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SACHVERSTANDIGENRAT zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen Koordination und Qualitat im Gesundheitswesen Gutachten 2005 Kurzfassung

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SACHVERSTANDIGENRATzur Begutachtung der Entwicklung

im Gesundheitswesen

Koordination und Qualitatim Gesundheitswesen

Gutachten 2005Kurzfassung

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Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Korporative Koordination und Wettbewerb imGesundheitswesen

3. Soziookonomischer Status und Verteilung von Mortalitat,Morbiditat und Risikofaktoren 17

4. Strategien der Primarpravention 23

5. Schnittstellen zwischen Krankenversicherung undPflegeversicherung 47

6. Hilfsmittel und Heilmittel in der GKV 61

7. Einflussfaktoren auf die Verordnung von Arzneimitteln 67

Anhang 91

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Verzeichnis der TabellenTabelle 1: Interventionsebene, Kontextbezug und Beispiele filr

verhaltenspraventive Interventionen 26Tabelle 2: Gegentiberstellung der Organisationsunterschiede der

gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialenPflegeversicherung 49

Tabelle 3: Auswirkungen der Dynamisierung und der Umschichtung derMittel im stationaren Bereich bei Einiuhrung im Jahr 2006 53

Tabelle 4: Haufigkeit der Empfehlung von Rehabilitationsmafinahmenin Pflegegutachten (in Prozent) 54

Tabelle 5: Pravalenz von mittelschweren und sehweren Demenzen inDeutschland (in Prozent) 58

Tabelle 6: Arzneiverordnungen von Allgemeinmedizinern undInternisten nach Indikationsgmppen (in DDD je Arzt fur2003) 75

Verzeichnis der Abbildungen

Abbildung 1: Ubersicht tiber empirische Ergebnisse zum statistischenZusammenhang von SES und Morbiditat

Abbildung 2: Primarpravention als RisikoreduktionAbbildung 3: Hierarchic von Planungsebenen im Setting-AnsatzAbbildung 4: Public Health Action CycleAbbildung 5: Veranderung der GKV-Arzneirnittelausgaben je Mitglied

gegentiber dem Vorjahr (in Prozent)Abbildung 6: Varianz der Arzneimittelausgaben nach KV-Regionen,

dargestellt am Beispiel einer Ersatzkasse im Jahr 2003

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1. Vorwort

Der Rat legt hiermit sein Gutachten 2005 mit dem Titel ,,Koordination und Qualitat imGesundheitswesen" vor. Neben der korporativen Koordination bilden die Zusammen-hange zwischen soziookonomischem Status und Gesundheit, die Strategien der Primar-pravention, die Schnittstellen zwischen der Kranken- und Pflegeversicherung, die Ver-sorgung mit Hilfs- und Heilmitteln in der GKV und die Einflussfaktoren auf die Ver-ordnung von Arzneimitteln Schwerpunkte der Betrachtung. Damit erfullt der Rat seinenin § 142 Abs. 2 SGB V formulierten Auftrag, unter Beriicksichtigung der finanziellenRahmenbedingungen und der vorhandenen Wirtschaftliehkeitsreserven Prioritaten furden Abbau von Versorgungsdefiziten und bestehenden Uberversorgungen sowie Mog-lichkeiten und Wege zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens aufzuzeigen.

Im Rahmen der Erstellung des Gutachtens hat der Rat zahlreiche Gesprache gefiihrt undwertvolle Anregungen erhalten. Er konnte jederzeit fachkundige Information im Bun-desministerium fur Gesundheit und Soziale Sicherung einholen. Im Einzelnen dankt derRat: Herrn Prof. Dr. med. Dieter Borgers, Universitat Bremen; Herrn Prof. Dr. med.Erland Erdmann, Universitat zu Koln; Frau Mag. Andrea Ernst, arte-Redaktion, Koln;Herrn Dr. rer. pol. Raimund Geene, Gesundheit Berlin e. V.; Herrn Prof. Dr. phil. Dr.rer. med. Thomas Gerlinger, Universitat Frankfurt; Herrn Prof. Dr. phil. SiegfriedGeyer, Abteilung Allgemeinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover; HerrnAndreas GroBmann, BKK Bundesverband, Essen; Herrn Dr. rer. nat. Ulrich Hagemann,Bundesinstitut fiir Arzneimittel und Medizinprodukte, Bonn; Herrn Dipl. Politikwiss.Marc-Stephan Hiibner, M.A., Abteilung Allgemeinmedizin der Medizinischen Hoeh-schule Hannover; Herrn Dipl.-Soz. Holger Kilian, Gesundheit Berlin e. V.; Herrn Prof.Dr. med. Johan P. Mackenbach, Erasmus Universitat Rotterdam; Herrn Dr. phil.Andreas Mielck. MPH, GSF-Institut fur Gesundheitsokonomie und Management imGesundheitswesen; Herrn Prof. Dr. phil. Martin Moers, Fachhochschule Osnabrilck;Herrn Dr. med. Michael de Ridder, Krankenhaus am Urban, Berlin; Frau Prof. Dr. phil.Doris Schaeffer, Universitat Bielefeld; Herrn PD Dr. med. Christian A. Schneider, Uni-versitat zu Koln; Frau Dr. rer. soc. Ingrid Schubert, Universitat zu Koln; Herrn Prof. Dr.phil. Johannes Siegrist, Universitat Dtisseldorf; Herrn Prof. Dr. med. Klaus Stegmuller,Fachhochschule Fulda; Herrn Prof. Dr. med. Gerold Stucki, Institut fiir Gesundheits-und Rehabilitationswissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universitat Miinchen; FrauDipl.-Psych. Susanne Wurm, Deutsches Zentrum fiir Altersfragen, Berlin.

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Der Rat dankt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an den Lehrsttihlen und In-stitutionen der Ratsmitglieder, insbesondere Herrn Dipl.-Volksw. Holger Cischinsky,Universitat Mannheim; Frau Dipl.-Pflegepad. Dagmar Dra'ger, Freie Universitat Berlin;Herrn PD Dr. med. Dr. rer. pol. Afschin Gandjour, MBA, Universitat zu Koln; Dr. rer.pol. Markus Lilngen, Universitat zu Koln; Herrn Apotheker Frank Meyer, UniversitatBremen; Frau Dr. med. Elke Scharnetzky, Universitat Bremen; Herrn Dr. rer. cur. MaikWinter, Freie Universitat Berlin; Herrn Dr. phil. Michael T. Wright, Wissenschaftszent-rum Berlin fur Sozialforschung.

Fur die Erarbeitung und Durchsicht wichtiger Teile und fur die Endredaktion des Gut-achtens konnte sich der Rat, wie schon in der Vergangenheit, auf die wissenschaftlichenMitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Geschaftsstelle stiitzen. Zu ihnen gehoren Frau Dr.med. Sabine Maria List, MPH, Herr Dipl.-Volksw. Claus Michel, Herr Dr. med.Jan Paehler, M.Sc., Frau Dr. med. Dipl.-Sozialw. Sonja Schlemm, Frau Dr. oec. publ.Dipl.-Volksw. Astrid Selder und als Leiter der Geschaftsstelle Herr Dr. oec. Dipl.-Volksw. Lothar Seyfarth. Fur ihr auBergewohnliches Engagement und ihre tatkraftigeund sehr sachkundige Unterstutzung gebiihrt ihnen besonderer Dank.

Der Rat dankt auBerdem Frau Anette Bender, die mit groBer Sorgfalt und Geduld dietechnische Herstellung der Gutachtenbande bewaltigte. SchlieBlich dankt der Rat FrauSabine VanDen Berghe und Frau Annette Wessel fur die Unterstutzung der Arbeit desRates in der Geschaftsstelle.

Wenn im Gutachten bei der Bezeichnung von Personengruppen, Gesundheitsberufenund anderen Kollektiven die mannliche Form verwendet wird, so sind damit selbstver-standlich Frauen und Manner gemeint. Die Verwendung der ktirzeren mannlichen Formdient ausschlieBlich der besseren Lesbarkeit.

Fur Fehler und Mangel des Gutachtens tragt der Rat die Verantwortung.

Bonn, im Mai 2005

Gisela C. Fischer Gerd Glaeske Adelheid Kuhlmey

Karl W. Lauterbach Rolf Rosenbrock Peter C. Scriba

Eberhard Wille

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2. Korporative Koordination und Wettbewerb im Gesundheitswesen

1. Der Korporativismus beruht auf Vereinbarungen, die Organisationen als private Ver-bande oder Korperschaften des offentlichen Rechtes schlieBen. Die korporative Koordi-nation stellt neben dem Markt- und Preismechanismus und der offentlichen Planungbzw. der staatlich-administrativen Steuerung einen gesamtwirtschaftlichen Allokati-onsmechanismus dar. Sie spielte als Koordinationsinstrument eine dominante Rolle inder mittelalterlichen Zunftwirtschaft und erlebte nach dem ersten Weltkrieg in mehrerenLandern eine Renaissance.

2. Wie in anderen Wirtschaftsbereichen versuchen auch im Gesundheitswesen zahlrei-che Verbande im politischen Prozess ihre partikularen Interessen durchzusetzen unddamit spezielle Allokationsentscheidungen zu beeinflussen. Das deutsche Gesundheits-wesen beinhaltet mehr als jeder andere Wirtschaftssektor eine Fiille von korporativenElementen. Die Gemeinsame Selbstverwaltung im Rahmen der vertragsarztlichen undvertragszahnarztlichen Versorgung bildet ein ,Paradebeispiel' einer korporativen Koor-dination. Die im deutschen Gesundheitswesen feststellbaren Fehlallokationen und dievor allem in den letzten Jahren langwierigen und ergebnisarmen Abstimmungsprozesseim Rahmen der Gemeinsamen Selbstverwaltung liefien Zweifel an der Leistungsfahig-keit der korporativen Koordination und in diesem Kontext auch an der Existenzberech-tigung der Kassenarztlichen Vereinigungen (KVen) aufkommen.

3. Bei einer Beurteilung der korporativen Koordination gilt es in rechtlicher wie in oko-nomischer Hinsicht zunachst zu unterscheiden, ob es sich bei den jeweiligen Organisa-tionen um private Verbande oder um Korperschaften des offentlichen Rechtes handelt.Wahrend private Verbande ihre gruppenspezifischen Interessen gegentiber politischenEntscheidungseinheiten vertreten, erhalten die Korperschaften des offentlichen Rechteshoheitliche Rechte zur Erfullung offentlicher Aufgaben ubertragen. Obgleich die korpo-rative Koordination gewisse konstitutive Vor- und Nachteile aufweist, legen auch ord-nungspolitische Aspekte nahe. zwischen den Schwachstellen eines Verbandestaates undden korporativ bedingten Fehlallokationen im deutschen Gesundheitswesen zu differen-zieren.

4. Eine ordnungspolitische Besonderheit des deutschen Gesundheitswesens bestehtdarin, dass auf seinen einzelnen Teilmarkten unterschiedliche Allokationsmechanismenvorherrschen. Wahrend im ambulanten Bereich die korporative Koordination und imstationaren Sektor die offentliche Planung bzw. staatliche Administration jeweils alszentrale Steuerungsinstrumente dienen, koordiniert bei den Arznei- und den meisten

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Hilfsmitteln im Wesentlichen der Markt- und Preismechanismus die knappen Ressour-cen. Dabei kann jedes dieser drei Koordinationsinstrumente auch subsidiar ein andereserganzen.

Wettbewerbsprozesse stellen zwar eine notwendige Bedingung fiir einen funktionsf&hi-gen Markt- und Preismechanismus dar, laufen aber ebenfalls im Rahmen der staatlich-administrativen Steuerung und der korporativen Koordination ab. So konkurrieren z. B.Vertragsarzte innerhalb der KVen um Mandate, die u. a. eine (Mit-)Gestaltung der Ver-gutungssysteme ermoglichen, und als Leistungserbringer um Patienten. Varianten derkorporativen Koordination konnen insofern auch unter Wettbewerbsaspekten zur Dis-kussion stehen und damit entsprechende Reformen nahelegen.

Allgemeine Schwachstellen des Korporativismus bestehen darin, dass

- die Vereinbarungen haufig zu Lasten nicht beteiligter Drifter gehen,

- die Organisationen, sofern sie ihre Marktposition durch den technischen Fortschrittgefahrdet sehen, nur ein geringes Interesse an Neuerungen besitzen,

- die Verteidigung des Status quo zu Effizienzverlusten und EinbuBen bei Wachstumund Beschaftigung flihrt und

- die Organisationen den vielfach lalschlichen Eindrack erwecken, allfallige Risikenklein halten oder absichern zu konnen.

5. Das Spektrum der korporativen Organisationen reicht von Arztekammern und ande-ren Korperschaften des offentlichen Rechtes, wie KVen und Krankenkassen, die milstaatlichem Auftrag hoheitliche Aufgaben wahrnehmen, bis zu privaten Verbanden, wiez. B. dem Hartmann Bund, dem Marburger Bund oder Verbanden der pharmazeutischenIndustrie. Eine interessante Mittelstellung nehmen hier einige Organisationen des pri-vaten Rechts ein, die zwar keine Zwangsmitgliedschaft aufweisen, aber bei der Erful-lung offentlich-rechtlicher Funktionen mitwirken. Hierzu gehoren u. a. die Bundesarz-tekammer, die Bundesverbande der Krankenkassen, die Verbande der Ersatzkassen unddie Deutsche Krankenhausgesellschaft.

6. Die Entwicklung korporativer Koordination folgte in den letzten ca. 30 Jahren kei-nem eindeutigen Trend, vielmehr losten sich Phasen einer Starkung und Schwachungab, und teilweise fand auch gleichzeitig ein Aus- und Abbau korporativer Steuerungs-elemente statt. Wahrend die korporative Koordination derzeit auf dem Priifstand steht,

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orientierte sich das 2. GKV-Neuordnungsgesetz von 1997 noch an der Devise ,,Vorfahrtfiir die Selbstverwaltung". Den starksten Zuwachs an korporativen Steuerungselemen-ten verzeichnete der stationare Sektor, u. a. mit einer deutlichen Aufwertung der Kom-petenzen der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Obwohl sie keine Korper-schaft des offentlichen Rechtes darstellt, ubernahm der Ausschuss Krankenhaus ver-gleichbare Aufgaben wie der Bundesausschuss Arzte und Krankenkassen im Rahmender ambulanten Behandlung. Die DKG spielt auch im Gemeinsamen Bundesausschuss(GBA) eine allokativ ahnliche Rolle wie z. B. die KBV. Der GBA bildet quasi einezentrale korporative ,Super-Organisation' mit erweiterten Vollmachten hinsichtlich dermedizinischen Versorgung.

Gegeniiber den Tendenzen in Richtung einer zentralisierten korporativen Steuerungnahmen sich die Reformen, die auf eine Substitution korporativer Elemente durch de-zentrale Wettbewerbsprozesse zielten, vergleichsweise bescheiden aus. Hierunter fallenvor allem die Intensivierung des Wettbewerbs der Krankenkassen, die Modellvorhabenund Strukturvertrage und einige Maflnahmen des Gesundheitsmodernisierungsgesetzesvon 2004, insbesondere die Modifikation der integrierten Versorgung. Es diirfte aller-dings noch geraume Zeit dauern, bis die dezentralen Wettbewerbsprozesse einen rele-vanten Marktanteil erreichen.

7. Im Rahmen der korporativen Koordination verhindern vor allem folgende Inflexibili-taten effizienz- und effektivitats- bzw. qualitatssteigernde Prozesse:

- Die Krankenkassen verftigen im Leistungs- und Vertragsbereich tiber zu geringeGestaltungsmoglichkeiten.

- Die ambulanten Vertragsarzte fungieren nur als Anpasser hinsichtlich Menge oderQualitat der Leistungen, was bei starren Budgets einen ,circulus vitiosus' in Rich-tung Uber- und Fehlversorgung (,Hamsterradeffekt') auslost.

- Die Allokation im stationaren Sektor leidet unter der dualen Finanzierung und unterWettbewerbsverzerrungen infolge unterschiedlicher Finanzierung der jeweiligenTrager.

- Die Arzneimitteldistribution erfolgt mit dem Fremdbesitzverbot und dem sehreingeschrankten Mehrbesitz immer noch in zunftahnlichen Vertriebsstrukturen.

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- Die gemeinsame Selbstverwaltung erzielt zunehmend weniger tragfahige Kompro-mlsse und walzt die Entscheidungen auf die Schiedsamter bzw. staatliche Ersatz-vornahmen ab.

- Die medizinisch wie okonomisch fragmentierten Behandlungsarten setzen immernoeh zu geringe Anreize fur eine sektoriibergreifende Versorgung und einen ziel-orientierten Wettbewerb an den Schnittstellen.

Um die Inflexibilitaten aufzubrechen, die der korporativen Koordination anhaften, bietetsich eine Integration von dezentralen Wettbewerbsprozessen in Form von selektivenVertragsverhandlungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern an. Dabeistellt der Wettbewerb aueh im Gesundheitswesen keinen Selbstzweck, sondern ein In-strument dar, das vornehmlich allokativen und distributiven Zielsetzungen dient. Untergeeigneten Rahmenbedingungen vermag der Wettbewerb der Krankenkassen um Versi-cherte bzw. Patienten bei den Leistungserbringern die Effizienz zu steigern und die Su-che nach effektiveren, d. h. auch versicherten- und patientengerechteren, Angeboten an-zuregen. Dabei setzt eine funktionsgerechte Intensivierung des Wettbewerbs auf derEbene der Leistungserbringer ein flexibles Vertragsrecht voraus.

8. Im Rahmen dezentraler Wettbewerbsprozesse griindet sich die Tatigkeit der Leis-tungserbringer nicht mehr auf einmalige Zulassungsakte, sondern auf selektive Vertragemit einzelnen Krankenkassen. Diesen Vertragen setzt mit dem Ziel eines fairen Wett-bewerbs das deutsche und europaische Wettbewerbs- und Vergaberecht gewisse Gren-zen. Das SGB V schlieBt zwar in § 69 Abs. 1 die Geltung des deutschen Wettbewerbs-rechts fur die Beziehungen zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringernaus, es gilt aber das hoherrangige europaische Wettbewerbsrecht. Zudem bindet ihr ho-heitlicher Status die Krankenkassen an spezielle Normen des Grundgesetzes, z. B, denallgemeinen Gleichheitssatz und die Berufsfreiheit. Analog zum Kartellrecht zielt dasnationale und europaische Vergaberecht auf eine transparente, marktoffene und diskri-minierungsfreie Vergabe von offentlichen Auftragen. Obwohl es sich bei selektivemKontrahieren zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern zumeist nicht um 6f-fentliche Auftrage handelt, bietet sich hier aus rechtlicher wie okonomischer Sicht eineoffentliehe Ausschreibung an, die transparente. objektivierbare und justiziable Kriterienbeinhaltet.

9. Bei selektivem Kontrahieren entstehen in Form eines gestuften Verfahrens zweiWettbewerbsebenen. Auf der ersten fragen die Krankenkassen nach gewissen Auswahl-kriterien fur ihr Versorgungsnetz Leistungserbringer nach und auf der zweiten bzw. un-

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teren Ebene entscheiden sich dann die Patienten fur bestimmte Leistungserbringer. Aufder ersten Ebene, die bei Kollektivvertragen entfallt, stehen Krankenkassen und Leis-tungserbringer wechselseitig in Konkurrenz um Vertrage bzw. Vertragspartner, und aufder nachgelagerten Ebene konkurrieren die Leistungserbringer um Patienten. Um dieEffekte der jeweiligen Prozesse absehatzen zu konnen, bedarf es zunachst einer Ab-grenzung des jeweils wettbewerbsrelevanten Gesundheitsmarktes sowohl hinsichtlichdes betreffenden Produktes als auch seiner raumlichen Dimension. Dabei hangt die Ab-grenzung des Produktmarktes im Wesentliehen von der Substituierbarkeit des Gutes ab,wahrend beim geographischen Markt haufig Nutzer- bzw. Patientenfliisse als Kriteriumdienen.

10. Der (partielle) Ubergang von Kollektivvertragen zu selektivem Kontrahieren setztsowohl bei den Krankenkassen als auch bei den Leistungserbringern Anreize zu Zu-sammenschlussen bzw. zu einer Intensivierung bereits vorhandener Konzentrationspro-zesse. Dabei handelt es sich iiberwiegend um horizontale Konzentrationsprozesse, die apriori, d. h. ohne Bezug zur jeweiligen Markt- bzw. Wettbewerbskonstellation, wedereine positive noch eine negative gesamtwirtschaftliche Bewertung verdienen. Sie kon-nen die Effizienz und Effektivitat u. a. durch Senkung der Transaktionskosten, Realisie-rung von Skalenertragen, Abbau von Uberkapazitaten, Forderung von Spezialisierungenund Risikostreuung erhohen. Horizontale Zusammenschliisse bergen andererseits dieGefahr, dass die fusionierten Anbieter ihre Marktmacht zum Schaden von Versichertenund Patienten ausnutzen.

Vertikale Zusammenschlusse umfassen Anbieter von Leistungen, die auf verschiedenen,aber miteinander verbundenen Produktmarkten agieren, z. B. Krankenkassen, ambulanteArzte und Krankenhauser. Ihr Spektrum reicht von Fusionen oder Zukaufen iiber Ex-klusiv-, Koppelungs- und Meistbegiinstigungsklauseln bis zu Gemeinschaftsprojekten.Vertikale Zusammenschlusse konnen im Prinzip wie horizontale die Effizienz und Ef-fektivitat steigern, aber auch, vornehmlich auf Gesundheitsmarkten mit Zutrittsschran-ken, wettbewerbsfeindliche Wirkungen erzeugen. Unbeschadet dieser Gefahren bietetdas deutsche Gesundheitswesen noch einen erheblichen Spielraum fur dezentrale Wett-bewerbsprozesse, die mit gesamtwirtschaftlichen Zielen harmonieren. Bei immer nochetwa 250 Krankenkassen und ca. 21.000 Apotheken sowie Regionen mit einer Uberver-sorgung im stationaren Bereich durften zumindest horizontale Zusammenschlusse ten-denziell zu einer Steigerung der Effizienz und teilweise auch der Qualitat fiihren.

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11. Da alle gesamtwirtschaftlichen Koordinationsinstrumente ihre spezifischen Vor-und Nachteile aufweisen, legen Defizite der korporativen {Coordination noch nichtzwingend ihren partiellen oder gar vollstandigen Ersatz durch alternative Steuerangsele-mente nahe. Ob sich eine solche Substitution anbietet, hangt im Sinne gesamtwirtschaft-licher Ziele davon ab, inwieweit die alternativen Steuerangssysteme die fiskalischen,allokativen und verteilungspolitischen Funktionen per saldo besser erftillen. So stehendie KVen auch nur dann zur Disposition, wenn andere Institutionen die entsprechendenAufgaben effizienter und effektiver wahrnehmen konnen. In diesem Kontext gilt esauch zu beriicksichtigen, dass eine Auflosung der KVen mit einer Starkung bestehenderund Grtindung neuer arztlieher Verbande privaten Rechtes einhergehen diirfte. Es stehtzu erwarten, dass solche Verbande, ohne die Verpflichtungen einer Korperschaft des 6f-fentlichen Rechtes und moglicherweise gewerkschaftlich organisiert, deutlich aggressi-ver verhandeln als die heutigen KVen. Im Gegensatz zu den KVen, die bei Vergiitungs-problemen auch innerarztlich vermitteln, stellen z. B. einzelne facharztliche Gruppie-rungen erheblich homogenere und damit durchsetzungsfahigere Einheiten dar.

12. Die Ausgaben der GKV fur die vertragsarztliche ambulante Behandlung stiegendeutlich unterproportional zu den gesamten Leistungsausgaben und auch weitausschwacher als die entsprechenden Aufwendungen fur stationare Behandlung und Arz-neimittel an. Unabhangig von der Frage seiner allokativen Berechtigung lieB sich dasfiskalische Postulat der Beitragssatzstabilitat im Zuge der sektoralen Budgetierung mitHilfe einer Korperschaft des offentlichen Rechts vergleichsweise besser realisieren alsim Bereich des stationaren Sektors und der Arzneimittel durch alternative Steuerungs-systeme. Dieser fiskalische Befund geht vor allem auf die Durchgriffsmoglichkeiten zu-riick, die eine solche Korperschaft im Unterschied zu privaten Verbanden bei der Ver-giitung gegeniiber ihren Mitgliedern besitzt. Hinsichtlich der vertragsarztlichen Vergti-tungen zeigen sowohl theoretische Uberlegungen als auch empirische Studien, dass dieKVen keine monopol- oder kartellartigen Positionen einnahmen bzw. einnehmenkonnten.

13. Im Rahmen der korporativen Koordination verliefen die Verhandlungsprozesse derbeteiligten Organisationen nach innen wie auBen in den letzten Jahren zunehmend kon-fliktreicher, muhsamer und ergebnisarmer. Dabei machte sich die Januskopfigkeit derKVen, die einen Spagat zwischen Interessenvertretung und Austibung hoheitlicher Auf-gaben in Bezug auf denselben Personenkreis verlangt, vor allem in allokativer Hinsichtnegativ bemerkbar. Dagegen fiel bis ungefahr Mitte der neunziger Jahre die Beurteilung

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der allokativen Leistungsfahigkeit korporativer Koordination noch deutlich positive!aus.

Der Befund, dass innerhalb von ca. zehn Jahren das Pendel von ,Vorfahrt fur die Selbst-verwaltung' in die Forderung nach ihrer - teilweisen oder weitergehenden - Suspendie-rung umsehlug, hing auch von exogenen Faktoren ab, die verstarkt oder neuartig auf dasSystem einwirkten. Hierzu gehoren u. a. das schwache Wachstum einer budgetiertenGesaratvergiitung, die Niederlassungswelle von 1993, die Aufteilung in ein haus- undfacharztliches Budget, die Integration der stark wachsenden Leistungen von psychologi-schen Psychotherapeuten sowie die Aufgabe der Steuerung von Arznei- und Heilmit-teln. Die Effekte, die aus diesen Faktoren resultieren, belasteten sowohl die Konsens-prozesse innerhalb der KVen als auch die Verhandlungen zwischen diesen und denKrankenkassen.

14. Die groBten allokativen Defizite der korporativen Koordination bestehen derzeit inder schwachen Innovationsfahigkeit und der noch immer unbefriedigenden Qualitatssi-cherung. Diese Aufgaben konnen subsidiar dezentrale Wettbewerbsprozesse iiberneh-men, indem die Krankenkassen, z. B. im Rahmen der integrierten Versorgung, entspre-chende finanzielle Anreize setzen. Um den Qualitatswettbewerb zu fordern, sollten auchjene Arzte und Krankenhauser teilnehmen konnen, die derzeit iiber keine Zulassung ver-fugen, aber die geforderten Qualitatsnormen erfiillen bzw. durch Zertifizierungen nach-weisen. Sofern ein solcher Qualitatswettbewerb im Zuge eines steigenden Anteils inte-grierter Versorgung einen kleinen Anteil - z. B. 5 % - des ambulanten und stationarenSektors erreicht, diirfte er sich nicht nur fur die jeweiligen Versicherten positiv auswir-ken, sondern auch auf das Gesamtsystem durchschlagen.

15. Ftir eine vollige Abschaffung der korporativen Koordination und der sie tragendenOrganisationen sprechen derzeit weder theoretische Uberlegungen noch empirischeFakten. Bei einem flachendeckenden Ubergang zu einzelvertraglichen Regelungen dro-hen in wesentlich starkerem MaBe als im kollektivvertraglichen System Abweichungenim Qualitatsniveau der medizinischen Versorgung sowie hohere Transaktionskosten.Sofern sich kleinere und mittlere Krankenkassen, die den Sicherstellungsauftrag imRahmen des Sachleistungsprinzips nicht mit vertretbarem Aufwand ubernehmen kon-nen, zu grofleren Gemeinschaften zusammenschliefien und mit Arzteverbanden verhan-deln, stehen sich auch wieder kollektive Einheiten gegenuber. Im Zuge solcher Prozessekonnen sich sowohl auf Krankenkassen- als auch auf Arzteseite enge Oligopole bilden,die dann zwar nicht auf kollektiv-, sondern auf einzelvertraglicher Grundlage Verhand-

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lungen fiihren. Der vollige oder teilweise Ubergang zu selektiven Vertragen kann auchzu einer Zersplitterung der Vertragslandschaft fuhren, die Patienten und Versicherteverwirrt und Arzte vor kaum zu bewaltigende administrative Probleme stellt. Anderer-seits sprechen Aspekte der Innovationsfahigkeit und der Qualitatssteigerung dafur, diekorporative Koordination um dezentrale Wettbewerbsprozesse zu erganzen bzw. sie mildiesen zu konfrontieren.

Gesamtwirtschaftliche Aspekte sprechen somit nicht dafur, die korporative Koordina-tion und mit ihr die KVen abzuschaffen, sondern iiber eine starkere Gewichtung dezen-traler Wettbewerbsprozesse der Tendenz entgegenzuwirken, dass die korporative Koor-dination bzw. die sie tragenden Organisationen effizienz- und effektivitats- bzw. quali-tatssteigernde innovative Prozesse ver- oder behindern. Hierzu bietet es sich an, dezen-trale Wettbewerbsprozesse in einen kollektiv-rechtlichen Rahmen einzubinden. Inner-halb dieses Rahmens konnen die Krankenkassen mit den Leistungsanbietern dann se-lektive Vertrage schlieBen, die u. a. andere Versorgungsformen, hohere Qualitatsstan-dards und auch abweichende Vergutungsformen vorsehen. Den Leistungserbringernsteht es zwar frei, im ,kollektiven Rahmen' zu bleiben, was aber auf Dauer mit deutli-chen okonomischen EinbuBen einhergehen kann. Die durch dezentrale Wettbewerbs-prozesse entstandenen Versorgungsnetze stehen somit sowohl untereinander als auchmit dem iibrigen bzw. kollektivvertraglichen System in Konkurrenz. Im Rahmen diesesWettbewerbsprozesses sollte die Versorgungsqualitat dariiber entscheiden, ob und wieziigig der Anteil an der Versorgung wachst, den dezentrale Wettbewerbsprozesse ein-nehmen.

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3. Soziookonomischer Status und Verteilung von Mortalitat, Morbiditatund Risikofaktoren

16. In epidemiologischen Studien zum Zusammenhang zwischen der sozialen Lage unddem Gesundheitszustand wurde dargelegt, dass Personen mit einem niedrigen soziooko-nomischen Status (d. h. mit einer niedrigen Bildung, einem niedrigen beruflichen Statusund/oder einem niedrigen Einkommen) iiberproportional haufig einen beeintrachtigtenGesundheitszustand und eine geringere Lebenserwartung aufweisen als Personen mithoherem soziookonomischen Status (socioeconomic status, SES). Danach haben Man-ner aus dem untersten Viertel der Einkommensskala eine um zehn Jahre geringere Le-benserwartung als Manner aus dem obersten Viertel (72 gegeniiber 82 Jahren); furFrauen betragt der entsprechende Unterschied fiinf Jahre (81 gegeniiber 86 Jahren).

17. Der Begriff ,soziale Ungleichheit' bezeichnet Untersehiede im Hinblick auf die Bil-dung, den beruflichen Status und das Einkommen. Dabei handelt es sich um Merkmale,vertikaler' sozialer Ungleichheit. Die Bevolkerung lasst sich auch mit Hilfe von Merk-malen wie Alter, Geschlecht und Nationalitat (bzw. Migrationshintergrund) differenzie-ren. Zwischen diesen Gruppen kann eine ,horizontale soziale Ungleichheit' bestehen.Weiterhin konnen Merkmale wie der Familienstand, die Zahl der Kinder und Charakte-ristika des Wohnortes fiir eine Gruppenbildung verwendet werden.

18. In der soziologischen Diskussion wird oft betont, dass keine klar unterscheidbarensozialen Schichten mehr feststellbar sind, und dass sich die vielfaltigen ,Lebenslagen'nicht mehr mit Hilfe von Kriterien wie Bildung, Berufsstatus und Einkommen in einekonsistente hierarchische Ordnung bringen lassen. Merkmale der vertikalen sozialenUngleichheit sind fur die Gesundheitspolitik aber insofern von Bedeutung, als sie mitempirisch nachgewiesenen Haufigkeiten bzw. Wahrscheinlichkeiten von Morbiditat undMortalitat einhergehen.

19. Empirische Studien iiber statusspezifische Untersehiede in der Mortalitat benihenmeist auf einem ,6kologischen Design'. Dabei wird ein regionaler Vergleich durchge-fuhrt, d. h. Angaben zur durchschnittlichen Mortalitat in einer Region werden mit An-gaben zur soziookonomischen Struktur der Region verglichen. Ergebnisse regionalerVergleiche sind aber oft schwierig zu interpretieren. Studien, die auf einem Vergleichvon Individualdaten basieren und die ohne einen Vergleich zwischen Regionen aus-kommen, sind in Deutschland dagegen selten.

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Studien, fur die Individualdaten ausgewertet wurden, deuten auf einen statistischen Zu-sammenhang zwischen Schulbildung, beruflichem Status und Einkommen auf der einenSeite und Mortalitat und Morbiditat auf der anderen Seite hin.

20. Uber soziookonomische Unterschiede in der Morbiditat ist erheblich mehr bekanntals uber Unterschiede in der Mortalitat. Die fur Deutschland vorliegenden Studiener-gebnisse beziehen sich auf

- den allgemeinen Gesundheitszustand bei Kindern und Jugendlichen,

- den allgemeinen Gesundheitszustand bei Erwachsenen,

- Herz-Kreislauf-Erkrankungen,

- Diabetes mellitus,

- Krebserkrankungen,

- Zahngesundheit,

- Allergien,

- Atemwegserkrankungen,

- Hauterkrankungen,

- Unfalle,

- Erkrankungen des Stiitz- und Bewegungsapparates,

- psychische Morbiditat und

- Multimorbiditat.

Abbildung 1 enthalt eine Ubersieht liber empirisehe Ergebnisse zum Zusammenhangvon sozialer Schieht bzw. dem soziookonomischen Status (SES) und der Morbiditat.

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Abbildung 1: Ubersicht iiber empirische Ergebnisse zum statistischenZusammenhang von SES imd Morbiditat

Zusammenhang von SES und Morbiditat I:Uberproportional hohe Morbiditat beieinem niedrigen SES- Allgemeiner Gesundheitszustand bei Kindern

und Jugendlichen,- Allgemeiner Gesundheitszustand bei

Erwaehsenen,- Herz-Kreislauf-Krankheiten,- Diabetes mellitus,- Magen-/Darmkrebs, Lungenkrebs, Nieren-/

Blasenkrebs, Leukamie und maligneLymphome,

- Krankheiten des Magens,- Zahngesundheit,- evtl. Bronchitis (bei Erwaehsenen),- Bandscheibenschaden, rheumatische

Krankheiten, Gicht,- Unfalle (bei Kindern),- psychische Morbiditat sowie- Multimorbiditat.

Zusammenhang von SES und Morbiditat II:Uberproportional hohe Morbiditat beieinem hohen SES- Allergien (bei Kindern und Erwaehsenen)- ,Pseudokrupp' (bei Kindern)- evtl. Bronchitis (bei Kindern)- Einige Hautkrankheiten, z. B. Neurodermitis

(bei Kindern), und- eingeschranktes Sehvermogen (Kurz-,

Weitsichtigkeit).

Zusammenhang SES und Morbiditat III:Hohere Schweregrade bei niedrigem SES- Asthma (bei Kindern)- Unfalle (bei Kindern).

Kein mit Hilfe von Ergebnissen ausDeutschland gesieherter Zusammenhang:- bei anderen Krankheiten, weil statistische

Zusammenhange mit dem SES nichtuntersucht wurden oder nicht existieren.

Quelle: Eigene Darstellung

21. Empirische Ergebnisse liber statusspezifische Unterschiede bei Risikofaktoren lie-gen zu den Themen Rauchen, Ubergewicht, Mangel an sportlicher Betatigung und Er-nahrung vor. Diesen nicht nur kardiovaskularen Risikofaktoren wird in der PublicHealth-Forschung eine hohe Bedeutung beigemessen.

Relativ viele Studien wurden zum Rauchen publiziert. Die Ergebnisse sind eindeutig.Das Rauchen ist in unteren Statusgruppen sowohl bei Jugendlichen als auch bei Er-waehsenen iiberproportional weit verbreitet. Mit hoherem Alter nimmt die soziale Un-gleichheit beim Rauchen ab, bei Frauen mehr als bei Mannern.

Die aus Deutschland vorliegenden Studien iiber statusspezifische Unterschiede im Al-koholkonsum ergeben kein klares Bild. Einige Studien zeigen, dass der Alkoholkonsum

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in der oberen sozialen Schicht hoher ist als in der unteren, andere Studien weisen aufeinen umgekehrten Zusammenhang hin.

Der Risikofaktor .Ubergewicht' zeigt einen ahnlich klaren Zusammenhang mit dem so-zialen Status wie der Risikofaktor ,Rauchen'. Die empirischen Ergebnisse stimmen da-rin ilberein, dass die Pravalenz des Ubergewichts in der unteren Statusgruppe uberpro-portional hoch ist. Auch zwisehen der sportlichen Aktivitat und dem SES besteht einZusammenhang: Die Pravalenz fehlender sportlicher Aktivitat steigt mit zunehmendemAlter und abnehmender sozialer Schicht an. Soziale Unterschiede bestehen (iberdies imErnahrungsverhalten.

22. Im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen konnen die folgenden , Belastungen ausder Arbeitswelt' unterschieden werden:

- Umgebungsbelastungen (z.B. Larm, Dampfe, Hitze) und Unfallgefahren,

- korperliche Belastungen (schwere Lasten, einseitige Muskelbelastung) und

- psychische und psychosoziale Belastungen (Monotonie, Zeitdruck, Verhalten vonVorgesetzten).

Erforderlich sind empirische Studien, in denen fur jede Statusgruppe untersucht wird,wie groB diese Belastungen sind und welchen Beitrag sie zur Erklarung der gesundheit-lichen Ungleichheit leisten. Im Rahmen der Public Health-Forschung sind dazu nurwenige empirische Studien aus Deutschland vorgelegt worden, obwohl die Bedeutungstatusspezifischer Unterschiede bei den Arbeitsbedingungen fur die Erklarung der ge-sundheitlichen Ungleichheit immer wieder herausgestellt wird.

In den letzten Jahren ist versucht worden, die psychosozialen Arbeitsbelastungen besserzu verstehen. Der Job strain'-Ansatz konzentriert sich auf die Kombination aus hoherAnforderung und geringem Handlungsspielraum. Beim ,effbrt-reward-imbalance'-An-satz steht die Diskrepanz zwisehen hoher beruflicher Verausgabung und niedriger Be-lohnung im Mittelpunkt.

23. In der Diskussion liber das Thema ,Gesundheit und soziale Ungleichheit' wird bis-her noch zu selten beachtet, dass sich stark belastete Bevolkerungsgruppen haufig in be-stimmten Regionen bzw. Stadtteilen konzentrieren. Die Beachtung der regionalen Ver-teilung von Gesundheitsproblemen bzw. -chancen ist vor allem dann wichtig, wenn In-terventionen zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit geplant werden. Er-

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folg versprechen MaBnahmen, die dort umgesetzt werden, wo besonders belastete Per-sonengruppen wohnen, arbeiten oder ihre Freizeit verbringen.

24. Ohne eine angemessene Berucksichtigung der komplexen Ursachen sozialschicht-spezifischer Unterschiede in den Ressourcen und Belastungen, der Morbiditat und Mor-talitat besteht die Gefahr einer Reduktion von Problemlagen auf zu einfache Erklarungs-ansatze mit der Konsequenz zu eng gefasster Interventionen. Der Zusammenhang zwi-schen dem SES und dem Gesundheitszustand muss in die Strategieentwicklung auf demGebiet der Prevention eingehen. Prinzipiell sollten Zielgruppen im Sinne des socialmarketing unter Beriieksichtigung von sozialen Unterschieden prazise definiert und ab-gegrenzt werden, urn die Wirksamkeit von Interventionen zu gewahrleisten. Dabei kon-nen vertikale Merkmale (Bildung, beruflicher Status, Einkommen) mit horizontalenMerkmalen (Alter, Geschlecht, Familienstand, Nationalitat bzw. Migrationshintergrund)kombiniert werden.

Im Hinblick auf die Datenbasis gesundheits- und sozialpolitischer Entscheidungen las-sen sich aus dem Zusammenhang zwischen dem soziookonomisehen Status und derVerteilung von Mortalitat, Morbiditat und Risikofaktoren zwei Forderungen ableiten:

1. Berucksichtigung der Ungleichheit von Gesundheitschancen in der Gesundheitsbe-richterstattung und in der Berichterstattung iiber Armut und Reichtum bzw. Ver-kntipfung beider Berichtssysteme.

2. Durchfunrung weiterer Studien und von Surveys zur Studienlage mit dem Ziel, dieEntwicklung der beschriebenen Zusammenhange im Zeitverlauf zu verfolgen.

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4. Strategien der Primarpravention

Ziele und Interventionsformen der Primarpravention

25. Bin beachtlicher Teil der Verbesserung des Gesundheitszustands und der Verlange-rung der Lebenserwartung seit dem 19. Jahrhundert geht weniger auf medizinisch-ku-rative Irmovationen als auf wirtschaftliche und soziale Entwicklungen sowie Umwelt-,Emahrungs-, Hygiene- und Bildungsfortschritte zurilck. Der Beitrag der medizinisch-kurativen Versorgung zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation belauft sich, jenach Modellansatz und methodischem Vorgehen und auch in Abhangigkeit vom Ge-sehlecht, auf ca. 10-40 %. Der verbleibende Anteil erklart sich primar aus Verbesserun-gen in den Lebensbedingungen bzw. -stilen. Damit haben auBer der expliziten, d. h. derals solche bezeichneten und von Gesundheitsministerien verantworteten Gesundheits-politik, verschiedene andere Politikfelder eine prinzipielle Bedeutung ftir die Primarpra-vention:

- Wirtschafts- und Sozialpolitik, darunter Arbeitsmarktpolitik,

- Bildungspolitik, darunter Schulpolitik,

- Verbraucherschutz, Ernahrung und Landwirtschaft,

- Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und

- Umweltpolitik.

Eine effektive und nachhaltige Primarpravention setzt unter diesen Voraussetzungeneinen gemeinsamen Zielhorizont, Konsens iiber die Eignung von Strategien sowie eineenge inter- und intrasektorale Kooperation der Akteure in unterschiedlichen Lebens-bereichen und Politikfeldern voraus.

26. Die Zielsetzung der Primarpravention lasst sich auf einer allgemeinen Ebene wiefolgt naher bestimmen:

- Vermeidung, Abschwachung oder zeitliche Verschiebung von Mortalitat und Mor-biditat und den sich ergebenden EinbuBen an Lebensqualitat und Einschrankungender Teilhabe am sozialen Leben (,intangible' Krankheitskosten),

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- Vermeidung, Verringerung und/oder zeitliche Verschiebung des Ressourcenein-satzes fur Kuration, Rehabilitation und Pflege bzw. von Ausgaben der Kranken-,Unfall-, Renten- und Pflegeversicherung (,direkte' Krankheitskosten),

- Investition in Gesundheit als einen aufgrund demographischer Trends zunehmendwichtigen Bestandteil des ,Humankapitals' bzw.

- Vermeidung, Verringerung und/oder zeitliche Verschiebung ,indirekter' Krank-heitskosten (gesamtgesellschaftliche Produktions- und Wohlfahrtsverluste); Erhaltbzw. Erhohung des ,Produktionspotenzials', wobei ,Produktion' in einem weitenSinne jede Form des sozialen Engagements und der aktiven sozialen Teilhabe ein-schlieBt.

27. Die Verhaltnispravention zielt auf die Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungenals Rahmenbedingungen der Gesundheitserhaltung und Krankheitsentstehung. Dabeiveranderten sich im Zeitablauf mit den Lebensverhalmissen und dem Morbiditats- undMortalitatsgeschehen auch die Schwerpunkte der Pravention. Im ausgehenden 19. Jh.bis in das 20. Jh. hinein standen die Kontrolle von Infektionskrankheiten und in diesemZusammenhang u. a. die Wohn- und Ernahrungsverhaltnisse sowie die offentliche Hy-giene im Mittelpunkt von primarpraventiven Interventionen. Mit der Wahrnehmung vonpotenziell gesundheitsschadlichen Umweltbelastungen gewannen im Verlauf des 20. Jh.umweltpolitische Aspekte an Bedeutung. Andere relevante Politikfelder sind der Ver-braucherschutz und die Agrarwirtschaft. Zur Verhaltnispravention sind auch zahlreicheMaBnahmen des ,Gesundheitsschutzes' zu rechnen, u. a. in den Bereichen:

- gesundheitlicher Verbraucherschutz (Trinkwasserschutz; Sicherheit von Produkten,u. a. von Lebens- und Arzneimitteln),

- Infektionsschutz, z. B. Meldepflicht fur Infektionskrankheiten,

- umweltbezogener Gesundheitsschutz (Immissionsschutz, Strahlenschutz, Anlagen-sicherheit),

- Arbeitsschutz in Betrieben,

- Verkehrssicherheit,

- Sicherheitspolitik (Pravention von ,Bi°terrorismus').

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Bei den Regelungen mit praventivem Gehalt im deutschen Verwaltungsrecht (iberwiegtder Anteil der Verhaltnispravention. Die Verhaltnispravention 1st daher im Prinzip eineetablierte Interventionsform. Viele Regelungen, Interventionen und Initiativen mit Be-deutung fur die Primarpravention bewegen sich allerdings auBerhalb des traditionellenAufgabenspektrums der (expliziten) Gesundheitspolitik bzw. der explizit gesundheits-bezogenen Praventionspolitik, zumindest soweit diese in den Verantwortungsbereichvon Gesundheits- und Sozialministerien fallt.

28. Entstehung und Verlauf verschiedener chronischer Krankheiten, die das Morbidi-tats- und Mortalitatsgeschehen heute weitgehend dominieren, werden maBgeblich durchindividuelle Verhaltens- und Konsummuster beeinflusst. Aus diesem Grand fokussierenpreventive Interventionen haufig auf Verhaltensweisen (Verhaltenspravention), wobeisich diese Interventionen z. T. aber auch in Informations- und Edukationsmaflnahmenerschopfen. Dieser Art der Prevention fehlt daher oft der Bezug zu den Entstehungsbe-dingungen von Verhaltens- bzw. Konsummustern. Die Effektivitat zielgruppen- undkontextunabhangiger und auf Risikoinformation bzw. ,Gesundheitserziehung' redu-zierter Interventionen ist gering.

29. Wahrend eine ,reine' Verhaltnispravention idealtypisch keine lebensstilbezogenenEntscheidungen voraussetzt, weist eine ,reine' Verhaltenspravention als entgegenge-setztes Extrem keinen Bezug zu den Kontext-, Rahmen- und Entstehungsbedingungenvon Verhaltensweisen und Lebensstilen auf. Als richtungsweisend erscheinen vor allemZwischenformen jenseits dieser Extreme. Derartige Zwischenformen lassen sich als,kontextorientierte Verhaltenspravention' bezeichnen. Sie konnen in umfassenden,Mehr-Ebenen'-Praventionskampagnen zu einzelnen Gesundheitsproblemen (z. B. Anti-Tabak-Kampagne), vor allem aber im Rahmen des , Setting-Ansatzes' umgesetzt wer-den. Da Praventionskampagnen eine sehr unterschiedliche Komplexitat aufweisen undder Setting-Ansatz ebenfalls unterschiedlich interpretiert wird, lassen sich primarpra-ventive Interventionen im Hinblick auf ihren Kontextbezug auch wie folgt ordnen:

- ,Reine' Verhaltenspravention ohne expliziten Kontextbezug (z. B. Informationenzu Gesundheitsproblemen, kontextunabhangige Medienkampagnen, Beratungs-, In-formations- und Trainingsangebote in Kursen und Gruppen in Einrichtungen derKrankenkassen)

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- Kontextorientierte Verhaltenspravention

a) Verhaltenspravention mit einem expliziten Kontextbezug, z. B. Interventionenfur prazise definierte Zielgruppen unter Verwendung von Konzepten undInstrumenten des social marketing sowie Nutzung eines Settings als Zugangs-weg fur definierte Zielgruppen (,Gesundheitsforderung im Setting')

b) Integration von Verhaltnis- und Verhaltenspravention, z. B. im Rahmen von,Mehr-Ebenen'-Kampagnen zu einzelnen Gesundheitsproblemen wie Rauchenoder Bewegungsmangel oder in der Gestaltung von verhaltens- und lebensstil-pragenden Settings (,gesundheitsfordernde Settings')

- ,Reine' Verhalmispravention ohne die Notwendigkeit individueller Entscheidungeniiber Verhaltens- und Konsummuster (z. B. durch Normierung im Verbraucher- undImmissionsschutz).

30. Interventionen der Verhaltenspravention lassen sich aufier nach dem Kriterium desVerhaltenskontextes nach den Interventionsebenen Individuum, Setting und Bevolke-rung klassifizieren (Tabelle 1).

Tabelle 1: Interventionsebene, Kontextbezug und Beispiele fiirverhaltenspraventive Interventionen

Interventionsebene

Verhaltenspravention mit Fokusauf Information, Motivation, Bera-tung ohne verhaltnispraventiveElemente

Verhaltenspravention mit Kontext-bezug bzw. Weiterentwicklung vonRahmenbedingungen des Verhal-tens

Individuum(Mikroebene)

Arztliche Gesundheitsberatung fur ei-nen Patienten in der Arztpraxis

,Praventiver Hausbesuch' mit Bezug /Beratung zu Lebensbedingungen undLebensstil

Setting(Mikro- bzw.Mesoebene)

Edukative Angebote in Schulen (,Ge-sundheitsunterricht'), Informationsan-gebote in Betrieben

Gesundheitsforderung in Schulen,Betrieben und Verwaltungen u. a.durch Organisationsentwicklung,,gesundheitsfordernde Settings'

Bevolkerung(Makroebene)

Motivationskampagnen ohne Kon-textbezug (,Esst mehr Obst',,Rau-chen gefahrdet die Gesundheif),social marketing ohne Beeinflussungvon Rahmenbedingungen

Anti-Tabak-Kampagne unter Ein-schluss verhaltnispraventiver MaB-nahmen (Abbau von Zigarettenauto-maten, Regulierung der Werbung, Ta-baksteuer)

Quelle: Modifiziert nach Rosenbrock, R. (2004)

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Bin expliziter Kontextbezug stellt sicher, dass das jeweilige Lebensumfeld und damitdie Rahmenbedingungen des Verhaltens in die Flaming und Durchfiihrung von Inter-ventionen eingehen. Das Ziel ist es, auf diese Weise gesundheitsdienliche Verhaltens-entscheidungen und eine Habitualisierung dieser Verhaltensmuster zu erleichtern unddie Nachhaltigkeit von Interventionen zu gewahrleisten.

31. Bis heute gilt die Ottawa-Charta der WHO (1986) als ein Grundsatzdokumentmoderner Gesundheitspolitik. Eine an der Ottawa-Charta orientierte Politik entfaltet aufmehreren Handlungsfeldern Aktivitaten:

- Entwicklung einer gesundheitsfordernden Gesamtpolitik, die sich nicht auf dasklassische Gesundheitsressort (Krankenversicherung und -versorgung, offentlicherGesundheitsdienst) beschrankt, sondern andere Lebensbereiche und Politikfelderberticksichtigt,

- Entwicklung gesundheitsfordernder ,Lebenswelten' (Settings),

- Neuorientierung der Gesundheitsdienste, z. B. Krankenhauser, Rehabilitationsein-richtungen, Alien- und Pflegeheime (Zielgruppen: Mitarbeiter und Nutzer), und

- Entwicklung und Starkung gesundheitsrelevanter Ressourcen in der Bevolkerungund / oder in bestimmten Zielgruppen.

32. In der wissenschaftlichen Literatur werden zahlreiche fur den Erhalt bzw. fur dieStarkung der Gesundheit relevante, einer quantitativen Erfassung aber unterschiedlichgut zugangliche Gesundheitsressourcen erwahnt. Dabei lassen sich personale, sozialeund materielle Ressourcen unterscheiden. Zu den personalen Ressourcen zahlen gene-relle 5Lebenskompetenzen' (life skills) und Bildung. Dazu gehoren die formale Ausbil-dung, die berufsbezogene Bildung und Erfahrung sowie die generelle Personlichkeits-bildung bzw. das gesamte Repertoire an Strategien zur Lebensgestaltung und zur Be-waltigung von widrigen Umstanden und Krisen. Soziale Ressourcen ergeben sich ausder Struktur und Qualitat sozialer Beziehungen und Netzwerke. Sie umfassen die psy-chosoziale Unterstutzung in einer Partnerschaft bzw. Familie, am Arbeitsplatz und imRahmen anderer sozialer Netzwerke, aber auch Aspekte gesellschaftsweiter sozialer Ko-hasion. Materielle Ressourcen wie Erwerbseinkommen, privates Vermogen und finan-zielle Planungssicherheit vermehren die individuellen Optionen einer gesundheitsdienli-chen Lebensgestaltung.

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33. Primarpravention umfasst sowohl die Senkung von Belastungen als auch die Star-kung von Ressourcen, um individuen- und populationsbezogen das Risiko einer Erkran-kung (bzw. eines Unfalls) und die Inzidenzrate zu senken (Abbildung 2).

Abbildung 2: Primarpravention als Risikoreduktion

Primarpravention = bevolkerungs- und individuuenbezogene Risikoreduktion

__________________ _.. ....Perspektive der Krankheitsvermeidung:Abbau von Belastungen bzw. ,Risikofaktoren':Verhaltens- und Konsummuster, psychosozialeFaktoren und Umweltparameter, z. B. in derArbeitsumgebung und im Wohnumfeld

Perspektive der Gesundheitsforderung:Vermehrung von personalen, sozialen undmateriellen Ressourcen, z. B. durch um-fassende Bildung, Moglichkeiten der Ein-kommenserzielung, soziale Netzwerke

Quelle: Eigene Darstellung

Eine unterschiedliche Ausstattung mit personalen, sozialen und materiellen Ressourcen,Unterschiede in der Belastung durch Verhaltens- und Konsummuster, Lebens- und Ar-beitsbedingungen fuhren zu Unterschieden in den Gesundheitschancen und im Krank-heitsrisiko. Umgekehrt konnen Interventionen und Entvvicklungen auf den verschiede-nen Politikfeldern danach bewertet werden, inwiefern sie die Bilanz von Belastungenbzw. Expositionen einerseits und gesundheitsrelevanten Ressourcen andererseits fur dieBevolkerung insgesamt sowie fiir abgrenzbare Bevolkerungsgruppen iiber verschiedeneZeithorizonte hin beeinflussen.

34. Fiir Pravention und Gesundheitsforderung werden in Deutschland unterschiedlicheTerminologien verwendet. Ein Grund zur Aufrechterhaltung einer Unterscheidung zwi-schen Gesundheitsforderung und Pravention kann darin gesehen werden, dass andern-falls der Ansatz der Ressourcenstarkung aus dem Blick geraten konnte.

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Verteilung von Gesundheitschancen

35. Zusammenhange zwischen dem soziookonomischen Status, gemessen mit Hilfe derIndikatoren Bildung, Beruf und Einkommen, und dem Gesundheitsstatus sind empirischnachweisbar und fur die Primarpravention relevant. Sie wurden bisher aber nicht befrie-digend erklart Theoretische Erklarungsmuster fiir die Entstehung sozialschichtspezifi-scher Unterschiede und fur ihre Entwicklung im Zeitverlauf, welche die relative Be-deutung einzelner Einflussfaktoren aufzeigen und die Planung von Interventionen unter-sttitzen, liegen nicht vor bzw. erscheinen als empirisch noch nicht hinreichend gesichert.

36. Aus der Bandbreite der Einflussfaktoren auf den Gesundheitsstatus ergibt sich eineVielzahl an moglichen Konstellationen aus Belastungsfaktoren und Ressoureenausstat-tungen. Fiir die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten ist dabei nicht nur dasVerhaltnis von Belastungen und Ressourcen zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondernvor allem seine Entwicklung im Zeitverlauf von Bedeutung. Die Bilanz von Ressourcenund Belastungsfaktoren variiert aber nicht nur zwischen Individuuen mit ihren unter-schiedlichen Voraussetzungen und Lebensstilen, sondern weist zugleich auch mit sozio-okonomischen Statusdifferenzen assoziierte Verteilungsmuster auf. Angehorige status-niedrigerer sozialer Schichten sind tendenziell mehr Belastungen (z. B. Belastungen inder Arbeitswelt und aus dem Wohnumfeld) ausgesetzt, weisen uberproportional haufigder Gesundheit abtragliche Verhaltensweisen auf und verfugen zugleich iiber wenigerRessourcen bzw. Bewaltigungsstrategien als Angehorige statushoherer Sozialschichten.Vor diesem Hintergrund erscheint eine Reduktion des Problems ,sozial bedingte Un-gleichheit von Gesundheitschancen' auf einzelne kausale Ursachen als inadaquat. Rea-litStsnaher ist die Annahme einer Vielzahl moglicher Wirkungskanale, die erst in ihremZusammenspiel zu der empirisch nachweisbaren Ungleichverteilung von Gesundheits-chancen fuhren.

37. Wesentliche Einflussfaktoren von soziookonomischen Statusunterschieden liegenaufierhalb des Einfiussbereiches der (expliziten) Gesundheitspolitik. So sieht eine Ex-pertise des Institute of Medicine in den USA die groBten Errungenschaften in der Ver-gangenheit und das groBte Potenzial zur Verringerung von Unterschieden im Gesund-heitsstatus sowie fiir die Verbesserung der Gesundheit der Bevolkerung insgesamt inder Verbesserung des soziookonomischen Status der benachteiligten Bevolkerungs-gruppen. Diese Analyse fiihrt zu der Schlussfolgerung, dass dem wirtschaftlichenWachstum und einer gunstigen Entwicklung des Arbeitsmarktes, die eine Verbesserung

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der soziookonomischen Situation dieser Gruppen ermoglichen, auch aus der Perspektiveder Primarpravention eine hohe Bedeutung zukommen.

38. Zwischen der Primarpravention und der Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitikbestehen inhaltliche Verbindungen. Der Zusammenhang zwischen dem Gesundheits-status und der Arbeitslosigkeit lasst die gegenwartige Arbeitslosigkeit, vor allem dieLangzeitarbeitslosigkeit, nicht nur als eines der groBten ungelosten wirtschafts- und so-zialpolitischen Probleme, sondern zugleich auch als ein vorrangiges Public Health-Problem erscheinen.

39. Bei der Erarbeitung umsetzbarer primarpraventiver Strategien und der Planung vonInterventionen miissen Unterschiede in der sozialen Lage beriicksichtigt werden. Einerealistische Umsetzungsstrategie des §20 SGB V wird sich auf Interventionen zu Guns-ten gesundheitlich benachteiligter Gruppen konzentrieren mtissen. Als Kriterien zurBildung von Clustern fur eine Interventionsplanung kommen u. a. folgende Merkmalein Betracht:

- Personen mit niedrigem Einkommen und ihre Familienangehorigen und in diesemKontext vor allem Kinder und Jugendliche als primare Zielgruppe nationaler Stra-tegien zur Primarpravention,

- Personen mit niedriger Schulbildung und geringen Chancen auf dem Arbeitsmarkt,

- andere uberdurchschnittlich belastete Personengruppen wie z. B. Alleinerziehende,kinderreiche Familien, Langzeitarbeitslose, Behinderte, Obdachlose etc.

Dabei ist jeweils zu entscheiden, ob im weiteren Sinne sozialpolitische Interventionenoder unmittelbar gesundheitsbezogene MaBnahmen bzw. Angebote von Einrichtungendes Gesundheitswesens zielfiihrend sind.

40. Uber preventive Interventionen zugunsten von Zielgruppen mit einer vergleichs-weise ungiinstigen Ressourcen-Belastungs-Bilanz hinaus wird auch grundsatzlich eineoffentliche Unterstiitzung sozial und gesundheitlich benachteiligter Teile der Bevolke-rung notwendig sein. Eine weitere Aufgabe der Politik besteht darin, den Praventions-gedanken auch aufierhalb des Gesundheitssystems und der .expliziten Gesundheitspoli-tik', d. h. noch auf anderen politischen Handlungsfeldern zu verankern (.implizite Ge-sundheitspolitik'), Problematisch sind in diesem Zusammenhang vor allem die eng li-mitierten und z. T. noch zuriiekgehenden Handlungsspielraume in den offentlichenHaushalten. die gesundheits- und sozialpolitische Initiativen erschweren, und das Aus-

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bleiben von durchgreifenden Erfolgen auf den wirtschaftspolitischen Handlungsfeldernder Arbeitsmarkt-, Struktur- und Wachstumspolitik.

41. Soweit sich Interventionen allein im Bereich der ,expliziten' Gesundheits- bzw.Praventionspolitik bewegen, kommen vornehmlich in Betracht:

- Appelle zur Anderung von gesundheitsschadlichen Verhaltensweisen durch ziel-gruppenorientierte Public Relations-Konzepte und social marketing, vor allem aberumfassende ,Mehr-Ebenen'-Praventionskampagnen zu ausgewahlten Themen wieTabakkonsum, Alkoholabusus, Bewegung und Ernahrung, und

- Interventionen nach dem Setting-Ansatz, vor allem in Schulen bzw. generell Bil-dungseinrichtungen, in privaten und offentlichen Betrieben und Verwaltungen so-wie in den Kommunen, insbesondere an ,sozialen Brennpunkten' in Stadten undGemeinden.

Zur Verminderung sozial bedingter Unterschiede von Gesundheitschaneen eignet sichder Setting-Ansatz. Er vereint die Vorteile eines vergleichsweise einfach zu organisie-renden und weitgehend diskriminierungsfreien Zugangs zu unterschiedlichen Zielgrup-pen mit der Moglichkeit der Integration von verhaltnis- und verhaltenspraventiven Ele-menten und der Starkung bzw. Vermehrung von gesundheitsrelevanten Ressourcen.Settings kormen gezielt, z. B. in Stadtteilen mit einem hohen Anteil sozial benachteilig-ter Einwohner, fur Interventionen ausgewahlt werden. Von besonderer Relevanz sinddabei die Settings Schule, Betrieb bzw. Verwaltung, Stadtteil bzw. ,Quartier' so wieFreizeiteinrichtungen.

Gesundheitspsychologische Modelle und Bestimmungsfaktoren des Gesundheitsver-haltens

42. Gesundheits- bzw. sozialpsychologische Modelle des Verhaltens und der Verhal-tensmodifikation (vor allem Modell der gesundheitlichen Uberzeugungen, Theorie desrationalen Handelns, Salutogenese, Modell der Stadien der Veranderung) unterscheidensich in ihrem Fokus und in den Grenzen ihrer Aussagekraft. Sie setzen sich aus einerlimitierten Auswahl an Variablen zusammen und bilden nicht samtliche Einflussfakto-ren auf das gesundheitsrelevante Verhalten ab. So Mit der Einfluss unterscbiedlicherLebenslagen auf das Verhalten mitunter aus der Betrachtung heraus. Die Modelle sindzwar prinzipiell fur weitere Einflussfaktoren, z. B. soziostruktureller bzw. soziookono-

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mischer Art, offen, beziehen diese aber oft nicht explizit bzw. in ihrer Komplexitat ein,obwohl zwischen risikoerhohenden Verhaltensmustern und soziookonomischen Ein-flussfaktoren ein empirischer Zusammenhang besteht.

43. Unter den gesundheitspsychologischen Theoren und Modellen nimmt das Salutoge-nese-Modell aufgrund seines umfassenden Ansatzes eine besondere Stellung ein. ImZentrum steht die Vorstellung, dass individuelle Uberzeugungen und Werte dazu bei-tragen, belastende Lebensereignisse wie Krankheit einordnen und bewaltigen zu kon-nen. Diese Fahigkeit wird als gesundheitsbildende Ressource verstanden. Das Modellist mittlerweile empirisch besser fundiert, was die Empfehlung rechtfertigt, seine ge-sundheitsfb'rdernde Potenz und Eignung fur Interventionen durch weitere Forschung ge-nauer zu ermitteln. Ferner sollte der Begriff der Salutogenese praziser als z. T. iiblichverwendet werden.

44. Fur die Praventionspolitik ergibt sich aus der Bedeutung von Kontextfaktoren undRessourcen die Schlussfolgerung, dass komplexe Ansatze wie der Setting-Ansatz, dereine Verbindung von spezifischen Interventionen zu bestimmten Belastungsfaktoren mitunspezifischen Interventionen ermoglicht, konzeptionell engeren Ansatzen haufig iiber-legen sind.

Gesundheitskommunikation, soziales Marketing und Praventionskampagnen

45. ,Massenmedien' informieren iiber Produkte und Dienstleistungen, deren Konsumden Gesundheitszustand von Konsumenten potenziell beeinflusst. Neben produktbezo-genen Informationen, die z. T. werbliehen Zwecken dienen, vermitteln MassenmedienLebensbilder und Rollenmodelle. Daher solite vermehrt nach Moglichkeiten gesuchtwerden, in Kooperation mit Kommunikationsexperten und der Film- bzw. Unterhal-tungsindustrie Kommunikationsstrategien zu entwickeln, die fur bestimmte Zielgruppenattraktive Lebensstile, Rollen- oder Konsummodelle mit aus primarpraventiver Per-spektive sinnvollen Verhaltensmustern verbinden.

46. Instrumente der Offentlichkeitsarbeit haben in der Vergangenheit zum Erfolg vonPraventionsmaBnahmen beigetragen (z. B. Impfkampagnen, Jodprophylaxe). Primar-praventive Interventionen sollten Public Relations-Instrumente allerdings im Rahmeneines Gesamtkonzepts z. B. fur eine ,Mehr-Ebenen'-Kampagne einsetzen und sich nichtallein auf die Vermittlung gesundheitsbezogener Informationen beschranken.

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47. Seit den 1950er Jahren wurden Instrumente des kommerziellen Marketing auch furnicht-kommerzielle Zwecke eingesetzt (social marketing). Die zum Instrumentariumdes kommerziellen Marketing zahlenden Handlungsfelder product, price, promotionund place nehmen bei einer Nutzung fiir primarpraventive Zwecke aber eine eigene,vom kommerziellen Marketing z. T. abweichende Bedeutung an.

48. Bin zentraler Bestandteil des sozialen Marketing ist eine sorgfaltige Zielgruppenbe-stimmung. Sie erscheint schon deshalb als notwendig, weil die gesundheitsrelevantenBelastungen und -ressourcen zwischen sozialen Schichten und Bevolkerungsgruppendifferieren. In diesem Zusammenhang gilt es, auch Einflussfaktoren wie kulturelle Pra-gungen bei Einwanderern aus einem anderen Kulturkreis (,Migrationshintergrund'),,ge«efer'-Aspekte, unterschiedliche Lebensphasen und weitere die Lebenslage pragendeFaktoren zu beriicksichtigen.

49. Unter Kampagnen werden in der Praxis der Prevention oft lediglich Informations-,Aufklarungs- und Motivationsaktivitaten verstanden, die auf eine Kommunikation vongesundheitsrelevanten Informationen und auf die Bildung gesundheitsdienlicher Intenti-onen zielen. Umfassende ,Mehr-Ebenen-Kampagnen' nutzen zwar die Moglichkeitender Gesundheitskommunikation bzw. des social marketing, bedienen sich aber dariiberhinaus noch weiterer Instrumente, um einen Kontextbezug herzustellen. Sie setzen dem-zufolge auf unterschiedlichen Wissens- und Interventionsebenen an:

- individuelle verhaltensbezogene Belastungsfaktoren und Ressourcen (Verhaltens-pravention u. a. durch gesundheitsbezogene Kommunikation, soziales Marketing,Bildungsangebote),

- Interventionen nach dem Setting-Ansatz (Gestaltung von ,Lebenswelten'), z. B.:

a) Setting Stadt und Gemeinde (Interventionen im Lebens- bzw. Wohnumfeld,Entwicklung von Stadtteilen und Quartieren, Abstimmung von Gesundheits-und Sozialpolitik auf kommunaler Ebene),

b) Setting Betrieb und Verwaltung (Arbeitsschutz, betriebliche Gesundheits-rorderung bzw. betriebliches Gesundheitsmanagement),

c) Setting Kindergarten, Kindertagesstatte, Schule und ggf. Hochschule (Inter-ventionen in Bildungseinrichtungen),

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d) Setting Krankenhaus, Alien- und Pflegeheim (Interventionen in Gesundheits-und Sozialeinrichtungen) sowie

- soziookonomische Rahmenbedingungen (vor allem Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-,Sozial-, Bildungs-, Verbraucher- und Umweltpolitik).

,Mehr-Ebenen-Kampagnen' zielen darauf ab, der Vielzahl der Einflussfaktoren auf Ge-sundheit und Krankheit dadurch Rechnung zu tragen, dass sie MaBnahmen auf unter-schiedlichen Ebenen miteinander kombinieren und auf diese Weise Synergieeffekte er-mogliehen.

50. In Deutschland wurden bisher wenige Praventionskampagnen durchgefuhrt, u. a.eine erfolgreiche Kampagne zum Sicherheitsgurt in den 1960er Jahren, die ,TrimmDich'-Kampagne seit den 1970er Jahren und die HIV/Aids-Kampagne seit den 1980erJahren mit Erfolgen vor allem in zentralen Zielgruppen. Uber diese Kampagnen hinauswurden Informations- und Motivationskampagnen ohne expliziten Zielgruppen- undKontextbezug initiiert, die zwar vergleichsweise einfach zu organisieren sind, deren Ef-fektivitat aber zweifelhaft ist.

Betriebliche Gesundheitspolitik

51. In der betrieblichen Gesundheitspolitik lassen sich zwei Perspektiven der Praven-tion unterscheiden. Die eine fokussiert auf einzelne Gesundheitsprobleme wie Arbeits-und Wegeunfalle, Bewegungsdefizite, Alkohol oder Tabakkonsum. Preventive Inter-ventionen in der Arbeitswelt konnen populationsbezogene Kampagnen zu diesen Prob-lemen erganzen bzw. im Rahmen derartiger Kampagnen intensiviert werden. Die anderezielt auf systemische Interventionen, die sich am betrieblichen Kontext, den konkretenBedarfslagen im einzelnen Betrieb und / oder am Leitbild einer ,gesunden Organisation'orientieren. Unabhangig von der gewahlten Perspektive ergibt sich die Bedeutung derArbeitswelt als Handlungsfeld der Praventionspolitik bereits aus der GroBe der Ziel-gruppe (erwerbstatige Bevolkerung).

52. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten ist eine Verschiebung der Altersvertei-lung der Belegschaften von Betrieben zu erwarten. Dazu tragen die Veranderung derAltersverteilung der Bevolkerung, u. U. aber auch Knappheiten auf dem Arbeitsmarktbei qualifizierten Arbeitskraften und eine Erhohung des Renteneintrittsalters bei. Dahersteht das betriebliche Gesundheitsmanagement vor der Aufgabe, die Krankheitslast

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bzw. die Zahl der aufgrund von Arbeitsunfahigkeit ausgefallenen Arbeitstage (AU-Tage) der Beschaftigten zu reduzieren und generell ihre Einsatzbereitschaft und Pro-duktivitat langfristig zu erhalten und zu erhohen. Bin steigender Stellenwert der Primar-pravention im Betrieb bedeutet, dass das betriebliche Gesundheitsmanagement ein inte-graler Bestandteil der Personalpolitik werden sollte.

53. Ein klassisches Gebiet betriebsbezogener Gesundheitspolitik ist der Arbeitsschutz,fur den innerhalb der Sozialversicherung vor allem die gesetzliche Unfallversicherung(GUV) bzw. deren Trager (Berufsgenossenschaften und Unfallversicherungstrager deroffentlichen Hand) zustandig sind. Die Aufgabe der Primarpravention ist in keinem an-deren Zweig der Sozialversicherung ahnlich lange gesetzlieh verankert.

Der Arbeitsschutz wurde durch rechtliche sowie durch naturwissenschaftlich-technischePerspektiven gepragt. Er fuhrte zu einer Ftille an Sicherheitsvorschriften. In einer Er-weiterung des Praventionsauftrags wurde der GUV 1996 neben der Verhiitung von Ar-beitsunfallen und Berufskrankheiten auch die Prevention arbeitsbedingter Gesundheits-gefahren ilbertragen.

54. Einen vollig anderen Ausgangspunkt als der Arbeitschutz nahm die Entwicklungder betrieblichen Gesundheitsfb'rderung. Die Anliegen, Begriffe und Strategien der Ge-sundheitsforderung wurden wesentlich durch Initiativen und Publikationen der WHO,vor allem durch die Ottawa-Charta, gepragt. Die WHO war auch an der Entwicklungdes Setting-Ansatzes beteiligt. Das Setting ,Betrieb' wurde, wie das Setting ,Kranken-haus', ,Schule', und ,Stadt', in vielen Landern zum Ziel von Aktivitaten der Gesund-heitsforderung. Die betriebliche Gesundheitsfbrderung bildet inzwischen auch ein etab-liertes Handlungsfeld der Krankenkassen. Ihr Potenzial wird allerdings noch nicht aus-geschopft. so dass eine breitere Nutzung dieses Praventionsansatzes zu fordern ist. Er-fahrungen und Erfolge aus dem , Setting Betrieb' sollten iiberdies fur Interventionen innichtbetrieblichen Settings genutzt werden.

55. §20 SGB Abs. 2 SGB V ermoglicht es den Krankenkassen, den Arbeitsschutz er-ganzende MaBnahmen der betrieblichen Gesundheitsforderung durchzufuhren. Anreizefur eine Krankenkasse. Maflnahmen der betrieblichen Gesundheitsforderung durchzu-fuhren, bestehen insofera, als ein reduzierter Krankenstand die Ausgaben fur Behand-lung und Krankengeld senkt und erfolgreiche Interventionen das Image der Kranken-kasse im Betrieb verbessern. Um Arbeitgebern einen zusatzlichen Anreiz zur betriebli-chen Gesundheitsforderung zu setzen, konnen Krankenkassen Bonusmodelle auf derBasis von §65a Abs. 3 SGB V in ihre Satzung aufhehmen. Dabei erhalten sowohl der

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Arbeitgeber als auch die an der jeweiligen MaBnahme teilnehmenden Versicherteneinen Bonus. Derartige Bonus-Modelle lassen sich damit begriinden, dass arbeits-bedingte Krankheiten auch zu Lasten der GKV gehen. Gesundheitsbezogene Kosten,die ihren Ursprung u. a. in der Arbeitswelt haben, werden von Betrieben teilweise ex-ternalisiert. Umgekehrt wird die GKV durch eine effektive betriebliche Primarpraven-tion entlastet.

56. Interventionen im betrieblichen Gesundheitsmanagement weisen eine grosse Breitean Zielen, Konzepten und Instrumenten auf und bewegen sich zwischen den Polen desklassischen, z. T. rechtlich erzwungenen, relativ klar strukturierten Arbeitsschutzes undsystemischen Interventionen der Organisationsentwicklung. Diese integrieren gesund-heitsbezogene Ziele neben anderen Zielen (z. B. Qualitatszielen) in das Leitbild und inManagement- und Fuhrungssysteme.

57. Auf spezifische Gesundheitsprobleme wie z. B. Rauchen und Alkoholmissbrauchzielende MaBnahmen lassen sich im Vergleich zu Interventionen der Organisationsent-wicklung unaufwandig organisieren. Weiterhin konnen sie an bevolkerungsbezogenePraventionskampagnen ankniipfen. Interventionen zu Einzelproblemen werden aller-dings der Intention des Setting-Ansatzes noch nicht gerecht. Sie ersetzen vor allem keinschliissiges Gesamtkonzept fur das Gesundheitsmanagement in einem Unternehmenoder in einer offentlichen Verwaltung.

Kommunale Gesundheits- und Sozialpolitik

58. Stadte und Gemeinden pragen mil ihrer Politik die Wohn- und Arbeitsumgebungund generell die Lebensbedingungen der gesamten Bevolkerung. Viele Lebensbereichemil prinzipieller Bedeutung fiir die Primarpravention werden durch kommunalpolitischeEntscheidungsprozesse mitgestaltet. Zum Einflussbereich der Kommunalpolitik zahlenu. a. die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt bzw. Region und damit Arbeits-, Ein-kommens- und Karriereperspektiven, die Umwelt- und Verkehrsbelastung, die sozialeInfrastruktur, Bildungseinrichtungen und Einrichtungen der Gesundheitsversorgung.Einige Ansatzpunkte zur Erhaltung bzw. Verbesserung der , offentlichen Gesundheit'(Public Health) waren bereits Ende des 19. Jahrhunderts als Handlungsfeld der Kom-munalpolitik etabliert.

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59. Die kommunale Gesundheitspolitik verfilgt tiber ihre prinzipielle Verantwortungfur eine ,implizite Gesundheitspolitik' hinaus liber verschiedene Ansatzpunkte, um diePrimarpravention gezielt zu starken:

- Explizite Bertieksichtigung von Gesundheitsthemen in alien Lebensbereichen bzw.Feldern der Kommunalpolitik, u. a. in der Sport- und Bildungspolitik (z. B. Kin-dertagesstatten, Volkshochschulen)

- Kooperation im Netzwerk ,gesunder Stadte',

- primarpraventive Interventionen im Setting bzw. Gestaltung ,gesundheitslordernderSettings' unterhalb der Ebene ,Stadt und Gemeinde',

- Stadtteilentwicklung, z. B. durch ein ,Quartiersmanagement',

- Integration von Gesundheits- und Sozialpolitik sowie der diesbeziiglichen Bericht-erstattung,

- Angebote des offentlichen Gesundheitsdienstes, z. B. schularztlicher Dienst,Diagnostik und Beratung bei Infektionskrankheiten, Impfungen, sowie

- krankheitsbezogene Konzepte, z. B. zu Herz-Kreislauf-Krankheiten.

60. Eine Aufgabe der Praventionspolitik besteht in der intersektoralen und mehrerestaatliche Handlungsebenen iibergreifenden Zusammenarbeit. So haben z. B. fiir diePrevention der Gesundheitsprobleme Ubergewicht und Adipositas neben der Ernah-rungspolitik die Sport- und Verkehrspolitik des Bundes, der Lander und Kommuneneine Bedeutung. Die Prevention moglicher Gesundheitsfolgen von Armut, z. B. beiKindern und Jugendlichen, setzt ebenfalls eine Vernetzung von Initiativen und Akteurenetwa in der Bildungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik voraus.

61. Fiir eine Orientierung der Kommunalpolitik am Ziel der ,gesunden Stadt' bietensich neben der Bertieksichtigung von ,Gesundheif als Querschnittsthema in alien kom-munalpolitischen Bereiehen vor allem Konzepte an, die auf eine Gestaltung vonSettings unterhalb der Handlungsebene der gesamten Stadt setzen. Auf diese Weise er-gibt sich eine Hierarchic von Planungsebenen im ,Setting Stadt':

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Abbildung 3: Hierarchic von Planungsebenen im Setting-Ansatz

Setting Stadt

Bezirk / Stadtteil / Quartier A Bezirk / Stadtteil / Quartier BBetriebe und Verwaltungen

Private Unter-nehmen bzw.Betriebe

OffentlicheBetriebe undVerwaltung

B ildungse inrichtungen

Schulen(der div.Schultypen)

Sonstige Bildungs-einrichtungen

Einrichtungen desGesundheitswesens

OGD/Gesund-heitsamt

Krankenhauser,Senioren- undPflegeheime

Quelle: Eigene Darstellung

62. Aktivitaten im Setting sollten mit anderen praventiven Angeboten und Programmenabgestimmt werden. So konnen Schulen den Schulsport durch die Kooperation mitSportvereinen starken, um auch auf diese Weise ein attraktives Angebot zu erstellen undKinder bzw. Jugendliche fur sportliche Aktivitaten und einen aktiven Lebensstil zu ge-winnen. Fiir Erwachsene konnen entspreehende Angebote u. a. im Rahmen der betrieb-lichen Gesundheitspolitik konzipiert werden. Eine Vernetzung kommunaler Aktivitatenmit bevolkerungsbezogenen Kampagnen bietet hohere Erfolgsaussichten.

Evaluation und Qualitatssicherung

63. Fur primarpraventive Interventionen, die aus Beitragsmitteln der GKV finanziertwerden, gilt ebenso wie fur kurative und rehabilitative Leistungen das Wirtschaftlich-keitsgebot (§12 SGB V). Prinzipiell ist ein Nachweis der Effektivitat und der Effizienzentsprechender Angebote und Initiativen zu fordern. Ein Qualitatskriterium ist dabei dieNachhaltigkeit von Interventionen.

Soweit die GKV primarpraventive Interventionen auf der Basis von § 20 SGB V durch-fuhrt, muss die verfugbare Evidenz in die Interventionsplanung eingehen. Dariiber hin-aus sollten Krankenkassen aber komplexe und schwierig evaluierbare Interventionenselbst bei fehlendem Wirksamkeitsnachweis fordern, wenn

- ftir analoge Interventionen ein Wirksamkeitsnaehweis vorliegt,

- die Wirksamkeit plausibel erseheint und

- eine professionelle Qualitatssicherung der Intervention gewahrleistet ist,

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ohne dabei prinzipiell auf einen Wirksamkeitsnachweis zu verzichten. Zur Erfahrungs-und Wissensakkumulation ist eine sorgfaltige Dokumentation von Interventionen undErgebnissen erforderlich. Um die Transparenz der aus Beitragsmitteln fmanzierten Ak-tivitaten zu erhohen, sollten Dokumentationen zeitnah in das Internet eingestellt werden.

64. Als Ausgangspunkt einer Systematisierung der Qualitatssicherung primarpraventi-ver Interventionen kann der Public Health Action Cycle dienen.

Abbildung 4: Public Health Action Cycle

Strategic- (policy-)Formulierung

Problemdefinition Implementierungund Durehfuhrung

Evaluation

Quelle: Eigene Darstellung

Die einzelnen Phasen dieses Zyklus lassen sich nicht immer trennscharf voneinanderabgrenzen. Zu Uberlappungen kommt es z. B. dann, wenn die mit der Evaluation be-auftragten Experten in einer ,entwicklungsorientierten' Evaluation bereits die Strategie-formulierung und / oder die Implementation beeinflussen.

65. Es besteht kein Mangel an geeigneten Konzepten und Instrumenten zur Qualitats-sicherung. Engpasse existieren eher in der Bereitschaft und Motivation der Akteure,diese Instrumente an die Bedingungen der jeweiligen Intervention anzupassen, u. U.auch in der Verfugbarkeit von Ressourcen. Eine ausreichende Motivation der Akteurezur Qualitatssicherung setzt aber voraus, dass Anforderungen nicht nur von auBen andie Trager der Intervention herangetragen werden. Sie sollten vielmehr deren Anliegenund Problemwahrnehmung reflektieren und von ihnen mitgestaltet werden. Anderen-

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falls konnen Anforderungsprofile dysfuaktionale Prozesse wie die lediglich formale Ab-arbeitung von Priifkriterien provozieren und ggf. sogar zur Qualitatsminderung fiihren.Die verfugbaren und noch zu entwickelnde Methoden der partizipativen Qualitatssiche-rung konnen dieser Gefahr entgegenwirken.

Okonomische Anreize in der Primarpravention

66. Anreizstrukturen konnen die Umsetzung des Praventionsgedankens sowohl unter-stiitzen als aueh konterkarieren. Insofern sollten die Auswirkungen bzw. der Einsatz vonokonomischen Anreizstrukturen gerade in einem Bereich, der nach verbreiteter Ein-schatzung lange vernachlassigt wurde, iiberpruft und weiterentwickelt werden. DieserDenkansatz stimmt mit dem Ziel einer healthy public policy tiberein, welche die Anlie-gen der Primarpravention in alien Lebensbereichen und Politikfeldern verankert.

67. Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen dem Preis und dem Konsum vonZigaretten flihrten zu dem Ergebnis, dass eine Erhohung des Preises den Konsum ten-denziell senkt. Die Studienlage spricht dafur, dass insbesondere Jugendliche und Ange-horige sozial schwacherer Schichten ihren Zigarettenkonsum in Folge einer Preiserho-hung reduzieren. Eine Erhohung der Tabaksteuer, die durch eine Preiserhohung ganzoder anteilig auf die Konsumenten uberwalzt wird, dient u. a. als ein Instrument derPrimarpravention. Die im September 2005 anstehende weitere Erhdhung der Steuer aufZigaretten entsprieht daher praventiven Zielsetzungen. Die Nutzung des Instruments, Tabaksteuer' sollte allerdings im Rahmen einer Anti-Tabak-Kampagne durch komple-mentare MaBnahmen, die vor allem auf die Werbung sowie die Distribution von Ziga-retten und den Schwarzhandel zielen, erganzt werden.

68. Das Preisniveau von Alkohol beeinflusst den Pro-Kopf-Verbrauch an Alkoholikaund die mit dem Alkoholkonsum verbundenen Gesundheitsfolgen. Daher erscheint dieSchlussfolgerung moglich, dass die Besteuerung alkoholischer Getranken zur Reduktiondes Alkoholkonsums beitragt und dass sich Alkoholsteuern positiv auf den Gesund-heitszustand der Bevolkerung auswirken.

Im Zuge von weiteren Uberlegungen zur Besteuerung alkoholhaltiger Produkte sollteauch gepriift werden, ob die z. Zt. uneinheitliche Besteuerung des Alkoholkonsumsdurch eine einheitliche Alkoholsteuer substituiert werden kann, Ihre Bemessung konntesich, unabhangig von der Art des Produkts, ausschlieBlich an der absoluten Alkohol-

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menge je verkaufter Einheit (Flasche, Packung) orientieren. Auf diese Weise wtirdenbisher nicht besteuerte Produkte wie Wein in die Besteuerung einbezogen und Anreizefiir Ausweichreaktionen bei der Kreation von Mischgetranken verringert. Die Abschaf-fung mehrerer Verbrauchssteuern auf Alkohol leistet zugleich ein Beitrag zur Vereinfa-chung des Steuersystems. Allerdings kann eine differenzierte Besteuerung aus einerpraventionspolitischen Perspektive auch Vorteile bieten, z. B. wenn relativ hohe Steuer-satze zum Ruckgang des Konsums in bestimmten Zielgruppen, etwa bei Jugendlichen,filhren.

69. Gesetzliche Krankenkassen haben Bonus-Modelle fur ein ,gesundheitsbewusstesVerhalten' auf der Basis von §65a SGB V konzipiert und umgesetzt. Eine fundierteBewertung der laufenden Programme setzt noch zu erstellende Evaluationen voraus.Nach geltender Rechtslage miissen Aufwendungen fiir Boni mittelfristig aus Einsparun-gen und Effizienzsteigerungen finanziert werden. Krankenkassen haben gegeniiber derzustandigen Aufsichtsbehorde regelmaflig, mindestens aber alle drei Jahre, Rechen-sehaft iiber diese Einsparungen abzulegen. Zukunftige Uberlegungen zum Einsatz vonBoni, die der Rat auch in fruheren Gutachten befiirwortet hat, sollten an den in einigenJahren vorliegenden Erfahrungswerten und Evaluationsergebnissen anknupfen.

70. Ein gemeinsames Vorgehen von Krankenkassen auch unterschiedlicher Kassen-arten erleichtert in vielen Fallen die Durchfuhrung von Setting-Projekten. Den Kranken-kassen stehen noch relativ wenige Wettbewerbsparameter zur Verfugung. Insofern be-steht ein Anreiz, primarpraventive Interventionen in erster Linie unter dem Gesichts-punkt der Offentlichkeitswirkung zu bewerten, in der Regie einzelner Krankenkassendurchzufuhren und primar auf die Zielgruppe ,guter Risiken' im Sinne eines fiir dieKrankenkasse giinstigen Verhaltnisses von Einnahmen und Ausgaben zu fokussieren.Dies kann zur Bevorzugung von Settings fuhren, die sich nicht zum Erreichen des Zielseiner Verminderung sozial bedingter Unterschiede von Gesundheitschancen eignen.

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Anreizefiir Anbieter im Gesundheitssystem

71. Krankenhauser bilden Zentren von regionalen Versorgungssystemen und nehmenfur das Gesundheitswesen bedeutende Funktionen wahr, u. a. in der Aus-, Waiter- undFortbildung von Arzten und anderen Gesundheitsberufen. Aus diesem Grand, und umdas Gesundheitsmanagement in diesen vergleichsweise komplexen Betrieben weiter zuverbessern, sollte die Primarpravention nach dem Setting-Ansatz insbesondere auch inKrankenhausern gestarkt werden.

Anreize zur Gesundheitsforderung im Krankenhaus lieBen sich u. a. durch eine Beriick-sichtigung gesundheitsfordernder Aktivitaten in Pflegesatzvereinbarungen zwischen denKrankenhaustragern und Verbanden der Krankenkassen setzen. Bin mogliches Problembesteht aber in der Zuweisung von Kompetenz und Verantwortung zu unterschiedlichenEntscheidungstragern bei den Krankenkassen - fiir betriebliche Gesundheitsforderungzum einen und fur Krankenhausversorgung und Pflegesatzverhandlungen zum anderen.

72. Defizite in der Primarpravention bestehen aueh im Impfverhalten. Neben Informati-ons- und Motivationsdefiziten wurde eine zu geringe Honorierung der Impfleistung alsein moglicher Grund genannt, obwohl Impfleistungen z. T. extrabudgetar vergiitet wer-den. Daher sollten neben der Bereitstellung von Informationen auch zusatzliche bzw.andere finanzielle Anreize erwogen werden, um bessere Durchimpfungsraten zu erzie-len.

Pradiktive genetische Diagnostik

73. Die Verfiigbarkeit von Tests in der modernen pradiktiven Gendiagnostik wirdvoraussichtlich durch die DNA-Chip-Technologie erhoht, die es erlaubt, zahlreicheTests in automatisierten Arbeitsschritten durchzufuhren. Gentests konnen unter diesenUmstanden bei einer ausreichenden Zahl an Untersuchungen auch bei geringer Vergii-tung durch gesetzliche Krankenkassen bzw. private Versicherungsunternehmen ange-boten werden. Bei einer derartigen Entwicklung konnen sich noch nicht befriedigendgeloste ethische und reehtiiche Probleme der Qualitatssicherung in Gendiagnostik undhumangenetischer Beratung ggf. weiter verscharfen.

74. Fiir Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz sind vor allem multifaktorielle Krankheits-prozesse von Bedeutung, fiir deren Abklarung es noch keine Gentests gibt. Vorbehaltegegeniiber praventiven Gentests in der Arbeitsmedizin und im Arbeitsschutz sind durch

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das grundsatzliche Risiko einer Diskriminierung sowie insbesondere durch die Moglieh-keit begriindet, dass MaBnahmen des Arbeitsschutzes durch eine Auswahl bestimmterArbeitnehmer mit ,geeigneter' genetischer Disposition substituiert warden. Regelungs-bedarf kann im Hinblick auf das Fragerecht des Arbeitgebers, Mitteilungspfliehten desArbeitnehmers, den Einsatz von Gentests in Einstellungsuntersuchungen und den Um-gang mit personenbezogenen Daten entstehen.

75. Obwohl eine verbesserte Kenntnis der genetischen Bedingungen von Gesundheitund Krankheit im Prinzip neue Chancen der Pravention und Kuration eroffnen kann,sind der praktischen Nutzung der pradiktiven genetischen Diagnostik fur die primarePrevention doch auf mehrfache Weise Grenzen gesetzt:

- Zahlreiche Krankheiten sind multifaktoriell verursacht. Den Lebens- und Arbeits-bedingungen, den jeweiligen Belastungsfaktoren und Ressourcen kommt eine hoheBedeutung fiir die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten zu. Insofern er-scheint es als zielfiihrend, die genetische Konstitution als ein Element der Bilanzvon Belastungen und Ressourcen zu verstehen, welche die Gesundheitschancen be-stimmt. Die Konstellation von Ressourcen und Belastungen lasst sich durch unter-schiedliche primarpraventive Interventionen sowie durch sozial- und wirtschafts-politische Initiativen und Entwicklungen beeinflussen.

- Selbst wenn genetische Tests im Zusammenhang mit weiteren EinflussvariablenWahrscheinlichkeitsaussagen ermoglichen, stehen vielfach keine geeigneten bzw.keine anderen als die bereits bekannten Interventionen zur Verfugung.

- Die Verwendung der genetischen Diagnostik kann nicht allein aus der Perspektiveder Praventionspolitik bewertet werden. Sie beriihrt auch andere Aspekte der Ge-sundheits- und Sozialpolitik, z. B. ordnungspolitische Voraussetzungen der Kran-kenversicherung (Kontraktionszwang, Pramiengestaltung), und weitere Lebensbe-reiche und Politikfelder.

Primarpravention als gesellschaftliche Chance undAufgabe

76. , Gesundheit' ist ein gesellschaftlich.es Leitthema mit zunehmender politischer undwirtschaftlicher Bedeutung. Die Entwicklung einer zeitgemaBen und nachhaltigen Pri-marpravention zur Starkung und zum Erhalt von .Gesundheit', ohne dass sekundar-

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bzw. tertiarpraventive oder kurative Interventionen notwendig werden, ist eine zentraleEntwicklungsaufgabe der gesamten Gesellschaft.

77. Gesundheitswissenschaftliche Forschung und Praxis haben in den vergangenen Jah-ren und Jahrzehnten deutliche Fortschritte gemacht. Dies gilt sowohl im Hinblick aufdie Erklarang von Wirkungsketten zwischen der sozialen Umwelt, Lebensstilen, ge-sundheitsrelevantem Verhalten und Erkrankung als auch bei der Entwicklung von Inter-ventionen zum Belastungsabbau bzw. zur Ressourcenstarkung. Nach wie vor bestehtaber Forschungsbedarf zur Entstehung und zum Abbau von Gesundheitsrisiken. DieWissenslilcken sind umso groBer, je mehr es um Einfliisse und Interventionen geht, dieweniger das einzelne Individuum als vielmehr soziale Umwelten und ihre Bedeutungfur die Prevention betreffen.

Insoweit sich Prevention auf die Minderung der Eintrittswahrscheinlichkeit deflnierterKrankheiten bezieht, fuBt Praventionsforschung vor allem auf medizinischen bzw.epidemiologischen Erkenntnissen. Die Konzeption, Erprobung und Qualitatssicherungvon Interventionen erfordert aber sozialwissenschaftliche Kompetenz und zumeist auchinterdisziplinare Zusammenarbeit. Well das Fach Gesundheitswissenschaften/PublicHealth erst seit den 1990er Jahren wieder an deutschen Universitaten verankert wurde,besteht noch ein erheblicher Bedarf an Wissens- und Erfahrungstransfers aus anderenLandern.

78. Trotz der Wissens- und Forschungslucken ist festzustellen, dass die Praxis der Pra-vention noch hinter dem verfugbaren Wissen zuriickbleibt. Dies zeigt sich in der Ver-wendung von Methoden und Instrumenten der Risikoinformation und -aufklarung, de-ren geringe Wirksamkeit bekannt ist, und in dem noch zu seltenen Einsatz kontextbezo-gener Ansatze, die - etwa im Rahmen eines Settings - auf die Wechselbeziehung zwi-schen Lebens- (und Arbeits-)bedingungen und gesundheitsrelevanten Einstellungenbzw. Verhaltensweisen abstellen und die sich der Unterstiltzung der Zielgruppen durchderen aktive Einbeziehung versichern.

79. Nachhaltige Primarpravention setzt voraus, dass die Akteure in der Politik, inzustandigen Ministerien, in der Sozialversicherung und vor allem in den Interventions-bereichen (z. B. offentliche Verwaltungen, private Unternehmen, Bildungseinrichtungenwie Schulen und andere Lebensbereiche) erkennen. dass Gesundheitschancen und Er-krankungswahrscheinlichkeiten von zahllosen Entscheidungen abhangen, mit denen siefur sich und andere die Voraussetzungen fiir bzw. die Moglichkeit von Gesundheit be-einflussen. Eine Aufgabe der Gesundheitspolitik besteht darin, durch Kooperation und

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Kommunikation die Voraussetzungen dafiir zu verbessern, dass gesundheitsrelevanteEntscheidungen in den verschiedenen Lebensbereichen und auf alien Ebenen verant-wortungsbewusst getroffen werden.

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5. Schnittstellen zwischen Krankenversicherung und Pflegeversicherung

80. In den vergangenen Jahren wurden im deutschen Pflegewesen erkennbare Entwick-lungsfortschritte erreicht. Dazu zahlen der quantitative Ausbau ambulanter pflegeriseherAngebote ebenso wie Erfolge bei der Pflegequalitatssicherung, u. a. dutch neue gesetz-liche Vorgaben (Pflege-Qualitatssieherungsgesetz) oder die Erarbeitung nationaler Ex-pertenstandards fur zentrale Pflegeleistungen (u. a. Standard zur Dekubitus- und Sturz-prophylaxe). Die eingeleiteten Ausbildungsreformen sowie die Verankerung der Dis-ziplin Pflege im Hochschulwesen fuhrten zum Abbau von Qualifizierungsdefiziten undsteigerten die Attraktivitat des Berufsbildes. Veranderte Ausbildungsinhalte, -formenund -qualitatsstandards sowie das gewachsene wissenschaftliche Potenzial sind unver-kennbare Indizien fur eine fortschreitende Professionalisierung in Teilbereichen derPflege.

Andererseits ist die Pflegerealitat immer noch und immer wieder neu von ausgepragtenDefiziten gekennzeichnet. Diese umfassen inakzeptable Mangel in elementaren Berei-chen wie der Grundpflege, Ernahrung und Mobilitat als aueh Versorgungslticken etwabei der Betreuung Demenzkranker, psychisch Kranker, Sterbender oder Schwerstkran-ker mit Bedarf an Medizintechnik. Hinzu kommen Probleme in den Bereichen, in denensieh medizinische und pflegerische Versorgung iiberschneiden. Von einer Umsetzungwirklich innovativer Konzepte in die Pflegepraxis (^primary nursing', ,home care', Be-teiligung an Modellen der integrierten Versorgung) kann heute ebenso wenig gespro-chen werden wie von einer flachendeckenden flexiblen und an Nutzerbedurfnissen ori-entierten Pflegeversorgung.

81. Pflege ist eines der zentralen gesellschaftlichen Handlungsfelder der Zukunft. Filrihre Entwicklung ist es notwendig, die Nachhaltigkeit des begonnenen Modernisie-rungsprozesses zu gewahrleisten und gleichzeitig strukturelle Defizite abzubauen. EineHerausforderung besteht darin, junge Menschen fur die Pflegeberufe zu gewinnen undihre Ausbildung sowie ihren Einsatz mit Bliek auf die spezifischen Bedarfslagen Pfle-gebediirftiger zu optimieren. Jede Reform des Pflegeversicherungsgesetzes, die dieseZusammenhange nicht beriicksichtigt, greift zu kurz.

82. Die Absicherung des Risikos der Pflegebediirftigkeit durch eine Sozialversicherungwar in der alternden Gesellschaft Deutschlands ein wichtiger gesundheits- und sozial-politischer Sehritt. Er fiihrte zu zahlreiehen Entwicklungsimpulsen fur die Pflege undverbesserte die Versorgung vor allem alter und chronisch kranker Menschen, Unabhan-gig von dieser Einschatzung ist der Reformbedarf in der Pflegeversicherung heute evi-

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dent. Abgesehen von der Finanzierungsgrundlage der Versicherung und der Entwick-lung einer bedarfs- und bediirmisgerechten Pflege, stehen insbesondere Fragen derQualitat und der Abbau von Unterversorgung z. B. bei Demenzkranken, behindertenMenschen, Schwerkranken nach vorzeitiger Krankenhausentlassung oder Sterbenden imVordergrand.

Die demographische Entwicklung fuhrt dabei zu zwei Konsequenzen: zum einen wirddie vorhandene Versorgungslandschaft der prognostizierten Zunahme an Pflegebedarfin den kommenden Jahrzehnten nicht Stand halten konnen und zum anderen wird derMehrbedarf an Pflege mit steigenden Ausgaben verbunden sein, die entweder hohereBeitragssatze in der Versicherung nach sich ziehen und/oder mit dem Sinken des Leis-tungsniveaus einhergehen. Diese Entwicklung wird auch dann nicht wesentlich abge-mildert, wenn eine weitere Verbesserung der Gesundheit nachriickender Generationenerreicht werden kann. Eine Reform der Pflegeversicherung muss zu einer nutzerorien-tierten und ausdifferenzierten Pflegeversorgung flihren, die sich nicht langer an einemnur somatisch angelegten Pflegeverstandnis orientiert. Sie sollte in einem Gesamtkon-zept von Mafinahmen fur eine alter werdende Gesellschaft stehen.

83. In Zukunft bedarf sowohl das Risiko, pflegebediirftig zu werden, als auch diePrevention von Pflegebedurftigkeit verstarkter gesellschaftlicher und gesundheitspoliti-scher Aufmerksamkeit. Dabei wird die selbst organisierte und finanzierte Vorsorge vor-aussichtlich mehr als bislang die solidarische Absicherung erganzen miissen. Dabei gehtes nicht allein um eine finanzielle Absicherung des Risikos Pflegeabhangigkeit, sondernebenso um die Entwicklung eines Bewusstseins dafiir, dass Pflegebedurftigkeit kein un-abwendbarer Zustand ist, der sich z. B. durch Lebensstil oder Anpassung des Wohnum-feldes verhindern oder zumindest in seiner Schwere verringern bzw. verzogern lasst.Politisch muss die Debatte zu Umverteilungsprozessen in die Langzeitpflege undBetreuung chronisch Kranker aufgenommen werden und neue Akzente der gesundheit-lichen Versorgung in der altersgewandelten Gesellschaft setzen (vgl. hierzu auch Gut-achten 2000/2001, Bd. III.l, Abs. 7.4.1).

84. Alle Reformvorschlage sollten auf Generationengerechtigkeit gepruft werden. DiePostulate der Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit verlangen, dass zukiinftige Generationenbei vergleichbarer Abgabenlast vergleichbare Leistungen von der Versiehertengemein-schaft erhalten wie die heutige Generation. Im Sinne einer Geschlechtergerechtigkeitsollte mit den klmftigen gesetzlichen Rahmenbedingungen auch angestrebt werden, dieAufgaben der Pflege solidarischer zwischen den Geschlechtern zu teilen. Heute tragen

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vor allem Frauen (Ehefrauen, Tochter und Schwiegertochter) die - oft sehr hohen - Be-lastungen der hauslichen Pflege Familienangehoriger.

Umgestaltung des Versicherungszweiges

85. In der Kranken- und Pflegeversicherung werden vergleichbare Lebensrisiken versi-ehert. Die organisatorische Trennung der teilweise wettbewerblich ausgerichteten GKVvon der nichtwettbewerblich organisierten sozialen Pflegeversicherung (SPV) bringt er-hebliche Nachteile fur die Nutzer. Sie ermoglicht Verschiebungen der Kosten zwisehenbeiden Versicherungszweigen und fllhrt in vielen Fallen zu unklaren Zustandigkeiten,die die Versorgung des Pflegebedtirftigen erheblich erschweren konnen.

Tabelle 2: Gegeniiberstelhmg der Organisationsunterschiede der gesetzli-chen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung

Gesetzliche Krankenversicherung,Vollkasko'-VersicherungRisikostrukturausgleichwettbewerbliches SystemFestlegung des Beitragssatzes dutch die je-weilige Krankenkasse (bei gleicher Beitrags-bemessungsgrenze)Leistungen nach dem BedarfsprinzipHeterogenitat in der Ausgestaltung der Ver-tragsverantwortlichkeiten (unterschiedlicheVertragsausgestaltung auf Landesebene, Mo-dellprojekte usw.)in der Regel Leistungsgewalirung bei Inan-spruchnahme (implizite Leistungsgewahrung)sektorale Budgetierunggeringe Wahlmdglichkeiten bei denLeistungen

Soziale Pflegeversicherung,Teilkasko'-Versicherungausgabenorientierter Finanzausgleichnichtwettbewerbliches SystemFestlegung des Beitragssatzes durch den Ge-setzgeber (bei gleicher Beitragsbemessungs-grenze)Leistungen nach dem Budgetprinzipgemeinsames und einheitliches Vorgehen inder Ausgestaltung der Vertragsverantwortlich-keiten (die einzelne Pflegekasse verfugt nichtiiber eigene Entscheidungsspielraume)Leistungsgewahrung nach Antrag und Begut-achtung (explizite Leistungsgewahrung)

Gesamtbudgetgrofiere Wahlmoglichkeiten bei den Leistun-gen (Sach- oder Geldleistungen in der ambu-lanten Versorgung, ambulante oder stationareVersorgung)

Quelle: Eigene Darstellung

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