6

Click here to load reader

· PDF filedie künftig möglicherweise in einer Reihe mit anderen Autoren wie Gustav Le Bon (1895) 2 und Ortega y Gasset (1929) zu nennen wäre, die jedoch aufgrund der

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: · PDF filedie künftig möglicherweise in einer Reihe mit anderen Autoren wie Gustav Le Bon (1895) 2 und Ortega y Gasset (1929) zu nennen wäre, die jedoch aufgrund der
Page 2: · PDF filedie künftig möglicherweise in einer Reihe mit anderen Autoren wie Gustav Le Bon (1895) 2 und Ortega y Gasset (1929) zu nennen wäre, die jedoch aufgrund der

IX

Einleitung

Als am Abend des 16. März 1945 Fliegeralarm für die Stadt Würzburg gegeben wurde und die Sirenen aufheulten, begab sich Karl Marbe, emeritierter Psycholo-gieprofessor der Universität Würzburg, zusammen mit seiner Frau Milly Marbe- Fries, dem Dienstmädchen und zwei weiteren Frauen in den Keller seines 1932 erbauten Hauses am Judenbühlweg 7. Das Haus liegt unweit des Mains oberhalb der Mergentheimer Straße am westlichen Standrand. Gegen 21:25 Uhr dröhn-ten 223 britische Bomber mit einer Last von nahezu tausend Tonnen Spreng- und Brandbomben über die durch Leuchtbomben markierten Sportplätze an der Mergentheimer Straße, Marbes Haus unter sich vorbeiziehend, in Richtung Stadtmitte. Der Angriff dauerte nur 17 Minuten bis 21:42 Uhr. Die Briten verloren dabei sechs Maschinen und 49 Mann. Die Stadt Würzburg jedoch war nahezu vollständig zerstört und schätzungsweise 5.000 Bewohner mussten ihr Leben lassen. Marbe beschrieb jene Nacht in einem Auszug aus seinem Tagebuch1 fol-gendermaßen:

„Wir befanden uns in der Nacht des 16. März nach einem »Fliegeralarm« im Keller, um dort Schutz zu suchen. Neben uns befand sich Frau Geheimrat Pohle, unser langjähriges Mädchen Anna Halder und eine Frau, der ich ein Zimmer im Souterrain zur Verfügung gestellt hatte. Obgleich die Bombenabwürfe immer näher kamen, verhielten sich die beiden genannten Frauen ruhig. Unsere Hausgehilfin Anna war dagegen so aufgeregt, daß sie sich auf den Boden legte und schrie. Meine Frau und ich hielten uns umschlungen und erwar-teten unseren gemeinsamen Tod. [ ] Als alles in Ruhe war, verließen wir den Keller und sahen von unserem hochgelegenen Haus aus, daß fast ganz Würzburg in Flammen stand. Es kamen dann allmählich 21 Personen (deren Häuser unbewohnbar waren) zu uns, um bei uns zu übernachten. Es wären aber noch viel mehr die Nacht über bei uns geblieben, wenn sich nicht unter meinen Besuchern ein scharlachkrankes Kind befunden hätte, was viele wieder veranlasste, unser Haus zu verlassen.“

Karl Marbe und seine jüdisch-stämmige Frau hatten viel Glück. Sie überlebten nicht nur den verheerenden Bombenangriff, sondern auch die zwölf Jahre erlitte-ne Diktatur der Nationalsozialisten, mit all ihrem Unrecht und vielen Repressa-lien. Nach einwöchigem Kampf hatten amerikanische Truppen am 6. April 1945 Würzburg vollständig eingenommen und die Freiheit kehrte für das Ehepaar Marbe, wenn auch unter zunehmend schwieriger werdenden Lebensbedingun-gen, zurück. In sein Tagebuch schrieb er am 15. September 1945: „Die vielen Leute,

1 AWZ, Nachlass Karl Marbe, Unterlagen 1.

Page 3: · PDF filedie künftig möglicherweise in einer Reihe mit anderen Autoren wie Gustav Le Bon (1895) 2 und Ortega y Gasset (1929) zu nennen wäre, die jedoch aufgrund der

X

die von auswärts zu uns kommen, erklären immer wieder, daß sie noch keine Stadt gesehen hätten, die so unter Luftangriffen gelitten hätte, wie Würzburg.“

Bis zum Wiederauffinden des verloren geglaubten Nachlasses Karl Marbes durch das Adolf- Würth-Zentrum für Geschichte der Psychologie der Universi-tät Würzburg im Frühjahr 2013, war Marbe vorwiegend als Mitbegründer der Würzburger Schule der Denkpsychologie, als Begründer des Frankfurter Instituts für Psychologie, als vielfältig tätiger angewandter und forensischer Psychologe sowie als talentierter Entwickler verschiedener psychologischer Apparate und Methoden bekannt. Im Nachlass befand sich jedoch unter anderem auch ein bis-lang unveröffentlichtes Manuskript Marbes mit dem Titel „Zeitgemäße populäre Betrachtungen für die kultivierte Welt – Von einem deutschen Gelehrten“, das dieser vermutlich in den späten Kriegsjahren verfasst hatte und welches ausgehend von seiner Lehre von der Gleichförmigkeit (Marbe, 1916a, 1919) massenpsychologi-sche Phänomene, nicht nur des Dritten Reichs, in vorwiegen historischen Bei-spielen leichtverständlich erklärt. Er konzipierte damit eine Massenpsychologie, die künftig möglicherweise in einer Reihe mit anderen Autoren wie Gustav Le Bon (1895)2 und Ortega y Gasset (1929) zu nennen wäre, die jedoch aufgrund der historischen Analysen zeitloser erscheint und die auch heute noch „zeitgemäß“ viel Erklärungspotential aktuell politischer Ereignisse in sich birgt. Marbe war sich um die Gefahr des Verfassens einer solchen Schrift in der NS- Zeit durchaus bewusst, sprach er doch selbst von der „verbotenen Schrift“3. Hätte man sie bei ihm gefunden, wäre er zweifelsohne inhaftiert und seine jüdisch-stämmige Frau in ein Konzentrationslager deportiert worden. Selbst nach dem Krieg sollte das Buch anonym „von einem deutschen Gelehrten“ publiziert werden, was jedoch misslang.

Würde Karl Marbe noch leben, dann gäbe es viele Fragen bezüglich dieser Schrift, die man an ihn richten möchte. Warum beispielsweise hat er sie erst so spät verfasst und nicht schon viel früher, als sich das Unheil in den letzten Jahren der Weimarer Republik und den Anfangsjahren der NS- Zeit abzeichnete und es noch Möglichkeiten der Publikation gab? Wieso ist er das Risiko des Schreibens eines solchen Buchs in den späten Kriegsjahren eingegangen, als das Denunzi-antentum allgegenwärtig war und Gerichtsurteile schnell den Tod bedeuteten? Durch die Ehe mit einer jüdisch-stämmigen und noch dazu bekannten Kunst-malerin, von der er sich nicht hat scheiden lassen wollen, durch seinen Besitz

2 Interessant ist, dass in der von Dr. Helmut Dingeldey eingeleiteten deutschen Ausgabe von Le Bons Psychologie der Massen von 1951 bereits Karl Marbes Buch „Die Gleich-förmigkeit der Welt“ von 1916 als Literaturquelle zur Massenpsychologie empfohlen wird.

3 AWZ, Nachlass Karl Marbe, Unterlagen 4

Page 4: · PDF filedie künftig möglicherweise in einer Reihe mit anderen Autoren wie Gustav Le Bon (1895) 2 und Ortega y Gasset (1929) zu nennen wäre, die jedoch aufgrund der

XI

am Judenbühlweg 7, über der sogar in der populären Zeitschrift „Die Kunst“ (Pfister, 1934) berichtet wurde (Abb. 1), und durch sein vorhandenes Vermögen war er der besonderen Aufmerksamkeit der Behörden sowie dem Neid und der Missgunst manch anderer ausgesetzt. Warum also sollte er ein solches Wagnis eingehen, obwohl sich der Untergang Deutschlands schon lange vor dem fürch-terlichen Bombenangriff auf Würzburg abzeichnete? Welche Ziele verfolgte er mit dieser für die breite Masse verfassten Schrift? War es ein rein wissenschaftliches Interesse, dessen Weg sich in vorausgehenden Arbeiten abzeichnete? Wollte er den Wiederanfang Deutschlands nach der Niederlage erleichtern, indem er die Mechanismen der Verführung erklärte, die Schuld der Masse verneinte und eine Perspektive für einen stabilen Frieden entwarf?

Abb. 1 Marbes 1932 erbautes Haus am Judenbühlweg 7 in Würzburg. Rechts im Hintergrund lässt sich die Silhouette des noch unzerstörten Würzburgs erahnen. (siehe Pfister, R., 1934)

Sich selbst mit dem Verfassen einer solchen Schrift zu entlasten hatte Marbe je-denfalls nicht nötig, ganz im Gegenteil: Die Geschichte des Rabbiners Leo Trepp, der im September 2010 im 98. Lebensjahr verstorben war, legt ein beredtes Zeug-nis von Marbes menschlicher Haltung ab. Dank Marbes Hilfe und insbesondere

Page 5: · PDF filedie künftig möglicherweise in einer Reihe mit anderen Autoren wie Gustav Le Bon (1895) 2 und Ortega y Gasset (1929) zu nennen wäre, die jedoch aufgrund der

XII

durch die Unterstützung seines Doktorvaters, des Romanisten Professor Adalbert Hämel, der in der Vorahnung, dass nicht mehr viel Zeit bleiben würde, Trepp in seiner Doktorarbeit vorantrieb, gelang es Leo Trepp im Mai 1935 als letztem jüdischen Studenten an der Universität Würzburg die Promotion abzuschließen. Marbe sprang ohne zu zögern ein, als das Verfahren an der Suche nach einem Nebenfachprüfer zu scheitern drohte. Zunächst war an einen Germanisten ge-dacht worden. Der war jedoch bereits derart verblendet, dass er Hitlers „Mein Kampf “ weit bedeutsamer einstufte, als Goethes Gesamtwerk und deshalb für Leo Trepp nicht mehr in Frage kam (siehe auch Frömel, S., 2010, S. 137 und Bartsch, G., 2010).

Noch am Tag des erfolgreich mit magna cum laude bestandenen Rigorosums (ein summa cum laude war für Juden nicht mehr möglich), lud Marbe seine Studenten und Trepp zu einer Feier ein. Trepp hatte Bedenken als Jude zu dieser Feier zu erscheinen und schlug die Einladung aus. Was dann geschah, schilderte Bartsch (2010) folgendermaßen: „Trepp will nicht hingehen; er befürchtet, dass die Anwesenheit eines Juden für Ärger sorgen könnte. Marbe ruft ihn persönlich an. »Wenn Sie Sorge haben wegen der Speisen, kann ich Sie beruhigen. Ich werde schon etwas Koscheres für Sie finden«. Leo Trepp erklärt ihm seine Gründe. Marbe ist empört: »Das geht mich doch gar nichts an! Sie müssen kommen«. Trepp folgte der Einladung: »Ich kam, und nichts passierte«“.

Wie kritisch die Situation bereits war, dokumentierte auch die Weigerung des Rektors der Universität Würzburg, für einen Juden eine Doktorurkunde zu un-terzeichnen und er schob dies an den Prorektor ab.

Leo Trepp war noch bis 1938 als Rabbiner in Oldenburg tätig, bevor er in der Reichsprogromnacht inhaftiert und ins Konzentrationslager Sachsenhausen de-portiert wurde. Nur dank des schnellen Handelns seiner Frau, die einen britischen Rabbiner um Hilfe bat und von diesem ein befristetes Visum für Großbritannien erhielt, konnte Trepp aus den Fängen der Nazis befreit werden und zusammen mit seiner Frau nach England und später in die USA ausreisen.

Das Zeitzeugnis des Rabbiners Leo Trepp dokumentiert Marbes klare humane Haltung. Auch nach dem Krieg half er stets, sofern jemand seiner Ansicht nach zu Unrecht von der Besatzungsmacht beschuldigt wurde. Im Tagebuch notierte er am 10. November 1945: „Für eine ansehnliche Anzahl von mir bekannten Personen habe ich Zeugnisse abgefasst, die beweisen, daß sie der Partei völlig fernstanden, aber Parteimitglieder wurden, um ihre Stelle, ihre Existenz und ihr Brot nicht zu verlieren. Ich bin jetzt eine gesuchte Persönlichkeit geworden und die halbjüdische Abkunft meiner Frau, die uns immer im Wege war, wird jetzt vorteilhaft. So hat

Page 6: · PDF filedie künftig möglicherweise in einer Reihe mit anderen Autoren wie Gustav Le Bon (1895) 2 und Ortega y Gasset (1929) zu nennen wäre, die jedoch aufgrund der

XIII

man uns trotz der Wohnungsnot zwei Studierzimmer und ein Atelier im eigenen Hause zugebilligt.“4

Für das Verstehen der Entstehung von Marbes Massenspsychologie, seinen an-onym verfassten populärwissenschaftlichen Betrachtungen, kann die Geschichte des Rabbiners Trepp nur ein Baustein sein. Ein Blick in seine Biografie, die wir dank zweier Selbstbiografien und anderer Quellen (Marbe, 1936a; Marbe, 1945; Mülberger, 1994, 1999; Stock, 2015a) sowie eines bislang unveröffentlichten bio-grafischen Textes seines Nachlasses mit dem Titel: „Erinnerungen eines alten Mannes über den Chauvinismus und die Torheit der Menschen“ nun auch in seinen Jugendjahren besser erfassen können, sowie die von ihm im Laufe sei-ner wissenschaftlichen Tätigkeit bearbeiteten Forschungsgebiete, wird uns dabei weiter voranbringen.

4 AWZ, Nachlass Karl Marbe, Unterlagen 1