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(Koenigserlaeuterungen Band 425) Hans-georg Schede, Heinrich Von Kleist-Erläuterungen Zu Heinrich Von Kleist, Das Erdbeben in Chili-Bange Verlag (2010) (1)

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Erläuterungen zu

Heinrich von Kleist

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von Hans-Georg Schede

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4. Auflage 2010ISBN 978-3-8044-1811-0© 2004 by C. Bange Verlag, 96142 HollfeldAlle Rechte vorbehalten!Titelabbildung: Heinrich von KleistDruck und Weiterverarbeitung: Tiskárna Akcent, Vimperk

Über den Autor dieser Erläuterung:

Hans-Georg Schede, geboren 1968, studierte in FreiburgNeuere Deutsche Literatur, Anglistik und Mediävistik undhat seither als Buchredakteur, Gymnasiallehrer und freierAutor gearbeitet.Promotion über den Gegenwartsautor Gert Hofmann (1999).Weitere Veröffentlichungen: Zahlreiche Bücher für Schuleund Studium (unter anderem zu Werken von Goethe, Schil-ler, Kleist, Büchner, Fontane, Thomas Mann, WilliamFaulkner, Harper Lee, Uwe Timm, Alfred Uhry und RoddyDoyle), mehrere Unterrichtsmodelle, eine Biographie überDie Brüder Grimm (2004, erweiterte Neuausgabe 2009) sowieder Band Heinrich von Kleist (2008) in der Reihe „rowohltsmonographien“ (rm 50696).

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich ge-schützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlichzugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichenEinwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: We-der das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solcheEinwilligung eingescannt oder gespeichert und in einNetzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranetsvon Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.

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Vorwort .................................................................. 4

1. Heinrich von Kleist: Leben und Werk ................. 61.1 Biografie ................................................................... 61.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund ............................... 171.3 Angaben und Erläuterungen zu

wesentlichen Werken ............................................... 23

2. Textanalyse und -interpretation .......................... 272.1 Entstehung und Quellen ........................................... 272.2 Inhaltsangabe ........................................................... 312.3 Aufbau ..................................................................... 382.4 Personenkonstellationen und Charakteristiken ......... 472.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen ................. 692.6 Stil und Sprache ....................................................... 752.7 Interpretationsansätze ............................................... 87

3. Themen und Aufgaben .......................................... 91

4. Rezeptionsgeschichte ............................................. 93

5. Materialien ............................................................. 97

Literatur ................................................................. 99

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Heinrich von Kleists Erzählung Das Erdbeben in Chili ist einliterarisches Werk von außergewöhnlicher Dichte. Das giltfür die Geschichte nicht weniger als für ihre Darstellung.Auf wenigen Seiten rollt unerbittlich eine Handlung ab, dievoll ist von dramatischen Höhepunkten, rührenden Momen-ten und unvorhersehbaren Wendungen des Schicksals: Einevon einer bigotten und heuchlerischen Gesellschaft zumTode verurteilte junge Frau entgeht der Hinrichtung; ihr ver-zweifelter Geliebter sieht in dem Moment, in dem er sei-nem Leben ein Ende setzen will, die ihn umgebenden Ge-fängnismauern brechen; eine Stadt geht unter; die junge Fraurettet ihr Kind aus den Flammen; die Liebenden finden sichwieder; unter dem Eindruck der Katastrophe scheint eineganze Gesellschaft innerlich geläutert; ein Gottesdienst wirdabgehalten, der im Tumult endet; die Liebenden und weite-re Personen, die sich in ihrer Begleitung befinden, werdenvon einer aufgehetzten Menge brutal ermordet.Dass eine solche Folge von unerhörten Ereignissen nicht un-glaubhaft, effekthascherisch und trivial wirkt, sondern denLeser bzw. die Leserin am Ende erschüttert über die Bestia-lität der Menschen und den Zustand der Welt zurücklässt,spricht für die innere Wahrhaftigkeit des Erzählten.Alle, auch die nur durch eine Bemerkung, durch wenigesprechende Details charakterisierten Figuren haben eine un-verwechselbare Kontur. Keine Passage ist überflüssig. Dereigentümliche Sprachstil bringt die geschilderten Ereignisseeindrucksvoll zur Geltung.Die Erzählung vom Erdbeben in Chili wirft eine Vielzahl drän-gender Fragen auf, auf die es keine eindeutige Antwort gibt.

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Wer den Text einmal genau studiert hat, vergisst ihn nichtwieder.Zu solch einem genauen Studium des Textes, seiner Voraus-setzungen und seiner Nachwirkungen bietet der vorliegendeBand Gelegenheit und Unterstützung.

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Jahr Ort Ereignis Alter

10–11

14–15

15–16

1777 Frankfurt 18. Oktober: Geburt vona. d. Oder Bernd Heinrich Wilhelm von

Kleist als ältestem Sohn desStabskapitäns Joachim Fried-rich von Kleist und dessenzweiter Frau Juliane Ulrike,geb. von Pannwitz. Kleist hatsechs Geschwister, darunterdie beiden HalbschwesternWilhelmine und Ulrike ausder ersten Ehe des Vaters,von denen Ulrike ihm späterbesonders eng verbunden ist.

1788 Frankfurt Juni: Tod des Vaters.a. d. OderBerlin Kleist wird nach Berlin in

eine Privatschule gegeben.1792 Potsdam Konfirmation. Eintritt als Ge-

freiterkorporal ins Garderegi-Frankfurt ment. Den Winter über ista. d. Oder Kleist auf Urlaub bei der Fa-

milie.1793 Frankfurt Februar: Tod der Mutter.

a. d. OderMainz Kleist nimmt an der Belage-

rung der Stadt Mainz teil (ers-

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ter Koalitionskrieg gegenFrankreich). Er liest WerkeChristoph Martin Wielandsund schreibt sein erstes Ge-dicht Der höhere Frieden.

1794– Potsdam Kleists Regiment ist in weite-1797 (ab 1795) re Kämpfe verwickelt und

kehrt dann in die PotsdamerGarnison zurück. Kleist wirdschrittweise militärisch beför-dert.

1798 Potsdam Kleist widmet sich verstärktseinen geistigen und musi-schen (Klarinette) Interessen.Aufsatz, den sichern Weg desGlücks zu finden (1798 entstan-den, 1799 erschienen).

1799 Potsdam Abschied vom Militär. Be-Frankfurt ginn eines juristischen Studi-a. d. Oder ums an der Universität seiner

Heimatstadt. Daneben natur-wissenschaftliche Studien.

1800 Frankfurt Verlobung mit Wilhelminea. d. Oder von Zenge, einer Tochter des

Frankfurter Garnisonschefs.Im Sommer Abbruch des Stu-

Berlin diums. Aufenthalt in Berlin.Würzburg September und Oktober: Rei-

se nach Würzburg, derenZweck bis heute nicht aufge-klärt ist (Industriespionage?

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Jahr Ort Ereignis Alter

16–20

20–21

21–22

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Beseitigung einer Vorhautver-engung?).

Berlin Zurück in Berlin nimmtKleist als Vorbereitung aufden Zivildienst an den Sitzun-gen der Technischen Deputa-tion teil. Gleichzeitig bereiteter sich auf eine Existenz alsSchriftsteller vor. Er legt ein„Ideenmagazin“ an.

1801 Berlin Anfang des Jahres: existenziel-le Krise, ausgelöst durch phi-losophische Studien („Kant-Krise“). Sein Anspruch, zurWahrheit durchzudringen, er-scheint ihm nun als illusio-när.Entschluss, mit der Halb-schwester Ulrike für ein Jahrnach Frankreich zu gehen.Unterwegs Aufenthalt in

Dresden Dresden. Dort und in ParisParis (Juli bis November) wendet

sich Kleist endgültig von derWissenschaft ab und derKunst zu. Ohne Ulrike reistKleist weiter in die Schweizund trifft Ende des Jahres in

Bern Bern ein.

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Jahr Ort Ereignis Alter

23–24

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1802 Thuner See Kleist unternimmt einen Ver-such, am Thuner See als Land-wirt zu leben. Er schreibtsein erstes Drama (Die FamilieSchroffenstein), arbeitet andem Drama Robert Guiskard(Fragment) und entwickeltden Plan zum Lustspiel Derzerbrochne Krug.Im Mai Auflösung der Verlo-bung mit Wilhelmine vonZenge.

Bern Aufgrund von Krankheit, po-litischen Unruhen und per-sönlicher Isolation will Kleistdie Schweiz verlassen. Ulrikeholt ihn ab. Gemeinsame Rei-se mit Ludwig Wieland, demSohn des berühmten Schrift-stellers, nach Weimar. Kleist

Oßmannstedt verbringt den Rest des Jahresbei Weimar bei Wieland.

1803 Oßmannstedt Wieland bestärkt Kleist in sei-nen schriftstellerischen Ambi-tionen.

Bern Die Familie Schroffenstein er-scheint anonym in derSchweiz.

Dresden Von April bis Mitte Juli istKleist wieder in Dresden.

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Jahr Ort Ereignis Alter24–25

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Dresden Dort beginnt er mit der Ar-beit am Drama Amphitryonund schreibt weiter am Zer-brochnen Krug und an RobertGuiskard. Anschließend brichter zu einer weiteren längeren

Schweiz, Auslandsreise auf (Schweiz,Italien, Italien und Frankreich). InFrankreich Paris verbrennt er das Manu-Paris skript des Robert Guiskard. Er

hält sich als Dichter für ge-scheitert und fasst den Plan,an einer militärischen Opera-tion Napoleons gegen Englandteilzunehmen und dabei denTod zu suchen. Die preußi-schen Behörden beordern ihnzurück in die Heimat. Auf derRückreise bricht Kleist in

Mainz Mainz gesundheitlich zusam-men. Mehrmonatiger Aufent-halt im Haus des Arztes undSchriftstellers Georg Wede-kind.

1804 Mainz Anfang Juni: Rückkehr nachBerlin Berlin. Dort eröffnet sich die

Möglichkeit einer Anstellungals preußischer Finanzbeam-ter.

1805 Berlin Arbeit im Berliner Finanzde-Königsberg partement und ab Mai Auf-

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Jahr Ort Ereignis Alter

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27–28

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enthalt in Königsberg zur wei-teren Ausbildung. Dort Wie-dersehen mit Wilhelmine vonZenge, die seit 1803 mit demPhilosophieprofessor WilhelmTraugott Krug verheiratet ist.Ulrike von Kleist zieht zu ih-rem Bruder und bleibt bisFrühjahr 1806.

1806 Königsberg Im August erhält Kleist auf ei-genen Antrag einen sechsmo-natigen Urlaub (wegen Ner-venschwäche und Verstop-fung). Er beendet den Zer-brochnen Krug und arbeitet amDrama Penthesilea. Im Okto-ber wird Preußen in der Dop-pelschlacht von Jena und Au-erstedt von Napoleon vernich-tend geschlagen. Der Hofflieht nach Königsberg.

1807 Berlin Januar: Reise in Begleitungverabschiedeter Offiziere nach

Joux bei Berlin. Die Reisenden werdenPontarlier dort als vermeintliche SpioneChâlons sur verhaftet und in FrankreichMarne inhaftiert.Dresden Adam Müller veröffentlicht

in Dresden den Amphitryon.Ein Lustspiel nach Molière.

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Jahr Ort Ereignis Alter

28–29

29–30

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Mitte Juli, nach dem Friedenvon Tilsit, kommt Kleist frei.In der Folgezeit lebt er als

Dresden freier Schriftsteller in Dres-den. Mit Adam Müller ver-sucht Kleist, eine Buchhand-lung und einen Verlagaufzumachen. Das Unterneh-men scheitert jedoch am Ein-spruch der ortsansässigenKonkurrenz.Im September erscheint dieErzählung Jeronimo und Jose-phe (späterer Titel: Das Erd-beben in Chili) in Cottas Mor-genblatt für gebildete Stände.Die Penthesilea wird fertig.Gegen Ende des Jahres berei-ten Kleist und Müller die He-rausgabe einer MonatsschriftPhöbus. Ein Journal für dieKunst vor.

1808 Dresden Ab Januar erscheinen im Phö-bus eine Reihe von WerkenKleists: ein Fragment aus Pen-thesilea, die Erzählung DieMarquise von O..., Fragmenteaus dem Zerbrochnen Krug, ausRobert Guiskard, dem neu ent-standenen Käthchen von Heil-

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Jahr Ort Ereignis Alter

30–31

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bronn und der langen Erzäh-lung Michael Kohlhaas.

Weimar Die Uraufführung des Zerbroch-nen Krugs in Weimar unterder Leitung Goethes wird zueinem Misserfolg.Kleist lernt den berühmtenromantischen Dichter LudwigTieck kennen, der nach KleistsTod als Erster dessen Werkeherausgeben wird.Auf die Nachricht antinapole-onischer Aufstände hin be-ginnt Kleist, das Drama DieHermannsschlacht auszuarbei-ten.Penthesilea erscheint als Buch.

1809 Dresden Januar: Kleist stellt das Dra-ma Hermannsschlacht fertig.Februar: Der Phöbus wirdaufgrund finanzieller Schwie-rigkeiten eingestellt.In der ersten Hälfte des Jah-res entstehen patriotische Ge-dichte und Prosa. Österreicherklärt Frankreich den Kriegund marschiert in Bayern ein.Die Franzosen ziehen sich ausDresden zurück. Kleist brichtmit dem Historiker Dahl-

Österreich mann nach Österreich auf

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Jahr Ort Ereignis Alter

31–32

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und liefert Geheimberichtevom Kriegsgeschehen. AbEnde Mai halten sich Kleistund Dahlmann für längere

Prag Zeit in Prag auf, wo Kleist einpatriotisches Wochenblatt Ger-mania herausgeben will. Dadie Franzosen im Sommer mi-litärisch wieder die Oberhandgewinnen, scheitert der Plan.

Berlin Ende November Rückkehrüber Frankfurt a. d. Odernach Berlin.

1810 Wien März: Uraufführung des Käth-chens von Heilbronn im Thea-ter an der Wien.

Berlin Ende September erscheinenim Verlag von Georg ReimerDas Käthchen von Heilbronnund der erste Band Erzählun-gen, der Das Erdbeben in Chilienthält.Ab Oktober: Herausgabe dertäglich außer sonntags erschei-nenden Berliner Abendblätter,in denen Kleist auch eine Rei-he eigener kleinerer Arbeitenveröffentlicht (Anekdoten,kürzere Erzählungen und Auf-sätze, z. B. Über das Marionet-tentheater).

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Jahr Ort Ereignis Alter

32–33

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1811 Berlin Februar: Buchausgabe desZerbrochnen Krugs.Ende März: Letzte Ausgabeder Berliner Abendblätter nachzahlreichen Auseinanderset-zungen mit der preußischenRegierung.Kleist wendet sich an denStaatskanzler Hardenberg undspäter an den Prinzen Wil-helm von Preußen mit derBitte, ihm die Redaktion desKurmärkischen Amtsblattesoder eine Anstellung im kö-niglichen Zivildienst zu ver-schaffen oder ihm, als Ent-schädigung für den „durchdas Aufhören der Abendblät-ter“ erlittenen Verlust, einWartegeld zu zahlen (an denPrinzen Wilhelm, 20. 5.). Mit-te Juni teilt er auch dem Kö-nig sein Anliegen schriftlichmit.Freunde und Verwandte ver-lassen Berlin. Kleist klagtüber Einsamkeit. Im Julischreibt er dem Verleger Rei-mer, dass er an einem zwei-bändigen Roman arbeite.

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Jahr Ort Ereignis Alter33–34

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Im August erscheint bei Rei-mer der zweite Band Erzählun-gen.Am 11. September bittetKleist den König in einer län-geren Audienz, ihn wiederbeim Militär einzustellen,was ihm für den Kriegsfallunverbindlich in Aussicht ge-stellt wird.Im Herbst macht Kleist dieBekanntschaft der gleichaltri-gen, verheirateten und krebs-kranken Henriette Vogel. Siemöchte gemeinsam mit ihmsterben. Am Nachmittag des

Wannsee 21. November erschießt Kleistam Kleinen Wannsee bei Ber-lin zuerst Henriette Vogel unddann sich selbst.

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Kleists Idee, ein Erdbeben zum Gegenstand einer Erzählungzu machen, hängt vermutlich mit einem zeitgeschichtlichenEreignis zusammen, das die Menschen in ganz Europa Mittedes 18. Jahrhunderts nachhaltig erschütterte: dem Erdbebenvon Lissabon, das die Stadt am 1. November 1755 zu großenTeilen zerstörte und das in seinenAusläufern bis Nordeuropa spürbarwar. Die Naturkatastrophe löste eine brisante philosophischeDebatte über Gottes Wirken in der Welt aus, in der sichneben Immanuel Kant vor allem die beiden großen französi-schen Philosophen Voltaire und Jean Jacques Rousseau zuWort meldeten.Die Fragestellungen dieser für die Geschichte des europäi-schen Denkens und der europäischen Religiosität bedeutsa-men Debatte spielen auch in Kleists Selbstzeugnissen einewesentliche Rolle und bilden den Problemhorizont seiner Er-zählung.Kurz gefasst ging es um die Frage der Theodizee, das heißtum das Problem, wie man das Übel in der Welt, das nichtnur Schuldige straft, sondern auch Unschuldige trifft, mitder Vorsehung Gottes in Einklang bringen kann, ohne anGott zu verzweifeln. Den Begriff der Theodizee hatte zu An-fang des Jahrhunderts der deutsche Philosoph Gottfried Wil-helm Leibniz (1646–1716) geprägt. Er entwickelte ein philo-sophisches System, dessen Kern die Beweisführungausmachte, dass die bestehende Welt die beste aller mögli-chen Welten sei. Modern an dieser Auffassung war, dassGott von Leibniz nicht mehr als Person gedacht wurde, diebehütend oder strafend in das Leben der einzelnen Menscheneingreift. Gott steht vielmehr mit seiner Existenz für die im

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Ganzen harmonische Ordnung des Universums, innerhalbderer sich das Leid des Einzelnen relativiert.Nach dem Erdbeben in Lissabon beschränkten sich deutschePhilosophen im Wesentlichen darauf, in recht akademischerWeise die Folgen der Katastrophe für das System von Leib-

niz zu erörtern. Auch Kant betonte inseiner noch 1755 erschienenen Schrift

über das Erdbeben, er wolle nur „die Arbeit der Natur“ be-schreiben, wandte sich aber immerhin doch gegen die Nei-gung der Menschen, „dergleichen Schicksale jederzeit alsverhängte Strafgerichte“ Gottes anzusehen. Er nannte dieseinen „sträfliche[n] Vorwitz“ und zog die allgemeine Lehre,solche Katastrophen machten deutlich, dass „die Güter derErden“, die die Erde von einem Moment auf den anderenverschlingen kann, „unserm Triebe zur Glückseligkeit keineGenugthuung verschaffen können!“1

Ganz anders, emotional aufgewühlt, fiel die Reaktion Voltai-res aus. Das Erdbeben erschien ihm als Widerlegung desphilosophischen Optimismus Leibniz’scher Prägung. Sein pa-thetisches Gedicht über die Katastrophe von Lissabon mit demUntertitel „Untersuchung des Axioms ‚Alles ist gut’“ wandtesich direkt an die Vertreter des Optimismus und warf ihnenvor, blind für die Schrecknisse des wirklichen Lebens einerealitätsferne Lehre mit Spitzfindigkeiten verteidigen zu wol-len. Das Gedicht, das die Leiden der vom Erdbeben betrof-fenen Menschen drastisch vor Augen führt, erschien Anfang1756 und fand sogleich in ganz Europa stürmische Verbrei-tung.

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Voltaire fordert: „Man muss es beken-nen: Das Übel ist in der Welt“; stelltfest: „Seinen verborgenen Ursprung können wir nicht erfor-schen“; und fragt: „Sollte das Übel vom Schöpfer alles Gutengekommen sein?“2 Die Konsequenz, Gottes Existenz, die hierwieder sehr traditionell personal gedacht ist, zu bestreiten,zieht Voltaire jedoch nicht. Dieser letzte radikale Schritt hi-naus in einen metaphysisch leeren Raum bleibt hundert Jahrespäter Friedrich Nietzsche vorbehalten. Voltaire hält noch amGlauben an Gott fest und kann daher lediglich die harmonis-tische Erklärung der Katastrophe attackieren, ohne ihr eineeigene Deutung entgegensetzen zu können.Dieser Schwachpunkt von Voltaires Gedicht veranlasste JeanJacques Rousseau, Voltaire im August1756 einen langen Brief zu schreiben,der 1764 auch in einer Ausgabe seiner Werke gedruckt und1779 ins Deutsche übersetzt wurde. Alle Argumente Voltai-res, schreibt Rousseau, bezögen sich letztlich „auf die Fragevon dem Daseyn Gottes“3. Wenn Gott existiere, so sei ervollkommen und alle weiteren Fragen erübrigten sich, auchwenn es dem Einzelnen nicht begreiflich ist, wie GottesExistenz mit der Verfassung der Welt vereinbar ist. DiesesDilemma, das sich aus dem Festhalten des Glaubens an Gottergibt, drückt Kleist 50 Jahre später in einem Brieffolgendermaßen aus: „Es kann kein böser Geist sein, der ander Spitze der Welt steht: Es ist bloß ein unbegriffener!“4

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Diese Äußerung stammt aus dem August 1806, als Kleistwahrscheinlich an der Erdbeben-Erzählung arbeitete, die mitihren aberwitzigen Umschwüngen des Glücks eindringlichdie Frage nach dem Sinn, nach der göttlichen Ordnung hin-ter den bestürzenden Ereignissen aufwirft.Auf Rousseaus Kritik reagierte Voltaire mit seinem 1758 veröf-

fentlichten Roman Candide oder der Op-timismus, einer beißenden Satire auf

die harmonistische Philosophie, in der der Held Candide mitseinem philosophischen Lehrer Pangloss, einer Karikatur vonLeibniz, auch in das Erdbeben von Lissabon gerät. Dieses über-stehen sie glücklich, werden dann aber verhaftet, weil die Ge-lehrten des Landes befinden, „dass das Schauspiel einiger feier-lichst auf langsamem Feuer verbrannter Menschen einunfehlbares Mittel sei, die Erde am Beben zu verhindern.“5

Ähnlich wie in Kleists Erzählung wird demnach in der Erd-beben-Episode in Candide ein natürliches Übel von den ge-sellschaftlichen Autoritäten als Symptom eines moralischenÜbels gedeutet, das durch die Bestrafung von Sündenböckenbeseitigt werden soll. Aufsätze von Kleist (der Aufsatz, densichern Weg des Glücks zu finden von 1799 und die Abhand-lung Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Redenvon 1805/06) belegen, dass ihn die Unterscheidung zwischennatürlichem und moralischem Übel („mal physique“ und„mal moral“), die im 18. Jahrhundert philosophisch lebhaftdiskutiert wurde, beschäftigte. Das Erdbeben in Chili handeltwesentlich auch von der Verquickung beider Formen desÜbels: Wie das moralische Übel aus dem natürlichen Übelerwächst bzw. das natürliche Übel in ein moralisches umge-deutet wird.

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Als Kleist seine Erzählung verfasste, lag das Erdbeben vonLissabon genau fünfzig Jahre, zwei Generationen, zurück.Zahlreiche Darstellungen, die in der Zwischenzeit erschie-nen waren, hielten jedoch die Erinnerung an das große Be-ben wach. Aktuell und ungelöst waren zudem die Fragengeblieben, die sich mit diesem Ereignis verbanden.Weniger weit zurück lag ein weiteres Epoche machendes Er-eignis, das in den Folgejahren ganzunmittelbar in das Leben der meis-ten Menschen in Europa eingriff: die Französische Revoluti-on von 1789 mit den sich anschließenden europäischen Krie-gen. Sie entfaltete die Macht einer Naturkatastrophe und istvon den Zeitgenossen auch immer wieder metaphorisch alseine solche beschrieben worden. Der anfängliche Traum vonFreiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurde jedoch balddurch die Grausamkeiten der Revolutionsjahre, die Erobe-rungsfeldzüge des Kaiserreichs unter Napoleon undschließlich nach 1815 (nach Kleists Tod) durch die Restaura-tion korrumpiert. Diese geschichtlichen Abläufe lassen sichin Parallele zu Kleists Erzählung setzen. Entsprechend hatetwa Helmut J. Schneider „Revolution [...], utopische Illusi-on und politische Enttäuschung“ als „die drei Stufen einerzeitgeschichtlich-allegorischen Lektüre des Erdbeben“ ausge-macht.6 Eine solche Deutung geht allerdings nur in grobenZügen auf und darf daher nicht zu sehr strapaziert werden.Kleist sympathisierte nicht mit der Französischen Revolutionund ihren Folgen. Als Jugendlicher hatte er bei der Belage-rung von Mainz am Kampf gegen das revolutionäre Frank-reich teilgenommen. Als er später Paris besuchte, urteilte ernegativ über die Stadt und die Franzosen. In seinen letzten

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Lebensjahren beteiligte er sich aktiv an publizistischen undgeheimen Vorbereitungen der Befreiungskämpfe gegenFrankreich.Insgesamt lässt sich feststellen, dass Kleist sich im Erdbebenin Chili mit zentralen Fragen der religionsphilosophischenDiskussion des ausgehenden 18. Jahrhunderts auseinandersetzt; und dass die Novelle ferner in Ansätzen als Kommen-tar Kleists zur napoleonischen Epoche, die zu seinen Lebzei-ten noch andauerte, verstanden werden kann.

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Kleists dichterisches Werk besteht aus acht Dramen (darunterein Fragment gebliebenes Stück) sowieacht sehr unterschiedlich langen Er-zählungen. Einen „der größten, kühnsten, höchstgreifendenDichter deutscher Sprache“ hat Thomas Mann ihn genannt, ei-nen „Dramatiker sondergleichen, – überhaupt sondergleichen,auch als Prosaist, als Erzähler, – völlig einmalig, aus aller Her-gebrachtheit und Ordnung fallend, radikal in der Hingabe anseine exzentrischen Stoffe bis zur Tollheit, bis zur Hysterie“7.Diese für die Zeitgenossen oft befremdliche Exzentrizität undRadikalität waren es, die beispielweise Goethe veranlassten,Kleist gegenüber Distanz zu halten.Kleist, der mehrmals Anläufe genommen hat, eine literari-sche Gruppierung zu organisieren (vor allem mit der He-rausgabe der Zeitschrift Phöbus, später dann mit den BerlinerAbendblättern), steht mit seiner dichterischen Produktion in-nerhalb der literarischen Landschaft des angehenden19. Jahrhunderts allein. In seinen Werken spiegelt sich dasAußenseitertum, das auch sein Lebenbestimmte. Ein preußischer Adliger,der kein ererbtes Landgut bewirtschaftete, konnte zu KleistsZeit zwischen drei Laufbahnen wählen: dem Militärdienst,dem Zivildienst als Beamter oder der Gelehrtenexistenz. Aufall diese Karrieren hat Kleist sich zeitweise vorbereitet, umnacheinander jede von ihnen als für sich unpassend wiederaufzugeben. Kleists ruheloses Leben lässt sich als eine Folge

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von scheiternden Lebensentwürfen beschreiben. Das darausresultierende Gefühl, dass einem jederzeit der Boden unterden Füßen weggezogen werden kann (bzw. die Erfahrung,sich diesen Boden selbst immer wieder zu entziehen), istauch für Kleists Figuren kennzeichnend.Diese Figuren werden nach einhelliger Auffassung derKleist-Forschung „immer erst in der Re-Aktion auf ein unge-wöhnliches Geschehen ‚sie selbst’“, wie Klaus Müller-Salgetes formuliert hat.8 Diese These verdeutlicht Müller-Salgetan den beiden Erzählungen, die Kleist gemeinsam mit demErdbeben in Chili als ersten Band seiner Erzählungen heraus-brachte: Michael Kohlhaas, den sein Rechtsgefühl zum Räu-ber und Mörder werden lässt, durchläuft diese Entwicklung„erst infolge des Unrechts, das ihm widerfährt; die Marqui-se von O... wird erst durch das unbegreifliche Faktum derSchwangerschaft und die grausame Reaktion des Vaters ‚mitsich selbst bekannt gemacht‘“, wie es in der Erzählungheißt. Der Grund für ein solches Erzählen liege „in Kleistsaus der so genannten ‚Kant-Krise’ resultierender Auffassung,dem Menschen sei aufgegeben, sich in einer undurchschau-baren, von unvorhergesehenen Zufällen beherrschten Weltzu behaupten, in der Konfrontation mit dem Unbegreiflichenseine Substanz zu erweisen.“9

Diese Konfrontation mit dem Unbe-greiflichen, die buchstäbliche Erfah-rung, dass einem der Boden unter

den Füßen schwindet, beherrscht in besonderer Weise auchKleists Erdbeben in Chili. Das dort geschilderte Erdbeben stellteine der für Kleists Schaffen typischen Extremsituationendar, in denen der Einzelne seine Substanz erweisen muss.

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Kleists Dichtung bringt ferner zum Ausdruck, dass derMensch sich in einer von unvorhersehbaren Wendungen desSchicksals bestimmten Welt nur dann behaupten kann,wenn er anderen Menschen vertrauen kann. Die Ereignisseund Menschen sprechen eine so vieldeutige Sprache, dassOrientierung und damit richtiges Handeln nur auf der Basiseines solchen Vertrauens möglich erscheinen. Wo Vertrauenfehlt – beispielsweise, und zwar auf ganzer Linie, in Kleistsdramatischem Erstlingswerk Die Familie Schroffenstein, einerVariation des Romeo und Julia-Stoffs; aber etwa auch in derErzählung Die Verlobung in St. Domingo – führt das unweiger-lich in die Katastrophe. Dagegen wird Don Fernando im Erd-beben in Chili dem Vertrauen, das ihm die Liebenden Josepheund Jeronimo entgegenbringen, gerecht. Zwar kann er diefürchterlichen Morde an ihnen wie auch an seiner Schwäge-rin und seinem Sohn nicht verhindern; indem er aber denverwaisten Philipp als seinen Sohn annimmt, setzt er einhoffnungsvolles Zeichen für eine menschlichere Zukunft.Dass in einer Welt, in der alle Handlungen vieldeutig er-scheinen, Gerichtsurteile, die zwangsläufig Eindeutigkeitherstellen, fragwürdig sein müssen, ist ein weiteres Thema,das mehrfach von Kleist behandelt wird. Es verbindet dasErdbeben in Chili mit Michael Kohlhaas und der Erzählung überein mittelalterliches Gottesurteil Der Zweikampf, spielt aberbeispielsweise auch im Drama Prinz Friedrich von Homburgund, in heiterer Form, im Lustspiel Der zerbrochne Krug eineRolle.Auch Träume, Bewusstlosigkeiten, somnambule Zuständesind wiederkehrende Elemente von Kleists Dichtungen. Siehaben mit Kleists tiefem Interesse fürdie menschliche Psyche, für die Ar-beit des Unterbewusstseins zu tun, das wiederum mit der

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Erfahrung zusammenhängt, dass menschliches Verhaltenkompliziert motiviert und schwer zu ergründen ist. DasKäthchen von Heilbronn und der Prinz Friedrich von Hom-burg (in den Dramen gleichen Titels) stehen unter besonde-rem Einfluss ihres Unterbewusstseins. Aber auch Jeronimosinkt im Erdbeben nach seiner Flucht aus der Stadt für eineViertelstunde ohnmächtig nieder. In die Nähe eines Traumswird ferner die idyllische Nacht gerückt, die die Liebendennach ihrer Rettung gemeinsam verbringen, sowie der ersteTeil des folgenden Tages, in dem die schlechte gesellschaft-liche Wirklichkeit auf kurze Dauer durch eine ideale Men-schengemeinschaft ersetzt zu sein scheint. Diese Hoffnungerweist sich jedoch als trügerisch. Träume geraten bei Kleistimmer wieder in Konflikt mit der Realität.Ein in der Literatur weit verbreitetes Motiv, das bei Kleist

jedoch eine besondere Bedeutung be-kommt, ist schließlich das der verbo-

tenen oder normwidrigen Liebe. Solche Liebesbeziehungenstehen im Zentrum der Familie Schroffenstein, der Penthesilea,des Käthchens von Heilbronn, der Marquise von O..., der Verlo-bung in St. Domingo wie auch des Zweikampfs. Eine verbote-ne Liebe steht ebenfalls am Anfang des Erdbebens in Chili.Der Anspruch der Menschen auf persönliches Glück stößt insolchen Konstellationen mit den Forderungen der Gesell-schaft zusammen, die Kleist als dem Einzelnen gegenüberfeindlich erlebte und entsprechend in seinen Werken dar-stellte.

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Heinrich von Kleists Leben bleibt in vielen Phasen für dieNachwelt im Dunkeln. Kleist war, so der Germanist Her-mann Kurzke in seiner Besprechung einer Neuausgabe derKleist-Briefe aus dem Jahre 1998, „zu Lebzeiten mehr be-rüchtigt als berühmt“10. Seine Briefe, die „häufig etwas Pein-liches, Maßloses, etwas Unangenehmes und Ungestümes ge-habt haben“ müssen, seien „heißeWare“ gewesen, die man gleich ver-nichtet oder zumindest streng sortiert und zensiert habe.11

Rund 230 Kleist-Briefe sind überliefert. Man schätzt, dassKleist zwanzig Mal so viele Briefe geschrieben hat. Aus demJahr 1806, in dem vermutlich Das Erdbeben in Chili entstan-den ist, haben sich ganze neun Briefe erhalten. Die Erzäh-lung ist in keinem dieser Briefe erwähnt. Auch die anderenDokumente zu Kleists Leben während dieser Zeit bieten kei-nen unmittelbaren Aufschluss.Gesichertes lässt sich demzufolge über die Entstehung derErzählung nicht mitteilen. Gewiss ist nur, dass ein langjäh-riger Freund Kleists, der spätere preußische Generalstabs-chef Otto August Rühle von Lilienstern, die Erzählung inder ersten Hälfte des Jahres 1807 dem Tübinger VerlegerJohann Friedrich Cotta anbot. Kleist war zu der Zeit als ver-meintlicher Spion in Frankreich inhaftiert und befand sich,da er dort während der ersten Zeit für seinen Lebensunter-halt selbst aufkommen musste, in materieller Not. Kleist

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und Rühle hatten zuletzt im Oktober 1806 Kontakt gehabt.Daraus lässt sich folgern, dass die Erzählung vor dem Okto-ber 1806 entstanden sein muss.Cotta nahm die Erzählung an und druckte sie unter demTitel Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben zu Chi-

li, vom Jahr 1647 in seinem Morgen-blatt für gebildete Stände (Nr. 217–221,

10. bis 15. September 1807). Dieser Titel stammte vom Au-tor selbst, wie Kleists Brief an Cotta vom 17. September 1807zeigt, in dem er den Verleger bittet, ihm das Manuskriptseiner Erzählung Jeronimo und Josephe, sofern diese nochnicht erschienen sei, zurückzuschicken, da er „auf andereArt“ darüber verfügen wolle. Kleist bereitete damals inDresden mit Adam Müller die Herausgabe einer eigenenMonatsschrift (Phöbus. Ein Journal für die Kunst) vor, in der erab 1808 eine Reihe eigener Werke veröffentlichte.Im September 1810 erfolgte noch zu Kleists Lebzeiten im

Verlag von Georg Reimer in Berlindie erste Buchausgabe der Erzählung,

die nun den endgültigen Titel erhielt. Zusammen mit denErzählungen Michael Kohlhaas (Aus einer alten Chronik) undDie Marquise von O... bildete Das Erdbeben in Chili den BandErzählungen. Von Heinrich von Kleist. Kleist hatte als Titel Mo-ralische Erzählungen von Heinrich von Kleist vorgeschlagen. Fürdie Buchfassung revidierte er den Text, änderte aber wenig.Offenbar hatte es Schwierigkeiten bereitet, die entsprechen-den Nummern von Cottas Morgenblatt aufzutreiben. Kleistbenutzte schließlich das Exemplar eines von der Forschungnicht weiter identifizierten Herrn Seydel, das er bereits nachwenigen Tagen zurückgeben konnte.Abgesehen von dem neuen Titel besteht die entscheidendeAbweichung der Buchfassung vom Erstdruck darin, dass

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jene nur noch drei Absätze enthält, während die Zeitschrif-tenfassung in 31 Absätze unterteilt ge-wesen war. Ob diese oder jene Text-gestalt den Absichten des Autors mehr entsprochen hat, istnachträglich nicht mehr zu entscheiden. Helmut Sembdner,einer der einflussreichsten Kleist-Forscher, hat die Meinungvertreten, dass die Textgestalt der Buchfassung auf den Ver-leger zurückgehe, der Platz habe sparen wollen, um nichtam Ende des Buches noch einen neuen halben Druckbogenanbrechen zu müssen. Klaus Müller-Salget hat dagegen da-rauf hingewiesen, „dass die Redaktion des zweispaltig ge-druckten Morgenblatts nachweislich dazu neigte, der besse-ren Übersicht halber die Texte in kleinere Abschnitteaufzuteilen.“12 Außerdem sei keine andere Erzählung Kleistsderart stark untergliedert. Tatsächlich ist das weitgehendeFehlen von Absätzen für Kleists Erzählstil charakteristisch.Zudem ist die Dreiteiligkeit auch im inhaltlichen Aufbaudes Textes deutlich angelegt.

Konkrete Hinweise auf Quellen, die Kleist für seine Erzäh-lung herangezogen hat, gibt es nicht.Auch hier ist man auf Vermutungenangewiesen. Fest steht immerhin,dass die Berichte über das Erdbeben in Santiago de Chile,die Kleist studiert haben könnte, sämtlich auf den Augen-zeugenbericht des Bischofs von Santiago, Gaspar de Villarro-el, zurückgehen. Die Schilderungen zeigen, dass Kleist sichnur teilweise an den überlieferten Fakten orientiert hat. Daswirkliche Erdbeben ereignete sich am 13. Mai 1647. Esbrach am späteren Abend aus. Die Einwohner flüchteten

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nicht aus der Stadt, sondern auf den größten Platz der Stadt,wo der Bischof im Morgengrauen eine lang andauernde Mes-se zu zelebrieren begann. In der darauf folgenden Nacht pre-digte der Bischof auf dem Friedhof der Kathedrale. Dabeiwandte er sich gegen die Deutung des Erdbebens als StrafeGottes. Viele Zuhörer fassten seine Worte jedoch im entge-gengesetzten Sinn auf.Über Santiago und die Umgebung der Stadt könnte sichKleist aus zeitgenössischen Reiseberichten informiert haben.Aber auch hier sind keine auffälligen Übereinstimmungenfestzustellen. Die allgemeine Gültigkeit der geschilderten Si-tuation scheint für Kleist Vorrang vor der historischen Treueund einem charakteristischen Lokalkolorit gehabt zu haben.Von größerer Bedeutung für die Gestaltung der Erzählungwird für Kleist die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-derts ausgetragene philosophische Diskussion um das Erdbe-ben von Lissabon (1755) gewesen sein. Diese Diskussion istin Abschnitt 1.2 über den zeitgeschichtlichen Hintergrund inGrundzügen dargestellt worden.

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Die Geschichte spielt in St. Jago (heute: Santiago), derHauptstadt der spanischen Kolonie Chile, im Jahre 1647. DieHandlung setzt in dem Moment ein, in dem das große, ge-schichtlich bezeugte Erdbeben, das weite Teile St. Jagos ver-wüstete, ausbricht.Zur gleichen Zeit versucht sich Jeronimo Rugera, ein jungerSpanier, in seiner Gefängniszelle zu erhängen. Zu diesem ver-zweifelten Entschluss ist er gekommen, nachdem er als Haus-lehrer bei einer der reichsten Familien der Stadt ein Verhält-nis mit Donna Josephe, der einzigen Tochter des Hauses,eingegangen war. Die Affäre fliegt auf und Josephe wird insKarmelitinnenkloster verbracht. Doch im dortigen Klostergar-ten gelingt es den Liebenden, einander bei Nacht nochmalszu sehen. Frucht dieser Begegnung ist ein Kind, dessen Ge-burt sich als öffentlicher Skandal vollzieht, denn die Wehender jungen Mutter setzen ausgerechnet während der Fron-leichnamsprozession auf den Stufen zur Kathedrale ein.Die wohlanständige Gesellschaft der Stadt fühlt sich durchdieses Ereignis so provoziert, dass Josephe unverzüglich inein Gefängnis gebracht und ihr, sobald sie das Wochenbettverlassen hat, unerbittlich der Prozess gemacht wird. Siewird vom geistlichen Gericht zum Feuertod verurteilt. DerVizekönig jedoch interveniert und verfügt die weniger qual-volle Hinrichtung durch Enthauptung.Auch Jeronimo ist inzwischen gefangen gesetzt worden. Sei-ne Versuche, die Geliebte und sich zu retten, scheitern.Verzweifelt fleht er die Jungfrau Maria um ihre Hilfe an.Als dennoch der Tag der öffentlichen Hinrichtung Josepheskommt, will auch er nicht länger leben.Da aber bricht das Erdbeben aus. Die Wände des Gefäng-

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nisses stürzen ein. Wie durch ein Wunder kann Jeronimoaus dem zusammenstürzenden Gebäude fliehen. Draußenwird er, obwohl selbst halb besinnungslos, des entsetzlichenAusmaßes der Zerstörung gewahr. Er findet einen Wegdurch die brennende und von Nachbeben erschütterte Stadt,erreicht ein Tor und kann sich auf einem Hügel vor derStadt in Sicherheit bringen, wo er vor Erschöpfung das Be-wusstsein verliert.Als er nach einer Viertelstunde aus der Bewusstlosigkeit er-wacht, wird er von einem unbeschreiblichen Glücksgefühldurchströmt, der großen Gefahr entronnen zu sein. Dannaber erinnert er sich an Josephe und ihr Schicksal und seinHochgefühl weicht tiefer Niedergeschlagenheit. Vergebensversucht er sie zu finden, erhält die falsche Auskunft, dasssie noch vor Ausbruch des Erdbebens enthauptet wordensei, und begreift daraufhin seine eigene instinktive Fluchtvor dem doch erwünschten Tod nicht mehr. Erneut machter sich auf die Suche und findet Josephe, als er die Hoffnungschon fast ganz aufgegeben hat, zusammen mit ihrem ge-meinsamen Kind in einem lieblichen Tal, das nur wenigeÜberlebende aufgesucht haben.Kurz vor Josephes Ankunft auf dem Richtplatz hatte das Erd-beben den Hinrichtungszug auseinander gesprengt, und dieplötzlich unbewachte Josephe ist zunächst in Richtung desnächstgelegenen Stadttors geflohen. Schnell aber besinnt siesich und eilt zu ihrem im Kloster in der Obhut der Äbtissinzurückgelassenen Kind, das sie aus dem brennenden Gebäu-de rettet, während die Äbtissin mit fast allen ihren Kloster-frauen von einem Giebel erschlagen wird. Auf ihrer an-schließenden Flucht kommt Josephe an den zerstörtenGebäuden derjenigen Institutionen und Menschen vorbei,die ihr Todesurteil zu verantworten haben (die Kathedrale,

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der Palast des Vizekönigs, der Gerichtshof, das Haus desVaters), aber auch an dem ehemaligen Gefängnis, unter des-sen Trümmern sie den Geliebten begraben vermuten muss.Doch sie bleibt hoffnungsvoll und behält Recht, indem siein dem etwas abseits gelegenen Tal auf Jeronimo trifft.Sie berichten einander von ihren Rettungen und Jeronimoliebkost seinen ihm bis dahin unbekannten Sohn. Währendder Nacht ziehen sich Jeronimo und Josephe mit ihrem Kindin ein dichteres Gebüsch des idyllischen Platzes zurück, ummit ihrem Glücksgefühl die in der Nähe lagernden Men-schen, denen die Naturkatastrophe nur Unglück gebrachthat, nicht zu kränken. Sie beschließen, nach Spanien zu Jero-nimos Familie mütterlicherseits zu gehen, um dort gemein-sam ungefährdet zu leben.Am andern Tag erwachen sie spät. In der Nähe lagerndeFamilien bereiten sich ein improvisiertes Frühstück. Da nä-hert sich ein junger Mann mit einem Kind auf dem Armund bittet Josephe, dem Kleinen die Brust zu reichen, dadessen Mutter sich verletzt habe. Verwirrt nimmt Josephewahr, dass es sich bei dem jungen Mann um einen Bekann-ten, Don Fernando Ormez, den Sohn des Stadtkommandan-ten, handelt. Natürlich entspricht sie seiner Bitte und wirdanschließend von dem dankbaren, liebenswürdigen DonFernando mit ihrem Kind und Jeronimo eingeladen, sich zudessen Familie zu gesellen. Außer Don Fernandos Frau undKind schließt die kleine Gesellschaft noch seinen Schwieger-vater und zwei Schwägerinnen mit ein. Die Freundlichkeit,mit der Josephe und Jeronimo von den Verwandten DonFernandos in deren Mitte aufgenommen werden, der An-blick der auf den Feldern lagernden Menschen, die alle ge-sellschaftlichen Schranken abgestreift zu haben und in ge-genseitiger Unterstützung eine Familie zu bilden scheinen,

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sowie die zahlreichen bewegenden Erzählungen von selbstlo-sen und heldenhaften Handlungen inmitten der allgemeinenNot des Vortags wecken sowohl in Jeronimo wie in Josephedie Hoffnung, dass man ihnen ihr Vergehen verzeihen undauch sie innerhalb der Notgemeinschaft der Überlebendenwieder willkommen heißen werde. Sie fassen den Plan, sichvon der Hafenstadt La Conception aus schriftlich mit derBitte um Vergebung an den Vizekönig zu wenden.Am Nachmittag verbreitet sich die Nachricht, dass in derDominikanerkirche, der einzigen noch erhaltenen Kirche derStadt, eine feierliche Messe gelesen werden solle, um weite-res Unheil von der Stadt abzuwenden. In Scharen strömendie Menschen zurück in die Stadt. Josephe will unbedingt ander Messe teilnehmen, um Gott für ihre wunderbare Erret-tung zu danken. Donna Elisabeth, Don Fernandos eineSchwägerin, die Josephe schon früher am Tag nachdenklichbetrachtet hat, gibt zu verstehen, dass sie bei der Idee keingutes Gefühl hat, schweigt aber, wohl aus Taktgefühl gegen-über Josephe und Jeronimo, über die Gründe ihrer Beden-ken. Don Fernandos Frau, Donna Elvire, fordert ihreSchwester daraufhin auf, bei ihr und dem kranken Vaterzurückzubleiben, während sich die anderen auf den Weg zurKirche machen. Don Fernando bietet Donna Josephe denArm, welche den kleinen Juan Ormez trägt, den sie am Mor-gen gestillt hat und der sich seither an sie drängt. Jeronimoführt die andere Schwägerin Don Fernandos, Donna Con-stanze, und trägt seinen Sohn Philipp.Als die vier Erwachsenen mit den beiden Babys aufbrechen,unternimmt Donna Elisabeth noch einen weiteren Versuch,die Gruppe vom Kirchgang abzuhalten, indem sie DonFernando ihre Befürchtungen ins Ohr flüstert. Dieser weistsie unwillig zurück.

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Sie erreichen die dicht mit Menschen gefüllte Kirche, alsdas Orgelvorspiel schon im Gange ist. Im Anschluss hälteiner der ältesten Chorherren der Kirche eine Predigt, diedas überstandene Erdbeben als bloßen Vorboten des Weltge-richts deutet, welches die sittliche Verderbnis, die in derStadt herrsche, notwendig zur Folge haben müsse. Dann gehter umständlich auf das Vergehen Jeronimos und Josephesein, nennt ihre Namen, verflucht sie und bezeichnet dieSchonung, die der weltliche Richtspruch Josephe zugestan-den habe, als gottlos.Die öffentlich Angeprangerten stehen starr vor Entsetzen.Don Fernando flüstert seiner Schwägerin geistesgegenwärtigzu, sie solle zum Schein in Ohnmacht fallen, woraufhin siezu viert mit den Kindern rasch die Kirche verlassen würden.Doch schon ist Josephe entdeckt, die Leute um sie herumweichen zurück und jemand aus der Menge zieht sie an denHaaren, sodass sie beinahe mit Don Fernandos Sohn zu Bo-den stürzt. Doch Don Fernando stützt sie und ruft, dass erder Sohn des Stadtkommandanten sei; aber niemand erkenntihn. Ein Schuhflicker, dem Donna Josephe früher Aufträgegegeben hat, fordert daraufhin frech von ihr, ihm den Vaterihres Kindes zu zeigen. Don Fernando, Josephe und der nochunbehelligte Jeronimo befinden sich in Verlegenheit. Jose-phe teilt dem Schuster in ihrer Angst mit, das Kind, das siein den Armen halte, sei gar nicht ihres, was ja der Wahrheitentspricht. Während die Umstehenden nach jemandem ru-fen, der in der Lage ist, Jeronimo zu identifizieren, versuchtsich der kleine Juan, durch den Tumult verstört, aus denArmen Josephes in die des Vaters, Don Fernandos, zu retten.Die Menge sieht das als Beweis an, dass dieser Jeronimo ist.Bevor sich die Meute an Don Fernando vergreifen kann, gibtsich jedoch Jeronimo als der Gesuchte zu erkennen.

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Ein in diesem Moment herbeieilender Marine-Offizier, derDon Fernando sofort mit seinem Namen anspricht, muss je-den Zweifel an dessen Identität beseitigen. Die Gefahrscheint überstanden und Don Fernando fordert den Offizierauf, die beiden von der Menge Bedrohten zu deren eigenemSchutz zu verhaften und den Anstifter des Aufruhrs, denSchuster Pedrillo, ebenfalls in Gewahrsam zu nehmen. Meis-ter Pedrillo jedoch bedrängt, geschützt durch die noch aufge-brachte Menge, den Offizier Don Alonzo Onoreja, zu sagen,ob es sich bei dem angegriffenen Mädchen um Donna Jose-phe Asteron handele oder nicht. Der Offizier, der Josephegut kennt, zögert mit der Antwort, woraufhin die Menge Jo-sephe als überführt betrachtet und erneut zu rasen beginnt.Josephe setzt nun ihren Sohn, den Jeronimo getragen hat,und Don Fernandos Sohn Juan auf dessen Arme, indem sieihn auffordert, die Kinder zu retten und sie und Jeronimoihrem Schicksal zu überlassen.Don Fernando nimmt beide Kinder entgegen, erwidert je-doch, eher sterben zu wollen, als seine Gesellschaft im Stichzu lassen. Er bittet Don Alonzo Onoreja, den Marine-Offi-zier, um seinen Degen, und schickt sich an, mit Donna Con-stanze, Josephe, Jeronimo und den Kindern die Kirche zuverlassen. Tatsächlich gelangen sie unbehelligt hinaus. Dortjedoch löst sich aus der erregten Menge, die über die Vor-gänge im Innern der Kirche bereits im Bilde ist, ein Mann,der sich als der Vater Jeronimo Rugeras zu erkennen gibtund der seinen Sohn mit einem Keulenschlag tötet. DonnaConstanze, an Jeronimos Seite, schreit erschrocken auf, wirdmit Josephe verwechselt und als Klostermetze beschimpftund ebenfalls mit einer Keule erschlagen. Beim Anblick derermordeten Schwägerin dringt Don Fernando mit seinemDegen auf die Menge ein. Donna Josephe, um dem Morden

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ein Ende zu machen, wirft sich dazwischen und stirbt unterder Keule des Schusters Pedrillo. Dieser, mit ihrem Blut be-spritzt, stachelt jedoch die Menge an, auch ihr Kind, ihrenBastard, zur Hölle zu schicken.Den Rücken durch die Kirchenmauer gedeckt, verteidigtDon Fernando die beiden Kinder, die er mit dem linkenArm hält. Sieben Angreifer hat er bereits tödlich verwundet,als es Pedrillo gelingt, ihm eines der Kinder zu entreißen. Erschwingt es hoch im Kreis und zerschmettert den kleinenKörper an der Ecke eines Kirchpfeilers. Auf diese monströseTat hin verstummt die Menge und zerstreut sich rasch. DonFernando betrachtet in namenlosem Schmerz den Leichnamseines eigenen Kindes.Don Alonzo, der Marine-Offizier, tritt hinzu und gesteht sei-ne Reue über sein unzureichendes Verhalten bei diesem Un-glück. Don Fernando verzichtet auf jeden Vorwurf und bittetihn lediglich, beim Transport der Leichname behilflich zusein. Sie bringen die Toten in Don Alonzos Wohnung, woDon Fernando übernachtet und auch anschließend nochbleibt, weil er sich sorgt, wie seine Frau die Nachricht vomTod ihres Sohns und ihrer Schwester und von seinem eige-nen Handeln aufnehmen wird. Donna Elvire erfährt jedochzufällig von den Ereignissen, und ihrer Liebe zu ihm kanndie Tragödie nichts anhaben. Sie nehmen Philipp als Pflege-sohn bei sich auf und Don Fernando liebt das Kind, das ersich unter so großem Verlust erkämpft hat, fast mehr alszuvor sein eigenes.

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Fragt man nach der Form und damit der Textgattung desErdbebens in Chili, so ist einerseits zu berücksichtigen, dassKleist diesen Text zusammen mit Michael Kohlhaas und derMarquise von O... in einem Band herausgebracht hat, dessenschlichter Titel Erzählungen die Gattungszugehörigkeithinlänglich und eindeutig zu klären scheint. Auf der ande-ren Seite war die Textsorte Erzählung zu Lebzeiten Kleists inihrem spezifischen Charakter nicht sehr scharf umrissen(und ist es im Grunde, trotz teilweise umfangreicher litera-

turwissenschaftlicher Klärungsversu-che, bis heute nicht); dies im Gegen-

satz zur Novelle, von deren Merkmalen bereits die Zeitge-nossen Kleists eine klare Vorstellung entwickelt hatten. Dazudem im Sprachgebrauch des frühen 19. Jahrhunderts dieBegriffe Novelle und Erzählung vielfach austauschbar verwen-det wurden, ist es sinnvoll, Kleists Das Erdbeben in Chilidaraufhin zu prüfen, ob es sich nicht in Wirklichkeit (oderzumindest auch) um eine Novelle handelt.Die in der einschlägigen Forschung etablierten Kennzeichen

der Novelle sind: ihr mäßiger Um-fang, ihre „straffe Handlungsführung,

formale Geschlossenheit und thematische Konzentration“13.Sie erzählt, der berühmten Definition Goethes zufolge, „einesich ereignete unerhörte Begebenheit“ (gegenüber Ecker-mann am 19. Januar 1827).Zu ergänzen ist ferner, dass die Novelle „einen gewissen An-spruch auf Wahrheit erhebt“ (Volker Meid) und in der Regeleinen „nahezu objektive[n] Berichtstil ohne Einmischung des

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Erzählers“ aufweist.14 Sie ist in ihrem Aufbau dem Dramaverwandt. Diese Verwandtschaft äußert sich in der beidenFormen gemeinsamen „geraffte[n] Exposition, konzentriertherausgebildete[n] Peripetie“ und einem Schluss, der „dieZukunft der Figuren mehr ahnungsvoll andeuten als gestal-ten kann“ (Gero von Wilpert).Schon August Wilhelm Schlegel hatin seiner Geschichte der romantischenLitteratur (1803–1804) die Novelle ineiner Weise charakterisiert, die verblüffend mit Kleists Er-zählweise übereinstimmt: „Um eine Novelle gut zu erzäh-len“, so Schlegel, müsse man, im Gegensatz zum Roman,

„das alltägliche, was in der Geschichte mit eintritt, so kurz alsmöglich abfertigen, [...] nur bey dem Außerordentlichen undEinzigen verweilen, aber auch dieses nicht motivirend zerglie-dern, sondern es eben positiv hinstellen, und Glauben dafürfodern. Das Unwahrscheinlichste darf dabei nicht vermiedenwerden, vielmehr ist es oft gerade das Wahrste, und also ganzan seiner Stelle.“15

Eine 1811 von Kleist verfasste Anekdote, die den Titel Un-wahrscheinliche Wahrhaftigkeiten trägt, zeigt, dass Kleist dieseVorstellung einer Verbindung zwischen dem Unwahrschein-lichsten und dem Wahrsten teilte.Auch die sittliche Gewagtheit und die oft krass geschilder-ten Gewaltexzesse in Kleists Erzählungen finden bei AugustWilhelm Schlegel sozusagen eine gattungstheoretische Be-gründung: „Aber warum, könnte man wieder einwenden,

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muss denn die Sittsamkeit so häufig verletzt, warum die gan-ze scandalöse Chronik ausgekramt werden? [...] Die Sacheverhält sich so. Die Novelle [erzähle] Begebenheiten, diegleichsam hinter dem Rücken der bürgerlichen Verfassun-gen und Anordnungen vorgefallen sind.“16 Wie die bürgerli-chen Institutionen auf solche Verletzungen ihrer Normen re-agieren, welche Schwächen und Leidenschaften sich dabeinicht nur bei denen, die die Normen verletzt haben, son-dern gerade auch bei denjenigen, die sie wieder in Kraftsetzen, offenbaren, davon bietet Das Erdbeben in Chili ein-drucksvolle Beispiele.Besonders interessant ist schließlich Schlegels Notiz, dass dieNovelle „ein analytischer Roman ohne Psychologie“17 sei,weil sie einer oft bemerkten Eigenart des Kleist’schen Er-zählens entspricht: der Tiefe seiner psychologischen Durch-dringung der geschilderten Verhältnisse, bei gleichzeitigemVerzicht darauf, die Handlungen seiner Figuren deutlich zumotivieren.Dass Das Erdbeben in Chili eine unerhörte Begebenheit schil-

dert, steht außer Frage. Es gibt sogar,genau genommen, zwei Ebenen uner-

hörter Begebenheiten: die Naturkatastrophe und die mensch-liche Katastrophe, die mit dem (in den Augen der Gesell-schaft noch in anderer Bedeutung „unerhörten“) Verhältniszwischen Jeronimo und Josephe mit all seinen aus dem Rah-men fallenden Begleitumständen beginnt (dem Beischlaf imKlostergarten, den während der Fronleichnamsprozession vorder Kathedrale einsetzenden Wehen) und mit ihrer Ermor-dung durch eine aufgehetzte blutrünstige Menge endet.Dem Anspruch auf Wahrheit ist durch die historische Ein-

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bettung der Handlung, ihre Verknüpfung mit einem ge-schichtlich bezeugten Ereignis entsprochen. Kürze und Straff-heit der Handlungsführung sind ebenfalls gegeben. Die the-matische Konzentration und Verwandtschaft mit dem Dramawird sich weiter unten bei der Untersuchung der räumli-chen und zeitlichen Verhältnisse erweisen. Mit der Objekti-vität des Erzählers hat es hingegen bei Kleist eine eigeneBewandtnis, auf die im Abschnitt über Stil und Sprache ein-gegangen wird.Zusammenfassend lässt sich bereits jetzt sagen, dass Das Erd-beben in Chili (wie auch die anderenErzählungen Kleists) zutreffend so-wohl als Erzählung (aufgrund der Kennzeichnung durch denAutor) wie auch als Novelle (aufgrund der formalen Merk-male) bezeichnet werden kann.Was den Aufbau des Textes angeht, so ist eine deutlicheDreiteilung auszumachen, die durchdie Gliederung der Erzählung in nurdrei Absätze in der ersten Buchausgabe vorgezeichnet ist(entsprechend der hier zugrunde gelegten Ausgabe: S. 49,Z. 2 bis S. 56, Z. 6; S. 56, Z. 7 bis S. 59, Z. 23 undschließlich S. 59, Z. 24 bis S. 66, Z. 5). Der Aufeinanderfolgedieser drei Abschnitte (von denen der erste und der dritteetwa gleich umfangreich sind, während der Mittelteil kürzerist) korrespondiert ein klarer räumlicher Wechsel: Der ersteTeil spielt überwiegend in der Stadt, der zweite schildertdas allgemeine Atemholen in der Natur vor der Stadt, wäh-rend die Handlung im dritten Teil in die Stadt, und dorthauptsächlich in die Dominikanerkirche, zurückverlagert ist.Das vermittelt den Eindruck eines Triptychons, eines drei-teiligen Altarbildes aus Mittelbild und zwei Seitenflügeln.Der Gegensatz von Stadt und Land, Kultur und Natur, ge-

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sellschaftlichen Institutionen und spontaner Gemeinschaft istzudem mit einer deutlichen Wertung verbunden: Die Stadtsteht für die schlechte Wirklichkeit, das Land bzw. die Na-tur für die Utopie idealer Verhältnisse.Die Dreiteilung der Erzählung ist von den Interpreten oft inAnalogie zu einem geschichtsphilosophischen Modell gesetzt

worden, das zu Lebzeiten Kleists un-ter den Intellektuellen große Verbrei-

tung fand: das dreistufige Schema von ursprünglichem para-diesischem Naturzustand, gegenwärtiger Entfremdung undAussicht auf Wiedergewinnung des Paradieses in der Zu-kunft. Jedoch soll diese Wiedergewinnung des Paradieses aufkeiner Regression ins Stadium verlorener Naivität beruhen,sondern soll vielmehr Resultat einer Entwicklung sein, inder „die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegan-gen ist“, wie es etwas unbestimmt am Ende von Kleists be-rühmtem Aufsatz Über das Marionettentheater heißt, der langeals Schlüssel zum Gesamtwerk interpretiert worden ist. Die-ses Modell betont, bei aller Kritik an der Gegenwart undaller berechtigten Skepsis, ob dieses Wunder der wiederge-wonnenen Unbefangenheit tatsächlich herbeizuführen ist,doch den Fortschritt auf ein Ideal zu. Im Erbeben in Chilijedoch steht das Ideal als Ausnahmezustand von kurzer Dau-er, der zudem mit vielen einschränkenden „als ob“-Formu-lierungen versehen ist, zwischen zwei drastischen Bildernder verderbten und brutalen gesellschaftlichen Verhältnisse.Das Modell wird hier gleichsam unter umgekehrten Vorzei-chen präsentiert, wodurch der Hoffnung auf eine bessere Zu-kunft weitgehend der Boden entzogen ist.Bei weiterer Untergliederung der Erzählung kann man über-

zeugend auch eine Einteilung in fünfErzählphasen vornehmen, die sich

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wiederum auf „das klassische Fünferschema der dramati-schen Handlung“ beziehen lassen, „und zwar so, dass sichder zweite ‚Akt’ im ersten Hauptteil und der vierte ‚Akt’ imdritten Hauptteil entschieden abheben.“18 So bestätigt sich,bei dem Dramatiker Kleist nicht eben überraschend, hierauch die oben konstatierte Nähe der Novelle zum Drama.Schon die Bezeichnung „Szene“ im Untertitel des Erstdruckslege, so Schmidt, die dramatische Perspektive nahe. Wiesich die Handlung nach einer solchen Einteilung in fünf Tei-le auf das klassische Dramenschema verteilt, zeigt das fol-gende Schema.

Schaubild 1: Der Aufbau des Erdbebens in Chiliin Analogie zum Tragödienschema

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Die durch den Wechsel der Schauplätze gegebene Gliede-rung der Novelle wird durch die zeitliche Organisation desTextes noch unterstützt. Der zweite Teil setzt am Morgendes zweiten Tages ein (S. 56, Z. 7). Der dritte beginnt amselben Nachmittag (S. 59, Z. 24) und reicht bis in die Nacht.(Die Schlusssätze, die einen Ausblick in die Zukunft geben,reichen noch darüber hinaus.) Der erste Teil spielt am Tagdavor und beginnt mit dem Ausbruch des Erdbebens. Wanngenau sich das ereignet, wird nicht gesagt. Der zeitliche Zu-sammenhang, der durch die Schilderungen von Jeronimoswie Josephes Flucht unmittelbar nach Einsetzen der Natur-katastrophe, durch ihre gegenseitige Suche und ihreschließliche Wiedervereinigung bei Anbruch der Nacht ge-geben ist, legt jedoch nahe, dass die Stunde der beabsichtig-ten Hinrichtung Josephes, der Beginn des Erdbebens und so-

mit der Anfang der Erzählung nichtvor der Mittagsstunde des ersten Ta-

ges anzusetzen sind. Jeder der drei Hauptteile würde dem-nach die erzählte Zeit eines halben Tages ausfüllen; wobei diezwischen den beiden erzählten Tagen liegende Nacht (vgl.S. 55, Z. 14 bis S. 56, Z. 6), die aufgrund der Absätze in derersten Buchausgabe gewöhnlich dem ersten Teil zugeschlagenwird, obwohl sie doch räumlich und damit auch inhaltlichviel mehr das Vorspiel oder auch die intime Vorwegnahmedes zweiten Teiles darstellt, wohl am besten als Übergangeinzuordnen ist, in der, wie die Menschen, auch die Hand-lung ruht. Auch ist diese Episode durch ihren Sprachstil unddurch die für den Autor Kleist ganz ungewöhnliche Kennzeich-nung, „wie nur ein Dichter davon träumen mag“ (S. 55,Z. 15 f.), vom Rest der Erzählung deutlich abgehoben.Blickt man zuletzt auf die zeitliche Ordnung der Erzählung,bei der es um die Frage geht, inwiefern der Erzähler in sei-

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ner Schilderung von der ursprüngli-chen Chronologie der von ihm mitge-teilten Ereignisse abweicht und wel-che künstlerischen Zwecke er dabei verfolgt, so ergibt sichfolgendes Bild: Die Novelle setzt mit einem der für KleistsErzählstil so typischen Anfangssätze ein, in denen der Leserin konzentrierter Form über die Situation (Ort, Zeit, äußereUmstände, Lage der/einer Hauptfigur) orientiert und gleich-zeitig gewissermaßen in die Handlung hineingestellt wird(S. 49, Z. 2–8). Unmittelbar an diesen Erzählanfang schließtsich ein längerer Rückblick an, der über die Vorgeschichtedes dramatischen Momentes berichtet (S. 49, Z. 8 bis S. 50,Z. 31). Dann greift der Erzähler den liegen gelassenen Fadenseiner Erzählung („Eben stand er, wie schon gesagt [...]“)wieder auf und schildert Jeronimos weitere Erlebnisse bis zudem Moment, in dem er Josephe wiederfindet (S. 50, Z. 31bis S. 53, Z. 27). Es folgt ein neuerlicher Rückblick, derJosephes Flucht vor dem Erdbeben enthält und wiederumbei der Vereinigung der Liebenden endet (S. 53, Z. 28 bisS. 55, Z. 8). Der künstlerische Zweck dieser zweifachenSchilderung der Flucht aus der bebenden Stadt ist, Jeroni-mos Gemütszustand mit dem Josephes zu kontrastieren. Bei-de Fluchten ereignen sich gleichzeitig, können aber nichtsimultan erzählt werden. Deshalb wird Josephes Flucht alsRückblick präsentiert, den der Erzähler im Übrigen nach-träglich in das fortlaufende Geschehen einzubinden versucht,indem er ihn als Schilderung Josephes gegenüber Jeronimoausgibt, was er jedoch seiner sprachlichen Form und seinerPerspektive auf das Geschehen nach keineswegs ist (S. 55,Z. 9–11). Von nun an ist die Novelle weitgehend chronolo-gisch durcherzählt. Im Mittelteil, dem Moment des Atem-schöpfens, gibt es noch kleinere Rückblicke auf die Ereig-

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nisse des Vortags (vor allem S. 57, Z. 19–31), die jedoch alsTeil der geschilderten Gespräche in der chronologisch fort-schreitenden Erzählung aufgehen. Diese Rückblicke hörenganz auf, als sich die Handlung mit dem fatalen Kirchgangauf das tragische Ende hin zuspitzt. Hier fehlt alle Zeit, sichmit bereits Abgelebtem zu befassen, die Aufmerksamkeit istganz auf den jeweiligen kritischen Moment gerichtet.Dadurch erhält die Erzählung gewissermaßen einen Sog, derden Leser bannt und bis zum Ende fortreißt.So zeigt sich, dass die drei Hauptteile der Erzählung auch inihrer Erzählweise, was die zeitliche Ordnung angeht, deut-lich voneinander abgegrenzt werden können. Der erste Teilerfüllt die Funktion einer Exposition und analysiert, bei al-ler Dramatik, die Charaktere der Protagonisten Jeronimo undJosephe. Der zweite schildert in seiner Verbindung vonRückblick und gegenwärtigem ruhigem Geschehen die in-nerliche Verarbeitung des bis dahin Erlebten, während derdritte Teil unaufhaltsam der Katastrophe zustrebt.

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Im Zentrum der Erzählung steht das Schicksal der beidenLiebenden Jeronimo und Josephe.Ihre Sonderstellung innerhalb derGeschichte betont der Titel des Erstdrucks der Erzählung:Jeronimo und Josephe. Eine Szene aus dem Erdbeben zu Chili, vomJahr 1647. Im zweiten Teil der Erzählung, am zweiten Tagihrer Handlung, tritt aber mit Don Fernando Ormez eineweitere Hauptfigur in die Geschichte ein, die mehr undmehr ins Zentrum des Geschehens rückt.Neben diesen drei Hauptfiguren sind einige Nebenfigurennäher zu betrachten, weil sie maß-geblich für die katastrophale Zuspit-zung der Ereignisse, die die Hauptfiguren mehr erleiden alsbeeinflussen, verantwortlich sind: der Chorherr der Domini-kanerkirche, der Schuhflicker Meister Pedrillo, der Marine-Offizier Don Alonzo Onoreja und der Vater Jeronimo Ruge-ras. Daneben spielt Don Fernandos Schwägerin DonnaElisabeth eine wichtige Rolle, auch wenn sie keinen ent-scheidenden Einfluss auf das Geschehen auszuüben vermag.Weniger wichtige Nebenfiguren sind: Donna Elvire (DonFernandos Frau), ihr Vater Don Pedro und ihre andereSchwester Donna Constanze.

Jeronimo RugeraÜber Jeronimos Herkunft wird wenig mitgeteilt. Immerhinerfährt der Leser bereits im ersten Satz, dass er Spanier ist(S. 49, Z. 6). Seine Verwandtschaft mütterlicherseits lebt dort(S. 56, Z. 4 f.). Diese Angabe ist insofern wichtig, als siezeigt, dass der bürgerliche Jeronimo Rugera nicht zu den alt-eingesessenen adligen Familien der Hauptstadt der spani-

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schen Kolonie Chile gehört. Bei einer dieser tonangebendenFamilien ist er als Lehrer angestellt (S. 49, Z. 8 ff.). DieseTätigkeit deutet darauf hin, dass Jeronimo ein studierter,aber unvermögender junger Mann ist.Gesellschaftlich steht er damit unter Donna Josephe, dievermutlich seine Schülerin und zudem die einzige Tochterder Familie Asteron ist. Wie es zu dem „zärtlichen Einver-ständnis“ (S. 49, Z. 12) zwischen den beiden gekommen, obeinem der beiden Liebenden dabei eine aktivere Rolle alsdem anderen zugefallen ist, bleibt offen. Zur Charakteristikder beiden Hauptfiguren würde eine solche Information na-türlich erheblich beitragen.Für Jeronimos Entschlossenheit spricht, dass er sich durchJosephes Verbringung in die Sicherheitsverwahrung einesFrauenklosters nicht entmutigen lässt, erneut zu seiner Ge-liebten vorzudringen. Im nächtlichen Klostergarten schlafendie beiden erstmals miteinander (vgl. S. 49, Z. 21 f.). Hierwird das Kind gezeugt, dessen Geburt Josephe dem unbarm-herzigen Richtspruch der Kirche ausliefert.Als Josephe der Prozess gemacht wird, ist auch Jeronimobereits inhaftiert. Wie es dazu gekommen ist, welcher An-klage er sich gegenübersieht, bleibt wiederum ungesagt(S. 50, Z. 15 f.). An solchen Stellen kommt zum Ausdruck,

dass dem Erzähler Jeronimos Existenzim Vergleich mit derjenigen Josephes

nur minderer Aufmerksamkeit wert ist. Innerhalb der Ge-sellschaft St. Jagos und ihrer Institutionen, deren Grausam-keit das Hauptthema der Erzählung bildet, ist Jeronimo einAußenseiter, eine Randfigur.Vergeblich versucht er aus dem Gefängnis zu fliehen, ver-geblich wendet er sich an die Heilige Mutter Gottes. Ohn-mächtig, Josephe zu helfen, schickt er sich am für ihre Hin-

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richtung festgesetzten Tag an, sich selbst das Leben zu neh-men (S. 50, Z. 17 bis S. 34, Z. 1).Das Erdbeben kommt dazwischen und öffnet ihm unverhofftdas Tor zur Freiheit. Als die Mauern über ihm zusammen-brechen, klammert sich Jeronimo, „starr vor Entsetzen; undgleich als ob sein ganzes Bewusstsein zerschmettert wordenwäre“ (S. 51, Z. 1 f.), instinktiv an das Leben, das er imAugenblick zuvor noch hatte beenden wollen. Anschließendwird ausführlich beschrieben, wie Jeronimo unversehrt ausder Stadt gelangt, vor Erschöpfung das Bewusstsein verliertund nach dem Erwachen mehrfach zwischen der Euphorieüber seine wunderbare Rettung und der Verzweiflung überden wahrscheinlichen Tod Josephes hin- und hergeworfenwird. „Besinnungslos“ stürzt er durch die von Erdstößen er-schütterte Stadt (S. 51, Z. 16), nach seiner Ohnmacht ergreiftihn „ein unsägliches Wonnegefühl“ (S. 52, Z. 2), danach „tie-fe Schwermut“ (S. 52, Z. 21). Die „heißesten Tränen“, die erweint, erleichtern sein Gemüt und er schöpft neue „Hoff-nung“ (S. 53, Z. 7 f.), die jedoch bald wieder erlahmt (S. 53,Z. 14 f.), woraufhin er, „unschlüssig, was er tun sollte“ (S. 53,Z. 18), sich gerade dorthin wendet, wo er auf Josephe trifft.Im Ganzen bietet Jeronimo in dieser längsten Sequenz, inder die Erzählung seinen Schritten und Gemütsbewegungenfolgt, das Bild eines Menschen, der dem Schicksal, in das ergeworfen wurde, nur mit Mühe standhält; was angesichtsdessen, was er durchmacht, nicht sehr verwunderlich ist,aber doch in einem bemerkenswerten Kontrast zum Verhal-ten und zur Geistesgegenwart Josephes steht.Das Wiedersehen mit Josephe, bei dem er gleichzeitig sei-nen kleinen Sohn zum ersten Mal sieht, zeigt Jeronimo alszärtlichen Liebhaber und Vater. Das Baby hält er „in unsäg-licher Vaterfreude“ (S. 55, Z. 11 f.) und bedeckt es „mit

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Liebkosungen ohne Ende“ (S. 55, Z. 13). Taktvoll ziehen sichdie Liebenden anschließend angesichts der unglücklichenMenschen rings umher zur Nacht in ein dichteres Gebüschzurück, wo sie, nachdem sie sich über ihre nächsten Schritteberaten haben, „unter vielen Küssen“ einschlafen (S. 56,Z. 6).Am Morgen erwachen sie spät. Die in der Nähe lagerndenMenschengruppen sind schon mit dem Frühstück beschäftigtund Jeronimo denkt eben darüber nach, wie er „Nahrung fürdie Seinigen herbeischaffen“ kann (S. 56, Z. 10 f.), als DonFernando auf Josephe zukommt und sie darum bittet, seinenSohn zu stillen. Von da an tritt Jeronimo in den Hintergrund.Er wird auf seine Eigenschaft als Geliebter der Donna Jose-phe reduziert. Nur als er sich unter vier Augen mit Josephedarüber berät, wie sie die versöhnliche Stimmung, die dieKatastrophe hervorgebracht zu haben scheint, für ihre ge-meinsame Zukunft nutzen können, übernimmt er nocheinmal die Initiative (S. 58, Z. 37, S. 59, Z. 1 ff.).Anschließend folgt der unselige Besuch der heiligen Messe.Als Jeronimo und Josephe von der Kanzel aus verdammtwerden, fährt es ihnen „wie dem Dolche gleich [...] durchdie von dieser Predigt schon ganz zerrissenen Herzen“ (S. 62,Z. 9 f.). Don Fernando wird für Jeronimo gehalten und die-ser, an der Seite Donna Constanzes noch unentdeckt,schweigt und hofft, dass Don Fernando ohne sein Zutun derSituation Herr werden wird, auch als Don Fernando ihn„schüchtern“, das heißt befangen und ratlos, ansieht (S. 63,Z. 3 f.). Jeronimo weiß, dass sein Leben unmittelbar in Ge-fahr ist, wenn er sich zu erkennen gibt. Daher ist es ver-ständlich, dass er abwartet, ob sich die gefährliche Lageauch ohne dieses letzte verzweifelte Mittel beruhigt. Als diesnicht der Fall ist, als die aufgebrachte Menge sich anschickt,

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Don Fernando zu lynchen, zögert er nicht, dazwischenzutre-ten (S. 63, Z. 13 ff.). Diese mutige Handlung verblasst jedochangesichts der aktiven Rolle, die Don Fernando als unausge-sprochenes Oberhaupt der kleinen Gruppe in der Kirchespielt. In der Selbstverständlichkeit, mit der Don Fernandodie Führung der Gesellschaft übernimmt und mit der sieihm von Jeronimo zugestanden wird, drückt sich der gesell-schaftliche Abstand zwischen beiden sowie Jeronimos Au-ßenseiterstellung aus. Wie die beiden Damen verlässt er un-ter dem Schutz des Degens, den sich Don Fernando geborgthat, die Kirche. Draußen wird er als Erster, und zwar vonseinem eigenen Vater, erschlagen (S. 64, Z. 17 ff.). Dass seinVater ihn ermordet, betont in krasser Weise seine gesell-schaftliche Isolierung durch die verbotene Beziehung mit Jo-sephe. Jeronimos Tod, der ihn wehrlos ereilt, gibt das Signalzur Ermordung der beiden Frauen und des kleinen Juan.Insgesamt erscheint Jeronimo Rugera als ein junger Mann,der sich die Liebe Josephes erworben hat und sie, wie auchsein Kind, seinerseits aufrichtig und zärtlich liebt; der Jose-phe aber auch, indem er mit ihr schläft, einem Risiko aus-setzt, dessen absehbaren Folgen er anschließend nichts mehrentgegenzusetzen vermag. Auch nach der zwischenzeitlichenRettung durch die Naturkatastrophe erweist er sich als nichtnervenstark und weltklug genug, um seine kleine Familievor ihrer Gefährdung durch eine unversöhnliche Gesell-schaft zu schützen. Er ist unbestreitbar eine der Hauptfigu-ren der Erzählung. Ihr Held aber ist er nicht.

Donna Josephe AsteronJosephe ist die einzige Tochter Don Henrico Asterons, eines„der reichsten Edelleute der Stadt“ (S. 49, Z. 8 f.). Sie ver-liebt sich in Jeronimo Rugera, der bei ihrer Familie als Leh-

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rer angestellt ist. Als ihr Bruder hinter das unstandesgemäßeVerhältnis gekommen ist und den Vater darüber unterrich-tet hat, wird Josephe ins Karmelitinnenkloster verbannt. Je-ronimo gelingt es jedoch, sich Zugang zum Klostergarten zuverschaffen, wo die Liebenden miteinander schlafen. DieGeburt ihres Kindes am Tag des Fronleichnamsfestes gibtsie der Vergeltung durch eine auf starren Moralvorstellun-gen beharrende Gesellschaft preis, von der sie zum Tod ver-urteilt wird.Wie durch ein Wunder entkommt sie fast unmittelbar vorder Hinrichtung diesem grausamen Urteil, als das Erdbebenlosbricht. Wie sie, inmitten allgemeinen Verderbens, diesenerlösenden Schock verarbeitet, ist, gerade angesichts derzuvor geschilderten Reaktion Jeronimos, bemerkenswert.Nachdem sie im ersten Moment in Richtung des nächstgele-genen Stadttors geflohen ist, kehrt ihr „die Besinnung [...]bald wieder“ (S. 53, Z. 32 f.) und sie eilt zu dem Kloster, indem sich ihr Baby befindet. Ihre eigene Lebensgefahr nichtachtend rettet sie den Säugling aus dem „von allen Seitenschon zusammenfallende[n] Gebäude“ (S. 54, Z. 3 f.). Dassdie Äbtissin, „die ihr in jenen Augenblicken, die ihre letztensein sollten, Sorge für den Säugling angelobt hatte“ (S. 53,Z. 36 f.), nur um Hilfe für das Kind gerufen, sich selbst je-doch nicht mehr in das brennende Kloster gewagt hat, ist fürJosephe kein Anlass, sich von der Ordensfrau abzuwenden.Sie will dieser nach ihrer Rettungstat „eben in die Armesinken“, als die Äbtissin, samt ihren ebenfalls untätig ge-bliebenen Klosterfrauen, „von einem herabfallenden Giebeldes Hauses, auf eine schmähliche Art erschlagen“ wird(S. 54, Z. 6 ff.). Josephe drückt der entsetzlich zugerichtetenToten in aller Eile noch die Augen zu, bevor sie mit ihremKind weiterflieht (S. 54, Z. 10 ff.). „Ganz von Schrecken er-

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füllt“ (S. 54, Z. 12 f.), rafft sie dennoch „alle ihre Kräfte zu-sammen, sich zu halten“ (S. 54, Z. 22 f.) und schreitet, „denJammer von ihrer Brust entfernend, mutig [...] von Straße zuStraße“ (S. 54, Z. 23 ff.). Schon nahe dem Tore erblickt siedie Trümmer des Gefängnisses, in dem Jeronimo festgehal-ten worden war. Der Anblick raubt ihr fast das Bewusst-sein. Doch neue Gefahr durch ein hinter ihr einstürzendesGebäude jagt sie wieder hoch. „Durch das Entsetzen ge-stärkt“ drückt sie sich „die Tränen aus den Augen“ und er-reicht, „nicht mehr auf die Gräuel, die sie umringten, ach-tend, das Tor“ (S. 54, Z. 30 ff.). Im Freien, in vorläufigerSicherheit, fasst sie bald Zuversicht, dass auch Jeronimo sichgerettet haben könnte. Als sie ihn nicht findet, zieht sie sichzurück, um zu weinen und für seine Seele zu beten (S. 54,Z. 37, S. 55, Z. 1 ff.). Die sorgende Pflege ihres Säuglingsvernachlässigt sie dabei nicht (S. 53, Z. 21 f.). Dort, im stil-len Tal, wird sie von Jeronimo gefunden.Was Josephe auf ihrer Flucht vor dem Erdbeben erlebt, er-füllt sie mit Entsetzen. Gleichwohl verliert sie nicht, wieihr Geliebter, die Nerven. Sie handelt mutig und besonnen,fällt nicht von einem Extrem ins andere und wird ihrer Ver-antwortung als Mutter gerecht, ohne dabei ihre Trauer umden vermeintlich toten Jeronimo zu unterdrücken.Ihr Realitätssinn bewährt sich auch, als Jeronimo ihr amnächsten Tag entgegen dem ursprünglichen Plan vorschlägt,nicht außer Landes zu fliehen, sondern den Versuch zu un-ternehmen, beim Vizekönig eine Begnadigung zu erwirken.Die größere Klugheit ihres Rates, die Versöhnung schriftlichund für alle Fälle von einem Hafenort aus in die Wege zuleiten, muss auch Jeronimo einräumen (S. 50, Z. 10–23).Gleichwohl teilt sie die Illusion ihres Geliebten, dass manihnen verzeihen werde (S. 57, Z. 3 ff. und S. 59, Z. 10 ff.).

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Dieses Wunschdenken gründet in der freundlichen und vor-behaltlosen Aufnahme, die die aus der guten Gesellschaft

Verstoßene, samt ihrem Geliebtenund Kind, bei der in der Nähe la-

gernden, ihr von früher gut bekannten Familie Ormez findet(S. 56, Z. 26 ff.). Dass ihre Verfemung nicht nur taktvollübergangen, sondern schließlich von Donna Elvire sogarschonend angesprochen und, auf Josephes Mitteilungen hin,in einem begütigenden Händedruck gewissermaßen aufgeho-ben wird, hat eine überwältigende Wirkung auf Josephe: „Jo-sephe dünkte sich unter den Seligen. Ein Gefühl, das sienicht unterdrücken konnte, nannte den verflossnen Tag, soviel Elend er auch über die Welt gebracht hatte, eine Wohl-tat, wie der Himmel noch keine über sie verhängt hatte“(S. 58, Z. 3 ff.).Diese Seligkeit, nicht länger ausgestoßen zu sein, versetztJosephe in eine Euphorie, die sich in dem überschwängli-chen Wunsch entlädt, ungeachtet der allgemein vorgetrage-nen Bedenken Donna Elisabeths an dem Dankgottesdienst inder Dominikanerkirche teilzunehmen. Don Fernando, dersich Josephe durch die freundliche Selbstverständlichkeit,mit der sie in Vertretung der verletzten Mutter seinen Sohngestillt hat, besonders verbunden fühlen mag, betrachtet esals seine Kavalierspflicht, ihrem unklugen Wunsch zu ent-sprechen. So kommt es in der Kirche zur Konfrontation mitder vom Prediger aufgehetzten Menge, insbesondere zur Kon-frontation Josephes mit dem Schuhflicker Pedrillo, der siekennt. Frech verlangt er von ihr, ihm Rede und Antwort zustehen, und sie gibt ihm, „von entsetzlichen Verhältnissengedrängt“ und „in unendlicher Angst der Seele“ (S. 63,Z. 5 ff.), Auskunft, um die Verhältnisse aufzuklären, wasaber angesichts der mordgierigen Menge aussichtslos ist. Als

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kurz darauf dem hinzugeeilten Marine-Offizier die Nervenversagen und er die Gelegenheit versäumt, Josephe in sei-nen Schutz zu nehmen, erkennt Josephe, dass sie verlorenist, und gewinnt, gleichsam noch einmal „durch das Entset-zen gestärkt“, ihre Fassung und Geistesgegenwart zurück.Was sie hätte retten können, dass nämlich der mit ihr vonfrüher genau bekannte Marine-Offizier sie für eine andereausgibt, wendet sie nun zur Rettung der Kinder auf diese an.Sie setzt Don Fernando beide Säuglinge auf den Arm undsagt, damit die Leute es hören: „Gehn Sie, Don Fernando,retten Sie Ihre beiden Kinder, und überlassen Sie uns un-serm Schicksale“ (S. 64, Z. 7 ff.).Auch dieser Versuch, zumindest die Kinder zu retten, schei-tert an der zügellosen Mordgier der aufgehetzten Leute. Alsvor der Kirche das Morden beginnt, wirft sich Josephe denMördern freiwillig entgegen, „um dem Kampf ein Ende zumachen“ (S. 65, Z. 2). Selbst diese Tat aber rettet den klei-nen Juan Ormez nicht.Donna Josephe Asteron beweist im Verlauf der tragischenHandlung sowohl menschliche Schwäche wie auch mensch-liche Größe. Dem durch ihre Liebe zu Jeronimo über sieverhängten Schicksal zeigt sie sich in vielen Momenten inbewunderungswürdiger Weise gewachsen. Dass diesesSchicksal sie in seiner Brutalität dennoch überfordern muss,wird an ihrer verhängnisvollen gerührten Ergriffenheit er-kennbar, als sie sich wieder in die Gemeinschaft der Gesell-schaft und der Menschen aufgenommen glaubt. Ihr Wunsch,dieser Rührung Ausdruck zu verleihen, indem sie an dergemeinschaftlichen Messe teilnimmt, wird ihr und ihren Be-gleitern zum Verhängnis.

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Don Fernando OrmezDon Fernando tritt erst am zweiten Tag der Handlung inErscheinung. Von da an aber rückt er mehr und mehr inden Mittelpunkt der Ereignisse. Am Ende der Erzählungwird er gar zur tragenden Figur der Handlung.Der Erzähler schildert Don Fernando, als er ihn in die Ge-schichte einführt, als „junge[n], wohlgekleidete[n] Mann“(S. 56, Z. 11 f.), „einen Bekannten“ Donna Josephes (S. 56,Z. 16), der sie „mit Bescheidenheit“ bittet, seinem kleinenSohn anstelle der verletzten Mutter die Brust zu reichen(S. 56, Z. 13 ff.). Als Josephe diese Bitte erfüllt, ist er „sehrdankbar für diese Güte“ und lädt sie ein, sich mit Jeronimound ihrem Kind seiner Familie anzuschließen (S. 56, Z. 25 ff.).Hatte er mit seiner Bitte deutlich gemacht, dass Josephe inseinen Augen keine moralisch Verkommene, aus der Gesell-schaft Ausgestoßene ist, so zeigt er darüber hinaus durch sei-ne Einladung, dass er auch Jeronimo als dem Vater von Jose-phes Kind ohne gesellschaftliche Herablassung zu begegnenfähig ist; auch wenn er sich in der Folge vor allem Josephezuwendet. Gutes Benehmen und wirkliche Vorurteilslosig-keit tragen wohl gleichermaßen zu diesem Verhalten bei.Als vier Mitglieder der kleinen Gesellschaft am Nachmittagauf den dringlichen Wunsch Josephes hin die heilige Messein der Stadt aufsuchen, übernimmt Don Fernando die Füh-rung der Gruppe. Dies ist der Wunsch seiner Frau, die dasVorhaben nachdrücklich begrüßt hat. Don Fernando bietetJosephe als deren Kavalier den Arm, weil, so der Erzähler-kommentar, ihm „die ganze Würdigkeit und Anmut ihresBetragens sehr gefiel“ (S. 60, Z. 26 f.). Als seine SchwägerinDonna Elisabeth der Gruppe nacheilt und ihm ihre Beden-ken gegen den Kirchgang, die sie schon zuvor in allgemei-nen Worten geäußert hat, nun offenbar unverstellt ins Ohr

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flüstert, steigt Don Fernando „eine Röte des Unwillens insGesicht“ (S. 61, Z. 8) und er schickt Donna Elisabeth mitder Mahnung, sie solle sich beruhigen, zu den verletztenFamilienmitgliedern zurück. Diese Reaktion lässt sich so er-klären, dass er die Berechtigung der von seiner Schwägeringehegten Sorgen insgeheim anerkennt, dass diese Einsichtjedoch in Konflikt mit seinen Kavalierspflichten gegenüberJosephe gerät und er sich darüber hinaus gegenüber Josepheauch nicht dem Verdacht aussetzen will, er teile die heuch-lerische und gehässige Einstellung seiner Mitbürger. In die-sem Zwiespalt siegt seine Ritterlichkeit über seinen Reali-tätssinn und seine Weltklugheit.So nimmt das entsetzliche Schicksal seinen Lauf und dieGruppe, besonders auch Don Fernando selbst, der zunächstfür Jeronimo gehalten wird, siehtsich in der Kirche plötzlich einermordwütigen Menge gegenüber. Geistesgegenwärtig ver-sucht Don Fernando im ersten Moment, die ihm anvertrau-ten Menschen mithilfe seiner Schwägerin (sie soll eine Ohn-macht fingieren) außer Gefahr zu bringen, was aberscheitert. Einen ersten Versuch aus der Menge, Josephe Ge-walt anzutun, kann er vereiteln. Er gibt sich daraufhin alsSohn des Stadtkommandanten zu erkennen (S. 62, Z. 32 ff.).Vorläufig aber fehlt ein für die Leute glaubwürdiger Zeugefür diese Behauptung. (Dieser Umstand sagt übrigens auchviel über die soziale Zusammensetzung der Menge aus, ohnedass der Erzähler darüber viele Worte verliert.) Die nun lautwerdende Forderung, den wahren Jeronimo zu identifizie-ren, setzt Don Fernando in eine Verlegenheit, aus der ersich nicht zu helfen weiß; denn den anderen der Meutepreiszugeben, ist offenkundig mit seinem Begriff persönli-cher Ehre nicht zu vereinbaren.

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Mit dem Hinzukommen des Marine-Offiziers Don Alonzoscheint Don Fernando wieder in die Lage versetzt, die Situa-tion zu meistern. Hier bietet sich die Möglichkeit, mithilfeexekutiver Autorität Ordnung herzustellen. Mit „wahrer hel-denmütiger Besonnenheit“, so der Erzähler, fordert DonFernando den Offizier auf, Jeronimo und Josephe zu ihremeigenen Schutz zu verhaften und auch den HauptaufrührerPedrillo gefangen zu nehmen (S. 63, Z. 29 ff.). Doch DonAlonzos Versagen im entscheidenden Moment lässt auch die-sen Versuch scheitern. Don Fernando nimmt daraufhin vonJosephe die beiden Kinder entgegen und leiht sich den De-gen Don Alonzos zum Schutz der Säuglinge, aber auch zumSchutz der anderen Erwachsenen, für deren Sicherheit er,gegen den verzweifelten Rat Josephes, mit seinem Leben ein-treten will (S. 64, Z. 10 ff.). Vor der Kirche werden dannzuerst Jeronimo und Donna Constanze erschlagen. Beim An-blick seiner ermordeten Schwägerin „glüht[ ]“ Don Fernando„vor Zorn“ (S. 64, Z. 31) und beginnt mit seiner Waffe gegendie Mörder vorzugehen. Nach dem Tod Donna Josephes ver-teidigt er, als einziger noch lebender Erwachsener der Grup-pe, mit dem Rücken zur Kirche das Leben der beiden Kin-der. „Dieser göttliche Held“ nennt ihn der Erzähler und fügthinzu: „Ein Löwe wehrt sich nicht besser“ (S. 65, Z. 7 ff.).Als ihm dennoch eines der Babys entrissen wird und er ei-nen Augenblick darauf, während sich die Menge lautlos zer-streut, den entsetzlich zugerichteten Leichnam seines eige-nen Sohns erkennt, steht er „voll namenlosen Schmerzes,seine Augen gen Himmel“ (S. 65, Z. 18 f.).Die Reue des hinzutretenden Don Alonzo darüber, dass erdie Morde nicht verhindern half, erreicht Don Fernandokaum. Von seinem Schmerz erfüllt, versichert er dem ande-ren, dass ihm nichts vorzuwerfen sei. Die Größe seines Un-

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glücks lässt solchen Erwägungen keinen Raum. Don Fernan-do bittet den Offizier vielmehr, die Toten in dessen Woh-nung bringen zu lassen, und folgt ihm, „viel über das Antlitzdes kleinen Philipp weinend“, dorthin (S. 65, Z. 27 f.). Hierdeutet sich bereits seine künftige Vaterschaft für das Kind,dem beide Eltern erschlagen worden sind, an. Lange zögertDon Fernando, seine Frau zu benachrichtigen, aus Schonung„und dann, weil er auch nicht wusste, wie sie sein Verhal-ten bei dieser Begebenheit beurteilen würde“ (S. 65,Z. 31 ff.). Obwohl er das ihm Mögliche getan hat und kei-nem Vorwurf ausgesetzt ist, empfindet er sein Versagen tief.Seine Frau hatte ihm die Verantwortung für die Gruppeübertragen. Nur mit dem einen lebenden Kind kommt erzurück. Don Fernando scheint unter dem Bewusstsein zu lei-den, dass sein Zugehen auf Donna Josephe den Stein ins Rol-len brachte, der schließlich zum Tod des Sohnes und derSchwägerin führte; und dass insbesondere sein Gefallen ander „Würdigkeit und Anmut“ Josephes und seine daraus her-vorgehenden ritterlichen Empfindungen Josephe gegenüberihn daran hinderten, das Unheil zu vermeiden.Doch seine Sorgen erweisen sich als unbegründet. Mit sei-ner Frau nimmt Don Fernando den kleinen Philipp als Pfle-gesohn an; und, so der letzte Satz der Erzählung, „wenn DonFernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide er-worben hatte, so war es ihm fast, als müsst er sich freuen“(S. 66, Z. 3 ff.).Dieser Schlusssatz scheint in Hinsicht auf Don Fernando zumAusdruck zu bringen, dass der „Erwerb“ des nicht leiblichenSohnes im Kampf mit der von einer heuchlerischen Moralgeleiteten Menge als Akt der Selbstbehauptung einer reine-ren Sittlichkeit über die bloße Zeugung des leiblichen Soh-nes zu stellen ist. Don Fernando wäre in diesem Sinne der

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Exponent einer höheren Moral, die als Ideal notwendig imKonflikt zu der sehr gemischten gesellschaftlichen Realitätund deren unaufrichtiger und interessegeleiteter Moral steht.

Der ChorherrDer Chorherr hat nur einen kurzen Auftritt, mit dem er je-doch der an jähen Umschwüngen reichen Handlung die ent-scheidende Wende gibt und das Blutvergießen vor dem Por-tal der Kirche heraufbeschwört.Er gehört dem Dominikanerorden an, ist „der ältesten Chor-herren einer“, und hält, „mit dem Festschmuck angetan“,von der Kanzel aus die Predigt, wobei er zu Beginn die „zit-ternden“ Hände in dramatischer Pose „gen Himmel“ erhebt(S. 61, Z. 29 ff.). Seine körperliche Hinfälligkeit akzentuiertnur noch stärker seine geistige Macht über die Gemeindeund die Unerbittlichkeit, mit der er, „im Flusse priesterli-cher Beredsamkeit“ (S. 62, Z. 3 f.), die sittliche Verderbnisder Bürger anprangert und Jeronimo und Josephe als Haupt-

schuldige namentlich nennt und öf-fentlich verdammt. Auf diese Weisebietet er den Leuten zwei Sündenbö-

cke, durch deren Opferung sie sich vermeintlich von ihremeigenen Anteil an der allgemeinen moralischen Verwahrlo-sung loskaufen können. Entsprechend kommt es dann auch:Josephe wird in der Menge entdeckt. Es entsteht Tumult,der Gottesdienst bricht ab.So steht der Chorherr für eine Kirche, die sich als Institutionweit von den christlichen Idealen, besonders dem derNächstenliebe, entfernt hat. Der Dienst am Nächsten istdem Willen gewichen, eine in geistiger Beschränktheit ge-haltene Masse von Gläubigen beliebig manipulieren zu kön-nen. Mit seinem ausdrücklichen Seitenhieb gegen den Vize-

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könig (der den kirchlichen Urteilsspruch über Josephe „ge-mildert“, etwas weniger grausam gestaltet hat) steht derChorherr zudem für den eifersüchtigen und sehr weltlichenMachtkampf zwischen Kirche und Staat.

Meister PedrilloMeister Pedrillo ist der blutrünstige, ressentimentgeladeneEinzelne, der „Fürst der satanischen Rotte“ (S. 65, Z. 11 f.),der die Menge anführt und ihr exemplarisch Kontur ver-leiht; dieser Menge kleingeistiger und rachedurstiger Men-schen, die die Gelegenheit nutzen, Mitglieder der privile-gierten Klasse in die Enge zu treiben und an ihnen ihrMütchen zu kühlen.In abwertender Weise informiert der Erzähler den Leserüber Pedrillos Beruf und mithin seinen sozialen Rang. Meis-ter Pedrillo ist „Schuhflicker, der für Josephen gearbeitethatte, und diese wenigstens so genau kannte, als ihre klei-nen Füße“ (S. 62, Z. 36 f., S. 63, Z. 1). Die freche Vertrau-lichkeit, mit der er sie bedrängt, beruht auf dieser halbenIntimität (S. 63, Z. 1 ff.). Die Betonung der Zierlichkeit ihrerFüße steht dabei im Kontrast zu der Derbheit, die sich inseinem Auftreten deutlich abzeichnet. Auch läuft hier wohlein Unterstrom sexuellen Begehrens mit. Sie verkörpert fürihn die liebreizende hoch gestellte junge Frau, von der ereine gewisse intime Kenntnis hat und die für ihn dennochunerreichbar ist. Ihre öffentliche Schande hat diese Uner-reichbarkeit schon stark vermindert. Dadurch fühlt er sichberechtigt, die junge Frau vor der Menge zu demütigen und,wenn möglich, körperlich zu zerstören. Der fanatische undhöhnische Eifer, mit dem er dies betreibt, zeigt, dass es ihmwahre Lust bereitet.

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Nachdem er sich als Wortführer der Menge auch gegenüberDon Fernando Ormez und Don Alonzo Onoreja behauptethat und seiner Verhaftung durch selbstbewusstes Auftretenentgangen ist (S. 63, Z. 10 f. und 36 ff.), erschlägt er vor der

Kirche Donna Josephe mit seinerKeule. „Darauf ganz mit ihrem Blute

besprützt: schickt ihr den Bastard zur Hölle nach! rief er,und drang, mit noch ungesättigter Mordlust, von neuem vor“(S. 65, Z. 3 ff.). Tatsächlich ruht er „nicht eher“, als bis erDon Fernando einen der Säuglinge, und zwar den falschen,entrissen und auf unerhört brutale Weise „an eines Kirch-pfeilers Ecke zerschmettert“ hat (S. 65, Z. 12 ff.).Anschließend ist von ihm nicht mehr die Rede. Der Erzäh-ler lässt auf schockierende Weise offen, ob Meister Pedrillofür seine ungeheuerlichen Taten zur Verantwortung gezogenworden oder ob er unbehelligt geblieben ist. So zittert, nach-dem sich der Sturm der falschen Entrüstung fürchterlichentladen hat, auch in der danach eintretenden Stille, in derAndeutung einer versöhnten Zukunft, noch das ungesühnteVerbrechen verstörend nach.

Don Alonzo OnorejaDon Alonzo, „ein Marine-Offizier von bedeutendem Rang“(S. 63, Z. 25 f.), steht für die Kapitulation der Exekutive, derbewaffneten weltlichen Ordnungsmacht, vor dem vomkirchlichen Würdenträger aufgehetzten Volk.Er erscheint auf dem Plan, als sich die Lage für Don Fernan-do und die Seinen in der Kirche bedrohlich zugespitzt hat.Nicht aus Neugierde verschafft er sich Zugang zum Mittel-punkt des Aufruhrs, sondern offenkundig, weil er sich ver-pflichtet fühlt, hier für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Daszeigt, wenn es überhaupt eines Beweises bedarf, seine un-

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verzüglich an Don Fernando gerichtete Frage nach der Ursa-che des Aufruhrs (S. 63, Z. 27 f.). Don Fernando erläutertihm die Situation und ersucht ihn, die gefährdeten Jeronimound Josephe „zu ihrer beiderseitigen Sicherheit“ zu verhaftensowie zudem den „Nichtswürdigen [...], der den ganzen Auf-ruhr angezettelt“ habe (S. 63, Z. 32 ff.). Gemeint ist MeisterPedrillo, den Don Fernando bereits gepackt hat, der jedochdie Situation meistert, indem er von Don Alonzo „auf EuerGewissen“ Auskunft darüber begehrt, ob es sich bei demMädchen, das er attackiert hat, nicht tatsächlich um JosepheAsteron handele (S. 63, Z. 36 f., S. 64, Z. 1 ff.). Don Alonzo,der kam, um selbst Fragen zu stellen und Aufklärung zu for-dern, ist verblüfft genug, um sich das Heft des Handelns,noch ehe er es recht ergriffen hat, aus den Händen nehmenzu lassen. Auch scheint es ihm, auf sein Gewissen hin be-fragt, schwer zu fallen, dem Schuster kaltblütig die Unwahr-heit zu sagen, denn er kennt Josephe genau. Soldatisches Ehr-gefühl steht hier offenbar einer rettenden Antwort hemmendentgegen. Dass er Meister Pedrillo nicht einfach die Antwortverweigert, zeigt zudem, dass er sich von den Umständen hateinschüchtern lassen. So zaudert er mit der Antwort und ver-spielt damit die Chance, die aufgebrachte Menge, die nunachtlos über ihn hinweggeht, unter Kontrolle zu bringen.Sein Versagen wird noch dadurch unterstrichen, dass er DonFernando, auf dessen Bitte hin, sei-nen Degen überlässt (S. 64, Z. 13).Diese Handlung offenbart seine Parteilichkeit und wirftdaneben ein ungünstiges Licht auf seine persönliche Tapfer-keit. Der Repräsentant der weltlichen Ordnung drückt demihm nahe stehenden, bedrohten Einzelnen seine Waffe in dieHand, damit er sich selber schütze. Mit diesem Degen tötetDon Fernando kurz darauf sieben Angreifer.

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Nach dem Gemetzel findet sich Don Alonzo wieder an derSeite Don Fernandos ein, versucht ihn zu trösten und gestehtseine Reue über seine „Untätigkeit“ ein, obschon diese„durch mehrere Umstände gerechtfertigt“ gewesen sei (S. 65,Z. 20 ff.). Auf diese Rechtfertigungsgründe geht die Erzäh-lung nicht näher ein, was man als Urteil darüber auffassenkann, dass diese Gründe nicht der Rede wert sind.Dass Don Fernando Don Alonzo versichert, ihm sei nichtsvorzuwerfen, dass dieser auf Don Fernandos Bitte hin dieLeichen in seine Wohnung schaffen lässt und Don Fernandound Philipp Gastfreundschaft erweist, lässt sich als versöhn-liche Tendenz deuten, ebenso gut aber auch als Zeichen fürein prekäres Zurückkehren in die gewohnten Zustände, diedurch das Erdbeben mit all seinen Folgen jedoch innerlichbrüchig geworden sind.

Der Vater Jeronimo RugerasDer alte Rugera, dessen Vorname ungenannt bleibt, schlägtauf dem Höhepunkt der Dramatik wie ein Blitz in die Er-zählung ein und taucht dann sofort wieder unter. Als DonFernando mit seiner Gruppe unversehrt auf dem Vorplatzder Kirche angelangt ist und sich gerettet glaubt, ruft „eineStimme aus dem rasenden Haufen, der sie verfolgt hatte[...]: Dies ist Jeronimo Rugera, ihr Bürger, denn ich bin seineigener Vater!“ Dann streckt der Vater den Sohn „an DonnaConstanzens Seite mit einem ungeheuren Keulenschlage zuBoden“ (S. 64, Z. 19–23).

Die geschichtlich anachronistischeAnrede „ihr Bürger“ rückt den grau-

sigen Mord am eigenen Sohn in die Nähe der gewalttätigen,Tugend’-Exzesse während der Französischen Revolution.Dass er diesen Sohn gezeugt hat, versucht der alte Rugera

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gegenüber der Gesellschaft wieder gutzumachen, indem erihn selbst aus der Welt schafft. Die Tat zeigt, wie sehr dievon der Kirche geschürte Verblendung der Leute nicht nurden Staat, sondern auch die Familie als Menschen in gegen-seitiger Unterstützung und Solidarität verbindende Institu-tion unterminiert.

Donna ElvireDonna Elvire, die Frau Don Fernandos und die Mutter deskleinen Juan, ist während des Erdbebens schwer an den Fü-ßen verwundet worden, weshalb Josephe ihr Kind für siestillt (S. 56, Z. 34 f. und Z. 23 ff.). Sie begegnet Josephe vonAnbeginn „mit vieler Freundlichkeit“ (S. 56, Z. 37), währendJosephe sich ihrerseits intensiv um die Verletzungen DonnaElvires bemüht (S. 57, Z. 32 f.).Bei solcher Gelegenheit und als sie aufgrund des lebhaftenGesprächs unter den anderen sicher sein kann, dass nur Jo-sephe sie hört, erkundigt sie sich zartfühlend, wie es dennJosephe „an diesem fürchterlichen Tag ergangen sei?“ Jose-phe antwortet „mit beklemmtem Herzen“, worauf Donna El-vire Tränen des Mitgefühls in die Augen treten. Auch er-greift Donna Elvire Josephes Hand, „und drückte sie, undwinkte ihr, zu schweigen“ (S. 57, Z. 33 ff.). Die Art, wie siedas heikle Thema nicht ängstlichvermeidet, vielmehr taktvoll undschonend anspricht und dann echteAnteilnahme zeigt, offenbart Donna Elvires Mitmenschlich-keit und ihr Feingefühl (während sich Don Fernando, als erauf Donna Josephe zugeht, eine kleine Gedankenlosigkeitleistet; vgl. S. 56, Z. 19 f.). Josephe dünkt sich auf diesesGespräch hin „unter den Seligen“.

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Mit ihrer starken Anteilnahme an Josephe ist wohl auch die„Lebhaftigkeit“ zu erklären, mit der sich Donna Elvire späterfür Josephes dringenden Wunsch ausspricht, an der heiligenMesse teilzunehmen (S. 60, Z. 9 ff.). Auch dass sie ihren eige-nen Mann sogleich zum Führer einer solchen Unternehmungbestimmt, kann als Ausdruck von Fürsorge und Zuneigunggelten. Sie besteht darauf, wie es ausdrücklich heißt, dass mandie Messe hört (S. 60, Z. 10), und trägt somit ihren Teil derVerantwortung an der Tragödie, die sich daraufhin abspielt.Dies Bewusstsein mag dazu beitragen, dass „diese trefflicheDame“, nachdem sie „im Stillen ihren mütterlichenSchmerz“ ausgeweint hat (S. 65, Z. 36), am Ende Don Fer-nando, entgegen dessen Befürchtungen, liebevoll umarmtund wieder bei sich aufnimmt. Donna Elvires Charakter istletztlich aber so gezeichnet, dass es ihr auch ohne das Emp-finden einer Mitschuld wohl fern liegt, sich ihr Unglückdurch Vorwürfe gegenüber ihrem Mann erleichtern zu wol-len.

Donna ElisabethDonna Elisabeth ist eine der beiden Schwägerinnen DonFernandos. Ihr Verhalten gegenüber Donna Josephe weichtinsofern von dem der übrigen Mitglieder ihrer Familie ab,als sie Josephe „zuweilen mit träumerischem Blicke“ be-trachtet (S. 57, Z. 14 f.). Dass dieser träumerische Blicknicht als verträumter Blick missverstanden werden darf,zeigt der Zusammenhang: Unmittelbar zuvor nämlich teiltder Erzähler mit, dass Donna Elisabeth von „einer Freundin,auf das Schauspiel des gestrigen Morgens, eingeladen wor-

den war, die Einladung aber nichtangenommen hatte“ (S. 57, Z. 12 ff.).

Donna Elisabeths sinnender Blick gilt demnach dem Um-

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stand, dass Josephe, mit der sie gut bekannt ist (S. 56,Z. 32 f.), ihr als eine nur knapp der öffentlich vollzogenenHinrichtung Entronnene, noch immer dem Schwert desRichters Verfallene, hier unversehrt gegenübersitzt. Dass ihrdies in gewisser Weise wie ein Traum erscheint, spricht nurfür ihren Realitätssinn.Über ihre Integrität besteht aufgrund der Information, dasssie sich geweigert hat, der Hinrichtung beizuwohnen, keinZweifel. In diesem Licht sind ihre Warnungen vor demKirchgang zu betrachten. Nachdem sie beim ersten Versuchmit ihren allgemein vorgetragenen, die Gefühle Josephes undJeronimos taktvoll schonenden Bedenken nicht durchgedrun-gen ist (S. 59, Z. 36, S. 60, Z. 1 ff.), überwindet sie sich, alsdie Gruppe schon aufgebrochen ist, Don Fernando nachzuei-len und ihm ihre Sorgen, nun wohl unverblümt, ins Ohr zuflüstern. Dabei holt sie sich eine Abfuhr (S. 60, Z. 32 ff.).Donna Elisabeth hat die Rolle der weltklugen Warnerininne, deren Rat nicht befolgt wird, woraufhin die Tragödieihren Lauf nimmt. So verkörpert sie die Vermeidbarkeit desUnglücks und akzentuiert damit noch seine Tragik.

Donna Constanze und Don PedroDonna Constanze Xares (vgl. S. 64, Z. 27 f.) ist die andereSchwägerin Don Fernandos und wie ihre Schwester DonnaElisabeth eine „sehr würdige junge Dame[ ]“ (S. 56, Z. 33).Sie begleitet Don Fernando, Donna Josephe, Jeronimo unddie Kinder in die Kirche und wird dort auf dem Vorplatzermordet, weil sie für Josephe gehalten wird. Eine Chance,in den Lauf der Ereignisse einzugreifen, bietet sich ihr nicht(vgl. S. 62, Z. 18 ff.). In der Gefahr beweist sie die Neigung,sich von Jeronimo, der ihr den Arm geboten hat, an dieSeite ihres Schwagers zu flüchten, welcher sie letztlich aber

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auch nicht schützen kann (S. 62, Z. 17 f. und S. 64, Z. 23 f.).Sie verkörpert, wie der kleine Juan, das gänzlich unschuldi-

ge und daher vollkommen sinnloseOpfer der blinden Gewalt, das mit

dem den Gewalttaten zugrunde liegenden Konflikt nichts zutun hat und auch nichts zu tun haben möchte, aber dennochmit hineingezogen und davon verschlungen wird.Don Pedro ist der Vater der drei Schwestern Donna Elvire,Donna Elisabeth und Donna Constanze. Er ist an der Schul-ter verwundet und nickt Josephe, als sie sich auf Einladungseines Schwiegersohns hin mit ihrem Geliebten und ihremunehelichen Kind zu seiner Verwandtschaft gesellt, „lieb-reich mit dem Haupte zu“ (S. 57, Z. 2). Das ist eine würdigeund schöne Geste, die auch seine Menschlichkeit und Vor-urteilslosigkeit offenbart. Damit ist das Bild der Familie ab-gerundet. Auf den weiteren Gang der Ereignisse nimmtDon Pedro keinen Einfluss und kommt entsprechend nichtwieder vor.

Schaubild 2: Figurenkonstellation

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S. 49, Z. 2: St. Jago: ältere Bezeichnung für die StadtSantiago (de Chile)

S. 49, Z. 2: des Königreichs Chili: Chile war zur Zeit desgroßen Erdbebens im Jahre 1647 spanischeKolonie. Es hatte den Status eines General-kapitanats innerhalb des VizekönigreichsPeru, wurde aber im Schrifttum des 18. Jahr-hunderts zumeist als Königreich bezeichnet.

S. 49, Z. 4: viele tausend: Vermutlich kam bei dem Erd-beben ein Drittel der 12.000 EinwohnerSantiagos ums Leben. Zu Kleists Zeit lagennur sehr ungenaue Berechnungen über dieZahl der Opfer vor.

S. 49, Z. 8: Don: spanischer Adelstitel vor männlichenVornamen (entsprechend: Donna bei weib-lichen Vornamen)

S. 49, Z. 13: geheime Bestellung: heimliche MitteilungS. 49, Z. 16 f.: Karmeliterkloster unser lieben Frauen vom

Berge: Die Karmeliter, einer der größtenBettelorden, tragen ihren Namen nach ih-rem Entstehungsort, dem Berg Karmel inIsrael. Der weibliche Orden, die Karmeli-tinnen, entstand im 15. Jahrhundert. In San-tiago gab es ein Karmeliterkloster.

S. 49 , Z. 22 f.: Fronleichnamsfeste: Die auf das Mittelhoch-deutsche zurückgehende Bezeichnung be-deutet „Leib des Herrn“. Gemeint ist die inden Leib Jesu verwandelte Hostie. DasFronleichnamsfest wird am zweiten Don-nerstag nach Pfingsten begangen.

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S. 49, Z. 24: Novizen: künftige Ordensmitglieder, nochin der Probezeit

S. 49, Z. 30 f.: Erzbischofs: Santiago hatte eigentlich nur ei-nen Bischof. Kleist wollte möglicherweisedie Machtfülle des kirchlichen Oberhauptsbetonen. Dass der Erzbischof den Prozessanordnet, liegt daran, dass das Vergehen in-nerhalb seines Verantwortungsbereichs, desKlosters, begangen wurde. Josephe hat ge-gen das Keuschheitsgebot verstoßen.

S. 50, Z. 1: Äbtissin: Vorsteherin des KlostersS. 50, Z. 5: Feuertod: schwere Strafe, nicht nur auf-

grund der körperlichen Grausamkeit, son-dern weil der Leichnam zu Asche ver-brennt und jede Erinnerung an die Persondes/r Verurteilten ausgelöscht werden soll.Die Enthauptung (Z. 8) ist aus dieser Pers-pektive eine große Vergünstigung.

S. 50, Z. 6: Matronen: gesellschaftlich respektierte älte-re Damen, verheiratet oder verwitwet

S. 50, Z. 18: Fittig: Flügel eines Vogels, hier in metapho-rischer Bedeutung

S. 50, Z. 34: Gesimse: oberer Rand von Säulen oder Pfei-lern, waagrechtes Bauelement mit stützen-der Funktion

S. 50, Z. 34: derselben: offenbar ein Flüchtigkeitsfehler;es müsste wohl „desselben“ heißen (Bezugs-wort ist der Wandpfeiler)

S. 50, Z. 36: Firmament: HimmelsgewölbeS. 51, Z. 24: Gestade: gehobener Ausdruck für: UferS. 52, Z. 27 f.: umständliche: ausführliche, detaillierte

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S. 53, Z. 21: seinen: grammatische Unstimmigkeit; dasPronomen bezieht sich unverkennbar auf„Quelle“ und müsste daher „ihren“ lauten.

S. 53, Z. 23: Ahndung: ältere Schreibung für „Ahnung“(vgl. auch S. 60, Z. 16)

S. 53, Z. 37: angelobt: feierlich versprochenS. 54, Z. 10: schmähliche: entehrendeS. 54, Z. 37: Scheidewege: KreuzungS. 55, Z. 27: wollüstiges Lied: Wollust drückt im heutigen

Sprachgebrauch sexuelles Begehren aus.Die frühere Bedeutung ist allgemeiner: tie-fe Freude (vgl. auch S. 58, Z. 1)

S. 56, Z. 1: La Conception: Hauptstadt der Provinz glei-chen Namens in Mittelchile. Die deutscheBedeutung ist „Empfängnis“ und bezieht sichauf die unbefleckte Empfängnis Mariens.

S. 56, Z. 14: beschädigt: verwundetS. 56, Z. 23: mitzuteilen: abzugeben, mit anderen zu tei-

lenS. 58, Z. 24: Römergröße: Die alten Römer galten als

besonders abgehärtet und tapfer.S. 58, Z. 25: Verachtung: NichtbeachtungS. 58, Z. 27: ungesäumter: ohne zu zögernS. 58, Z. 27 f.: dem nichtswürdigsten Gute gleich: einer wert-

losen Sache gleichS. 58, Z. 37, sich […] erschöpft: alles zur Sache Gehören-S. 59, Z. 1: de ausgesprochenS. 59, Z. 3: Granatwaldes: ungewöhnliches Wort; geläu-

fig ist nur der „Granatapfelbaum“S. 59, Z. 8: Fußfall: KniefallS. 59, Z. 22: Gängen: die Laubengänge des Granatapfel-

waldes

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S. 59, Z. 29: Prälaten: dem kirchlich OberenS. 59, Z. 31: ferneren: weiterenS. 59, Z. 37: Unheil gestern in der Kirche: Diese Stelle

passt schlecht zu dem bis dahin Mitgeteil-ten. Klaus Müller-Salget kommentiert, dieAngabe ziele „offenbar auf die geplanteHinrichtung Josephes, die natürlich nicht ineiner Kirche vorgenommen werden sollte,wohl aber von ‚der’ Kirche veranlasst war.Im ‚Versprecher’ Donna Elisabeths wirddas kommende Unheil vorweggespiegelt.“19

S. 60, Z. 6 f.: ihr Antlitz vor dem Schöpfer in den Staub zulegen: Dieser fromme Wunsch erhält aufdem Hintergrund des späteren Geschehensden von der Sprecherin unbeabsichtigtenNebensinn einer grausigen Prophezeiung.

S. 60, Z. 26 f.: Würdigkeit und Anmut: Anspielung aufSchillers Abhandlung Über Anmut und Wür-de (1793). Josephe wird damit als ‚schöneSeele’ gekennzeichnet.

S. 61, Z. 25: Flamme der Inbrunst: tiefe und heiße religiöseEmpfindung; „Flamme der Inbrunst“ ist einwenig tautologisch (inhaltlich gedoppelt).

S. 61, Z. 25: gen: Kurzform von „gegen, zum“ (vgl. auch:S. 61, Z. 33)

S. 61, Z. 30: angetan: bekleidetS. 61, Z. 36: Weltgericht: geläufiger als „Jüngstes Ge-

richt“; vgl. Neues Testament, Offenbarungdes Johannes

S. 62, Z. 5: Sodom und Gomorrha: Städte am TotenMeer, von denen in der Bibel berichtet

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wird, dass Gott sie wegen der dort grassie-renden Ausschweifungen durch einen Re-gen aus Feuer und Schwefel zerstörte (vgl.Altes Testament, 1. Buch Mose, 18, 16–19,29). Sie stehen sprichwörtlich für sittlicheVerkommenheit.

S. 62, Z. 26: Bürger: terminologischer Anachronismus;der Begriff passt auf die feudale Gesell-schaft Chiles im 17. Jahrhundert kaum. Esliegt nahe, die Verwendung dieser Bezeich-nung als Anspielung auf die gewalttätigenExzesse während der Französischen Revolu-tion aufzufassen.

S. 62, Z. 29: heiliger Ruchlosigkeit: Ruchlos ist eine Tat,bei der bewusst allgemein ethische undinsbesondere göttliche Normen (Gesetze)verletzt werden. „Heilige Ruchlosigkeit“ istinsofern eine paradoxe Fügung (als rhetori-sches Mittel: ein Oxymoron), die das nurangemaßte Recht der Täter ins Bewusstseinrückt.

S. 63, Z. 1: zu: vonS. 63, Z. 2: Trotz: hier in der Bedeutung von: Heraus-

forderung, DrohungS. 63, Z. 3 f.: schüchtern: unsicherS. 63, Z. 7: Er: Anrede in der dritten PersonS. 63, Z. 18: steinigt sie!: Das Steinigen taucht bereits im

Alten Testament als Strafe des Volkes vorallem für sexuelle Vergehen auf (vgl.3. Buch Mose, 20). Christus rettete hingegeneine Ehebrecherin mit dem Hinweis vor derSteinigung, dass, wer selbst ohne Sünde sei,

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den ersten Stein werfen möge (vgl. NeuesTestament, Johannes-Evangelium, 8, 7).

S. 64, Z. 22: Keulenschlage: Verschiedentlich ist von derForschung moniert worden, dass die Kirch-gänger auf einmal mit Keulen ausgestattetseien. Die Keulen als Tatwaffen sollen of-fenkundig den stets möglichen Rückfall indie Barbarei auch innerhalb so genannterzivilisierter Gesellschaften symbolisieren.

S. 64, Z. 24 f.: Klostermetze: Metze ist ein anderes Wort fürHure, Prostituierte.

S. 64, Z. 29: sucht die rechte auf: findet die richtigeS. 64, Z. 31: Schwert: Kleist benutzt das Wort hier als Sy-

nonym für „Degen“ (Z. 13).S. 65, Z. 4: Bastard: uneheliches KindS. 65, Z. 9 f.: wetterstrahlte: Kleist benutzt oft das unge-

bräuchlichere Wort „Wetterstrahl“ für„Blitz“.

S. 65, Z. 12: Rotte: ursprünglich Bezeichnung für einemilitärische Einheit, hier allgemeiner undabwertend: üble Bande

S. 65, Z. 35: treffliche: vortreffliche

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Die nicht immer leicht zu lesende, gleichwohl faszinierendeSprache, die Heinrich von Kleist in seinen Erzählungen ver-wendet, ist wiederholt gründlich un-ter die Lupe genommen worden. Ei-nige wesentliche der dabei gewonnenen Erkenntnissewerden in diesem Abschnitt vorgestellt. Ich beziehe michdabei in erster Linie auf Wolfgang Kaysers Aufsatz Kleist alsErzähler.20

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Sprache in KleistsErzählungen die Stimme des jeweiligen Erzählers charakteri-siert, die nicht automatisch identisch ist mit derjenigen desAutors Kleist. Kleist konnte, wie seine Dramen oder seineBriefe zeigen, auch anders schreiben. Die sprachliche Un-tersuchung ist daher notwendig eng verknüpft mit der Be-trachtung der Erzählinstanz, der diese Sprache zugeschrie-ben wird.Kennzeichnend für diesen Kleist’schen Erzähler ist zunächst,dass er sich zwar durch seine Stimme, seine unverwechsel-bare Sprache, im Bewusstsein der Leser präsent hält, sichaber nur ganz selten – vor allem gemessen an der üblichenErzählpraxis im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahr-hundert – direkt an den Leser wendet. Im Allgemeinenspricht er nicht „zum Publikum, erklärt ihm nichts, reflek-tiert nicht mit ihm, kümmert sich nicht darum [...]: Er stehtmit dem Rücken zum Publikum und beachtet es nicht.“21

Auch vermittelt er den Eindruck, nichts Literarisches im

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Sinn zu haben, keine erfundene Geschichte zu erzählen, son-dern vielmehr als Berichterstatter, als Chronist tatsächlicherEreignisse zu fungieren. Die Stelle im Erdbeben in Chili, inder der Erzähler die Schilderung der nächtlichen, zauberi-schen Ruhe, welche Jeronimo und Josephe nach den über-standenen Gefahren des Tages genießen, mit den Worten„wie nur ein Dichter davon träumen mag“ einleitet (S. 55,Z. 15 f.), bildet entsprechend eine große Ausnahme und mar-kiert einen so deutlichen Stilbruch, dass man sie als ironi-schen Kommentar des Erzählers zur seligen Selbstvergessen-heit der Liebenden verstehen kann. Der Erzähler bietet, dieStimmung der Liebenden verdeutlichend und möglicher-weise mit ihr sympathisierend, eine schwärmerische Schil-derung und betont zugleich, dass hiermit der Boden der Tat-sachen verlassen wird. Zu einer solchen Deutung der Stellepasst auch, dass der nächtliche Ort mit allen literarischenTopoi (Beschreibungsmustern) des „locus amoenus“ (des lieb-lichen Orts) versehen ist: dem Pinienhain, der Quelle, demDuft, dem Moos und Laub, dem Singvogel. Zudem ist dieHaltung der ruhenden jungen Familie nicht der Natur, son-dern der Kunst abgeschaut. Sie ist dem in der Malerei derRenaissance besonders verbreiteten Motiv der „Anna Selb-dritt“ nachgebildet, das Maria, mit dem Jesuskind im Schoß,ihrerseits im Schoß der heiligen Anna, ihrer Mutter, dar-stellt (vgl. S. 55, Z. 27 ff.).Eine solche Stelle fällt, wie gesagt, aus dem Rahmen. Ty-pisch hingegen für den sachlich gedrängten Chronistenstil,der im Allgemeinen vorherrscht, sind bereits die Einlei-tungssätze, die vermittels genauer Angaben zu Zeit, Ort, Per-

sonen und deren Verhältnissen direktzur Sache kommen. Diese kühle Prä-

zision geht jedoch, überraschend genug, mit entschiedenen

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und gefühlsmäßig stark aufgeladenen Wertungen einher. Sospricht der Erzähler von der „hämische[n] Aufmerksamkeit“des „stolzen“ Bruders von Josephe, der ihr Verhältnis demVater verrät (S. 49, Z. 14 ff.). Er kommentiert die moralischeHeuchelei der „frommen Töchter der Stadt“ mit unverhohle-nem Sarkasmus (S. 50, Z. 4–14), bestimmt die Gemütslagedes ersten Angreifers, der in der Kirche Hand an Josephelegt, als „heilige[ ] Ruchlosigkeit“ (S. 62, Z. 29) und bezeich-net Don Fernando als „göttliche[n] Held[en]“ (S. 65, Z. 7),Meister Pedrillo hingegen als „Fürst[en] der satanischen Rot-te“ (S. 65, Z. 12), um nur einige Beispiele zu nennen. DerErzähler nimmt deutlich Partei. Dabei spricht er nicht ausder Position des souveränen Überblicks über das Ganze derHandlung, sondern gleichsam als Augenzeuge unter dem un-mittelbaren Eindruck der jeweiligen Situation stehend.Nicht selten macht sich die Wertung auch die Perspektiveeiner der handelnden Figuren zu Eigen. Als am Anfang derErzählung die Vorgeschichte nachgetragen wird, heißt es,mit Blick auf Josephes bevorstehende Hinrichtung, Jeronimo„wollte die Besinnung verlieren, als er diese ungeheureWendung der Dinge erfuhr“ (S. 50, Z. 16 f.). Das Wort vonder ungeheuren Wendung beschreibt, da der Leser vom Er-zähler bereits ins Bild gesetzt worden ist, offenkundig Jeroni-mos Gefühlslage. So kommt diese Stelle der erlebten Redesehr nahe.Ferner ist zu beobachten, dass die Wertungen, wenn nicht insich, so doch im Vergleich unterei-nander, oft paradox sind. Die ebenangeführte Charakterisierung „heiliger Ruchlosigkeit voll“(S. 62, Z. 29 f.) ist eine solche in sich paradoxe Wertung,während der Umstand, dass das Erdbeben von den meistenEinwohnern St. Jagos als Strafe Gottes (vgl. S. 61, Z. 35 ff.),

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von Jeronimo und Josephe hingegen als himmlische Wohltatgedeutet wird (S. 53, Z. 26 f.; S. 55, Z. 35 f. und S. 58,Z. 5 ff.), zwar aus den je unterschiedlichen Ausgangslagenheraus verständlich, aber für die Gesamtbewertung des Er-eignisses gleichwohl ein Paradoxon ist. SituationsabhängigeBewertungen ersetzen in diesem Erzählen eindeutige Wahr-heiten.Die Wirkung einer solchen Erzählweise ist, dass der Lesermit einem Erzähler konfrontiert ist, der sich, einerseits kalt-blütig und distanziert berichtend, von der Ungeheuerlich-keit der mitgeteilten Geschehnisse doch immer wieder mit-reißen lässt und entschieden Partei ergreift. Dabei zeigt sich,dass der Erzähler über keine eindeutige Wahrheit verfügt.

So kann man schlussfolgern, dass esKleist beim Erzählen wesentlich da-rum geht, den im Letzten undurch-

schaubaren Charakter der Realität vor Augen zu führen.Dass wenige Autoren ihre Interpreten zu so unterschiedli-chen, widersprüchlichen Deutungen provoziert haben wieKleist, ist ein Effekt dieser Erzählweise. Eine eindeutige

Auslegung ist hier nur zu erreichen,wenn man jeweils all die Passagen

ausblendet, die einer solchen Auslegung im Wege stehen.Wer sich auf eine Deutung des Textes festlegt, der unter-drückt zwangsläufig andere, dem Wortlaut des Textes nachebenso plausible Deutungen. Einen „der rechtschaffenstenzugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ nenntder Erzähler von Kleists längster Novelle Michael Kohlhaasgleich im ersten Satz seine Hauptfigur. Diese scheinbar wi-dersprüchliche Charakterisierung wird jedoch anschließenddurch den Verlauf der Geschichte voll gerechtfertigt. Im

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letzten Satz des Erdbebens in Chili heißt es: „und wenn DonFernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide er-worben hatte, so war es ihm fast, als müsst er sich freuen.“(S. 66, Z. 3 ff.) Wie dieser Schlusssatz zu verstehen ist, ob erein versöhnliches oder ein bitteres Licht auf das Vorange-gangene wirft, was er über Don Fernandos Gemütslage aus-sagt, ist durchaus fraglich und von unterschiedlichen Inter-preten auch unterschiedlich genug gedeutet worden; zumalder Erzähler am Ende sprachlich einen dreifachen Vorbehalteinbaut: es war ihm (1) fast (2), als müsst (3) er sich freuen.Auch dieser Schlusssatz wirkt in seiner Uneindeutigkeit ver-störend, wie zuvor schon die vom immer neuen Wechseleines unvorhersehbaren und unausdeutbaren Schicksals be-stimmten Ereignisse der Geschichte.Zwei weitere Beobachtungen, die für den Erzählstil Kleistskennzeichnend sind, passen zu diesem Befund.Zum einen der Umstand, dass der Erzähler die Gemütslageder Figuren genau registriert, jedoch in aller Regel nicht ausder souveränen Kenntnis des allwissenden Erzählers, son-dern

„als von außen blickender Zuschauer: Er nimmt sie in den Ge-bärden wahr, und die ständigen Angaben über Mienenspiel,Tonfall, begleitende Gebärden sind ein Stilkennzeichen seinesErzählens. Am bekanntesten ist solche Darstellungsweise ausder ‚Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege’, sie findetsich aber auch bei fast jedem Dialog der Erzählungen. Fastimmer begleitet sie direkte oder indirekte Rede.“ 22

Charakteristische Stellen aus dem Erdbeben in Chili sind: „Jo-sephe äußerte, indem sie mit einiger Begeisterung sogleich

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aufstand, [...]“ (S. 60, Z. 4 f.) „Donna Elisabeth näherte sichihm hierauf, obschon, wie es schien, mit Widerwillen, undraunte ihm, doch so, dass Josephe es nicht hören konnte,einige Worte ins Ohr. [...] Donna Elisabeth fuhr fort, ihmmit verstörtem Gesicht ins Ohr zu zischeln. Don Fernandostieg eine Röte des Unwillens ins Gesicht; er antwortete:[...]“ (S. 61, Z. 2–9). Eine solche Erzählweise, die vom fran-

zösischen Regisseur Eric Rohmernicht zu Unrecht als drehbuchartig

bezeichnet worden ist, signalisiert zweierlei: In einer un-durchsichtigen, unberechenbaren Welt ist es doppelt ent-scheidend, sich von der inneren Verfassung der Menschen,mit denen man zu tun hat, ein möglichst genaues Bild zumachen; und: Um Aufschluss über die Stimmungen und in-neren Antriebe der Figuren zu erhalten, ist der Erzählerebenso auf den Augenschein angewiesen wie der Leser.Diese Notwendigkeit, alles genau zu registrieren, kann auchals Motiv für die bevorzugte Verwendung der indirekten

Rede in Kleists Erzählungen angese-hen werden. Die indirekte Rede gibt

das, was die Figuren sagen, getreu wieder, und bietetdadurch auch die aufschlussreiche Möglichkeit, die Sprecherbei der „allmähliche[n] Verfertigung der Gedanken beim Re-den“ (so der Titel eines Aufsatzes von Kleist) zu beobachten(vgl. etwa S. 59, Z. 10 ff.); vor allem aber bleibt bei derindirekten Rede (im Gegensatz zur direkten Rede) der Er-zähler als Vermittlungsinstanz immer spürbar im Spiel: EinErzähler, der, wie erwähnt, nicht über alles Bescheid weißund aus diesem Grund nicht nur genau hinschauen, sondernauch genau hinhören muss, damit ihm und den Lesernnichts Wesentliches entgeht.Die zweite Beobachtung bezieht sich auf das Vorandrängen-

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de der Erzählung. Selten gibt es Ru-hepunkte, Momente des Verweilens.Für Beschreibungen, ohne die kaum ein Erzähler auskommt,ist bei Kleist fast nie Zeit. Bei Beschreibungen steht die er-zählte Zeit still. Das lässt die Gefährdung, der die FigurenKleists in ihrer Erzählwelt ausgesetzt sind, kaum zu. Pausen-los treibt sie ihr Schicksal voran. Jederzeit kann ihnen etwaszustoßen. Daher kann es sich der Erzähler, der, wie obengezeigt, solche Wechselfälle des Schicksals nicht vorherse-hen kann, nicht leisten, sie für einen Moment aus den Au-gen zu verlieren. Aus demselben Grund spielt neben derBeschreibung auch der ein Geschehen knapp zusammenfas-sende Erzählerbericht bei Kleist kaum eine Rolle.Stilistisch kommt diese unablässige Folge von Ereignissen,mit denen der Erzähler Schritt zu halten hat, durch sprachli-che Zusammendrängung, insbesondere durch Nominalbil-dungen, zum Ausdruck: Beim Einsturz des Gefängnisses istdavon die Rede, dass „die gänzliche Zubodenstreckung des-selben“ nur durch eine zufällige Wölbung des gleichzeitigeinstürzenden gegenüberstehenden Gebäudes verhindertworden sei (S. 51, Z. 4 ff.). Vom „Zusammenschlag“ beiderHäuser wird wenige Zeilen später mit Bezug auf dieselbeSituation gesprochen (S. 51, Z. 12).Das Volk hingegen ist überall „mitRettung des Eigentums beschäftigt“ (S. 52, Z. 24 f.). Amnächsten Tag machen unter den Überlebenden heldenmüti-ge Beispiele „von ungesäumter Wegwerfung des Lebens“ dieRunde (S. 58, Z. 27). Bald darauf macht man sich zur heili-gen Messe auf, „den Himmel um Verhütung ferneren Un-glücks anzuflehen“ (S. 59, Z. 30 f.).Scheinbar im Widerspruch zu diesem vorandrängendenGrundzug des Kleist’schen Erzählstils, zur Tendenz zu

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sprachlicher Zusammendrängung, steht die Beobachtung,dass der Satzbau bei Kleist typischerweise mit Einschübendurchsetzt ist, die als Stauung des Satzflusses beschriebenwerden können, bevor sich dieser am Ende mit vermehrter

Kraft wieder Bahn bricht. Diese ei-gentümliche Syntax ist sehr überzeu-

gend als direkter künstlerischer Ausdruck der PersönlichkeitKleists interpretiert worden. Klaus Müller-Salget schreibt inseiner Kleist-Monografie:

„Geduld freilich war nicht seine Stärke. Sein Streben war aufdie große, die entscheidende Leistung gestellt, auf den Durch-bruch, der alle Zweifel (auch und gerade die eigenen) auf einenSchlag und für immer beseitigen sollte. Die Entwicklung dieserVorstellung lässt sich sehr gut an den Abwandlungen der Fluss-Beschreibungen ablesen, die in seinen Briefen auffallend häufigbegegnen [...].“23

„Mit Recht“, fährt Müller-Salget fort, habe Hans JoachimKreutzer

„darauf hingewiesen, dass in den Strom-Bildern der Briefe derRhythmus von Kleists Dichtungen präformiert wird, das Mo-dell von Stauung und kataraktischem [wasserfallartigem] Er-guss, das die Handlungsführung der Dramen und Erzählungenebenso prägt wie den Satzbau, eine ‚rhythmische Grundfigurdes Erlebens’, wie Kreutzer sagt [...], die offenbar in Kleistspsychischer Konstitution angelegt war und manche Ungeduld,manche Schroffheit, manche Forciertheit erklären mag.“24

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Ein Beispiel aus dem Erbeben in Chili soll diesen mehrfachgestauten Satzbau illustrieren:

„Der wütende Haufen, durch die Äußerung Jeronimos verwirrt,stutzte; mehrere Hände ließen Don Fernando los; und da indemselben Augenblick ein Marine-Offizier von bedeutendemRang herbeieilte, und, indem er sich durch den Tumult drängte,fragte: Don Fernando Ormez! Was ist Euch widerfahren? soantwortete dieser, nun völlig befreit, mit wahrer heldenmütigerBesonnenheit: [...]“ (S. 63, Z. 23 ff.).

Dieses Beispiel macht deutlich, dassin der Erzählwelt Kleists Handeln inaller Regel nur noch als Reagieren möglich ist. Auch einerim Ganzen so nervenstarken und geistesgegenwärtigen Figurwie Don Fernando gelingt es nicht, entscheidenden Einflussauf ihr Geschick zu nehmen. Ständig geraten die Figurenunter den Einfluss äußerer Umstände, stellen sich ihnenSchwierigkeiten in den Weg, die ihnen eine Reaktion abver-langen. Der Satzbau mit seinen vielen Einschüben bildetdiese Abhängigkeit der Figuren von unvorhersehbaren äuße-ren Einflüssen nach. Zu dieser Erzähltechnik passt auch derbemerkenswerte Umstand, auf den Walter Silz hingewiesenhat, „dass Kleist nirgends ein besonderes, stehendes Bild desErdbebens gibt, wie es der Titel erwarten lässt; wir erfahrendavon nur durch seine Wirkungen, aus der Sicht und ausdem Tun der handelnden [oder genauer: der reagierenden]Personen.“25

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Kleists Figuren sind, zumindest in entscheidenden Hand-lungsphasen, Getriebene. Diese Ge-triebenheit durch äußere Umstände

findet in der doppelten Flucht Jeronimos wie Josephes vordem Erdbeben einen starken Ausdruck, ist aber auch sonstbeherrschendes Handlungsprinzip. Diese Getriebenheit istzugleich der Schlüssel zu dem nur scheinbaren Widerspruchzwischen dem vorandrängenden Gestus des Erzählens undden Stauungen auf der Satzebene. Stehen die Stauungen fürdie Übermacht der äußeren Umstände über die freie Ent-scheidung der Figuren, so bedarf es seitens der unter Druckstehenden und tendenziell überforderten Figuren immer neu-er Anstrengungen, die Widerstände zu überwinden. Hiermüssen sie letzte Energien bündeln und Reaktionsschnellig-keit unter Beweis stellen. Aus diesem Kraftaufwand und derihnen abverlangten Geistesgegenwärtigkeit geht die Wirkungdes Vorwärtsdrängens und der Atemlosigkeit aus.Zudem machen die Einschübe die Dichte der zeitlichen Ab-

folge, die tendenzielle Gleichzeitig-keit entscheidender Vorgänge, an-

schaulich. Ferner kann es gewissermaßen lebenswichtigsein, alles, was vorgeht, zu registrieren, da sich in einerundurchschaubaren Welt letztlich alles als bedeutsam he-rausstellen kann; hier liegt die Ursache für die für Kleisttypischen blinden Motive, gewissenhaft vermerkte Nebenli-nien eines Geschehens, die sich aber eben nicht immer imRückblick als erheblich für den Fortgang der Handlung er-weisen.Die Verdichtung des Augenblicks, die überwache Registrie-rung des äußeren Geschehens, die Getriebenheit der Figurkommen auch in der langen „hier“-Periode, die JeronimosFlucht schildert, gut zum Ausdruck (S. 51, Z. 20–31). In nur

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zwei Sätzen bieten sich neun Schreckensszenen, die jeweilsmit dem Wort „hier“ eingeleitet werden. Dieselbe Passageenthält darüber hinaus eindrucksvol-le Personifikationen, die wiederumdie allgemeine Tendenz zum Ausdruck bringen, die ‚han-delnde’ Figur als Spielball übermächtiger äußerer Kräfte vor-zuführen:

„[...] indessen der Tod von allen Seiten Angriffe auf ihn machte[...]. Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, dieTrümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hierleckte die Flamme schon [...] und trieb ihn schreckenvoll ineine andere; hier wälzte sich [...] der Mapochofluss auf ihnheran, und riss ihn brüllend in eine dritte.“ (S. 51, Z. 18 ff.)

In ähnlicher Weise wie in der angesprochenen „hier“-Perio-de fasst der Erzähler später die Fülle der aus dem Infernomitgebrachten Eindrücke in einer „wie“-Periode zusammen:„Man erzählte, wie [...]; wie [...]! wie [...]! wie [...]; undwie [...].“ (S. 57, Z. 19–31). Die „wie“-Periode bietet ein dich-tes Panorama. Dasselbe leistet die „hier“-Periode, die aberdarüber hinaus noch die zeitlicheFolge betont. Die inhaltliche Ver-knüpfung einer Überlegung oder Handlung hebt hingegendie „dass“-Periode hervor. Auch für sie gibt es im Erdbebenin Chili ein markantes Beispiel (S. 59, Z. 4–19).Auch auf der Wortebene macht sich Kleists stilistischer Aus-druckswille bemerkbar. Das gilt nicht nur für den sogar fürKleists zeitgenössische Leserschaft nach 1800 oft eigentümli-chen Sprachgebrauch. Das Spiel mit gleich lautenden Konso-nanten und Vokalen in der Beschrei-bung der idyllischen Nachtszene ist

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hier zu nennen; wie die auch sonst häufige Verwendung derAlliteration in der Erdbeben-Novelle, vor allem der Allitera-tion auf den Buchstaben „w“ in den Passagen nach Jeronimosgeglückter Flucht aus der Stadt:

„und ein unsägliches Wonnegefühl ergriff ihn, als ein West-wind, vom Meere her, sein wiederkehrendes Leben anwehte“(S. 52, Z. 1 ff.); „das Wesen, das über den Wolken waltet“(S. 52, Z. 22 f.); „nicht zu wanken, wenn auch jetzt die Eichenentwurzelt werden, und ihre Wipfel“ (S. 53, Z. 3 ff.); „wo nurirgend ein weibliches Gewand im Winde“ (S. 53, Z. 11 f.); „woll-te sich schon wieder wenden“ (S. 53, Z. 19 f.).

Später wird durch die Alliteration eine Geste des Chorherrnbetont („Hände hoch gen Himmel erhebend“; S. 61, Z. 33),die in der Erzählung als mehrdeutiges Motiv der Verzweif-lung, der Beschwörung, der Ohnmacht mehrfach wieder-kehrt (vgl. S. 51, Z. 31 und, ähnlich, S. 65, Z. 19, wo dieTheatralik der erhobenen Hände nach dem vergeblichenKampf zurückgenommen wird, was die Wirkung der Gestenicht vermindert, sondern zusätzlich steigert).

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Kleists Erdbeben in Chili ist ein Lieblingstext der Germanis-tik, der überaus oft interpretiert worden ist.Schon früh ist die Erzählung als Stellungnahme zu einer derzentralen geistigen Debatten während der zweiten Hälfte des18. Jahrhunderts gedeutet worden. Damals stand ganz Euro-pa unter dem Eindruck des verheerenden Erdbebens in Lis-sabon am 1. November 1755. In der Folge geriet der Opti-mismus der Aufklärungsphilosophieunter Druck. Die Frage nach demWesen Gottes wurde mit der Frage verknüpft, woher dasÜbel in der Welt komme (vgl. dazu Abschnitt 1.2 diesesBuches).Die Frage nach der Gottesvorstellung Kleists bestimmte nochdie Interpretationen der 50er- und frühen 60er-Jahre des20. Jahrhunderts, etwa von Karl Otto Conrady26 und Johan-nes Klein.27

Der Schluss der Erzählung wurde zumeist als entscheidenddafür angesehen, ob Kleist das schreckliche Geschehenletztlich als Ausdruck einer höheren Fügung verstanden wis-sen wollte oder ob insgesamt der heillose Zustand der Weltbekräftigt werden solle. Benno von Wiese fasst das Ende po-sitiv auf (wenn auch auf dem Fundament eines äußerst ge-fährdeten Gleichgewichts):

„Das gerettete und in einer neuen Familie beheimatete Kind willuns noch wie eine Antwort Gottes auf das Erdbeben erschei-nen. Denn das Überleben und Erhalten auch nur eines schuldlo-

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sen, aus der Liebe hervorgegangenen Menschenwesens rechtfer-tigt den Bestand der von ungeheurer Anarchie bedrohten Weltfür eine, sei es kurze, sei es lange, Zeitspanne weiter.“28

Dagegen argumentiert Walter Silz, das überlebende Kind seinicht Sinnbild des Triumphes der Liebe über Tod und Sün-de, sondern vielmehr „ein Beispiel für die Zufälligkeit desDaseins in einer unbegreiflichen Welt.“29

In den späten 60er- und in den 70er-Jahren verschob sich diePerspektive der Forschung, entsprechend der Entwicklungder Germanistik insgesamt, von der Frage nach der göttli-chen Vorsehung hin zur Frage nach dem Zustand einer Ge-

sellschaft, in der sich die in der Er-zählung geschilderte Lynchjustizvollziehen kann. Mit Blick auf Kleists

eigene Biografie, auf seine Empfindung, in keiner der gesell-schaftlichen Institutionen und ihm offen stehenden Laufbah-nen am Platze zu sein, wurde das Erdbeben als Stellungnah-me des Autors nicht nur gegen depravierte (entartete)gesellschaftliche Institutionen, sondern gegen eine in Institu-tionen verfasste Gesellschaft überhaupt gedeutet. Demgegen-über stehe als Ideal die Menschengemeinschaft im Naturzu-stande, wie sie im Mittelteil der Erzählung beschriebenwerde. Der Fortgang der Erzählung zeuge allerdings vonKleists nüchternem Bewusstsein, dass eine solche von allenInstitutionen befreite Menschenfamilie nur als Utopie,allenfalls als ein vorübergehender Ausnahmezustand existie-ren könne.

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Solche gesellschaftskritischen Interpretationen wurden über-lagert von Aufsätzen, die das Problem der Deutung selbstzum zentralen Aspekt der Erzählungerhoben. Den Anstoß für ein solchesTextverständnis gab John M. Ellis in einem 1963 veröffent-lichten Aufsatz, in dem es heißt:

„[...] the point of the story lies less in the meaning of theevents than in the attempts of the characters involved, the nar-rator himself and even the reader to make sense of them. Thusin this case [...] interpretations become of peculiar relevance toa story when interpretation is its very theme.“30

Diesen Ansatz hat unter anderem Klaus Müller-Salget in ei-nem Aufsatz über Das Prinzip der Doppeldeutigkeit in KleistsErzählungen weiterverfolgt.31

Die Interpretierbarkeit von Welt zum Hauptthema eines li-terarischen Textes zu machen, ist für Interpreten natürlichverführerisch. So verwundert es nicht, dass sich dieser Deu-tungsansatz in der Forschung rasch etabliert hat. Er hat aber,was wichtiger ist, auch viel für sich. Letztlich ist zwar jederText unausdeutbar oder, anders gesagt, für verschiedeneDeutungen offen. Selten jedoch ist diese Offenheit so aus-drücklich in der Struktur und im Wortlaut eines Textes an-gelegt wie im Erdbeben in Chili. Der Gedanke liegt von dahernahe, dass Kleist ganz bewusst die künstlerische Absicht ver-folgte, gerade einen solchen mehrdeutigen Text zu schaffen.Es ist reizvoll, an einem solchen Text, der immer wieder zu

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neuen Interpretationen herausgefordert hat, weil keine Inter-pretation dem Ganzen der Erzählung gerecht zu werdenschien (und wohl auch nicht gerecht werden kann), dieTragfähigkeit und Ergiebigkeit verschiedener literaturwissen-schaftlicher Methoden zu demonstrieren. Dies ist 1985 indem von David E. Wellbery herausgegebenen Band Positio-nen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispielvon Kleists ‚Das Erdbeben in Chili’ geschehen. Darin wird dieErzählung mit den Mitteln der Diskursanalyse, der Herme-neutik, der Kommunikationstheorie/Pragmatik, der Literatur-semiotik (-zeichentheorie), der Institutionssoziologie, der so-zialgeschichtlichen Werkinterpretation, der Theorie derMythologie/Anthropologie untersucht sowie abschließend ei-ner Lektüre im Zeichen der Grammatologie Jacques Derri-das unterzogen.

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Die Lösungstipps beziehen sich auf die Seiten der vorliegen-den Erläuterung.

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Erläutern Sie den Begriff „Theodizee“.

Skizzieren Sie den geistesgeschichtlichenProblemhorizont von Kleists Erzählung.

Erläutern Sie, warum Kleists Figuren inaller Regel erst als Reagierende handelnund Selbsterkenntnis erlangen.

Handelt es sich beim Erdbeben in Chili umeine Erzählung oder um eine Novelle oderwomöglich gleichermaßen um eine Erzäh-lung wie eine Novelle? Begründen Sie IhreAuffassung.

In wie viele und in welche Abschnittelässt sich die Erzählung überzeugend un-tergliedern? Argumentieren Sie mit derformalen Anlage des Textes.

Analysieren Sie die zeitliche Ordnung derErzählung und ziehen Sie aus Ihrem Be-fund Schlussfolgerungen hinsichtlich derkünstlerischen Absichten, die Kleist imErdbeben in Chili verfolgte.

LösungshilfeS. 17

S. 17–22

S. 24 f.

S. 38–41

S. 41–44

S. 44–46

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Vergleichen Sie die Charaktere der beidenLiebenden Jeronimo und Donna Josephe.

Vergleichen Sie das Verhalten von DonFernando Ormez mit dem von Don Alon-zo Onoreja.

Der Chorherr und Meister Pedrillo verfol-gen das gleiche Ziel, Josephe und Jeroni-mo zu vernichten. Inwiefern unterschei-den sich ihre Motive?

Welche Rollen fallen den SchwägerinnenDon Fernandos, Donna Elisabeth undDonna Constanze, innerhalb der Drama-turgie der Erzählung zu?

Beschreiben Sie die Besonderheiten desKleist’schen Erzählstils.

LösungshilfeS. 47–55

S. 56–60 undS. 62–64

S. 60–62

S. 66–68

S. 75–86

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Die Rezeption der Werke Kleists hat Helmut Sembdner soumfassend wie möglich dokumentiert.32

Der Erstdruck der Erzählung Jeronimo und Josephe in CottasMorgenblatt scheint kein Echo der Kritik auf den Plan geru-fen zu haben. Hingegen ist die ersteBuchausgabe der Erdbeben-Novelleim Band Erzählungen mehrfach rezen-siert worden. Der Rezensent der Vossischen Zeitung charakte-risierte den Text als „kurze aber tragische Erzählung, [...]nicht ohne romanhafte Unwahrscheinlichkeiten.“(20. 10. 1810) Im Morgenblatt äußerte sich Friedrich Weisserinsgesamt lobend über die Erzählungen, merkte aber beimErdbeben an, die Novelle habe „etwas Empörendes, und istauch zu skizzenhaft behandelt.“ (28. 12. 1810)Gleich mehrere Male hat Wilhelm Grimm, der jüngere derBrüder Grimm, das Buch ausführlich und lobend bespro-chen; weil diese Rezensionen anonym erschienen sind, istsich die Forschung nicht in allen Fällen über Grimms Au-torschaft einig. (Zeitung für die elegante Welt, 24. 11. 1810;Leipziger Literaturzeitung, 28. 09. 1812, Allgemeine Literatur-Zei-tung, 14. 10. 1812)Bemerkenswert ist auch der Umstand, dass die Wiener Zen-surhofstelle 1810 und 1812 sowohl den ersten wie den zwei-ten Band der Kleist’schen Erzählungenverbot. Besonders am Erdbeben in Chi-li wurde Anstoß genommen, dessenSchluss als im höchsten Grade gefährlich eingestuft wurde.

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Dieses Urteil belegt die Brisanz des Textes. Zudem wurdendie unmoralischen Stellen in den Erzählungen undinsbesondere in der Erdbeben-Novelle moniert.1825 wurde die Erzählung in der Zeitschrift Der Phönix nocheinmal nachgedruckt. Dieser Nachdruck folgte dem Wort-laut des Erstdrucks in Cottas Morgenblatt mit dem ursprüng-lichen Titel Jeronimo und Josephe.1837 brachten die Wöchentlichen Mittheilungen aus den interes-santesten Erscheinungen der Literatur zur Belehrung und Unter-haltung aller Stände eine Nacherzählung von Kleists Novelle,die bis 1843 mindestens fünf Mal fast unverändert nachge-druckt worden ist; übrigens ohne einen Hinweis auf die ei-

gentliche Autorschaft Heinrich vonKleists. Diese etwas geraffte, sprach-

lich und inhaltlich banalere Nacherzählung, die in den vonHedwig Appelt und Dirk Grathoff zusammengestellten Er-läuterungen und Dokumenten zum Erdbeben in Chili abgedrucktist33 , unterscheidet sich vom Original vor allem durch einenneuen Schluss. „Auch Josephine“, heißt es am Ende, „unterlagden Streichen der Wüthenden und Don Fernando fand manam andern Tag leblos, während das Kind Josephinens wun-derbar gerettet wurde. [/] Der Vater Jeronimos übergab das-selbe den Dominicanern, um es für die Kirche zu erziehen.“Eine noch stärker vom Original abweichende Umdichtunghat Helmut Sembdner ermittelt. Darin ist der Text Kleists,in der Buchfassung, bis zum Beginn der Predigt in der Do-minikanerkirche wörtlich übernommen. Dann folgt einSchluss, in dem sich alles zum Guten wendet: Jeronimo undJosephe verwirklichen ihren ursprünglichen Plan und gehennach Spanien, wo Jeronimo sogleich, nach dem „kurz vorher

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erfolgten Tod seiner noch einzigen Verwandten“, „als dereinzige Erbe eines sehr beträchtlichen Vermögens an Geldund liegenden Gütern eingesetzt“ wird. Einige Jahre spätererhalten sie Besuch von Don Fernando Ormez, der auf einer„Geschäftsreise“ befindlich ist. Er bleibt auf einige Zeit ihrGast und ist „Zeuge ihres Glückes“. „Ihre Kinder und En-kel“, heißt es abschließend, „waren gute, fromme und edleMenschen, und ihr Geschlecht blüht noch in Segen bis aufden heutigen Tag.“34

Über die Verbreitung der Kleist’schen Erzählungen und ihreAufnahme durch die Leser gibt es recht widersprüchlicheÄußerungen, die jeweils deutlich die persönlichen Einstel-lungen der Verfasser zu Kleist spiegeln. So schreibt ClemensBrentano in der für ihn typischen ei-fersüchtigen Weise bereits am10. Dezember 1811 an Achim von Ar-nim über ihren gemeinsamen, seit wenigen Wochen totenBekannten Kleist: „Überhaupt werden seine Werke oft überdie Maßen geehrt, seine Erzählungen verschlungen.“ LudwigTieck hingegen, der Herausgeber der Werke Kleists, fragt1826 in den Dramaturgischen Blättern: „Wie viele Erzählun-gen besitzen wir Deutsche, deren Verfasser beliebt und be-lohnt wurden; aber wo sind diejenigen, die man höher alsdie Kleist’schen stellen dürfte, welche kein Mensch kenntund würdigt?“35

Für das zwanzigste Jahrhundert sind zahlreiche wissenschaft-liche Aufsätze über die Novelle zu verzeichnen. Auch fandder Text aufgrund seiner Dramatik, Prägnanz und Kürze Ein-gang in den schulischen Lektürekanon.

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1918 wurde ein Stummfilm in großerAusstattung geplant, aber letztlich

nicht realisiert. 1974/1975 verfilmte Helma Sanders die Er-zählung in Spanien für das Zweite Deutsche Fernsehen.36

1998 ließ sich der Schriftsteller Hans Christoph Buch vonKleists Novelle zu seiner kurzen Erzählung Das Erdbeben in

Chili: Eine wahre Geschichte anregen.Sie berichtet von der Inhaftierung ei-nes Liedermachers, Geronimo Ruge-

ra, während des Umsturzes in Chile im November 1973 so-wie von seiner Rettung und Ausreise in die DDR aufgrunddiplomatischen Drucks, denn Rugera ist mit Josepha H., derTochter des Staatsratsvorsitzenden der DDR, verlobt. Nachdem Ende der Diktatur in Chile kehren Geronimo und Jose-phe nach Santiago zurück, wo Geronimo seine Frau und sei-ne beiden Kinder um seiner chilenischen Freundin willenverlässt. Die Erzählung, die an drei Stellen Passagen ausKleists Novelle wörtlich aufgreift, bleibt gegenüber dem Ori-ginal blass.37

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Aus Anlass des 150. Geburtstags von Heinrich vonKleist verfasste die Schriftstellerin Marieluise Fleißer(1901–1974) 1927 einen Aufsatz Der Heinrich von Kleistder Novellen38 , in dem sie den Erzählstil Kleistsfolgendermaßen charakterisiert:„Er [Kleist] liefert einen sachlichen und auffallend umfassendenBericht dessen, was seine Personen unter den und den Umständentaten und wohin sie damit gerieten; er unterlässt jede Beobach-tung, die nicht den Gang der Handlung vorwärtsschreiten lässt.Augenblicke des bloßen atmosphärischen Lebens, wie sie sonst derepischen Darstellungsart eigentümlich sind, gibt es bei ihm nicht,damit kann er sich nicht aufhalten. Er bleibt nirgends im Be-schreibenden stehen. Seine Personen sind mit ihrer einzigen Sachebeschäftigt und sonst mit nichts. Seine Art, auf seine Personen zublicken, ist die eines guten Regisseurs. Er behält eine genaueÜbersicht über jede ihrer Bewegungen und Ortsveränderungen, je-des Erblassen und Erröten. Aber seine Teilnahme an seinen Perso-nen ist weit eher als eine von außen betrachtende eine sehr mitbe-teiligte, von innen nachspürende [...]. Sein Stil ist gedrängt undkann nur langsam gelesen werden. Mit seiner Neigung zum Extre-men häuft er die Akzente. Auffallend sind seine langen und viel-verschränkten, aus genauem lateinischem Sprachgefühl herkom-menden Sätze.“

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Klaus Müller-Salget geht in seinem Kommentar zumErdbeben in Chili 39 auf die „unauflösbare Mehrdeu-tigkeit“ von Kleists Erzählungen ein und zeigt am„zentrale[n] Dingsymbol“ des Textes, dass diese Mehr-deutigkeit bis in die Mikrostruktur des Textes hineindurchgestaltet ist. Sein Fazit lautet, dass sich in einerundeutbaren Welt als Richtschnur des Handelns nureine ideologiefreie Moralität, ein „schlichte[s] Rechttun“(von dem im Michael Kohlhaas die Rede ist) bewährenkann.„Die Welt erscheint, wie stets bei Kleist, von unauflösbarer Mehr-deutigkeit geprägt. [...] Paradoxien prägen die gesamte Erzählung[...] und auch das zentrale Dingsymbol kann aufs gegensätzlichstegedeutet werden: jener Granatapfelbaum, unter dem Jeronimo undJosephe ‚die schönste Nacht’ verbringen. Seiner zahlreichen Kernewegen galt der Granatapfel seit der Antike als Symbol der Frucht-barkeit; im Mittelalter wurde der Baum auf Maria, die Fruchtauf Christus hin ausgedeutet; im griechischen Mythos ist der Gra-natapfel die Frucht, die Persephone kurz vor dem Ausgang desHades pflückt, weshalb ihr die endgültige Rückkehr in die Ober-welt versagt bleibt: Als Gattin des Unterweltgottes muss sie dieHälfte des Jahres im Schattenreich verbringen. Fruchtbarkeit, Ma-rienlegende, Todesverfallenheit spielen zusammen in diesem Sym-bol. Die optimistische Deutung der Liebenden wird ‚überschattet’([S. 55, Z. 30 f.:] ‚Der Baumschatten zog [...] über sie hinweg’)von der Todesdrohung.“

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1) AusgabenHeinrich von Kleist: Die Marquise von O... Das Erdbeben in

Chili. Erzählungen. Anmerkungen von Sabine Doering.Nachwort von Christian Wagenknecht. Stuttgart: Reclam,2004 (RUB 8002).(Nach dieser Ausgabe wird zitiert.)

Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. vonIlse-Marie Barth, Klaus Müller-Salget, Stefan Ormannsund Hinrich C. Seeba. 4 Bände. Frankfurt a. Main: Deut-scher Klassiker Verlag, 1987–1997.

Heinrich von Kleist: Briefe. Briefe von und an Kleist. 13. März1793 bis 21. November 1811. Hg. von Siegfried Streller inZusammenarbeit mit Peter Goldammer und Wolfgang Bar-thel, Anita Golz, Rudolf Lorch. Frankfurt: Insel, 1986.

2) Lernhilfen und Kommentare für Schülerinnen undSchüler

Bacher, Suzan: Lektürehilfen Heinrich von Kleist ‚Die Marqui-se von O...’, ‚Das Erdbeben in Chili’. Stuttgart: Klett, 8. Aufl.2001.

Kircher, Hartmut: Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili.Die Marquise von O…. München: Oldenbourg, 2. überarb.Aufl. 1999 (Oldenbourg Interpretationen Bd. 50).

3) SekundärliteraturAppelt, Hedwig/Grathoff, Dirk: Heinrich von Kleist. Das

Erbeben in Chili. Stuttgart: Reclam, 1986 (Erläuterungenund Dokumente. RUB 8175).

Breuer, Ingo: „‚Schauplätze jämmerlicher Mordgeschichte’.Tradition der Novelle und Theatralität der Historia bei

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Heinrich von Kleist“. In: Blamberger, Günter/Doering,Sabine/Müller-Salget, Klaus (Hg.): Kleist-Jahrbuch (2001),S. 196–225.

Doering, Sabine: Heinrich von Kleist. Stuttgart: Reclam, 1996(Literaturwissen. RUB 15209).

Kayser, Wolfgang: „Kleist als Erzähler“. In: Müller-Seidel,Walter (Hg.): Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays.Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1967(Wege der Forschung. 147), S. 230–243.

Ledanff, Susanne: „Kleist und die ‚beste aller Welten’. DasErdbeben in Chili – gesehen im Spiegel der philosophischenund literarischen Stellungnahmen zur Theodizee im18. Jahrhundert.“ In: Kreutzer, Hans Joachim (Hg.): Kleist-Jahrbuch (1986), S. 125–155.

Marx, Stefanie: Beispiele des Beispiellosen. Heinrich von KleistsErzählungen ohne Moral. Würzburg: Königshausen & Neu-mann, 1994 (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft.129), insbesondere S. 115–167.

Müller-Salget, Klaus: „Das Prinzip der Doppeldeutigkeit inKleists Erzählungen“. In: Müller-Seidel, Walter (Hg.):Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966–1978.Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981(Wege der Forschung. 586), S. 166–199.

Müller-Salget, Klaus: Heinrich von Kleist. Stuttgart: Reclam,2002 (RUB 17635).

Oellers, Norbert: „Das Erdbeben in Chili“. In: Hinderer,Walter (Hg.): Kleists Erzählungen. Stuttgart: Reclam, 1998(Literaturstudium. Interpretationen), S. 85–110.

Schede, Hans-Georg: Kleist. Reinbek bei Hamburg: Ro-wohlt, 2008 (rowohlts monographien, Band 50696).

Schmidt, Jochen: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzäh-lungen in ihrer Epoche. Darmstadt: Wissenschaftliche Buch-gesellschaft, 2003.

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Schmidt, Jochen: Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poeti-schen Verfahrensweise. Tübingen: Max Niemeyer, 1974.

Schrader, Hans-Jürgen: „Spuren Gottes in den Trümmernder Welt. Zur Bedeutung biblischer Bilder in Kleists Erd-beben.“ In: Kreutzer, Hans Joachim (Hg.): Kleist-Jahrbuch(1991), S. 34–52.

Schulz, Gerhard: Kleist. Eine Biographie. München: VerlagC. H. Beck, 2007.

Sembdner, Helmut (Hg.): Heinrich von Kleists Lebensspuren.Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neuausgabe.München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1996.

Sembdner, Helmut (Hg.): Heinrich von Kleists Nachruhm.Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten. Neuausgabe. Mün-chen: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1997.

Silz, Walter: „Das Erdbeben in Chili“. In: Müller-Seidel,Walter (Hg.): Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays.Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1967(Wege der Forschung. 147), S. 351–366.

Wellbery, David E. (Hg.): Positionen der Literaturwissen-schaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Er-beben in Chili“. München: C. H. Beck, 1987.

Zeller, Hans: „Kleists Novellen vor dem Hintergrund derErzählnormen. Nichterfüllte Voraussetzungen ihrer Inter-pretation“. In: Kreutzer, Hans Joachim (Hg.): Kleist-Jahr-buch (1994), S. 83–103.

4) Sonstige LiteraturBuch, Hans Christoph: „Das Erdbeben in Chili. Eine wah-

re Geschichte“. In: Lützeler, Paul Michael/Pan, David(Hg.): Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien. Würz-burg: Königshausen & Neumann, 2001, S. 11–14.

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5) Materialien aus dem InternetWie für fast alle Stichwörter liefert das Internet auch für dasStichwort Das Erdbeben in Chili eine lange und ständig sicherneuernde Liste von Treffern. Hinzuweisen ist besondersauf das „Kleist-Archiv Sembdner“, das der 1997 verstorbeneKleistforscher Helmut Sembdner Anfang der Neunzigerjahrein die Hände der Stadt Heilbronn übergeben hat, wo mandas Archiv fortführt und den Internetauftritt betreut:www.kleist/org/

Hier, wie überall im Internet, gilt: Das Netz ist kein Selbst-bedienungsladen. Auch im Netz haben Autoren Urheber-rechte. Und: Das Internet bietet viel, vielfach jedoch auchunverlässliche Auskünfte.

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