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REPORTAGE 18 MITTWOCH, 18. JULI 2018 a ruht ein winzig kleiner Mensch auf Melanies nackter Brust. Er soll ih- re Wärme fühlen. Sie spürt kaum sein Ge- wicht. Kabel kleben auf seinem Kör- per, Schläuche gehen hinein, seine Haut ist so durchsichtig wie Folie. Melanies Herz schlägt, das Herz ihres Sohnes schlägt schneller. Franz trägt nur eine Windel. Sie ist so groß, dass sie über den Po hinaus bis zum Nacken ragt. Damit er nicht aus- kühlt, haben die Schwestern Hand- tücher über den Säugling gelegt. Sei- ner Mutter soll der Junge so nah sein wie möglich. Er soll das alles spüren, ihr pochendes Herz, ihre weiche Haut, ihren warmen Atem, und es soll ihm Geborgenheit geben. Es ist eine Art Ersatzgeborgenheit, die nicht aufwiegen kann, was Franz genommen wurde. Der schützende Raum des Mutterleibs, in dem ein Ba- by heranwachsen soll, bis es nach 40 Wochen zur Welt kommt. 40 Wochen, das ist die Regel. Franz holen die Ärzte im Klinikum Osnabrück nach 24 Wo- chen und 5 Tagen. Per Notkaiser- schnitt, am 4. März um 4.46 Uhr in der Nacht. Der Junge wiegt bei seiner Ge- burt 900 Gramm. Das ist weniger als ein Paket Zucker. Die Ärzte müssen eingreifen, weil eine gefährliche Infektion Mutter und Kind bedroht. Melanie Themann hat zu diesem Zeitpunkt Fieber, einen vorzeitigen Blasensprung und We- hen. Die kindlichen Herztöne fallen ab. „Sie müssen meinen Mann anru- fen“, sagt sie noch. Dann kommt die Vollnarkose. Als die Ärzte Franz untersuchen, stellen sie fest, dass er bereits krank ist. Sie sprechen vom Amnioninfekti- onssyndrom. Rund 30 Prozent der Frühchen in Deutschland, die vor der 27. Woche mit dieser Erkrankung ge- boren werden, überleben sie nicht. Franz’ Körper muss die Infektion bekämpfen und ist zugleich noch nicht bereit für ein Dasein außerhalb der Fruchtblase. Eine Chance hat ein so extrem unreifes und krankes Frühchen wie Franz nur auf einer spezialisierten Neugeborenen-Inten- sivstation. Das Christliche Kinder- hospital Osnabrück unterhält so eine Station am Klinikum. Dort liegt Franz in einem Raum, der einem Weltraumlabor ähnlicher sieht als einem Kinderzimmer. Der Junge muss beatmet werden, sein Kreislauf ist instabil, der Blutdruck schwankt. Medikamente werden in seine schmalen Äderchen gepumpt. Monitore blinken, Signaltöne pie- pen, und zwischen all den Schläu- chen und Kabeln schlummert der Säugling in einem Inkubator. Sein Körper wirkt zu zart, um alldem standzuhalten. Doch das ist er nicht. Die moderne Medizin ist heute in der Lage, extrem früh geborene Kinder zu retten. Kein Brutkasten der Welt kann die Wun- derfunktionen des Mutterleibs erset- zen. Doch wichtige Entwicklungen, die Föten in der Gebärmutter vollzie- hen, können Ärzte inzwischen auch außerhalb des mütterlichen Körpers kontrollieren. Neonatologen, die Fachärzte der Neugeborenenmedizin, setzen in ih- ren Leitlinien an der vollendeten 23. Woche eine Grenzmarke. „Ich halte es dennoch für problematisch, sich an einer festen Zahl festzuklammern“, sagt Dr. Jürgen Nawracala, Oberarzt der neonatologischen Intensivstation am Klinikum. Der erfahrene Medizi- ner muss achtsam abwägen, wann er Eltern Hoffnungen machen darf, dass ihr Kind leben wird. Nawracala behandelt auch Franz. Melanie und Michael Themann war- ten jeden Tag auf die erleichternde Botschaft aus seinem Mund: Franz wird es schaffen. Doch es soll noch Wochen dauern, bis sie sie hören wer- den. D Was macht so eine Grenzerfahrung mit Müttern und Vätern? Wie fühlen sich Eltern, deren Zuversicht so jäh durch einen Notkaiserschnitt zerstört wird? Die jedes Mal das Schlimmste befürchten, wenn die Überwachungs- geräte Alarm schlagen. Die einen Mundschutz überstülpen, bevor sie ihr Kind auf die Stirn küssen dürfen. Und die lieber darauf verzichten, Fo- tos ihres Kindes zu verschicken, weil sie die Verwandten nicht erschrecken wollen. Franz’ Eltern willigen ein, sich in dieser Zeit begleiten zu lassen. Knapp drei Wochen nach der Geburt sitzen sie in der Cafeteria des Klinikums. Es ist das erste von vielen Gesprächen an einem der quadratischen Holztische, die hier so oft stumme Zeugen sind von Unterhaltungen über Krankheit, Leid und Schmerz. Michael und Melanie haben Ringe unter den geröteten Augen, sie schla- fen nicht viel. Sie sind krank vor Sorge um ihr drittes Kind. Franz ist der jüngste Sohn des Lehrerpaares. Her- mann, der älteste, ist fast sechs, Gus- tav wird im Sommer zwei. Auch er kam zu früh zur Welt, in der 29. Wo- che. „Bei Gustav hieß es immer, ‚er macht das toll, er entwickelt sich gut‘. Bei Franz ist alles so fragil“, sagt Mi- chael. Die Familie lebt in Bevergern, ei- ner Gemeinde bei Hörstel. 30 Minu- ten dauert eine Autofahrt bis zum Klinikum Osnabrück. Die Monate, die vor den beiden 40-Jährigen lie- gen, werden eine Zerreißprobe sein. Zwischen dem Ausnahmezustand im Krankenhaus und dem Alltag zu Hause, wo die Zeit nicht stehen bleibt. Zwischen dem Willen, alles für Franz zu tun, und dem Wissen da- rum, dass die eigenen Kräfte be- grenzt sind. Und zwischen den Be- dürfnissen des kranken Frühchens, das seine Eltern braucht, und denen der beiden Geschwister, die traurig sind, wenn Mama und Papa andau- ernd fortbleiben. „Geburten werden immer mit Freude verbunden“, sagt Melanie. „Aber es gibt auch Gebur- ten, da sind Tod und Trauer näher als das Leben. So ist es mit Franz.“ Drei Tage nach dem Notkaiser- schnitt entscheiden die Ärzte, dass der Junge so weit ist: Er soll allein at- men, sie wollen den Beatmungs- schlauch entfernen. Michael The- mann ist im Raum, als die Mediziner den Schritt vorbereiten. Die folgen- den Minuten werden sich für immer in sein Gedächtnis brennen. „Es gibt kein Erlebnis in meinem Leben, das so einschneidend war. Da ist etwas in mir kaputt gegangen“, wird er später bei einem der Treffen in der Cafeteria sagen. Je länger Frühchen künstlich beat- met werden, desto größer ist die Ge- fahr, dass sie eine chronische Lungen- erkrankung entwickeln. „Jeder Hub Sauerstoff, den ein Beatmungsgerät in die Lunge stößt, kann das empfind- liche Organ schädigen“, erklärt Dr. Nawracala. Doch als der Beatmungsschlauch gezogen ist, bekommt Franz keine Luft. Die Ärzte drücken eine Beat- mungsmaske auf sein Gesicht, aber auch die stabilisiert die Atmung nicht. Die Sauerstoffsättigung im Blut nimmt ab, sein Herz schlägt langsamer. Alarmtöne schrillen durch den Raum. Michael steht in ei- ner Ecke des Zimmers und kann nichts tun. Nur zuschauen. Der Jun- ge muss wiederbelebt werden. Dr. Nawracala beginnt mit einer Herz- druckmassage. Seine großen Hände pressen auf Franz’ kleine Brust. Mi- chael will sich abwenden und kann es doch nicht. Er verkrampft, ein un- erträglicher Gedanke bricht sich Bahn: „Was ist, wenn Franz jetzt stirbt? Stirbt mein Sohn hier gerade, und ich muss das mit ansehen?“ Franz wird reintubiert. Mit dem Schlauch arbeitet seine Lunge wieder, das Herz findet erneut seinen Rhyth- mus. Am Kehlkopf des Frühchens hat- te sich ein fester Schleimpropf gebil- det – eine Folge der schweren Infekti- on. Er hatte verhindert, dass Franz selbstständig atmete. Zwei weitere Versuche wird es in den nächsten Ta- gen brauchen, bis die Ärzte den Beat- mungsschlauch endgültig entfernen können. Als es vorbei ist, rennt Michael The- mann aus der Klinik. Auf dem Park- platz atmet er durch, ruft erst seine Mutter an und dann einen Kollegen, der Notfallseelsorger ist. Als Michael auflegt, zeigt sein Handy zwei Anrufe von Melanie in Abwesenheit an. „Da bin ich wie ein Bekloppter zurückge- laufen, weil ich dachte, es ist wieder etwas mit Franz.“ Der 40-Jährige wird krankge- schrieben. Sich vor Schulklassen zu stellen, zu unterrichten und sich da- bei nichts anmerken zu lassen, das schafft er nicht. Seine Frau bleibt in den ersten Tagen nach der Geburt zur Beobachtung im Krankenhaus. Da- nach bekommt sie ein Belegzimmer auf der gynäkologischen Station, um nah bei ihrem Sohn sein zu können. Nach drei Wochen kehrt sie zurück nach Hause. Die beiden älteren Kin- der halten die dauerhafte Trennung nicht mehr aus. Nun folgt die Mutter einem streng getakteten Stundenplan. Zweimal täglich, morgens und abends, fährt sie zum „Känguruhen“ zu Franz. So nennt sich das enge Kuscheln, Haut an Haut. Zwei Stunden gehen für die Fahrt drauf. Sechsmal täglich pumpt sie Muttermilch ab, jeweils für eine halbe Stunde, drei Stunden insge- samt. Die Nachmittage bleiben für die älteren Söhne. Schlaf bekommt Mela- nie nur selten. Die Muttermilch wird Franz über eine Sonde gespritzt. Die Verdauung ist eine der wenigen Körperfunktio- nen ihres Sohnes, die den Themanns keine Sorge bereitet. Franz atmet zwar eigenständig, unterstützt durch eine sogenannte CPap-Maske, die zu- sätzlichen Sauerstoff in seine Lunge pustet. Doch immer wieder setzt die Atmung aus – eine typische Erschei- nung bei Frühgeborenen. Je unreifer sie sind, desto ausgeprägter fällt sie aus. Bei Franz sind die Sauerstoffab- fälle extrem. „Ständig meldet sich der Alarm“, sagt Michael. „Keine zehn Mi- nuten vergehen, ohne dass der Wert ausschlägt.“ Mit einem sanften Zie- hen an Hand oder Fuß lässt sich Franz wieder zum Luftholen animieren. Das ist eine gute Nachricht. Schlechte Nachrichten hören Mela- nie und Michael zuhauf nach der Ge- burt. Jedes Ärztegespräch scheint auf eine neue Hiobsbotschaft hinauszu- laufen. Franz hat ein Loch im Herzen. Wenn es nicht von allein zuwächst, muss er operiert werden. Er erlitt eine milde Hirnblutung. Weitet sie sich aus, kann das zu einer späteren Be- hinderung führen. Während unzähliger Untersuchun- gen steht Melanie ihrem Sohn bei und hält sein Händchen. Aber wenn die Ärzte einen Ultraschall des Kopfes machen, verlässt sie das Zimmer. „Beim Kopf kann ich nicht dabei sein. Das halte ich nicht aus.“ Denn sie weiß, dass es einen weite- ren Grund zur Beunruhigung gibt. Extrem unreife Kinder, die mit einer Entzündung kämpfen, haben ein er- höhtes Risiko, dass ihre weiße Hirn- substanz geschädigt wird. Die so ent- stehenden Zysten sind oft erst Wo- chen später per Ultraschall erkenn- bar. Sie würden körperliche Beein- trächtigungen des Kindes bedeuten. „Ich neige dazu, Eltern diese Gefahr bewusst zu machen, auch wenn ich sie damit in eine sorgenvolle Zeit stürze“, erklärt Dr. Nawracala. Das sei der fairere Weg, als das Risiko zu verschweigen. Denn dann breche die Katastrophe wie aus dem Nichts über Eltern herein. Bei den Themanns ersetzt eine neue nagende Angst die alte. „Jetzt ist nicht mehr die Frage, ob Franz überle- ben wird“, sagt Michael. „Jetzt ist die Frage: wie?“ Wenn ihr Sohn Brust an Brust auf ihrer nackten Haut liegt, versucht Melanie, zur Ruhe zu kom- men. Sie will die Nähe genießen. Aber das Gedankenkarussell dreht sich. „Welcher Arzt hat wie geguckt, wer hat was gesagt? Das gehe ich immer wie- der durch.“ Die Themanns sind gläubig. Aber seit sie miterleben, was Franz über sich ergehen lassen muss, hadern sie mit ihrem Glauben. Als Melanie ein- mal gar nicht mehr weiterweiß, singt sie Wallfahrtslieder vor dem Inkuba- tor. Um überhaupt irgendetwas zu tun und nicht hilflos zu sein. Nach einem Arztgespräch, es ist Ende März, schwindelt der Mutter wieder der Kopf. Zu viel Information prasselte auf sie ein. Sie kann nicht recht sortieren, was die Mediziner sagten. Was war wichtig, was nicht? Da steckt Dr. Nawracala im Hinausge- hen noch einmal den Kopf zur Tür he- rein und sagt etwas, das Melanie nie vergessen wird. Sie beginnt heftig zu weinen. „Ich bin sehr, sehr zuversicht- lich, dass der Franz irgendwann mit seinen Brüdern im Garten spielen kann.“ eit seiner Geburt hat Franz 300 Gramm zugenommen, er wiegt jetzt 1,2 Kilo. Am Ostersonntag ist er vier Wochen alt geworden und hat nun fast das Geburtsalter seines Bru- ders Gustav erreicht. Melanie und Michael teilen die Be- suche im Krankenhaus inzwischen unter sich auf. In den ersten Wo- chen nach der Reanimation hatte Michael eine tief liegende Angst ver- spürt, die Verantwortung für seinen zerbrechlichen Sohn zu überneh- men. „Ich mache das nicht“, hatte er zu seiner Frau gesagt. Aber eines Morgens im Klinikum kann er nicht mehr anders. Aus Melanies Lippe sprießt ein Herpesbläschen. Auf kei- nen Fall will sie Franz damit gefähr- den, deshalb lässt sie das Känguru- S hen bleiben. Doch ihr Sohn hat ei- nen schlechten Tag mit vielen Sau- erstoffabfällen. Ruhige Stunden am Körper seiner Eltern würden ihm gut tun, sagt eine Ärztin. Als die Schwestern ein Tuch im Inkubator auswechseln müssen, fragen sie Michael, ob er Franz kurz halten könne. Er nimmt seinen Sohn zu sich, ganz vorsichtig. Dann lässt er ihn auf seine Brust sinken. Die Schwestern legen weiche Kissen auf das Kind. Michael wird Franz für drei Stunden nicht mehr hergeben. Danach gehören die Abende im Krankenhaus seinem Sohn und ihm. Oft dämmert Michael wäh- rend seiner „Nachtschichten“ mit Franz weg. „Wenn ich entspannt bin, ist Franz es auch. Die Stim- mung überträgt sich.“ Die Abende sind der Ruhepol. Die Tage werden indes noch kräftezehrender. Nach den Osterferien will Micha- el in die Schule zurückzukehren. Nun müssen die Themanns eine Kinderbetreuung für Gustav auf die Beine stellen. Schon vorher rie- ben sie sich im ständigen Spagat zwischen Klinik und Alltag auf. Die Bürokratie gibt ihnen den Rest. Ih- re private Krankenkasse lehnt den Antrag auf Haushaltshilfe ab. Ob- wohl zig Ärzte Gutachten schrie- ben. Obwohl sich der Sozialdienst des Krankenhauses einschaltete. Statt zu protestieren, zahlen Mela- nie und Michael das Gehalt der Haushaltshilfe selbst. Ihnen fehlt die Energie, sich darüber zu är- gern. An seinem ersten Schultag atmet Michael tief durch, bevor er den Klassenraum betritt. Seinen Schü- lern will er erzählen, was passiert ist. Er zeigt ihnen ein Bild von Franz und reicht eine kleine Beat- mungsmaske herum. „Wenn man das sieht, kann man sich vorstellen, wie winzig Mund und Nase sein müssen.“ Die Schüler sind mucks- mäuschenstill. Michael beantwor- tet Fragen, dann beginnt er mit dem Unterricht. Im April werden die Tage wär- mer und länger. Franz’ Eltern erin- nern sich an den vergangenen Sommer. Als sie den Garten gestal- teten. Als sie mit den Helfern grill- ten, den Tag gemütlich ausklingen ließen und die Kinder gemeinsam ins Bett brachten. Nun zehrt das kraftraubende Le- ben im Ausnahmezustand immer mehr an ihrer Substanz. Zu Hause geht es ruppiger zu, die Nerven liegen blank. Michael entscheidet sich, seine zwei Monate Eltern- zeit nun doch schon direkt zu neh- men, um für die Familie da zu sein. Melanie hätte gerne das Für und Wider diskutiert. Weil sie ja nicht wissen, wann und wie pflegebe- dürftig Franz nach Hause kommen wird. Das Frühchen macht derweil Fortschritte. Kleine Schritte auf ei- nem langen Weg. Aber der geht bergauf. Der Säugling darf zum ers- ten Mal baden. Aus dem Brutkas- ten zieht er ins Wärmebett um, weil er seine Temperatur besser halten kann. „Ich trage jetzt meine eige- nen Sachen. Franz :-)“, steht auf ei- nem Zettel geschrieben, den die Schwestern über sein Bettchen kle- ben. Ein Body, eine Hose, eine Wi- ckeljacke und Söckchen, die bis zu den Knien reichen. Die Schwestern tunken einen Wattebausch in Muttermilch und lassen Franz daran nuckeln. Er saugt so genüsslich daran, dass sie ihm ein Fläschchen abfüllen. Franz trinkt vier Milliliter, danach ist er schachmatt. Aber er trinkt. Dr. Nawracala malt an diesem Tag ein Herz an die Entwicklungskurve. Eine andere Kurve zeigt, dass die Sauerstoffabfälle zwar seltener werden. Die Sättigung im Blut fällt aber immer noch zu tief. Aus kei- nem anderen Zimmer der Station dringen so oft die Alarmtöne wie aus Franz’ Raum. Eine Schwester ruft das Frühchen kurzerhand zum Klingelkönig aus und bastelt eine kleine Krone, die sie an sein Bett heftet. König Franz. Nicht alle fin- den das lustig, aber Melanie und Michael sind dankbar. Wenn Witze möglich sind, dann kann es doch so schlecht nicht mehr aussehen? Das Loch im Herzen von Franz wird kleiner. Die Hirnblutung ist zwar unverändert, hat sich aber nicht ausgeweitet. Dass sich die weiße Substanz im Gehirn verän- dert, wird unwahrscheinlicher. Ih- ren schlimmsten Schrecken haben die Ultraschalluntersuchungen verloren. ranz ist mittlerweile der Stations- senior. Kein Kind liegt so lange hier wie er. Mindestens bis zum ur- sprünglich errechneten Geburtster- min wird er noch bleiben müssen: Das war der 19. Juni. Melanie und Michael versuchen, wenig Gedanken an die Zeit zu verschwen- den, die noch vor ihnen liegt. Wie der Straßenfeger aus dem Kinderroman „Momo“, der immer nur auf das Stück direkt vor seinen Füßen schaut und Besenstrich für Besen- strich arbeitet. Dann schafft er es. So wollen auch Franz’ Eltern es schaf- fen. Ihnen hilft der Blick zurück: Als sie erfuhren, dass Melanie noch einmal schwanger war. „Wir haben uns so ge- freut. Das waren tolle Monate, in de- nen wir noch mehr zusammenge- wachsen sind“, sagt Michael. „Warum tut ihr euch das noch einmal an?“, fragten jedoch manche Freunde. Das Risiko für Melanie, nach Gustav eine erneute Frühgeburt zu erleiden, lag bei 30 bis 40 Prozent, erklärt Dr. Yves Garnier, Chefarzt der Gynäkologie am Klinikum. Alle vorbeugenden Versuche, eine erneute Infektion zu verhindern, schlugen fehl. Bereut das Paar seine Entschei- dung für ein weiteres Kind? Michael wählt seine Worte mit Bedacht. „Es fühlt sich gut an, wenn ich sage, ich habe drei Kinder. Mit Franz ist es auf jeden Fall ein Mehr. Er hat uns schon so viel gegeben.“ Ihr jüngster Sohn wäre nicht mehr da, wenn er nicht gewollt hätte, glaubt Melanie. „Dann hätte er es nicht geschafft.“ „Franz will hier sein“, glaubt auch Dr. Nawracala. Dafür gebe es sogar medizinische Hinweise. Das Früh- chen zeigte in den ersten Tagen eine extreme Reaktion auf seine Infekti- on. Seine weißen Blutkörperchen waren stark vermehrt, fast wie bei ei- ner angeborenen Leukämie. Aber die hatte er nicht. „So etwas habe ich noch nie gesehen“, sagt der Medizi- ner. „Franz hat sich mit aller Macht gegen seine Krankheit gestemmt.“ Die Sauerstoffabfälle werden zwar weiter seltener, aber noch immer läuft Franz bläulich an, wenn seine At- mung aussetzt. Die Themanns trauen sich nicht zu fragen, was das für seine weitere Entwicklung bedeutet. Wird Franz mit Atemmaske nach Hause ge- hen? Was macht der Sauerstoffman- gel mit seinem Gehirn? F Obwohl Jürgen Nawracala einen freien Tag hat, sitzt er in seinem Bü- ro. Einen dicken Hefter und einen Ordner füllt Franz’ Krankenakte mittlerweile. Der Oberarzt blättert. „Er wird aus der Lungenerkrankung herauswachsen“, sagt er. Kinder, die zu Hause weiter beatmet werden müssen, seien dauerhaft stark einge- schränkt. Das werde bei Franz nicht passieren. „Er wird beim 10 000-Me- ter-Lauf vielleicht nicht unter den ersten acht sein“, sagt er. „Aber er wird ankommen.“ Eine Sauerstoffbrille ersetzt die CPap-Maske. Über lange Phasen kommt Franz ganz ohne Atemunter- stützung aus. Das Wärmebett haben die Schwestern mittlerweile gegen eine normale Matratze eingetauscht. Nur noch einen Teil seiner Mahlzei- ten spritzen sie über die Sonde in den Magen. Melanie legt Franz an die Brust an, bis ihrem Sohn die Kräfte ausgehen. Danach gibt es meist noch ein Fläschchen. Einmal leert Franz die komplette Portion. Seine Mutter ist so stolz, als hätte er gerade seine ersten Schritte gemacht. In Bevergern wartet Franz’ Kin- derzimmer. Gustav und Hermann haben drei Bilder gemalt, die dort eine Wand schmücken sollen. Noch lehnen die bunten Werke davor. „Gustav hat die Farbe hauptsächlich mit der Windel verteilt“, sagt Micha- el. Vor dem Fenster baumelt ein Mo- bile mit Stofftieren. Seine Brüder hat Franz noch nie gesehen. Auf der Intensivstation sind Kinderbesuche nicht erlaubt. Eigentlich. Eines Abends bekommt Melanie eine Nachricht von einer Schwester. „Heute wäre es günstig.“ Nach dem Treffen auf dem Heimweg ist Her- mann sehr still. Aber am nächsten Tag erzählt er seiner Freundin im Kindergarten voller Stolz vom Ken- nenlernen. nfang Juni verabschiedet sich ei- ne der Schwestern zu einem län- geren Urlaub. Franz wird danach längst entlassen sein, glaubt sie. „Das erste Deutschlandspiel schaut er zu Hause.“ Aber Franz’ Atmung ist immer noch nicht stabil genug, als sie zurückkehrt. Jürgen Nawra- cala gehen die medizinischen Erklä- rungen aus, warum der Junge so lange braucht. „Das ist einfach Franz.“ Er wird mit einem mobilen Moni- tor entlassen werden, der in der ers- ten Zeit zu Hause seine Sauerstoff- sättigung überwacht. Es ist eine rei- ne Vorsichtsmaßnahme, auch weil die Themanns noch zwei weitere Kinder haben. Sonst müsste jeweils einer von ihnen mit Argusaugen vor dem Bettchen Wache halten. Im Kli- nikum lassen sich Melanie und Mi- chael schulen, wie man ein Kind re- animiert. Sie fertigen eine Telefon- liste. Wen könnten sie in Krisenmo- menten anrufen? Zwei volle Tage verbringt Melanie Mitte Juni bei ihrem Sohn. Die Schwestern raten dazu. In dieser Zeit stillt die Mutter ihren Sohn voll. Sie wechselt seine Windeln, sie zieht ihn um, sie misst seine Temperatur und legt ihn auf die Waage. In jeder freien Minute kuscheln sie. Als Me- lanie das Krankenhaus nach 48 Stunden ohne ihren Sohn wieder verlassen muss, kommt ihr das vor wie Folter. „Das macht man doch nicht. Man trennt eine Mutter nicht so lange von ihrem Kind“, sagt sie verzweifelt nach einem ihrer unzäh- ligen Besuche auf der Intensivstati- on. „Wir warten auf Franz. Wir wün- schen uns nichts sehnlicher, als dass er bei uns ist.“ Mit Gustav und Hermann unter- nehmen sie in diesen Tagen so viel wie möglich. Schwimmbad, Mär- chenwald und Zoo. Familientouren, die erst einmal nicht mehr möglich sind, wenn Franz nach Hause A kommt. Auch das Frühchen unter- nimmt erste Ausflüge. Melanie und Michael dürfen mit ihrem Sohn spa- zieren gehen. „Tun Sie mir einen Ge- fallen. Laufen Sie nicht so ganz arg weit weg“, bittet Dr. Nawracala sie. Mit Franz im Tragetuch schlendert Melanie oft einfach um das Klinik- gebäude herum. Ein Monitor behält seine Sauerstoffsättigung im Blick. Als sie von einem der Spaziergänge zurückkommt, nimmt die Mutter den Klinikfahrstuhl. Da piept auf einmal der Monitoralarm los. Die anderen Fahrgäste halten das schrille Geräusch für den Feuer- alarm. „Wir sind’s nur“, sagt Mela- nie. Dann schlüpft sie schnell aus der Tür. Es wird einer von Franz’ letzten tiefen Atemaussetzern sein. Wie wird es ihm ergehen? In ein paar Monaten? In ein paar Jahren? In die Zukunft können Ärzte nicht bli- cken, aber sie haben Erfahrungs- werte. Dr. Nawracala sagt nun einen sehr komplizierten Satz, bei dem er zuvor über jedes einzelne Wort nachgedacht hat: „Franz wird allein aufgrund der Tatsache, dass er 16 Wochen zu früh auf die Welt kam und sich unter anderen Umweltbe- dingungen als im Mutterleib entwi- ckeln musste, nicht absehbar kör- perlich, mental, kognitiv oder moto- risch beeinträchtigt sein.“ Die The- manns sind Lehrer. Sie verstehen den Satz. Sie hören die gute Nach- richt, erkennen aber auch die Vor- sicht, die aus ihm spricht. Wenn einer seiner kleinen Patien- ten entlassen wird, bedankt sich Dr. Nawracala bei den Eltern. Über- schwänglich. Ein Ritual, das ihm ungemein wichtig ist. Aber müsste es nicht genau andersherum sein? „Was wir von den Eltern bekommen, ist so wertvoll“, sagt er. „In einer hochbelastenden Situation, in der sie alle Kraft aufbringen müssen, verlangen wir geradezu Unmensch- liches: Dass sie ihr Kind bei uns zu- rücklassen und uns vertrauen. Da- für bedanke ich mich.“ Melanie hat ihrem Sohn das er- klärt. Dieses enge Zimmer, das Piep- sen der Apparate, der Geruch von Desinfektionsmitteln, mit Mund- schutz bedeckte Gesichter: „Das ist nicht das richtige Leben hier, Franz“, sagt sie an einem Morgen zu ihm, als sie ihm auf der blauen Kli- nikwickelunterlage sein Strickjäck- chen anzieht. Sie streicht über sei- nen Kopf. as richtige Leben: Nach 121 Ta- gen im Krankenhaus wird Franz es entdecken. Er wird bei sei- ner Familie sein und seine Großel- tern kennenlernen. Seine Eltern werden ihn wickeln, füttern und bei sich tragen, und seine Brüder wer- den um ihn herumtoben. Er wird den blauen Himmel sehen können und die warme Sommerluft einat- men. Und eines Tages wird er mit seinen Brüdern im Garten herum- tollen. Franz ist jetzt zu Hause. D März 900 GRAMM „Das macht man doch nicht. Man trennt eine Mutter nicht so lange von ihrem Kind.“ Melanie Themann kuschelt mit ihrem Sohn auf der Neugeborenenintensivstation. Wenn sie die Klinik mittags verlässt, fühlt sich das an wie Folter. Foto: Michael Gründel Komm heim, Franz! 900 Gramm: So viel wiegt Franz, als ihn Ärzte des Klinikums Osnabrück in der 25. Schwangerschaftswoche entbinden. Das schwer kranke Frühchen hat Monate auf der Intensivstation vor sich. Eine Zeit, in der für seine Eltern Trauer, Angst und pures Glück oft nur einen Atemzug auseinanderliegen. Wir haben sie begleitet. APRIL 1200 GRAMM MAI 2100 GRAMM JUNI 3100 GRAMM Monate im Ausnahmezustand: Frühchen Franz kämpft sich im Klinikum Osnabrück ins Leben. „Er will hier sein“, glaubt sein Arzt, Jürgen Nawracala. Kuscheleinheiten geben dem Jungen die Geborgenheit, die er im Mutterleib spüren würde. Melanie und Michael Themann wünschen sich nichts sehnlicher, als das dritte Kind nach Hause zu holen. Sie werden 121 Tage warten müssen. Zwei Fotos links: Familie Themann Juli 4200 GRAMM Von Meike Baars (Text) und Michael Gründel (Fotos)

Komm heim, Franz! - klinikum-os.de · sind, wenn Mama und Papa andau-ernd fortbleiben. „Geburten werden immer mit Freude verbunden“, sagt Melanie. „Aber es gibt auch Gebur-ten,

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REPORTAGE18 MITTWOCH,18. JULI 2018

a ruht ein winzig kleinerMensch auf Melaniesnackter Brust. Er soll ih-re Wärme fühlen. Siespürt kaum sein Ge-

wicht. Kabel kleben auf seinem Kör-per, Schläuche gehen hinein, seineHaut ist so durchsichtig wie Folie.

Melanies Herz schlägt, das Herzihres Sohnes schlägt schneller. Franzträgt nur eine Windel. Sie ist so groß,dass sie über den Po hinaus bis zumNacken ragt. Damit er nicht aus-kühlt, haben die Schwestern Hand-tücher über den Säugling gelegt. Sei-ner Mutter soll der Junge so nah seinwie möglich. Er soll das alles spüren,ihr pochendes Herz, ihre weicheHaut, ihren warmen Atem, und essoll ihm Geborgenheit geben.

Es ist eine Art Ersatzgeborgenheit,die nicht aufwiegen kann, was Franzgenommen wurde. Der schützendeRaum des Mutterleibs, in dem ein Ba-by heranwachsen soll, bis es nach 40Wochen zur Welt kommt. 40 Wochen,das ist die Regel. Franz holen die Ärzteim Klinikum Osnabrück nach 24 Wo-chen und 5 Tagen. Per Notkaiser-schnitt, am 4. März um 4.46 Uhr in derNacht. Der Junge wiegt bei seiner Ge-burt 900 Gramm. Das ist weniger alsein Paket Zucker.

Die Ärzte müssen eingreifen, weileine gefährliche Infektion Mutter undKind bedroht. Melanie Themann hatzu diesem Zeitpunkt Fieber, einenvorzeitigen Blasensprung und We-hen. Die kindlichen Herztöne fallenab. „Sie müssen meinen Mann anru-fen“, sagt sie noch. Dann kommt dieVollnarkose.

Als die Ärzte Franz untersuchen,stellen sie fest, dass er bereits krankist. Sie sprechen vom Amnioninfekti-onssyndrom. Rund 30 Prozent derFrühchen in Deutschland, die vor der27. Woche mit dieser Erkrankung ge-boren werden, überleben sie nicht.

Franz’ Körper muss die Infektionbekämpfen und ist zugleich nochnicht bereit für ein Dasein außerhalbder Fruchtblase. Eine Chance hat einso extrem unreifes und krankesFrühchen wie Franz nur auf einerspezialisierten Neugeborenen-Inten-sivstation. Das Christliche Kinder-hospital Osnabrück unterhält so eineStation am Klinikum.

Dort liegt Franz in einem Raum,der einem Weltraumlabor ähnlichersieht als einem Kinderzimmer. DerJunge muss beatmet werden, seinKreislauf ist instabil, der Blutdruckschwankt. Medikamente werden inseine schmalen Äderchen gepumpt.Monitore blinken, Signaltöne pie-pen, und zwischen all den Schläu-chen und Kabeln schlummert derSäugling in einem Inkubator. SeinKörper wirkt zu zart, um alldemstandzuhalten.

Doch das ist er nicht. Die moderneMedizin ist heute in der Lage, extremfrüh geborene Kinder zu retten. KeinBrutkasten der Welt kann die Wun-derfunktionen des Mutterleibs erset-zen. Doch wichtige Entwicklungen,die Föten in der Gebärmutter vollzie-hen, können Ärzte inzwischen auchaußerhalb des mütterlichen Körperskontrollieren.

Neonatologen, die Fachärzte derNeugeborenenmedizin, setzen in ih-ren Leitlinien an der vollendeten 23.Woche eine Grenzmarke. „Ich halte esdennoch für problematisch, sich aneiner festen Zahl festzuklammern“,sagt Dr. Jürgen Nawracala, Oberarztder neonatologischen Intensivstationam Klinikum. Der erfahrene Medizi-ner muss achtsam abwägen, wann erEltern Hoffnungen machen darf, dassihr Kind leben wird.

Nawracala behandelt auch Franz.Melanie und Michael Themann war-ten jeden Tag auf die erleichterndeBotschaft aus seinem Mund: Franzwird es schaffen. Doch es soll nochWochen dauern, bis sie sie hören wer-den.

DWas macht so eine Grenzerfahrung

mit Müttern und Vätern? Wie fühlensich Eltern, deren Zuversicht so jähdurch einen Notkaiserschnitt zerstörtwird? Die jedes Mal das Schlimmstebefürchten, wenn die Überwachungs-geräte Alarm schlagen. Die einenMundschutz überstülpen, bevor sieihr Kind auf die Stirn küssen dürfen.Und die lieber darauf verzichten, Fo-tos ihres Kindes zu verschicken, weilsie die Verwandten nicht erschreckenwollen.

Franz’ Eltern willigen ein, sich indieser Zeit begleiten zu lassen. Knappdrei Wochen nach der Geburt sitzensie in der Cafeteria des Klinikums. Esist das erste von vielen Gesprächen aneinem der quadratischen Holztische,die hier so oft stumme Zeugen sindvon Unterhaltungen über Krankheit,Leid und Schmerz.

Michael und Melanie haben Ringeunter den geröteten Augen, sie schla-fen nicht viel. Sie sind krank vor Sorgeum ihr drittes Kind. Franz ist derjüngste Sohn des Lehrerpaares. Her-mann, der älteste, ist fast sechs, Gus-tav wird im Sommer zwei. Auch erkam zu früh zur Welt, in der 29. Wo-che. „Bei Gustav hieß es immer, ‚ermacht das toll, er entwickelt sich gut‘.Bei Franz ist alles so fragil“, sagt Mi-chael.

Die Familie lebt in Bevergern, ei-ner Gemeinde bei Hörstel. 30 Minu-ten dauert eine Autofahrt bis zumKlinikum Osnabrück. Die Monate,die vor den beiden 40-Jährigen lie-gen, werden eine Zerreißprobe sein.Zwischen dem Ausnahmezustand imKrankenhaus und dem Alltag zuHause, wo die Zeit nicht stehenbleibt. Zwischen dem Willen, allesfür Franz zu tun, und dem Wissen da-rum, dass die eigenen Kräfte be-grenzt sind. Und zwischen den Be-dürfnissen des kranken Frühchens,das seine Eltern braucht, und denender beiden Geschwister, die traurigsind, wenn Mama und Papa andau-ernd fortbleiben. „Geburten werdenimmer mit Freude verbunden“, sagtMelanie. „Aber es gibt auch Gebur-ten, da sind Tod und Trauer näher alsdas Leben. So ist es mit Franz.“

Drei Tage nach dem Notkaiser-schnitt entscheiden die Ärzte, dassder Junge so weit ist: Er soll allein at-men, sie wollen den Beatmungs-schlauch entfernen. Michael The-mann ist im Raum, als die Medizinerden Schritt vorbereiten. Die folgen-den Minuten werden sich für immerin sein Gedächtnis brennen. „Es gibtkein Erlebnis in meinem Leben, dasso einschneidend war. Da ist etwas inmir kaputt gegangen“, wird er späterbei einem der Treffen in der Cafeteriasagen.

Je länger Frühchen künstlich beat-met werden, desto größer ist die Ge-fahr, dass sie eine chronische Lungen-erkrankung entwickeln. „Jeder HubSauerstoff, den ein Beatmungsgerätin die Lunge stößt, kann das empfind-liche Organ schädigen“, erklärt Dr.Nawracala.

Doch als der Beatmungsschlauchgezogen ist, bekommt Franz keineLuft. Die Ärzte drücken eine Beat-mungsmaske auf sein Gesicht, aberauch die stabilisiert die Atmungnicht. Die Sauerstoffsättigung imBlut nimmt ab, sein Herz schlägtlangsamer. Alarmtöne schrillendurch den Raum. Michael steht in ei-ner Ecke des Zimmers und kannnichts tun. Nur zuschauen. Der Jun-ge muss wiederbelebt werden. Dr.

Nawracala beginnt mit einer Herz-druckmassage. Seine großen Händepressen auf Franz’ kleine Brust. Mi-chael will sich abwenden und kannes doch nicht. Er verkrampft, ein un-erträglicher Gedanke bricht sichBahn: „Was ist, wenn Franz jetztstirbt? Stirbt mein Sohn hier gerade,und ich muss das mit ansehen?“

Franz wird reintubiert. Mit demSchlauch arbeitet seine Lunge wieder,das Herz findet erneut seinen Rhyth-mus. Am Kehlkopf des Frühchens hat-te sich ein fester Schleimpropf gebil-det – eine Folge der schweren Infekti-on. Er hatte verhindert, dass Franzselbstständig atmete. Zwei weitereVersuche wird es in den nächsten Ta-gen brauchen, bis die Ärzte den Beat-mungsschlauch endgültig entfernenkönnen.

Als es vorbei ist, rennt Michael The-mann aus der Klinik. Auf dem Park-platz atmet er durch, ruft erst seineMutter an und dann einen Kollegen,der Notfallseelsorger ist. Als Michaelauflegt, zeigt sein Handy zwei Anrufevon Melanie in Abwesenheit an. „Dabin ich wie ein Bekloppter zurückge-laufen, weil ich dachte, es ist wiederetwas mit Franz.“

Der 40-Jährige wird krankge-schrieben. Sich vor Schulklassen zustellen, zu unterrichten und sich da-bei nichts anmerken zu lassen, dasschafft er nicht. Seine Frau bleibt inden ersten Tagen nach der Geburt zurBeobachtung im Krankenhaus. Da-nach bekommt sie ein Belegzimmerauf der gynäkologischen Station, umnah bei ihrem Sohn sein zu können.Nach drei Wochen kehrt sie zurücknach Hause. Die beiden älteren Kin-der halten die dauerhafte Trennungnicht mehr aus.

Nun folgt die Mutter einem strenggetakteten Stundenplan. Zweimaltäglich, morgens und abends, fährt siezum „Känguruhen“ zu Franz. Sonennt sich das enge Kuscheln, Hautan Haut. Zwei Stunden gehen für dieFahrt drauf. Sechsmal täglich pumptsie Muttermilch ab, jeweils für einehalbe Stunde, drei Stunden insge-samt. Die Nachmittage bleiben für dieälteren Söhne. Schlaf bekommt Mela-nie nur selten.

Die Muttermilch wird Franz übereine Sonde gespritzt. Die Verdauungist eine der wenigen Körperfunktio-nen ihres Sohnes, die den Themannskeine Sorge bereitet. Franz atmetzwar eigenständig, unterstützt durcheine sogenannte CPap-Maske, die zu-sätzlichen Sauerstoff in seine Lungepustet. Doch immer wieder setzt dieAtmung aus – eine typische Erschei-nung bei Frühgeborenen. Je unreifersie sind, desto ausgeprägter fällt sieaus. Bei Franz sind die Sauerstoffab-fälle extrem. „Ständig meldet sich derAlarm“, sagt Michael. „Keine zehn Mi-nuten vergehen, ohne dass der Wert

ausschlägt.“ Mit einem sanften Zie-hen an Hand oder Fuß lässt sich Franzwieder zum Luftholen animieren. Dasist eine gute Nachricht.

Schlechte Nachrichten hören Mela-nie und Michael zuhauf nach der Ge-burt. Jedes Ärztegespräch scheint aufeine neue Hiobsbotschaft hinauszu-laufen. Franz hat ein Loch im Herzen.Wenn es nicht von allein zuwächst,muss er operiert werden. Er erlitt einemilde Hirnblutung. Weitet sie sichaus, kann das zu einer späteren Be-hinderung führen.

Während unzähliger Untersuchun-gen steht Melanie ihrem Sohn bei undhält sein Händchen. Aber wenn dieÄrzte einen Ultraschall des Kopfesmachen, verlässt sie das Zimmer.„Beim Kopf kann ich nicht dabeisein. Das halte ich nicht aus.“

Denn sie weiß, dass es einen weite-ren Grund zur Beunruhigung gibt.Extrem unreife Kinder, die mit einerEntzündung kämpfen, haben ein er-höhtes Risiko, dass ihre weiße Hirn-substanz geschädigt wird. Die so ent-stehenden Zysten sind oft erst Wo-chen später per Ultraschall erkenn-bar. Sie würden körperliche Beein-trächtigungen des Kindes bedeuten.„Ich neige dazu, Eltern diese Gefahrbewusst zu machen, auch wenn ichsie damit in eine sorgenvolle Zeitstürze“, erklärt Dr. Nawracala. Dassei der fairere Weg, als das Risiko zuverschweigen. Denn dann breche dieKatastrophe wie aus dem Nichtsüber Eltern herein.

Bei den Themanns ersetzt eineneue nagende Angst die alte. „Jetzt istnicht mehr die Frage, ob Franz überle-ben wird“, sagt Michael. „Jetzt ist dieFrage: wie?“ Wenn ihr Sohn Brust anBrust auf ihrer nackten Haut liegt,versucht Melanie, zur Ruhe zu kom-men. Sie will die Nähe genießen. Aberdas Gedankenkarussell dreht sich.„Welcher Arzt hat wie geguckt, wer hatwas gesagt? Das gehe ich immer wie-der durch.“

Die Themanns sind gläubig. Aberseit sie miterleben, was Franz übersich ergehen lassen muss, hadern siemit ihrem Glauben. Als Melanie ein-mal gar nicht mehr weiterweiß, singtsie Wallfahrtslieder vor dem Inkuba-tor. Um überhaupt irgendetwas zutun und nicht hilflos zu sein.

Nach einem Arztgespräch, es istEnde März, schwindelt der Mutterwieder der Kopf. Zu viel Informationprasselte auf sie ein. Sie kann nichtrecht sortieren, was die Medizinersagten. Was war wichtig, was nicht?Da steckt Dr. Nawracala im Hinausge-hen noch einmal den Kopf zur Tür he-rein und sagt etwas, das Melanie nievergessen wird. Sie beginnt heftig zuweinen. „Ich bin sehr, sehr zuversicht-lich, dass der Franz irgendwann mitseinen Brüdern im Garten spielenkann.“

eit seiner Geburt hat Franz 300Gramm zugenommen, er wiegt

jetzt 1,2 Kilo. Am Ostersonntag ist ervier Wochen alt geworden und hatnun fast das Geburtsalter seines Bru-ders Gustav erreicht.

Melanie und Michael teilen die Be-suche im Krankenhaus inzwischenunter sich auf. In den ersten Wo-chen nach der Reanimation hatteMichael eine tief liegende Angst ver-spürt, die Verantwortung für seinenzerbrechlichen Sohn zu überneh-men. „Ich mache das nicht“, hatte erzu seiner Frau gesagt. Aber einesMorgens im Klinikum kann er nichtmehr anders. Aus Melanies Lippesprießt ein Herpesbläschen. Auf kei-nen Fall will sie Franz damit gefähr-den, deshalb lässt sie das Känguru-

S hen bleiben. Doch ihr Sohn hat ei-nen schlechten Tag mit vielen Sau-erstoffabfällen. Ruhige Stunden amKörper seiner Eltern würden ihmgut tun, sagt eine Ärztin.

Als die Schwestern ein Tuch imInkubator auswechseln müssen,fragen sie Michael, ob er Franz kurzhalten könne. Er nimmt seinen

Sohn zu sich, ganz vorsichtig. Dannlässt er ihn auf seine Brust sinken.Die Schwestern legen weiche Kissenauf das Kind. Michael wird Franz fürdrei Stunden nicht mehr hergeben.

Danach gehören die Abende imKrankenhaus seinem Sohn undihm. Oft dämmert Michael wäh-rend seiner „Nachtschichten“ mitFranz weg. „Wenn ich entspanntbin, ist Franz es auch. Die Stim-mung überträgt sich.“ Die Abendesind der Ruhepol. Die Tage werdenindes noch kräftezehrender.

Nach den Osterferien will Micha-el in die Schule zurückzukehren.Nun müssen die Themanns eineKinderbetreuung für Gustav aufdie Beine stellen. Schon vorher rie-ben sie sich im ständigen Spagat

zwischen Klinik und Alltag auf. DieBürokratie gibt ihnen den Rest. Ih-re private Krankenkasse lehnt denAntrag auf Haushaltshilfe ab. Ob-wohl zig Ärzte Gutachten schrie-ben. Obwohl sich der Sozialdienstdes Krankenhauses einschaltete.Statt zu protestieren, zahlen Mela-nie und Michael das Gehalt derHaushaltshilfe selbst. Ihnen fehltdie Energie, sich darüber zu är-gern.

An seinem ersten Schultag atmetMichael tief durch, bevor er denKlassenraum betritt. Seinen Schü-lern will er erzählen, was passiertist. Er zeigt ihnen ein Bild vonFranz und reicht eine kleine Beat-mungsmaske herum. „Wenn mandas sieht, kann man sich vorstellen,

wie winzig Mund und Nase seinmüssen.“ Die Schüler sind mucks-mäuschenstill. Michael beantwor-tet Fragen, dann beginnt er mitdem Unterricht.

Im April werden die Tage wär-mer und länger. Franz’ Eltern erin-nern sich an den vergangenenSommer. Als sie den Garten gestal-teten. Als sie mit den Helfern grill-ten, den Tag gemütlich ausklingenließen und die Kinder gemeinsamins Bett brachten.

Nun zehrt das kraftraubende Le-ben im Ausnahmezustand immermehr an ihrer Substanz. Zu Hausegeht es ruppiger zu, die Nervenliegen blank. Michael entscheidetsich, seine zwei Monate Eltern-zeit nun doch schon direkt zu neh-men, um für die Familie da zu sein.Melanie hätte gerne das Für undWider diskutiert. Weil sie ja nichtwissen, wann und wie pflegebe-dürftig Franz nach Hause kommenwird.

Das Frühchen macht derweilFortschritte. Kleine Schritte auf ei-nem langen Weg. Aber der gehtbergauf. Der Säugling darf zum ers-ten Mal baden. Aus dem Brutkas-ten zieht er ins Wärmebett um, weiler seine Temperatur besser haltenkann. „Ich trage jetzt meine eige-nen Sachen. Franz :-)“, steht auf ei-nem Zettel geschrieben, den dieSchwestern über sein Bettchen kle-ben. Ein Body, eine Hose, eine Wi-ckeljacke und Söckchen, die bis zuden Knien reichen.

Die Schwestern tunken einenWattebausch in Muttermilch undlassen Franz daran nuckeln. Ersaugt so genüsslich daran, dass sieihm ein Fläschchen abfüllen. Franztrinkt vier Milliliter, danach ist erschachmatt. Aber er trinkt. Dr.Nawracala malt an diesem Tag einHerz an die Entwicklungskurve.

Eine andere Kurve zeigt, dass dieSauerstoffabfälle zwar seltenerwerden. Die Sättigung im Blut fälltaber immer noch zu tief. Aus kei-nem anderen Zimmer der Stationdringen so oft die Alarmtöne wieaus Franz’ Raum. Eine Schwesterruft das Frühchen kurzerhand zumKlingelkönig aus und bastelt einekleine Krone, die sie an sein Bettheftet. König Franz. Nicht alle fin-den das lustig, aber Melanie undMichael sind dankbar. Wenn Witzemöglich sind, dann kann es doch soschlecht nicht mehr aussehen?

Das Loch im Herzen von Franzwird kleiner. Die Hirnblutung istzwar unverändert, hat sich abernicht ausgeweitet. Dass sich dieweiße Substanz im Gehirn verän-dert, wird unwahrscheinlicher. Ih-ren schlimmsten Schrecken habendie Ultraschalluntersuchungenverloren.

ranz ist mittlerweile der Stations-senior. Kein Kind liegt so lange

hier wie er. Mindestens bis zum ur-sprünglich errechneten Geburtster-min wird er noch bleiben müssen:Das war der 19. Juni. Melanieund Michael versuchen, wenigGedanken an die Zeit zu verschwen-den, die noch vor ihnen liegt. Wie derStraßenfeger aus dem Kinderroman„Momo“, der immer nur auf dasStück direkt vor seinen Füßenschaut und Besenstrich für Besen-strich arbeitet. Dann schafft er es. Sowollen auch Franz’ Eltern es schaf-fen.

Ihnen hilft der Blick zurück: Als sieerfuhren, dass Melanie noch einmalschwanger war. „Wir haben uns so ge-freut. Das waren tolle Monate, in de-nen wir noch mehr zusammenge-wachsen sind“, sagt Michael. „Warumtut ihr euch das noch einmal an?“,fragten jedoch manche Freunde. DasRisiko für Melanie, nach Gustav eineerneute Frühgeburt zu erleiden, lagbei 30 bis 40 Prozent, erklärt Dr. YvesGarnier, Chefarzt der Gynäkologieam Klinikum. Alle vorbeugendenVersuche, eine erneute Infektion zuverhindern, schlugen fehl.

Bereut das Paar seine Entschei-dung für ein weiteres Kind? Michaelwählt seine Worte mit Bedacht. „Esfühlt sich gut an, wenn ich sage, ichhabe drei Kinder. Mit Franz ist es aufjeden Fall ein Mehr. Er hat uns schonso viel gegeben.“ Ihr jüngster Sohnwäre nicht mehr da, wenn er nichtgewollt hätte, glaubt Melanie. „Dannhätte er es nicht geschafft.“

„Franz will hier sein“, glaubt auchDr. Nawracala. Dafür gebe es sogarmedizinische Hinweise. Das Früh-chen zeigte in den ersten Tagen eineextreme Reaktion auf seine Infekti-on. Seine weißen Blutkörperchenwaren stark vermehrt, fast wie bei ei-ner angeborenen Leukämie. Aber diehatte er nicht. „So etwas habe ichnoch nie gesehen“, sagt der Medizi-ner. „Franz hat sich mit aller Machtgegen seine Krankheit gestemmt.“

Die Sauerstoffabfälle werden zwarweiter seltener, aber noch immer läuftFranz bläulich an, wenn seine At-mung aussetzt. Die Themanns trauensich nicht zu fragen, was das für seineweitere Entwicklung bedeutet. WirdFranz mit Atemmaske nach Hause ge-hen? Was macht der Sauerstoffman-gel mit seinem Gehirn?

F

Obwohl Jürgen Nawracala einenfreien Tag hat, sitzt er in seinem Bü-ro. Einen dicken Hefter und einenOrdner füllt Franz’ Krankenaktemittlerweile. Der Oberarzt blättert.„Er wird aus der Lungenerkrankungherauswachsen“, sagt er. Kinder, diezu Hause weiter beatmet werdenmüssen, seien dauerhaft stark einge-schränkt. Das werde bei Franz nichtpassieren. „Er wird beim 10 000-Me-ter-Lauf vielleicht nicht unter denersten acht sein“, sagt er. „Aber erwird ankommen.“

Eine Sauerstoffbrille ersetzt dieCPap-Maske. Über lange Phasenkommt Franz ganz ohne Atemunter-stützung aus. Das Wärmebett habendie Schwestern mittlerweile gegeneine normale Matratze eingetauscht.Nur noch einen Teil seiner Mahlzei-ten spritzen sie über die Sonde in denMagen. Melanie legt Franz an dieBrust an, bis ihrem Sohn die Kräfteausgehen. Danach gibt es meist nochein Fläschchen. Einmal leert Franzdie komplette Portion. Seine Mutterist so stolz, als hätte er gerade seineersten Schritte gemacht.

In Bevergern wartet Franz’ Kin-derzimmer. Gustav und Hermannhaben drei Bilder gemalt, die dorteine Wand schmücken sollen. Nochlehnen die bunten Werke davor.„Gustav hat die Farbe hauptsächlichmit der Windel verteilt“, sagt Micha-el. Vor dem Fenster baumelt ein Mo-bile mit Stofftieren. Seine Brüderhat Franz noch nie gesehen. Auf derIntensivstation sind Kinderbesuchenicht erlaubt. Eigentlich. EinesAbends bekommt Melanie eineNachricht von einer Schwester.„Heute wäre es günstig.“ Nach demTreffen auf dem Heimweg ist Her-mann sehr still. Aber am nächstenTag erzählt er seiner Freundin imKindergarten voller Stolz vom Ken-nenlernen.

nfang Juni verabschiedet sich ei-ne der Schwestern zu einem län-

geren Urlaub. Franz wird danachlängst entlassen sein, glaubt sie.„Das erste Deutschlandspiel schauter zu Hause.“ Aber Franz’ Atmungist immer noch nicht stabil genug,als sie zurückkehrt. Jürgen Nawra-cala gehen die medizinischen Erklä-rungen aus, warum der Junge solange braucht. „Das ist einfachFranz.“

Er wird mit einem mobilen Moni-tor entlassen werden, der in der ers-ten Zeit zu Hause seine Sauerstoff-sättigung überwacht. Es ist eine rei-ne Vorsichtsmaßnahme, auch weildie Themanns noch zwei weitereKinder haben. Sonst müsste jeweilseiner von ihnen mit Argusaugen vordem Bettchen Wache halten. Im Kli-nikum lassen sich Melanie und Mi-chael schulen, wie man ein Kind re-animiert. Sie fertigen eine Telefon-liste. Wen könnten sie in Krisenmo-menten anrufen?

Zwei volle Tage verbringt MelanieMitte Juni bei ihrem Sohn. DieSchwestern raten dazu. In dieserZeit stillt die Mutter ihren Sohn voll.Sie wechselt seine Windeln, sie ziehtihn um, sie misst seine Temperaturund legt ihn auf die Waage. In jederfreien Minute kuscheln sie. Als Me-lanie das Krankenhaus nach 48Stunden ohne ihren Sohn wiederverlassen muss, kommt ihr das vorwie Folter. „Das macht man dochnicht. Man trennt eine Mutter nichtso lange von ihrem Kind“, sagt sieverzweifelt nach einem ihrer unzäh-ligen Besuche auf der Intensivstati-on. „Wir warten auf Franz. Wir wün-schen uns nichts sehnlicher, als dasser bei uns ist.“

Mit Gustav und Hermann unter-nehmen sie in diesen Tagen so vielwie möglich. Schwimmbad, Mär-chenwald und Zoo. Familientouren,die erst einmal nicht mehr möglichsind, wenn Franz nach Hause

A

kommt. Auch das Frühchen unter-nimmt erste Ausflüge. Melanie undMichael dürfen mit ihrem Sohn spa-zieren gehen. „Tun Sie mir einen Ge-fallen. Laufen Sie nicht so ganz argweit weg“, bittet Dr. Nawracala sie.Mit Franz im Tragetuch schlendert

Melanie oft einfach um das Klinik-gebäude herum. Ein Monitor behältseine Sauerstoffsättigung im Blick.Als sie von einem der Spaziergängezurückkommt, nimmt die Mutterden Klinikfahrstuhl. Da piept aufeinmal der Monitoralarm los. Dieanderen Fahrgäste halten dasschrille Geräusch für den Feuer-alarm. „Wir sind’s nur“, sagt Mela-nie. Dann schlüpft sie schnell ausder Tür.

Es wird einer von Franz’ letztentiefen Atemaussetzern sein. Wiewird es ihm ergehen? In ein paarMonaten? In ein paar Jahren? In dieZukunft können Ärzte nicht bli-cken, aber sie haben Erfahrungs-werte. Dr. Nawracala sagt nun einensehr komplizierten Satz, bei dem erzuvor über jedes einzelne Wortnachgedacht hat: „Franz wird alleinaufgrund der Tatsache, dass er 16Wochen zu früh auf die Welt kamund sich unter anderen Umweltbe-dingungen als im Mutterleib entwi-ckeln musste, nicht absehbar kör-perlich, mental, kognitiv oder moto-risch beeinträchtigt sein.“ Die The-manns sind Lehrer. Sie verstehenden Satz. Sie hören die gute Nach-richt, erkennen aber auch die Vor-sicht, die aus ihm spricht.

Wenn einer seiner kleinen Patien-ten entlassen wird, bedankt sich Dr.Nawracala bei den Eltern. Über-schwänglich. Ein Ritual, das ihmungemein wichtig ist. Aber müsstees nicht genau andersherum sein?„Was wir von den Eltern bekommen,ist so wertvoll“, sagt er. „In einerhochbelastenden Situation, in dersie alle Kraft aufbringen müssen,verlangen wir geradezu Unmensch-liches: Dass sie ihr Kind bei uns zu-rücklassen und uns vertrauen. Da-für bedanke ich mich.“

Melanie hat ihrem Sohn das er-klärt. Dieses enge Zimmer, das Piep-sen der Apparate, der Geruch vonDesinfektionsmitteln, mit Mund-schutz bedeckte Gesichter: „Das istnicht das richtige Leben hier,Franz“, sagt sie an einem Morgen zuihm, als sie ihm auf der blauen Kli-nikwickelunterlage sein Strickjäck-chen anzieht. Sie streicht über sei-nen Kopf.

as richtige Leben: Nach 121 Ta-gen im Krankenhaus wird

Franz es entdecken. Er wird bei sei-ner Familie sein und seine Großel-tern kennenlernen. Seine Elternwerden ihn wickeln, füttern und beisich tragen, und seine Brüder wer-den um ihn herumtoben. Er wirdden blauen Himmel sehen können

und die warme Sommerluft einat-men. Und eines Tages wird er mitseinen Brüdern im Garten herum-tollen. Franz ist jetzt zu Hause.

D

März

900GRAMM

„Das macht man doch nicht. Man trennt eine Mutter nicht so lange von ihrem Kind.“ Melanie Themann kuschelt mit ihrem Sohn auf der Neugeborenenintensivstation. Wenn sie die Klinik mittags verlässt, fühlt sich das an wie Folter. Foto: Michael Gründel

Komm heim, Franz!900 Gramm: So viel wiegt Franz, als ihn Ärzte des Klinikums Osnabrück in der

25. Schwangerschaftswoche entbinden. Das schwer kranke Frühchen hat Monateauf der Intensivstation vor sich. Eine Zeit, in der für seine Eltern Trauer, Angst undpures Glück oft nur einen Atemzug auseinanderliegen. Wir haben sie begleitet.

APRIL

1200GRAMM

MAI

2100GRAMM

JUNI

3100GRAMM

Monate im Ausnahmezustand: Frühchen Franz kämpft sich im Klinikum Osnabrück ins Leben. „Er will hier sein“, glaubt sein Arzt, JürgenNawracala. Kuscheleinheiten geben dem Jungen die Geborgenheit, die er im Mutterleib spüren würde. Melanie und Michael Themann

wünschen sich nichts sehnlicher, als das dritte Kind nach Hause zu holen. Sie werden 121 Tage warten müssen. Zwei Fotos links: Familie Themann

Juli

4200GRAMM

Von Meike Baars (Text) und Michael Gründel (Fotos)