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Konferenzbericht: Warum nicht mal in Berlin? Bericht u ¨ ber den internationalen Workshop ’’ Evidence based Medicine and Clinical Practice Guidelines – Facts and Fiction vom 5. Oktober 2006 in Berlin ’’ Richtige EbM’ler sind Netzwerker und nicht nur wenn es darum geht, sich mit Kollegen im engeren Umkreis auszutauschen. Diese Netzwerke sind erfreulicherweise international, was der unla ¨ngst in den Ra ¨ umen der Bundesa ¨ rztekammer vom A ¨ ZQ ausgerichtete internationale Workshop ’’ Evidence based Medicine and Clinical Practice Guidelines – Facts and Fiction zeigt. ’’ Warum sollen wir uns nicht mal in Berlin treffen, um die gemeinsame Diskussion um EbM fortzufu ¨ hren? hat im vergangenen Jahr Mary Hemming, Chief Executive Officer der Therapeutic Guidelines Limited, Melbourne anla ¨ sslich des Cochrane Colloquiums 2005 in Melbourne vorgeschlagen. Dies war auch der Wunsch, der in einem EbM-Workshop anla ¨ sslich der Jahrestagung des Guidelines International Network im Dezember 2005 in Lyon gea ¨ ußert wurde. Dieser Wunsch nach einem kontinuierlichen internationalen Austausch zu Chancen, Widersta ¨ nden und Implementierungsfragen der EbM wurde aufgegriffen und so konnten die Organisatoren Gu ¨ nter Ollenschla ¨ ger und Monika Lelgemann vom A ¨ rztlichen Zentrum fu ¨ r Qualita ¨t in der Medizin am 5. Oktober 2005 in Berlin neben zehn Referenten aus Australien, Neuseeland, Großbritannien, Holland und Deutschland auch 50 Teilnehmer aus der deutschen ’’ EbM- und Leitlinienszene begru ¨ ßen, die in einen intensiven Erfahrungsaustausch traten. Dass das A ¨ ZQ der Ausrichter dieses internationalen Workshops war, kam nicht von ungefa ¨ hr, bescha ¨ ftigt man sich dort doch seit nunmehr 10 Jahren mit der Erarbeitung von Versorgungsstandards auf der Basis der evidenzbasierten Medizin. Unabha ¨ ngigkeit der Leitlinienersteller ist wichtige Voraussetzung fu ¨r Akzeptanz von Leitlinien Mary Hemming, Chief Executive Officer der Therapeutic Guidelines Limited (Melbourne Australia) ero ¨ ffnet den Erfahrungsaustausch mit dem Thema ’’ Putting Evidence into Practice – Opportunities and Barriers . Seit Beginn der Leitlinienentwicklung in Australien 1970, so Hemming, gab es eine Menge zu lernen. Die ersten Leitlinien entstanden aus der Not geboren, denn es gab an Melbourner Krankenha ¨ usern große Probleme mit resistenten Bakteriensta ¨ mmen. U ¨ ber den effektiven und angemessenen Einsatz von Antibiotika lagen zu der Zeit keine evidenzbasierten Empfehlungen vor. So wurde -finanziert vom Gesundheitsministerium- eine kleine Leitliniengruppe gegru ¨ ndet, aus der dann 1996 die unabha ¨ ngige und sich selbst tragende Therapeutic Guidelines Limited hervorging. Diese Unabha ¨ ngigkeit ha ¨lt Hemming fu ¨ r einen wesentlichen Faktor bei der Verbreitung und Implementierung von Leitlinien. Die Akzeptanz fu ¨ r Leitlinien, bei denen keine Einflussnahme vonseiten der Gesundheitspolitik vermutet wird, sei entsprechend ho ¨her. Wer sich mit der Erstellung von evidenzbasierten Leitlinien bescha ¨ ftigt, darf den gescha ¨ ftlichen Aspekt, also Fragen der Budgetierung, Marktforschung und Vermarktung nicht vernachla ¨ssigen, fordert Hemming. Und schließlich relativiert sie auf der Basis einer zehnja ¨hrigen Erfolgsstory den Titel des Vortrags, indem sie statt der Bezeichnung Barrieren die Bezeichnung Hu ¨ rden vorziehen wu ¨rde, denn die seien u ¨ berwindbar. Was praktisch ta ¨ tige A ¨ rzte wirklich interessiert Evidenzbasierte Leitlinien geben sich auch als solche zu erkennen, denn in Verbindung mit den Empfehlungen finden die Nutzer auch einen Hinweis auf den Grad der Evidenz. Aber: wollen praktisch ta ¨ tige A ¨ rzte wirklich den Evidenzlevel in der Leitlinie sehen? – so die provokative Frage von Alice Glover, die als Editor fu ¨ r die Therapeutic Guidelines Limited ta ¨ tig ist. Dahinter steckt die Frage, ob A ¨ rzte, die sich nicht tagta ¨ glich mit methodisch-theoretischen Fragen der EbM auseinander setzen, mit der wissenschaftlichen Darstellung der Evidenz und Empfehlungen umgehen ko ¨ nnen. Und einen zweiten Aspekt spricht Alice Glover an: Sind evidenzbasierte Empfehlungen, die sich auf den ho ¨ chsten Evidenzgrad stu ¨ tzen, tatsa ¨ chlich in der ta ¨ glichen Praxis bei allen Patienten anwendbar? Glover geht damit auf ganz praktische Hu ¨ rden der Implementierung a ¨ rztlicher Leitlinien ein. So unterschiedlich die Gesundheitssysteme international auch sind, haben A ¨ rzte doch weltweit die gleichen Probleme: Zeitdruck und ein Zuviel an Informationen. Hinzu kommt das Informationsverhalten der praktisch ta ¨ tigen A ¨ rzte, das sich vom dem der medizinischen Experten in der Leitlinienentwicklung unterscheidet. Die Cochrane Library ist hier nicht das Informationsmedium der ersten Wahl. Hier fordert Glove, mu ¨ ssen evidenzbasierte Leitlinien eine echte Unterstu ¨ tzung sein. Was Informationen fu ¨ r praktisch ta ¨ tige A ¨ rzte handhabbar und nu ¨ tzlich macht, ist unter anderem Verla ¨ sslichkeit, Klarheit und Ku ¨ rze, Zuga ¨ nglichkeit, Einfachheit, Aktualita ¨ t und lokale Relevanz. Glover fordert von Leitlinien klare Anweisungen im Sinne von: ’’ Wenn das eintritt, tue dies und zwar schnell’’. Diese Darstellung scheint zwar umstritten, bleibt jedoch im Auditorium vom Grundsatz her unwidersprochen, zeigt sie doch, dass auf dem Weg der evidenzbasierten Medizin noch eine Reihe Steine zu bera ¨ umen sind, damit Leitlinien in unserem expertengetriebenen Gesund- heitssystem zur praktisch handhabbaren U ¨ bersetzung vorhandener Evidenz werden. Dennoch, so die Teilnehmer, sollte auf die Darstellung der Evidenz in Leitlinien nicht verzichtet werden. Monika Lelgemann pla ¨ diert fu ¨ r eine Unterscheidung zwischen der Produktion der Leitlinie und der Form ihrer Darstellung, ha ¨ lt jedoch die Angabe der Evidenz fu ¨r unverzichtbar, denn Vertrauens- wu ¨ rdigkeit mu ¨ sse kenntlich gemacht werden. Leitlinienimplementierung durch Verknu ¨ pfung mit anderen Programmen Ob die hohen Ziele von Leitlinien bei deren praktischen Umsetzung verloren gehen, ist Gegenstand des Vortrags von Bernhard Gibis, Leiter des Dezernats Versorgungsqualita ¨ t und Sicherstellung bei der Kassena ¨ rztlichen Bundesvereinigung. Seine Feststellung: ’’ Wir haben gute Leitlinien, aber sie kommen in der Praxis nicht an . Vor dem Hintergrund eines komplizierten Gesundheitssystems mit immer neuen Reformen wird die a ¨ rztliche Professionalita ¨ t sta ¨ ndig gefordert. Die Basis a ¨ rztlicher Professionalita ¨ t, so Gibis, sei aber in erster Linie klinische Kompetenz; und die zu schaffen sei nicht Sache der Regierung, sondern der A ¨ rzte selbst. Gibis berichtet, dass im Jahr 2005 erstmalig mehr Geld in pharmazeutische Produkte geflossen ist, als in medizinische Behandlungen. Der Pharmareferent hat bei praktisch ta ¨ tigen A ¨ rzten noch immer die Rolle des ’’ Evidenzvermittlers . Gibis fordert: ’’ A ¨ rzte mu ¨ ssen wissen, dass es unterschiedliche Level of Evidenz gibt. Sein Vorschlag zur Lo ¨ sung des Problems ’’ verlorener Leitlinien ist Verbindungen zu schaffen zwischen den evidenzbasierten Empfehlungen der Leitlinien mit Qualita ¨ tssicherungs- programmen und Qualita ¨ tsindikatoren. Auch eine sta ¨ rkere Anpassung von evidenzbasierten Leitlinien an regionale Bedu ¨ rfnisse sei erforderlich. ’’ Wir mu ¨ ssen wissen, was der praktisch ta ¨ tige Arzt wirklich braucht und will. Und wir brauchen Forschung auf dem Gebiet der Leitlinienu ¨ bersetzung . Und letztlich, so Gibis, ko ¨ nne es auch ein Anreiz sein, die Anwendung von evidenzbasierten Leitlinien zu belohnen. Der Weg vom Evidenzgrad zur graduierten Empfehlung erfordert Sorgfalt und Transparenz Aus der Perspektive der Leitlinienentwickler diskutiert Monika Lelgemann vom A ¨ rztlichen Zentrum fu ¨ r Qualita ¨ t in der Medizin die Umsetzung der im Rahmen der ARTICLE IN PRESS ZaeFQ-Service Z.a ¨ rztl. Fortbild. Qual.Gesundh.wes. (ZaeFQ) doi:10.1016/j.zgesun.2006.12.016 70

Konferenzbericht: Warum nicht mal in Berlin?

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ARTICLE IN PRESS

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Konferenzbericht:

ZaeFQ-Service

Warum nicht mal in Berlin?

Bericht uber den internationalen Workshop

’’Evidence based Medicine and Clinical Practice

Guidelines – Facts and Fiction

’’

vom 5. Oktober2006 in Berlin

’’Richtige EbM’ler

’’

sind Netzwerker und nichtnur wenn es darum geht, sich mit Kollegen imengeren Umkreis auszutauschen. DieseNetzwerke sind erfreulicherweise international,was der unlangst in den Raumen derBundesarztekammer vom AZQ ausgerichteteinternationale Workshop

’’Evidence based

Medicine and Clinical Practice Guidelines –Facts and Fiction

’’

zeigt.’’Warum sollen wir uns

nicht mal in Berlin treffen, um die gemeinsameDiskussion um EbM fortzufuhren?

’’

hat imvergangenen Jahr Mary Hemming, ChiefExecutive Officer der Therapeutic GuidelinesLimited, Melbourne anlasslich des CochraneColloquiums 2005 in Melbournevorgeschlagen. Dies war auch der Wunsch, derin einem EbM-Workshop anlasslich derJahrestagung des Guidelines InternationalNetwork im Dezember 2005 in Lyon geaußertwurde. Dieser Wunsch nach einemkontinuierlichen internationalen Austausch zuChancen, Widerstanden undImplementierungsfragen der EbM wurdeaufgegriffen und so konnten die OrganisatorenGunter Ollenschlager und Monika Lelgemannvom Arztlichen Zentrum fur Qualitat in derMedizin am 5. Oktober 2005 in Berlin nebenzehn Referenten aus Australien, Neuseeland,Großbritannien, Holland und Deutschland auch50 Teilnehmer aus der deutschen

’’EbM- und

Leitlinienszene

’’

begrußen, die in einenintensiven Erfahrungsaustausch traten. Dassdas AZQ der Ausrichter dieses internationalenWorkshops war, kam nicht von ungefahr,beschaftigt man sich dort doch seit nunmehr10 Jahren mit der Erarbeitung vonVersorgungsstandards auf der Basis derevidenzbasierten Medizin.

Unabhangigkeit der Leitlinienerstellerist wichtige Voraussetzung furAkzeptanz von Leitlinien

Mary Hemming, Chief Executive Officer derTherapeutic Guidelines Limited (MelbourneAustralia) eroffnet den Erfahrungsaustauschmit dem Thema

’’Putting Evidence into Practice

– Opportunities and Barriers

’’

. Seit Beginn derLeitlinienentwicklung in Australien 1970, soHemming, gab es eine Menge zu lernen. Dieersten Leitlinien entstanden aus der Notgeboren, denn es gab an MelbournerKrankenhausern große Probleme mitresistenten Bakterienstammen. Uber deneffektiven und angemessenen Einsatz vonAntibiotika lagen zu der Zeit keineevidenzbasierten Empfehlungen vor. So wurde

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-finanziert vom Gesundheitsministerium- einekleine Leitliniengruppe gegrundet, aus derdann 1996 die unabhangige und sich selbsttragende Therapeutic Guidelines Limitedhervorging. Diese Unabhangigkeit haltHemming fur einen wesentlichen Faktor bei derVerbreitung und Implementierung vonLeitlinien. Die Akzeptanz fur Leitlinien, beidenen keine Einflussnahme vonseiten derGesundheitspolitik vermutet wird, seientsprechend hoher. Wer sich mit derErstellung von evidenzbasierten Leitlinienbeschaftigt, darf den geschaftlichen Aspekt, alsoFragen der Budgetierung, Marktforschung undVermarktung nicht vernachlassigen, fordertHemming. Und schließlich relativiert sie auf derBasis einer zehnjahrigen Erfolgsstory den Titeldes Vortrags, indem sie statt der BezeichnungBarrieren die Bezeichnung Hurden vorziehenwurde, denn die seien uberwindbar.

Was praktisch tatige Arzte wirklichinteressiert

Evidenzbasierte Leitlinien geben sich auch alssolche zu erkennen, denn in Verbindung mit denEmpfehlungen finden die Nutzer auch einenHinweis auf den Grad der Evidenz. Aber:wollen praktisch tatige Arzte wirklich denEvidenzlevel in der Leitlinie sehen? – so dieprovokative Frage von Alice Glover, die als Editorfur die Therapeutic Guidelines Limited tatig ist.Dahinter steckt die Frage, ob Arzte, die sichnicht tagtaglich mit methodisch-theoretischenFragen der EbM auseinander setzen, mit derwissenschaftlichen Darstellung der Evidenz undEmpfehlungen umgehen konnen. Und einenzweiten Aspekt spricht Alice Glover an: Sindevidenzbasierte Empfehlungen, die sich auf denhochsten Evidenzgrad stutzen, tatsachlich inder taglichen Praxis bei allen Patientenanwendbar? Glover geht damit auf ganzpraktische Hurden der Implementierungarztlicher Leitlinien ein. So unterschiedlich dieGesundheitssysteme international auch sind,haben Arzte doch weltweit die gleichenProbleme: Zeitdruck und ein Zuviel anInformationen. Hinzu kommt dasInformationsverhalten der praktisch tatigenArzte, das sich vom dem der medizinischenExperten in der Leitlinienentwicklungunterscheidet. Die Cochrane Library ist hiernicht das Informationsmedium der ersten Wahl.Hier fordert Glove, mussen evidenzbasierteLeitlinien eine echte Unterstutzung sein. WasInformationen fur praktisch tatige Arztehandhabbar und nutzlich macht, ist unteranderem Verlasslichkeit, Klarheit und Kurze,Zuganglichkeit, Einfachheit, Aktualitat undlokale Relevanz. Glover fordert von Leitlinienklare Anweisungen im Sinne von:

’’Wenn das

eintritt, tue dies und zwar schnell’’. DieseDarstellung scheint zwar umstritten, bleibt

Z

jedoch im Auditorium vom Grundsatz herunwidersprochen, zeigt sie doch, dass auf demWeg der evidenzbasierten Medizin noch eineReihe Steine zu beraumen sind, damit Leitlinienin unserem expertengetriebenen Gesund-heitssystem zur praktisch handhabbarenUbersetzung vorhandener Evidenz werden.Dennoch, so die Teilnehmer, sollte auf dieDarstellung der Evidenz in Leitlinien nichtverzichtet werden. Monika Lelgemann pladiertfur eine Unterscheidung zwischen derProduktion der Leitlinie und der Form ihrerDarstellung, halt jedoch die Angabe derEvidenz fur unverzichtbar, denn Vertrauens-wurdigkeit musse kenntlich gemacht werden.

Leitlinienimplementierung durch Verknupfungmit anderen Programmen

Ob die hohen Ziele von Leitlinien bei derenpraktischen Umsetzung verloren gehen, istGegenstand des Vortrags von Bernhard Gibis,Leiter des Dezernats Versorgungsqualitat undSicherstellung bei der KassenarztlichenBundesvereinigung. Seine Feststellung:

’’Wir

haben gute Leitlinien, aber sie kommen in derPraxis nicht an

’’

. Vor dem Hintergrund eineskomplizierten Gesundheitssystems mit immerneuen Reformen wird die arztlicheProfessionalitat standig gefordert. Die Basisarztlicher Professionalitat, so Gibis, sei aber inerster Linie klinische Kompetenz; und die zuschaffen sei nicht Sache der Regierung,sondern der Arzte selbst. Gibis berichtet, dassim Jahr 2005 erstmalig mehr Geld inpharmazeutische Produkte geflossen ist, als inmedizinische Behandlungen. Der Pharmareferenthat bei praktisch tatigen Arzten nochimmer die Rolle des

’’Evidenzvermittlers

’’

. Gibisfordert:

’’Arzte mussen wissen, dass es

unterschiedliche Level of Evidenz gibt.

’’

SeinVorschlag zur Losung des Problems

’’verlorener

Leitlinien

’’

ist Verbindungen zu schaffenzwischen den evidenzbasierten Empfehlungender Leitlinien mit Qualitatssicherungs-programmen und Qualitatsindikatoren. Aucheine starkere Anpassung von evidenzbasiertenLeitlinien an regionale Bedurfnisse seierforderlich.

’’Wir mussen wissen, was der

praktisch tatige Arzt wirklich braucht und will.Und wir brauchen Forschung auf dem Gebietder Leitlinienubersetzung

’’

. Und letztlich, soGibis, konne es auch ein Anreiz sein, dieAnwendung von evidenzbasierten Leitlinien zubelohnen.

Der Weg vom Evidenzgrad zur graduiertenEmpfehlung erfordert Sorgfalt undTransparenz

Aus der Perspektive der Leitlinienentwicklerdiskutiert Monika Lelgemann vom ArztlichenZentrum fur Qualitat in der Medizin dieUmsetzung der im Rahmen der

.arztl. Fortbild. Qual.Gesundh.wes. (ZaeFQ)doi:10.1016/j.zgesun.2006.12.016

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ARTICLE IN PRESS

Leitlinienentwicklung identifizierten bestverfugbaren Evidenz in graduierteEmpfehlungen in der Leitlinie. GraduierteEmpfehlungen sind ein Schlusselelementevidenzbasierter Leitlinien. Sie machen denUnterschied zwischen Evidenzreports undLeitlinien aus. Oft herrscht bei denLeitlinienanwendern Konfusion daruber, wasder Unterschied zwischen einem Evidenzlevelund einem Empfehlungsgrad ist. Ziel dergraduierten Empfehlungen ist es, die Balancezwischen Nutzen und Risiken der empfohlenenMaßnahmen darzustellen. Die Zuordnungender fur jeden outcome gepruften Evidenzen zueiner graduierten Empfehlung sind dabei abernicht eineindeutig. Bei der Umsetzung desEvidenzlevels in eine Empfehlung kann sowohlein Upgrading als auch ein Downgradingerfolgen. Das bedeutet, eine hohe Evidenzstufemuss nicht immer eine starke Empfehlung nachsich ziehen, andererseits kann eine Evidenzniederen Levels eine starke Empfehlungerhalten. Die Ubertragung der Evidenz inEmpfehlungen stellt somit auch eineGefahrenquelle fur einen moglichen Bias dar.Diese hohe Schule der Leitlinienentwickler istad hoc nicht fur jeden praktisch tatigen Arztdurchschaubar. Das oberste Ziel bei derLeitlinienentwicklung, so Lelgemann, ist daherTransparenz. Alle mit der Leitlinienentwicklungverbundenen Arbeitsschritte sind in einemMethodenreport festgehalten. Diesen freizuganglichen Report kann jeder interessierteLeitlinienanwender lesen, wenn er will und dienotige Zeit dafur findet. Und deshalb fordertauch Lelgemann:

’’Wir mussen als

Leitlinienanwender mehr uber die Fragenlernen, die praktisch tatige Arzte wirklichhaben!

’’

Wissen ist Macht – Experten als Huter derEvidenz?

Die Umsetzung der evidenzbasierten Medizin inLeitlinien erfordert eine gewisse theoretischeVorkenntnis uber Methoden der EbM, also einInsiderwissen uber das nicht jedermannverfugt. Wird hiermit etwa ein Weg einer Art

’’Expertenimperialismus

’’

beschritten? Dies wardas Thema des Beitrags von Norbert Donner-Banzhoff, Abteilung fur Allgemeinmedizin,Praventive und Rehabilitative Medizin an derPhilipps-Universitat Marburg. Ein Experte, soDonner-Banzhoff mit Augenzwinkern, kannetwas, was andere nicht konnen, hat jedeMenge Geheimnisse und genießt speziellePrivilegien. Die EbM hat da eine demo-kratischere Vision dieses Expertenmodells. Hierspielen Eigenschaften wie Transparenz,verstandliches Ausdrucken, Wissensbasiertheitund Unabhangigkeit von pekuniaren Interesseneine Rolle. Aktuelles und valides Wissen in denHanden weniger Experten kann daher nichtAnliegen der evidenzbasierten Medizin sein!Leitlinien beschreiben spezifische Aspekteder arztlichen Tatigkeit. Sie sollen dieVariationen in der Versorgung reduzieren,was oft als eine Art

’’Standardisierung der

Z.arztl. Fortbild. Qual.Gesundh.wes. 101 (2007)www.elsevier.de/zaefq

arztlichen Vorgehensweise

’’

angesehen unddamit zur Barriere der praktischenImplementierung wird. Das Ergebnis ist eineUnzufriedenheit auf Seiten derLeitlinienentwickler und auf Seiten derer, fur diesie gedacht sind. Nicht zu vergessen ist auch:der Umstand, wer die Frage nach der Evidenzstellt, hat einen Einfluss auf die Antworten. Diemeisten Leitlinien haben daher auch eineFunktion als Marketinginstrument. Siereflektieren die Interessen der Ersteller oderAuftraggeber (Krankenkassen, Industrie etc.).Um diese Art der Interessenleitung moglichstauszuschließen, mussen so viele fachlicheMeinungsbildner wie moglich bei der Erstellungvon Leitlinien einbezogen werden. Ein Beispielhierfur sind die Nationalen Versorgungs-Leitlinien unter Tragerschaft derBundesarztekammer, Arbeitsgemeinschaft derWissenschaftlichen Medizinischen Fachgesell-schaften und der KassenarztlichenBundesvereinigung, weil bei deren Erstellung allerelevanten Meinungsbildner beteiligter Fachge-sellschaften in einem Boot sitzen. Donner-Banzhoff fordert die Diskussion im weitenpolitischen Kontext daruber, warum

’’Dinge nicht

funktionieren

’’

.

Interpretation der Evidenz – wie kommenExperten am besten zum Konsens?

Evidenzbasierte Leitlinien konnen ohne einenprofessionellen Konsens nicht entwickeltwerden, stellt Jako Burgers (Dutch Institute forHealthcare Improvement CBO, Utrecht,Holland) fest. Empfehlung setzt sich fur ihnzusammen aus Evidenz und professionellerErfahrung. Evidenz kann zwar unterschiedlichinterpretiert werden und mit einem Biasbehaftet sein, jedoch stellt sie eineunverrruckbare Datenbasis dar. ProfessionelleErfahrung hingegen ist etwas ganzIndividuelles. Um die in einem Teamabzugleichen, bedarf es eines Konsens-findungsprozesses. Aber es ist nicht immer soleicht mit der Konsensusfindung unter denLeitlinienentwicklern. Burgers zitiert Abba Eban

’’A consensus means that everyone agrees to

say collectively what no one believesindividually.

’’

Der Erfolg eines Konsensus hangtim Wesentlichen von der Chancengleichheitder Teilnehmer im Diskussionsprozess sowievom gegenseitigen Respekt und Akzeptanz ab.Eine Schlusselrolle in diesem Setting spielt derModerator der Konsensusrunde, der stets dieBalance zwischen einem

’’chair and share’’

finden muss. Bisher liegt jedoch noch keineEvidenz daruber vor, welche Methode derKonsensusfindung in den Niederlanden sich alsdie beste herausgestellt hat.Auf unterschiedliche Methoden, eine kollektivverantwortete Entscheidung zu treffen, gehtIna Kopp, Arbeitsgemeinschaft der Wissen-schaftlichen Medizinischen Fachgesellschaftenin Deutschland ein. Ob jedoch dieKonsensuskonferenz, die Delphi-Methode oderder Nominale Gruppenprozess bei der Kon-sensfindung das Rennen macht, kann so nicht

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beantwortet werden. Auch Kopp stellt fest:’’Es

gibt derzeit noch keine Evidenz fur den bestenWeg. Welche Methode sich als die besteerweist, ist vom jeweiligen Thema und derZusammensetzung der Expertengruppeabhangig

’’

. Eine weitere Problematik inKonsensusrunden sei der mogliche Bias. Erkann verursacht werden durch die Auswahl derTeilnehmer, Druck von Mehr- oderMinderheiten, Gruppendruck,

’’Mitlaufer

’’

undBrainstormingmethoden. Kopp rat allenLeitlinienentwicklern, in Bezug auf dieGestaltung von Konsensusprozessen uber denTellerrand zu schauen. In den Sozialwissen-schaften beschaftigen sich Experten intensivmit dem Thema der Konsensfindung. Was abertun, wenn Evidenz und Konsens nichtkongruent sind? Kopp empfiehlt fur diesen Fall,die Diskussion sofort zu stoppen undgegebenenfalls weitere Experten hinzu zuziehen.

Die Implementierung von Anfang an im Augebehalten

Eine Institution, die bereits uber einelangjahrige Tradition der Leitlinienentwicklungverfugt, ist das Scottish IntercollegiateGuidelines Network SIGN, beheimatet inEdinburgh. Lorna Thompson berichtet uberHerausforderungen, vor die Leitlinienentwicklerim Fall einer parallelen Produktionverschiedener Leitlinienthemen gestelltwerden. SIGN koordiniert und bearbeitetmehrere Leitlinien gleichzeitig, wobei dieLeitlinie zur Chronischen KoronarenHerzkrankheit in 5 Einzelthemen aufgegliedertist. Die Mitarbeiter von SIGN nehmenhauptsachlich eine Koordinierungs- undRedaktionsfunktion wahr, die Inhalte derLeitlinien entstehen in den Steering Gruppen,Evidenz Review Gruppen und unterPatientenbeteiligung. Die Arbeit von ca. 100health professionals im Rahmen derLeitlinienentwicklung zur KHK zu koordinieren,war die schwerste Aufgabe der SIGN-Mitarbeiter, berichtet Lorna Thompson. Abermit der gleichen Verfe, mit der die schottischenKollegen ihre Leitlinien entwickeln, richten sieihr Augenmerk auch auf die Implementierung.Diese wird als ein so wichtiges Themaangesehen, dass mit der Leitlinienentwickler-gruppe zeitgleich eine eigeneImplementierungsgruppe ihre Arbeit aufnimmt.

Einfluss der Evidenz auf Verschreibungspraxiskritisch betrachten

Evidenz uber die wir sprechen, ist gesichertdurch wissenschaftliche Daten. Das idealeParadigma ist, dass eine gute Evidenz zu einerguten Verschreibungspraxis fuhrt. Dies stellt JoeCollier Experte fur klinische Pharmakologie ander St. George’s Hospital Medical School,London fest. Als ehemaliger Herausgeber desDrug and Therapeutics Bulletin und Prasidentder International Society of Drug Bulletins(2002-2005) weiß er um die Einflusse auf die

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arztliche Verschreibungspraxis, die eben nichtnur evidenzbasiert sind. Zu diesen Einflussengehoren auch die Industrie, gesellschaftlicherDruck, rechtliche Anforderungen, Regelwerke,Krankenhausrichtlinien, Meinungsbildner,Medienberichte, Verfugbarkeit von Medika-menten sowie Erfahrungen, Erwartungen,Anspruche und Forderungen von Patienten.Aber auch Evidenz fuhrt nicht automatisch zueiner guten und adaquaten Verschreibungs-praxis, namlich wenn

’’gute

’’

Evidenz schlechtoder falsch angewendet wird, wenn fehlerhafteEvidenz unkritisch verwendet oderunausgewogene Evidenz exzessiv angewendetwird oder wenn die Wege zurEvidenzgewinnung uberhaupt fehlerbehaftetsind (wie zum Beispiel schlechtes Studien-design, falsche Patientenauswahl oderPublikationsbias). Diese aufgezeigtenEinflussgroßen mussen bei der Interpretationder Evidenz stets berucksichtigt werden fordertCollier.

Von der Untergrundbewegung zurRoutine – aus internationalen Erfahrungenlernen

In der abschließenden Paneldiskussion werdenaustralische, niederlandische, schottische,neuseelandische und deutsche Erfahrungenund Perspektiven vorgestellt und zusam-mengefasst. Catherine Marshall, die alsunabhangige Beraterin tatig ist und bis Mai2006 die New Zealand Guidelines Groupleitete, stellt eindrucksvoll den Weg derLeitlinienentwickler von einer Art Untergrund-bewegung bis hin zur breiten Implementierungdar. Meilensteine auf diesem Weg warenVorurteile gegenuber einer moglichenKochbuchmedizin, das langsamemultidisziplinare Zusammenwachsen, derzunehmende Einfluss der Verbraucher undPatientenorganisationen, ein zunehmender

Broschure der Alzheimer Forschung IniAlzheimer-Patienten weglaufen

’’

Ein typisches Verhalten von Alzheimer-Patienten ist die Ruhelosigkeit und dasWeglaufen. Dieses Verhalten stellt fur diePflegenden ein besonderes Problem dar, da derPatient durch den Verlust seiner Orientierungs-fahigkeit oft nicht mehr nach Hause findet.Warum das so ist und wie man dem vorbeugenkann, erlautert die neue Broschure derAlzheimer Forschung Initiative.Eine der gefahrlichsten Verhaltensweisen, diebei der Alzheimer-Krankheit auftreten, ist dasWeglaufen. Alzheimer-Patienten sindorientierungslos und vergesslich. Deshalb ist einErkrankter, der alleine unterwegs ist, in Gefahr.Er verirrt sich leicht, ist verunsichert undverwirrt und kann im Winter sogar erfrieren,

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Wettbewerb auf dem Leitlinienmarkt undschließlich das wachsende Interesse anevidenzbasierten Leitlinien und derenImplementierung.Leitlinien werden jetzt auch in Australien alseine Basis der Patientenversorgung akzeptiertund zwar von verschiedenen medizinischenProfessionen. Sie bilden eine Grundlage in derAus-, Fort- und Weiterbildung. Mittlerweileerfolgt ihre Ubersetzung in andere Sprachenwie chinesisch, japanisch und russisch sowie dieAdaptation an die Gegebenheiten in denentsprechenden Landern, resumiert MaryHemming.

Neue innovative Losungen, um demWiderstand gegenuber Veranderungen durchdie Anwendung von Leitlinien zu begegnenfordert Lorna Thompson.

’’Wir andern uns nicht, aber die Gesundheits-

systeme andern sich. Das gilt international undwir mussen diesen Veranderungen Rechnungtragen’’, stellt Jako Burgers fest. Die inevidenzbasierten Leitlinien enthaltenenEmpfehlungen mussen auch uber andere Wegeimplementiert werden, zum Beispiel uberKurzzusammenfassungen, Flowcharts,Fortbildungsmaterialien undPatienteninformationen.

Gunter Ollenschlager hat Vorschlage, wieRessentiments gegenuber Leitlinien undHurden bei der Implementierung undAnwendung von Leitlinien uberwundenwerden konnen. Die Losung liege in einerBerucksichtigung der Fragen und Bedurfnisseder Leitlinienanwender und Patienten (nicht derLeitlinienentwickler!) und in der Schnurung vonImplementierungspaketen. Darunter ist dieVerknupfung von Leitlinien mit Qualitatssi-cherungsprogrammen, Programmen zurmedizinischen Aus-, Fort- und Weiterbildung,

tiative e.V.:’’Wenn

wenn er nicht schnell gefunden wird.Besonders im mittleren Stadium der Krankheitist es enorm wichtig, Schutzmaßnahmen zutreffen, die dem Weglaufen vorbeugen. Auchist es fur die Pflegenden hilfreich zu wissen, waszu tun ist, wenn der Alzheimer-Kranke vermisstwird.Die Broschure gibt Hinweise, warum ein Patientweglaufen will und wie man dem vorbeugenkann. Fur Pflegende ist es fast unmoglich, denErkrankten immer im Auge zu haben, dahersollten Vorkehrungen getroffen werden, diedas Verlassen der Wohnung oder des Hausesverhindern.Aber selbst alle Sicherheitsmaßnahmen konnennicht garantieren, dass der Alzheimer-Kranke

Z.arztl. Fo

sowie die Ableitung von Qualitatsindikatorenund Behandlungspfaden zu verstehen. Diegleiche Datenbasis in unterschiedlicher Formanzuwenden, wird von allen Referenten undWorkshopteilnehmern als eine wichtigeVoraussetzung zur Implementierungevidenzbasierter Leitlinien angesehen. Diezunehmende Multidisziplinaritat bei der Leit-linienentwicklung ist ein weiterer Erfolgsfaktor.Mit dem Programm fur Nationale Versorgungs-Leitlinien in Deutschland wurde hier einwichtiger Meilenstein erreicht.Bleibt am Ende dieses interessanten Workshopsdie Schlussfolgerung, dass es außerst wichtigist, diese Diskussionen fortzusetzen. Es herrschtein allgemeiner Konsens: Further internationalworkshops are needed!

Das Programm des Workshops inklusive derHandouts aller Vortrage konnen unter dernachfolgenden Adresse aus demInternetangebot des AZQ geladen werden:http://www.aezq/de/aezq/veranstaltungen/workshop tgl aezq/view

Korrespondenzadresse:Dr. PH Sylvia SangerArztliches Zentrum fur Qualitat in der MedizinWegelystraße 3/Herbert-Lewin-Platz10623 BerlinTelefon: (030) 4005 2520Fax: (030) 4005 2555E-Mail: [email protected]

nicht doch unbemerkt das Haus verlassen kann.Dann ist sofort die Polizei zu informieren, dennein vermisster Alzheimer-Patient sollte immerwie ein Notfall behandelt werden. WelcheSchritte daruber hinaus helfen, den Kranken soschnell wie moglich zu finden, werdenebenfalls erklart.Die Broschure ‘‘Wenn Alzheimer-Patientenweglaufen’’ kann bei der Alzheimer ForschungInitiative e.V., Grabenstraße 5, 40213Dusseldorf, kostenfrei angefordert werden. PerPost oder per Internet http://www.alz-heimer-forschung.de , per [email protected] oder ein-fach uber die gebuhrenfreie Telefonnummer0800 200 40 01.

ZaeFQ-Service

rtbild. Qual.Gesundh.wes. 101 (2007) 70–72www.elsevier.de/zaefq