. 7.44 Vgl. Ilberg a. a. O.

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200 Pohlenz, Hippokrates

in der sp teren berlieferung Schwiegersohn des Hippokrates genannt wird.Die Forschung ist daher durchweg von der Zuversicht erf llt, sich hier inbesonders gesicherten Bezirken k lscher Lehre bewegen zu k nnen. P. siehtauch hier unsere beiden Schriften als Vorbild und meint, Polybos habe de-ren Lehre von den zwei S ften ebenso in ein Viererschema umgewandeltwie die in π. ί. ν. Kap. 3 vorgetragene Lehre von den zwei Hauptadern(49 ff·)·

Aber unsere Schriften kennen, wie gesagt, nur die knidische Dreiheit Blut, Schleim,Galle. Die »schwarze Galle' kommt nur einmal als Krankheit vor (π. ά. ύ. τ. Kap. ίο.66, 25), steht also keineswegs gleichberechtigt neben Schleim und (,gelber') Galle, die alskonstitutionsbildende Grundlagen der Typen der φλεγματίαι und χολώδεες durchgehendanerkannt werden. Dagegen kommt die schwarze Galle neben der unbenannten anderenGalle und dem Schleim schon in der knidischen Schrift re. των εντός παθών (Kap. 5- 27.34) vor. Auffallender ist die Beziehung von Polybos' Lehre zu Epidem. 3,14 45, wodicht hintereinander το μελαγχολικόν και ΰφαιμον, φλεγματώδεες und πικρόχολοι ge-nannt werden, und zwar als Konstitutionstypen, wie ja auch bei Polybos die vier S ftenicht als Krankheitsstoffe, sondern als Grundbestandteile der menschlichen Konstitutionerscheinen; ein wichtiger Unterschied ist allerdings, da Polybos keine Typenklassenbildet, sondern die Menschen als s mtlich in gleicher Weise dem jahreszeitlichen Wechselunterworfen behandelt. Das trennt ihn aber nicht nur von den Epidemien, sondern auchvon den beiden ndern Schriften. In der Adernlehre ist die Schrift von der heiligenKrankheit nicht besonders originell; die beiden Hauptadern geh ren zum eisernen Be-stand der lteren Adernlehre46. Es ist also nicht m glich, den .Schwiegersohn desHippokrates' in eine besonders enge Beziehung zu den Schriften von der heiligenKrankheit und von der Umwelt zu bringen.

Im innersten ,hippokratischen' Kreis befinden wir uns mit dem Pro-gnostiken und Epidem. i und 3. Von allen hippokratischen Schriften weisendie Epidemien-B cher durch ihr Tatsachenmaterial, durch Ortsangaben undNamensnennungen am meisten nach Kos und auf die hippokra tische Schule.So hatte Deichgr ber Anla , ihre ltesten Bestandteile in den Mittelpunktseiner Untersuchung zu stellen, die ein neues Bild der koischen Schule ent-werfen sollte. Auch das Prognostiken, das Z ge ehrw rdigen Alters, rzt-licher Reife und einer wissenschaftlich klaren und sch nen Sprache tr gt,m chte man gern dem gro en Hippokrates geben. Deichgr ber hat gezeigt,da zwischen ihm und den Epidemien jedenfalls keine Widerspr che beste-hen, ja er glaubt sogar, da in den Epidemien (i, 2^) auf das Prognostikenverwiesen wird47. Soll nun Hippokrates auch die Schrift von der heiligenKrankheit und die ber die Umwelt verfa t haben, so m te er mit demVerfasser des Prognostikon gleichge ! setzt werden k nnen. P. und unab-h ngig von ihm Nestle haben das bef rwortet. Der Hinweis auf hnlichkei-ten verschl gt nichts, wenn eine Stelle der Identifikation der Verfasser un-berwindliche Schwierigkeiten entgegenstellt. Diese Stelle ist die u erung

Prognost. i (79, 1/2 Kw.) ber das -θείον in den Krankheiten. Hier wird mit45 Vgl. auch P. 57.46 Vgl. K. Fredrich, Hippokratische Untersuchungen 1899, 57 ff.47 a. a. O. 17 ff.

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/75>/£o/ Pohlenz, Hippokrates 201

einem solchen ausdrücklich gerechnet, während es bekanntlich das zen-trale Anliegen der Schrift von der heiligen Krankheit ist zu zeigen, daßkeine Krankheit göttlicher ist als die andere, sondern alle im Konnex vonUrsache und Wirkung stehen.

Dieser Widerspruch bewog Kühlewein, die Worte im Prognostiken als ,unhippo-kratische' Äußerung zu streichen, während Wilamowitz 48 den richtigeren Schluß zog,daß beide Schriften nicht von demselben Verfasser stammen können. Mit einer inter-essanten Argumentation versucht Nestle 49 den Anstoß zu beseitigen. Er zeigt richtig,daß die Schrift von der heiligen Krankheit den Begriff des neu fundiert, indem sieihn den atmosphärischen Einflüssen beilegt, die der menschlichen Einwirkung entzogensind. In diesem Sinn soll der Ausdruck auch im Prognostikon zu verstehen sein. Alleindas Prognostikon ordnet das einer ganz bestimmten Gruppe von Krankheiten zu,denen gegenüber der Arzt auch ein besonderes Verhalten zeigen soll. Es handelt sichum die hoffnungslosen Krankheiten, die der körperlichen Widerstandskraft der Krankenüberlegen sind (78,19 f.). Bei diesen Krankheiten soll der Arzt sich durch Vorhersagendes Ausgangs von der Verantwortlichkeit befreien (79,8). Zu ihnen gehören auch die-jenigen, in denen etwas Göttliches ist. Es handelt sich also um eine ganz bestimmteKlasse von Krankheiten; in der Schrift von der heiligen Krankheit wird aber ausdrück-lich gesagt, man sollte keinen Unterschied machen in dem Sinn, daß man eine Krankheitfür göttlicher erkläre als die andere, ,sondern alle sind göttlich und alle menschlich'(Kap. 18. 6, 394 L.). Die Anerkennung des Göttlichen in allen Krankheiten schließt alsoaus, daß der Arzt sich bestimmten als göttlich herausgehobenen Krankheiten gegenüberbesonders verhält. Den atmosphärischen Einflüssen als dem in den Krankheitenkann der Arzt zwar nicht direkt, aber indirekt durch die Gestaltung der Diät beikom-men, wie im Schlußkapitel auseinandergesetzt wird. Die Neufundierung des -Be-griffs dient also der Durchsetzung des ärztlichen Anspruchs, alle (nicht an sich hoffnungs-losen) Kränkelten behandeln zu können. Für das Prognostikon dagegen bedeutet dieAnerkennung des einen ärztlichen Verzicht. Das ist eben die Haltung, die dieSchrift von der heiligen Krankheit bekämpft. Der Verfasser des Prognostikon hat diesenKampf nicht gekannt oder nicht beachtet, und wir können ihn mit dem der Schrift vonder heiligen Krankheit nicht identifizieren, wenn wir uns nicht zur Erklärung auf un-kontrollierbare Biographica zurückziehen wollen 50. |

Wichtiger wäre es noch, wenn man zwischen den Epidem. i und 3 und unserenbeiden Schriften Übereinstimmung herstellen könnte. Wilamowitz hatte das seinerzeitfür unmöglich erklärt, da der geographische Horizont beider Schriftengruppen verschie-den sei 5l. Was P. 64 dagegen sagt, ist gewiß einleuchtend. Aber er hat nichts gegendie Argumente vorgebracht, die Deichgräber (126 f.) abhielten, die beiden Schriften-gruppen demselben Verfasser zu geben. Ich glaube auch, daß man seiner Feststellung,die „schematische Physiologie" von . i. v. — . . . . sei Epidem. i und 3 fremd,nichts entgegensetzen kann. Dieser sachliche Gegensatz wird durch eine terminologischeBeobachtung erweitert: in der Schrift von der Umwelt heißt der Herbst , inden Epidemien 52. p. möchte diesen Unterschied durch den Hinweis auf

48 Hermes 64, 1929, 482.49 Hermes 73, 1938, i ff.50 Das tut P. 61 Anm. i: „So mag einmal auch unser Arzt unter dem Druck eines

großen Erlebens, bei dem menschliche Erkenntnis und Therapie versagten, diesen —vorsichtig formulierten — Satz geschrieben haben". Dann wäre der große Hippo-krates in seinen zentralen wissenschaftlichen Überzeugungen einigermaßen labil ge-wesen.

51 SBBerl. 1901, 21.52 P. NGG. ror.

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2O2 Pohlenz, Hippokrates [8o]8i]

Thukydides aufheben, der in der Darstellung des archidamisdien Krieges nur φθινό-πωρον, in den sp teren Teilen seines Werks nur μετόπωρον brauche. Dagegen l t sichschwer etwas vorbringen; aber es ist nicht befriedigend, wenn wir auf die wenigenErkenntnismittel verzichten sollen, die das Material uns berhaupt in die Hand gibt 53.

Trotzdem ist die Nebeneinanderstellung unserer beiden Schriften undder Epidemien gewi n tzlich und n tig, denn hnlichkeiten allgemeinerArt sind unverkennbar. Beide vertreten die ,meteorologische' Medizin, beidehaben ein hnliches Kalendarium, beide dr ngen dazu, die Menschen, dieGegenstand der rztlichen Beobachtung und Behandlung sind, in Typengrup-pen aufzugliedern. Auch in diesen Dingen ist die Schrift von der Umweltformelhafter als die Epidemien. Sucht man eine Beziehung zwischen beiden,nachdem man erkannt hat, da sie nicht in der Identit t des Verfassers lie-gen kann, so wird man vorsichtig sagen, da die Schrift von der Umwelt (wieauch die von der heiligen Krankheit) Erkenntnisse auf eine Formel zu brin-gen versucht, die in den Epidemien Gegenstand eines sehr freien Forschensund Suchens sind. Man wird dann jene beiden Schriften zeitlich nicht fr her(aber auch nicht viel sp ter) als die ersten Epidemienb cher ansetzen. Diesesind durch Gleichungen ihrer Namensangaben mit inschriftlichen Zeugnissenauf die Zeit um 410 datiert54. Ann hernd um dieselbe Zeit w rde ich die lSchrift von der heiligen Krankheit, unmittelbar anschlie end die erste Skizzevon π. ά. ύ. τ. und weiter ihre Ausgestaltung zur Schrift von der Umweltansetzen.

Dieser Ansatz liegt etwas h her als der ziemlich vage, den ich WuA.114 gegeben hatte („um 400"). Er liegt an der unteren Grenze des Ansatzesvon P., der die Zeit von 430/415 vorschl gt (45), und erheblich unter demvon Nestle, der bis in die Zeit um 430 hinaufgeht55. Ich halte die Datie-rungsfrage an sich nicht f r besonders wichtig, m chte aber kurz auf sie ein-gehen, da auch sie mit der Frage nach dem Einflu , d. h. der Bedeutung desVerfassers, verquickt worden ist.

Ein sicherer terminus post ist, da der Klimatologie und Physiologie des Ver-fassers die Lehre des Diogenes von Apollonia zugrunde liegt, der etwa in die 3oer Jahrezu setzen ist. Aber wann die Wirkung des Diogenes auf den Verfasser akut gewordenist, k nnen wir nat rlich nicht wissen. Das gilt auch f r eine andere interessante Be-ziehung, die P. 45 Anm. 3 festgestellt hat. Man kann sich in der Tat nicht dem Eindruck

53 Irref hrend ist m. E. P.s Bemerkung ber den Gebrauch von κόπρος in n. L v. undδιαχώρησις in π. &. ύ. t. διαχώρησις steht nur in den Wasserkapiteln; ich k nnte dieAbweichung also mit zur Aussonderung dieses Abschnitts aus dem urspr nglichen Planheranziehen. Aber der Grund f r die abweichende Wortwahl ist ein anderer. Inπ. i. v. i. 7 (6, 360. 372. 374) ist ganz konkret vom Abgang des Stuhls die Rede;da kann man, wenn man kr ftig und deutlich reden will, wohl von κόπρος sprechen.In π. ά. ύ. τ. 6ι, ia. 6ζ, 6 dagegen hei t es, da bestimmtes Wasser προς την διαχώ-ρησιν εναντία ist. Da ist also vom Vorgang der Verdauung die Rede. Es liegt also einsachlicher, kein rein stilistischer Unterschied vor.

54 Vgl. Deichgr ber 16. Den Spielraum, der naturgem — auch nach Deichgr bers Aus-sage — bleibt, w rde ich eher nach oben als nach unten ausnutzen.

55 Hermes 73, 1938, 25 f. 37. Vom Mythos zum Logos 225 Anm. 116.

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[8ij82] Pohlenz, Hippokrates 203

entziehen, da in κ. ά. ύ. τ. Kap. 22. 75» 8 τιμώμενοι δη ει χαίρουσιν οί θεοί καιθαυμαζόμενοι υπ' ανθρώπων 56 der Prolog von Euripides' Hippolytos 7/8 zitiert wird.Aber auch in diesem Fall k nnen wir nicht wissen, wann dem vielseitig interessiertenVerfasser diese Bildungsfrucht in den Scho gefallen ist. Bei den Versuchen, eine untereZeitgrenze zu finden, sahen wir schon, da ein gro er Teil der Zeugen aus dem CorpusHippocraticum versagt, weil sich ihre Abh ngigkeit von den beiden Schriften nicht er-weisen l t. So ist es auch bei der Mehrzahl der anderen m glichen Beziehungen, derenTr ger an sich den Vorteil bieten, da sie datiert werden k nnen. Nestle glaubt, da alleklimatologischen Aussagen Herodots von der Schrift von der Umwelt abh ngig seien 57;das w rde nur zutreffen, wenn diese Schrift die Klimatologie ,erfunden' h tte. P. hatan eine solche M glichkeit nicht gedacht; er erw gt vielmehr Abh ngigkeit einer Stelleaus π. ά. ύ. τ. von Herodot (45). Weniger eindeutig ist das Verh ltnis zu Euripides zubestimmen. Es ist m glich, da ein Fragment, das Clemens von Alexandria erhaltenhat, auf die Einleitung unserer Schrift von der Umwelt anspielt58. Weniger berzeugendsind die hnlichkeiten von Fr. 981 mit π. ά. ύ. τ. Kap. 12, die Nestle nachzuweisenversucht 59. Beide Fragmente sind nicht datiert, und da sie aus ihrem urspr nglichenZusammenhang gerissen berliefert sind, so scheint mir eine endg ltige Entscheidungber die Beziehung nicht m glich zu sein. Sicher aber besteht kein Grund, das Chor-

lied Eurip. Med. 824 ff., in dem die reine Luft Attikas und die daraus hergeleitete σοφίαseiner Bewohner gepriesen wird, auf die Schrift von der Umwelt zur ckzuf hren60.Das ist die Lehre desselben Diogenes von Apollonia, der auch Aristophanes zu seinerParodie in den Wolken begeistert hat61. |

Die Beziehungen, die ich besonders zwischen dem zweiten Teil derSchrift von der Umwelt und Demokrit gefunden hatte62, werden von Palm301 ff. und P. 26 f. bestritten, von Nestle (Hermes 73, 35 ff.) anerkannt. Ichbin nach wie vor davon berzeugt, da die aitiologische Form, die die ethno-graphischen Kapitel der Schrift ber die Umwelt gefunden haben, ohne De-mokrit nicht denkbar w re, und da auch das Ethos, das die Schrift von derheiligen Krankheit treibt, die berzeugung von der kausalen Erkl rbarkeitaller Erscheinungen, das der demokritischen Schule ist. Den Gegensatz von»Religiosit t* des Verfassers und ,Materialismus' Demokrits darf man m. E.nicht ausspielen, wie Palm 301 f. tut; darin scheint mir eine VerkennungDemokrits zu Hegen. Ich gebe aber zu, da das wissenschaftliche Bekenntnisder Schrift von der heiligen Krankheit, da die Naturerscheinungen, diedem menschlichen Eingriff entzogen sind, θεία seien, seine Formulierungnicht von der Lehre Demokrits, sondern von der Luftvergottung des Dioge-nes von Apollonia (Vors. 64 B 5) her gefunden hat, dessen Bedeutung f rdie Grundlehre der Schrift von der heiligen Krankheit ich niemals leugnenwollte, aber wahrscheinlich zu sehr habe zur cktreten lassen (vgl. WuA.«3).

56 Text nach P. a. a. O.57 Hermes 73, 1938, 25 f. Vom Mythos zum Logos 225 ff.58 Fr. 917. Vgl. P. 62 mit Anm. 2 zum Text des Fragments.59 Hermes 73, 1938, 24.60 Nestle, Hermes 73, 25 Anm. i. Vom Mythos zum Logos 225 Anm. 116.61 Vgl. Vors. 64 C i mit Literatur.62 WuA. 54ff. i i i f f .

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204 Pohlenz, Hippokrates 1

Ich w rde jetzt f r diese Schrift auch noch st rker betonen, da in ausgesprochenrztlichen Theorien Demokrit nicht der Gebende, sondern der Nehmende gewesen ist

(vgl. WuA. ii2 f. und P. 26). Ich kann es aber nicht anerkennen, wenn P. an derselbenStelle Demokrits Gebrauch von φύσις und νόμος f r das Zeichen einer sp teren Ter-minologie erkl rt, als wir sie in unseren Schriften finden. Die Diskussion dar ber, obder Mensch durch Naturanlage oder durch Erziehung t chtig werde, ist dem ausgehen-den 5. Jh. schon aus den Zeiten der sinkenden Oligarchie, des Theognis und Pindar ver-erbt 63; wenn Demokrit (Vors. 68 B 242) und Kritias (Vors. 88 B 9) die berzeugungihrer Zeit ausdr cken wollen, da die Erziehung mehr bewirke als die Naturanlage, sostellen sie der φύσις die ασκησις und μελέτη, das .Training' gegen ber, π. ά. ύ. τ.24. 79> 6 benutzt f r dieselbe Gegen berstellung φύσις und νόμος, die abgeschliffenereAntithese, die sp ter das Feld behauptet hat; in dem hier geforderten Sinn eines diegegebene geistige oder charakterliche Naturanlage beeinflussenden Moments finde ichνόμος zuerst bei Eurip. Ion 642 ff. benutzt 64. Aus dieser Diskussion erw chst beiDemokrit (68 B 33) die Aussage, da die διδαχή mit der Zeit zur φύσις werden k nne,und Buenos (Fr 9 D.) sagt dasselbe von der μελέτη, w hrend in π. ά. ύ. τ. 14. 69, ^ dieDiskussion auf einen physiologischen Zusammenhang bertragen und wiederum in dieAntithese von φύσις und νόμος gefa t ist. In der ber hmten Gegen berstellung desprim r Existierenden und der ,sekund ren' Qualit ten (68 B 9.125) stellt Demokritνόμω und έτεη gegeneinander. Das kn pft an die erkenntnistheoretischen Aussagendes Empedokles (31 B 8) und Anaxagoras (59 B 17) an. Dem νόμος steht in solchemFall die ,Wahrheit' gegen ber, wie in Demokrits έτεη 65 und wahrscheinlich auch in derAntithese τη τύχη και τφ νόμφ — το δ' έόν in π. Ι. ν. 17. 6, 392 L. in der auch vonP. 27 Anm. 3 anerkannten Textgestaltung von Wilamowitz. Der Gebrauch der erkennt-nistheoretischen Antithese φύσις—νόμος, wo also nicht, wie im p dagogischen' Zu-sammenhang der νόμος, sondern die φύσις das neu Hinzukommende ist, ist erst f r dengewi nicht fr hen Verfasser von π. διαίτης charakteristisch (i, 4. n). Die Schrift vonder heiligen Krankheit steht hier also genau auf der Stufe demokritischer Terminologieund auf einer fr heren als die Schrift von der Di t. Die Gegen berstellung des ξυμφέρον(das der φύσις entspricht) und des νόμος in der Beurteilung der Werte, die π. l. v.14. 6, 386 L. im Vorbeigehen vornimmt, entspricht dem Sprachgebrauch des SophistenAntiphon (87 B 44) 66.

Mit diesen Feststellungen ergibt sich eine Datierung beider Schriften,die der aus medizingeschichtlichen Argumenten gewonnenen entspricht. Wirstellen die Schrift von der heiligen Krankheit in die Zeit der ersten hippo-kratischen Epidemienb cher, des Demokrit und der attischen Sophistik, undes entspricht auch durchaus dem, was wir ber das Verh ltnis der beidenSchriften zueinander feststellten, da die Schrift von der heiligen Krankheitim jerkenntnistheoretischen' Sprachgebrauch auf der Stufe des Demokritsteht, w hrend der ethnographische Teil der Schrift von der Umwelt inder Anwendung der φύσις—νόμος-Antithese etwas ber ihn hinausgeht.63 Vgl. zum folgenden auch NJbb. 1939, 244 ff.64 Vgl. O. Thimme, Φύσις τρό,τος ήθος. Diss. G ttingen 1935, 76. Bei Euripides liegt

allerdings keine Gegen berstellung vor, sondern eine Kombination im Sinne des Kom-promisses Protag. 80 B 3. Aber auch in diesem Falle ist bezeichnend, da die ur-spr ngliche Er rterung des Protagoras die ασκησις neben die φύσις stellt und erstEuripides vom νόμος redet.

65 Vgl. K. Reinhardt, Parmenides 1916, 88, der freilich a. a. O. 85 annimmt, da schondie Atomisten den Terminus φύσις in Gegensatz zum erkenntnistheoretischen νόμοςgebraucht h tten.

66 Vgl. auch Thimme a. a. O. 71.

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[8^84] Pohlenz, Hippokrates 205

ber Zeit, geistige Umwelt und Bedeutung beider Schriften w re da-mit schon einiges ausgesagt. Es erhebt sich die letzte Frage: kann der Ver-fasser dieser Schriften — richtiger: kann wenigstens der originellere rzt-liche Denker, der die Schrift von der heiligen Krankheit verfa t und die pro-gnostische Skizze zur Schrift von der Umwelt entworfen hat, Hippokratessein? Wir sahen schon: der Verfasser von Epidem. i und 3 und des Progno-stiken kann nicht zugleich auch unsere Schriften geschrieben haben. Nureiner von beiden kann also mit Hippokrates gleichgesetzt werden, — oderauch keiner von ihnen. Zur Nachpr fung bieten sich die beiden ltesten Be-richte, die wir ber die Lehre des Hippokrates haben, der platonische imPhaidros und der peripatetische in den Excerpta Menonia des AnonymusLondinensis67. P. behandelt Platons Bericht erst nach dem des Aristoteles,mit Recht: denn so viel geht aus den abweichenden Versuchen zur Deutungder Stelle, denen P. (74 if.) eine l einleuchtende Epikrise gewidmet hat, her-vor, da Platon nicht so sehr ber den Inhalt von Hippokrates' Lehre alsber deren Methode etwas Charakteristisches aussagt68. Wir k nnen Pla-

tons Bericht nur dann vergleichsweise heranziehen, wenn wir an andererStelle noch einen Bericht ber Hippokrates' Lehre haben.

Dieser Bericht, der letzten Endes auf die medizingeschichtliche Doxo-graphie des Aristoteles und seines Sch lers Menon zur ckgeht, ist uns durcheinen Papyrusfund vor einem halben Jahrhundert geschenkt worden. Es istbekannt, da ber diesem Fund ein eigenartiges Mi geschick geschwebt hat.Der Herausgeber H. Diels fand, da die dort wiedergegebene Lehre desHippokrates derjenigen der hippokratischen Schrift π. φυσών entspreche,die den Charakter einer sophistischen Epideixis tr gt und infolgedessenmedizinisch gering bewertet wurde69. Von dieser Feststellung entt uscht,verzichtete man auf die Auswertung des f r die Hippokratesforschung dochso kostbaren Fundes, obwohl Bla schon sehr bald darauf hinwies, da derBericht sich nicht auf die Schrift π. φυσών, sondern offenbar auf deren Vor-

67 Suppl. Aristot. 3, i ed. Diels, 5, 3^ ff.68 Mit dieser Feststellung hat Edelstein 131. 135 recht, obwohl seine Deutung des

όλον, dessen Kenntnis Hippokrates nach Platon (2700) als Voraussetzung derKenntnis des K rpers bezeichnet hat, auf den Gegenstand der Behandlung aus sprach-lichen Gr nden nicht haltbar ist (vgl. Deichgr ber 151. P. 75 mit Anm. i). Das όλονist das All, ber dessen φύσις man άδολεσχία und μετεωρολογία treiben soll, wennman in den ,gro en K nsten' etwas leisten will (vgl. 2696 ff.). Eine derartige natur-pihlosopische Vorbildung erm glicht richtige Einordnung und Einteilung des Gegen-standes und die richtige Beurteilung des Ganzen und der Teile nach Ursache undWirkung. So handelt der gute Arzt nach Hippokrates dem K rper gegen ber, sosoll der gute Redner nach Platon der Seele gegen ber handeln. Diese AussagePlatons l t in der Tat einen ziemlich weiten Spielraum f r die Beurteilung dessen,was Hippokrates getan und gelehrt hat. Die Vermutung, da die Wahl des Terminusμετεωρολογία a69e sich auf jt. ά. ύ. τ. 2. 57, 8 beziehe, hat P. selbst mit Recht alsunsicher bezeichnet (79).

69 Hermes 28, 1893, 424 ff.

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2o6 Pohlenz, Hippokrates [84/85}

l ge beziehe70. Auch Edelstein (140ff.) und Deichgr ber (152ff.) stelltenrichtig Unterschiede zwischen dem menonischen Bericht und der Schrift π.φυσών fest. Sie waren aber unsicher dar ber, wie weit dem Bericht des Lon-doner Papyrus zu glauben sei, und vermuteten sp tere Interpolationen oderVerf lschungen gr eren Umfangs. P. (65 ff.) hat das entschiedene Ver-dienst, die Behandlung des Berichts auf eine sichere Grundlage gestellt zuhaben. Ausscheiden mu man aus dem Bericht nur den unhippokratischenBegriff der περιττώματα; dann bildet der Bericht im brigen eine geschlos-sene Einheit, trotz des ungeschickten Vertrags, der wahrscheinlich nicht aufMenon, sondern auf eine doxographische Mittelquelle zur ckzuf hren ist(P. 69). ! Hippokrates ging nach dem Bericht davon aus, da die Luft dernotwendigste und wichtigste der Stoffe in uns sei; denn wenn sie glatt durchden K rper flie e, seien wir gesund, im entgegengesetzten Fall krank. Wiedie Wasserpflanze στρατιώτης im Wasser, so wurzeln wir mit den Atmungs-organen und dem ganzen K rper in der Luft. Δύσροια der Luft, die Krank-heiten verursacht, entsteht bei falscher Ern hrung. Wenn wir zu viel, zuVerschiedenartiges oder zu Schweres essen, erleidet die aus den Speisen auf-steigende Luft (φυσά) Stockungen oder Temperaturver nderungen im K r-per, die die Krankheiten hervorrufen.

Man braucht nur einen Blick auf die schon bei Diels (Suppl. Arist. 3,1,8 f.) dem Text beigegebenen Parallelen aus der Schrift π. φυσών zu werfen,um festzustellen, da diese Schrift die Lehre des menonischen Hippokratesvertritt.

Da ist die Rede von der allgemeinen Bedeutung der Luft f r die Lebewesen(Kap. 4) und von der Entstehung der Krankheiten aus der Luft, die bei falscher Er-n hrung aus den Speisen emporsteigt. Den unbedingt n tigen Verbindungssatz, daLuft in allen Speisen ist und mit ihnen in den K rper kommt, k nnen wir uns sogarnur aus der Schrift erg nzen (95, 6 ff. Hbg.). Andererseits ist die Schrift nicht voll-st ndig in der Wiedergabe der hippokratischen Lehre: es fehlt der Vergleich mit demστρατιώτης, es fehlt der Gedanke, da auch zu geringe Luftzufuhr Krankheiten ver-ursachen kann (6, 36). Dabei ist dieser Gedanke sehr wichtig. Denn er zeigt uns, waswir freilich auch sonst erschlie en m ten, da ein Normalquantum normal beschaffenerLuft aus allen Speisen ,empordunstet' (der Terminus άναθυμιαΦεϊσαι ist durch eineRandnotiz zu 6, 32 gesichert), das zur Erhaltung des K rpers offenbar ebenso notwendigist wie die Atemluft 7l. |

70 Hermes 36, 1901, 405 ff.71 Vgl. Deichgr ber 155, der aber mit dem Bericht nicht zurechtkommt, weil er den

Begriff der φΰσαι von dem unhippokratischen περιττώματα-Begriff abh ngig machte.Der Autor von it. φυσών sagt aber ausdr cklich, da φΰσαι an sich nichts Patho-logisches sind: ,Das Pneuma in den K rpern hei t φυσά, au erhalb der K rper αήρ(92, aof.).' Die Vorstellung einer «ναΦυμίασις des Lebenselementes aus dem Innerndes K rpers ist letzten Endes heraklitisch: 22 B 12 ,Seelen dunsten aus dem Feuchten(der K rperlichkeit) empor'. Da die Einatmung der Luft ebenso lebensnotwendig ist,so ergibt sich aus dem Widerspiel von Atmung und άναθυμίασις der heraklitisdheWeg hinab und hinauf. Vermittler dieser heraklitischen, aber ganz ins Medizinische

bersetzten Anschauungen k nnte vielleicht wieder Diogenes von Apollonia ge-wesen sein. So komme ich von anderen Gedankeng ngen her zu einer hnlichen

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[86] Pohlenz, Hippokrates 207

Der Bericht des Menon und die Schrift π. φυσών erg nzen sich also inder Weise, da beide auf dieselbe Quelle zur ckgef hrt werden m ssen.Diese Quelle ist, wie Menon sagt, Hippokrates. In diesem Punkt hatte alsoschon Bla das Richtige gesehen, w hrend wir jetzt durch P.s Bem hungendie von Menon reproduzierte hippokratische Lehre besser erfassen k nnen.

Schon aus der Grundlegung, die Hippokrates seiner Lehre nach Menongab, geht hervor, da er durch die Hervorhebung der Bedeutung der Luft,die nicht nur eingeatmet wird, sondern auch durch die Speisen in unserenK rper gelangt, Di tetik und Epidemiologie zusammenschlie en wollte. Dassagt auch die Schrift π. φυσών, wenn sie in Kap. 6 und 7 die Fieber, die auseingeatmeter Luft und die aus falscher Ern hrung entstehen, gegeneinanderstellt. Es wird auch nicht zuf llig sein, da Hippokrates' Lehre bei Menonhinter der der beiden Knidier steht. Die Luft ist das neue Moment, das erzur knidischen ρεύματα-Aitiologie hinzubrachte 72. Das wird best tigt durchdie Schrift π. φυσών, f r die, genau wie f r die Knidier, die St rung desBlutumlaufs und die berm ige Abk hlung und Erhitzung des Bluts Krank-heitsursache ist, nur da diese Erscheinungen ihrerseits durch die φΰσαι ver-ursacht werden (Kap. 7. 8. 10. 14). Von den ρεύματα spricht die Schrift 97,10 als von einer bekannten Voraussetzung; im einzelnen erw hnt sie, etwaslaienhaft, 97, 20 το φλέγμα δριμέσιν χυμοΐσιν μιγνύμενον.

Kann die Lehre des Hippokrates, die sich f r ein bestimmtes Gebietalso ziemlich weitgehend rekonstruieren l t, mit der irgendwelcher andererhippokratischer Schriften — abgesehen von π. φυσών — gleichgesetzt wer-den? Zu den Epidemien und zum Prognostikon sehe ich keinen Wider-spruch; die Epidemien stehen zudem auch unter der berzeugung, da diemenschliche Gesundheit von den Faktoren der Umwelt stark bestimmt ist,wie die Luftlehre des Hippokrates es verlangt; mehr l t sich zun chst nichtsagen.

Zweifellos zeigen die Schriften von der heiligen Krankheit und von derUmwelt mit diesen Voraussetzungen auf den ersten Blick starke berein-stimmungen. Auch sie vertreten eine Luftlehre; in der Einleitung zur Schriftvon der Umwelt (57, 1/2) werden die Krankheiten aus falscher Ern hrungebenso neben die aus der Witterung gestellt wie in π. φυσών 6/γ73, ja mank nnte die Aussagen der Schriften von der heiligen Krankheit und von der

L sung wie J. Schumacher, Antike Medizin I 1940, 172 ff., der f r den menonischenHippokrates eine auf Diogenes von Apollonia zur ckgehende Lehre von der άναθυμ-ίασις der Ern hrung annimmt. Nur h tte er sich daf r nicht auf das Diogenes-Zitatbei Galen. 5, 282 K. berufen d rfen. Denn die dort zitierte Lehre von der ψυχική άνα-θυμίασις stammt aus dem Stoiker Diogenes, wie man am schnellsten bei einem

berblick ber die Diogenes-Zitate aus Galen. De plac. Hippocratis et Platonis inStVetFr. 2, 215 f. feststellen kann.

72 Vgl. auch Deichgr ber 159.73 Die dritte Stelle, wo diese Unterscheidung gemacht wird, ist π. φύσιος ανθρώπου 9

(Deichgr ber 156).

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2o8 Pohlenz, Hippokrates [86/87]

Umwelt ber die Wirkung der mit der Atmung aufgenommenen Luft ge-radezu als erg nzende Darstellung der οδός κάτω zur οδός άνω im Bericht desMenon betrachten, l

Trotzdem glaube ich, da zwingende Gr nde gegen eine solche Argu-mentation bestehen. Wir haben gesehen, da die Schrift π. φυσών den Be-richt des Menon in angemessener Weise erg nzt. Dann sind wir verpflich-tet, uns zur Rekonstruktion der hippokratischen Lehre in erster Linie andiese beiden Zeugen zu halten und alles auszuscheiden, was ihnen wider-spricht. Dabei soll man sich durchaus bewu t bleiben, da die Schrift π.φυσών als popul re Epideixis in medizinischen Einzelheiten zuweilen un-klar und gewi durchweg einseitig gehalten ist. Da sie aber wichtige Be-standteile der hippokratischen Krankheitsaitiologie, soweit sie zu ihremThema geh ren, geradezu unterschlagen oder verf lscht h tte, das anzuneh-men sind wir nicht berechtigt. Nun geh ren zur Lehre der Schriften von derheiligen Krankheit und von der Umwelt zwei Grundbestandteile, von denenweder Menon noch die Schrift π. φυσών etwas wei : die Lehre von der Be-deutung des Gehirns und die diogenische Lehre von der Luft als Tr gerindes geistigen Lebens. Da die Schrift π. φυσών, deren Thema die Bedeutungder Luft ist, es vers umt h tte, sie auch zum Tr ger des geistigen Lebens zumachen, wenn sie das in ihrer Quelle gefunden h tte, ist ganz unwahrschein-lich. Nach Kap. 14 ist f r sie vielmehr das Blut der Tr ger der φρόνησις, einempedokleischer Satz, der aber auch gut in die knidische Krankheitslehrepa t. Ich trage kein Bedenken, auch dem Hippokrates diese Ansicht zuzu-schreiben. Vom Gehirn hat er offenbar nichts ausgesagt; die Schrift π. φυσώνkennt Kap. 14 eine Aitiologie der heiligen Krankheit, an der das Gehirnnicht beteiligt ist. Dazu kommt die terminologische Abweichung im Zentrumder Lehre, da die Schriften von der heiligen Krankheit und von der Um-welt den Ausdruck φυσά f r die Luft im K rper nicht kennen, sondern vonαήρ, bzw. πνεύμα reden; ersteres ist der Terminus des Diogenes von Apollo-nia, letzteres ein neutraler Begriff, den auch π. φυσών vielfach verwendet.

Das Verh ltnis der Schriften von der heiligen Krankheit und von derUmwelt zu der aus Menon rekonstruierbaren Lehre des Hippokrates isthnlich wie das zu den Epidemien: ihr Verfasser ist nicht mit Hippokrates

gleichzusetzen, sondern steht neben ihm als ein rztlicher Denker etwa dergleichen Zeit. Wie Hippokrates wurde er von der Lehre des Diogenes vonApollonia beeinflu t. W hrend Hippokrates sie aber nur als eine Best ti-gung seiner eigenen Lehre einpa te, die er aus der berkommenen medizini-schen Tradition nach den Notwendigkeiten eigener rztlicher Einsicht wei-tergebildet hatte, hat der Autor der Schrift von der heiligen Krankheit sie inviel gr erem Umfang bernommen und wurde recht eigentich durch sie zuweiteren Spekulationen ber das Verh ltnis von Mensch und Klima angeregt.Als etwas Neues hat er die Lehre von der Bedeutung des Gehirns nach dem

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187/88] Pohlenz, Hippokrates 209

Vorgang des Alkmaion von l Kroton und in folgerichtiger Entwicklung knidi-scher Krankheitslehren hinzugebracht.

P.s Versuch, von den beiden Schriften von der heiligen Krankheit undvon der Umwelt aus das Bild des Hippokrates neu aufzubauen, konnte nichtgelingen. Man wird den Versuch wiederholen müssen, wofür, wie ich glaube,besonders Deichgräber gute Vorarbeit geleistet hat. Aber es bleibt P.s Ver-dienst, daß er der Forschung überhaupt wieder Mut dazu gemacht hat, andie Person des Hippokrates von den Schriften aus, die unter seinem Namenüberliefert sind, heranzutreten.

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