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Krieg in der Geschichte

(KRiG)

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KRIEG IN DER GESCHICHTE

(KRiG)

Herausgegeben von

Stig Förster · Bernhard R. Kroener · Bernd Wegner · Michael Werner

Band 109

MINDERHEITEN-SOLDATEN

Ethnizität und Identität in den Armeen

des Ersten Weltkriegs

FERDINAND SCHÖNINGH

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Oswald Überegger (Hg.)

Minderheiten-Soldaten

Ethnizität und Identität in den Armeen

des Ersten Weltkriegs

FERDINAND SCHÖNINGH

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-

bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich

geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige

schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.

© 2018 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;

Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland)

Internet: www.schoeningh.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München

Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn

E-Book ISBN 978-3-657-78599-5ISBN der Printausgabe 978-3-506-78599-2

Der Herausgeber: Oswald Überegger studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der

Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und ist seit 2013 Direktor des

Kompetenzzentrums für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen.

Er habilitierte im Fach Zeitgeschichte 2017.

Titelbild: Gruppenfoto von italienischsprachigen Soldaten der Habsburgerarmee aus

dem Trentino (Museo Storico Italiano della Guerra, Rovereto)

Reihensignet: Collage unter Verwendung eines Photos von John Heartfield.

© The Heartfield Community of Heirs/VG Bild-Kunst, Bonn 1998.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Minderheiten-Soldaten. Staat, Militär und Minderheiten im Ersten Weltkrieg –

eine Einführung

Von Oswald Überegger (Bozen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Zwischen Pflichterfüllung und Nationalgefühl. Die tschechischen Soldaten

der k.u.k. Armee

Von Richard Lein (Budapest) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

»Italiani d’Austria«. Italienischsprachige Soldaten der Habsburgermonarchie

im Ersten Weltkrieg

Von Andrea Di Michele (Bozen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Kriegserfahrung als nationale Identitätsstifterin? Ethnische Polen und Dänen

als preußische Soldaten

Von Jens Boysen (Chemnitz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

Die fragmentierte Front. Elsässische und lothringische Soldaten im Ersten

Weltkrieg

Von Volker Prott (Birmingham) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

»England’s difficulty is Ireland’s opportunity.« Die Iren im britischen Heer

des Ersten Weltkriegs und das Problem multipler Loyalitäten

Von Christoph Jahr (Berlin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Gab es ein Minderheitenproblem in der Zarenarmee im Ersten Weltkrieg?

Von Reinhard Nachtigal (Freiburg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Heralding a new society, and venerating the English King. Australische,

neuseeländische und indische Soldaten in Gallipoli und an der Westfront

Von Daniel Marc Segesser (Bern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg – eine Minderheit?

Von Gerald Lamprecht (Graz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Schlussbemerkungen: Militärische Minderheiten als interdisziplinäre

Herausforderung

Von Nicola Labanca (Siena) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

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Vorwort zur Reihe

»Der Krieg ist nichts als die Fortsetzung der politischen Bestrebungen mit veränder-

ten Mitteln. [...] Durch diesen Grundsatz wird die ganze Kriegsgeschichte verständ-

lich, ohne ihn ist alles voll der größten Absurdität.« Mit diesen Sätzen umriss Carl

von Clausewitz im Jahre 1827 sein Verständnis vom Krieg als historisches Phänomen.

Er wandte sich damit gegen die zu seiner Zeit und leider auch später weit verbrei-

tete Auffassung, wonach die Geschichte der Kriege in erster Linie aus militärischen

Operationen, aus Logistik, Gefechten und Schlachten, aus den Prinzipien von Stra-

tegie und Taktik bestünde. Für Clausewitz war Krieg hingegen immer und zu jeder

Zeit ein Ausfluss der Politik, die ihn hervorbrachte. Krieg kann demnach nur aus

den jeweiligen politischen Verhältnissen heraus verstanden werden, besitzt er doch

allenfalls eine eigene Grammatik, niemals jedoch eine eigene Logik.

Dieser Einschätzung des Verhältnisses von Krieg und Politik fühlt sich Krieg in

der Geschichte grundsätzlich verpflichtet. Die Herausgeber legen also Wert darauf,

bei der Untersuchung der Geschichte der Kriege den Blickwinkel nicht durch eine

soge nannte militärimmanente Betrachtungsweise verengen zu lassen. Doch hat seit

den Zeiten Clausewitz’ der Begriff des Politischen eine erhebliche Ausweitung er-

fahren. Die moderne Historiographie beschäftigt sich nicht mehr nur mit Außen-

und mit Innenpolitik, sondern auch mit der Geschichte von Gesellschaft, Wirtschaft

und Technik, mit Kultur- und Mentalitätsgeschichte und, nicht zuletzt, mit der Ge-

schich te der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. All die diesen unterschied-

lichen Gebieten eigenen Aspekte haben die Geschichte der Kriege maßgeblich

mitbe stimmt. Die moderne historiographische Beschäftigung mit dem Phänomen

Krieg kann deshalb nicht umhin, sich die methodologische Vielfalt der gegenwärti-

gen Geschichtswissenschaft zunutze zu machen. In diesem Sinne ist Krieg in der

Ge schichte offen für die unterschiedlichsten Ansätze in der Auseinandersetzung

mit dem historischen Sujet.

Diese methodologische Offenheit bedeutet jedoch auch, dass Krieg im engeren

Sinne nicht das alleinige Thema der Reihe sein kann. Die Vorbereitung und nach-

trägliche »Verarbeitung« von Kriegen gehören genauso dazu wie der gesamte Kom-

plex von Militär und Gesellschaft. Von der Mentalitäts- und Kulturgeschichte mili-

tärischer Gewaltanwendung bis hin zur Alltagsgeschichte von Soldaten und

Zivilpersonen sollen alle Bereiche einer modernen Militärgeschichte zu Wort kom-

men. Krieg in der Geschichte beinhaltet demnach auch Militär und Gesellschaft im

Frieden.

Geschichte in unserem Verständnis umfasst den gesamten Bereich vergangener

Realität, soweit sie sich mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft erfassen lässt.

In diesem Sinne ist Krieg in der Geschichte (abgekürzte Zitierweise: KRiG) grund-

sätzlich für Studien zu allen historischen Epochen offen, vom Altertum bis unmit-

telbar an den Rand der Gegenwart. Darüber hinaus ist Geschichte für uns nicht nur

die vergangene Realität des sogenannten Abendlandes. Krieg in der Geschichte be-

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VORWORT ZUR REIHE8

zieht sich deshalb auf Vorgänge und Zusammenhänge in allen historischen Epochen

und auf allen Kontinenten. In dieser methodologischen und thematischen Offen-

heit hoffen wir den spezifischen Charakter unserer Reihe zu gewinnen.

Stig Förster Bernhard R. Kroener Bernd Wegner Michael Wegner

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Minderheiten-Soldaten. Staat, Militär und Minderheiten

im Ersten Weltkrieg – eine Einführung

von

Oswald Überegger

Die anhaltende Konjunktur des wissenschaftlichen Interesses an der Geschichte des

Ersten Weltkriegs hat der spezifischen Forschung zum Thema in quantitativer wie

qualitativer Hinsicht zweifellos Auftrieb verliehen. Die gegenwärtige Aufmerksam-

keit, die der ›Urkatastrophe‹ zuteilwird, ist freilich vielfach – und im medialen Dis-

kurs wohl primär – eine Folge des ›Centenaires‹ von 2014, dem sich jetzt jenes von

2018 anreiht.1 Damit wird der ›Große Krieg‹ – noch einmal und wohl in ähnlicher

Intensität wie 2014 – im Mittelpunkt des wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und

medialen Interesses stehen. Das Kriegsende 1918 und die aus der Pariser Friedens-

ordnung 1919/20 hervorgegangene neue Welt – werfen förmlich eine ganze Reihe

von Fragen und Diskussionspunkten auf, die mit Blick auf die Bedeutung der damit

verbundenen Epochenzäsur und die ›ewige‹ Frage nach dem ›Ort‹ des Ersten Welt-

kriegs in der Geschichte des vergangenen 20. Jh. kontroversiell diskutiert werden.

Trotzdem lässt sich der historiographische Gang der Dinge nur aus einer Longue-

durée-Perspektive zusammenhängend und sinnhaft verstehen. Stark vereinfacht

dargestellt, hat im deutschsprachigen Raum vor allem die Operationalisierung all-

tags- und mentalitätsgeschichtlicher Ansätze in der Weltkriegsforschung schon ab

den späten 1980er-Jahren einen prägenden, multiplen Perspektivenwechsel nach

sich gezogen.2 Der vorherrschende Blick auf die als historisch relevante Entschei-

dungsträger identifizierten politischen und militärischen Eliten verlor einerseits

durch die neue Thematisierung der zivilgesellschaftlichen Implikationen des Krie-

ges sukzessive an wissenschaftlicher Attraktivität. Das individuelle oder kollektive

Kriegserlebnis nicht-kombattanter gesellschaftlicher Gruppen wurde erstmals auf

breiterer Ebene zum wissenschaftlichen Untersuchungsobjekt. Im Rahmen der sich

relativ zeitgleich ebenfalls neu etablierenden ›Militärgeschichte von unten‹ verschob

sich schließlich andererseits auch der geschichtswissenschaftliche militärhistori-

sche Fokus stärker auf das Kriegserlebnis des einfachen Soldaten. Seit den 1990er-

Jahren differenzierten sich die im Rahmen dieser paradigmatischen Interessensver-

lagerung entwickelten verschiedenen Zugänge weiter aus; im Rahmen der neuen

1 Vgl. zur wissenschaftlichen Bilanz des ›Centenaires‹ von 2014: Jost Dülffer, Einhundert Jahre Erster Weltkrieg. Eine Bilanz des Jahres 2014, in: Osteuropa 64 (2014) 11-12, S. 45–58; auch: Stig Förster, Hundert Jahre danach. Neue Literatur zum Ersten Weltkrieg, in: Neue politische Literatur 60 (2015), S. 5–25.

2 Vgl. etwa: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…«. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, Neue Folge 1), Essen 1993.

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OSWALD ÜBEREGGER10

Kriegserfahrungs-Forschung und kulturgeschichtlicher bzw. -wissenschaftlicher

Forschungsimpulse wurden sie auch mit Blick auf ihre theoretisch-methodische

Grundierung zusehends verfeinert, konkretisiert und operationalisierbar gemacht.3

Hand in Hand mit diesem neuen Interesse für den ›gewöhnlichen‹ Soldaten rück-

ten bisher stets vernachlässigte oder tabuisierte Themen- und Fragestellungen in

den Mittelpunkt des geschichtswissenschaftlichen Interesses – etwa die Geschichte

des soldatischen Kriegsalltags, die verschiedenen Formen von militärischen Verwei-

gerungshaltungen oder auch – um auf das Thema des vorliegenden Sammelbandes

zu sprechen zu kommen – die Rolle und Bedeutung jener Soldaten, die nationalen,

ethnischen, religiösen oder auch anderen Minderheiten angehörten. Die Kriegserin-

nerungen des elsässischen Soldaten Dominik Richert etwa wurden nach ihrer deut-

schen Erstveröffentlichung4 1989 kurzfristig zu einer Art kanonischem Text, der auch

einen starken Impuls für eine intensivere inhaltliche wie theoretisch-methodische

Reflexion einer aufstrebenden »Militärgeschichte von unten«5 insgesamt darstellte.

Letztere etablierte sich als Konterpart einer konventionell ausgerichteten, zumeist

außeruniversitär betriebenen Militärgeschichte, in der das Interesse für das solda-

tische Führungspersonal und die primär unter dem traditionellen militärischen

›Kerngeschäft‹ subsumierte Geschichte der militärischen Strategien und Operatio-

nen (vornehmlich als herkömmliche Schlachtengeschichte) weiterhin überwog.

Dessen ungeachtet und von einzelnen territorialen Sonderfällen – etwa grenzregio-

nale nationale Minderheiten, die im Fokus einer aktiven regionalgeschichtlichen

Historiographie (bspw. Elsaß-Lothringen, Tiroler Raum usw.) standen – einmal ab-

gesehen, spielten die ›Minderheiten-Soldaten‹ innerhalb einer zudem kaum als kon-

kretes Forschungsfeld profilierten Weltkriegsforschung als Minderheitenforschung

eine lediglich untergeordnete Rolle.6 Unter dem lange nicht näher konkretisierten

Begriff der (Kriegs-)Minderheiten subsumierte sich in der Weltkriegshistoriographie

vor allem die Situation ziviler nationaler Minderheiten im Krieg. Im Zentrum stand

der jeweilige staatliche Umgang mit den so genannten ›Feindstaatenausländern‹

oder ›enemy aliens‹ als Konsequenz des Kriegsausbruchs und der damit verbunde-

nen zahlreichen gegenseitigen Kriegserklärungen, die insbesondere ganze Gruppen

3 Vgl. für viele andere: Thomas Kühne/Benjamin Ziemann (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte, Pader-born u. a. 2000; Georg Schild/Anton Schindling (Hrsg.), Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung, Paderborn u. a. 2009.

4 Bernd Ulrich/Angelika Tramitz (Hrsg.), Dominik Richert, Beste Gelegenheit zum Sterben. Meine Erlebnisse im Kriege 1914–1918, München 1989.

5 Wolfram Wette, Die unheroischen Kriegserinnerungen des Elsässer Bauern Dominik Richert, in: Wolfram Wette, Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1998; vgl. auch: Christian Koller, Alsacien, Déserteur! Die Kriegserfahrung des Elsässer Bauern Dominik Richert im Spiegel seiner Memoiren, in: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung und Oral His-tory 13 (2000), S. 225–239.

6 Vgl. als knappen aktuellen Überblick das Kapitel »Minorities, National Integration and the Attitu-des towards war«, in: André Loez, Between Acceptance and Refusal – Soldiers’ Attitudes Towards War, in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, ed. by Ute Daniel, Pe-ter Gatrell, Oliver Janz, Heather Jones, Jennifer Keene, Alan Kramer, and Bill Nasson, issued by Freie Universität Berlin, [http://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/between_acceptance_and_refusal_-_soldiers_attitudes_towards_war], 10.05.2017, S. 21–24.

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MINDERHEITEN-SOLDATEN 11

von teilweise voll integrierten Immigranten mit einem Mal als suspekt erscheinen

ließen.7 Die Frage der Internierung und Diskriminierung sowie der staatlicherseits

praktizierten Repressionsmaßnahmen, schließlich auch die Erfahrungs- und Wahr-

nehmungsebenen der Betroffenen bildeten einen attraktiven Forschungsstrang, zu

dem vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten eine Vielzahl von Publikationen er-

schien.8

Rolle und Bedeutung von Minderheiten-Soldaten in den Armeen des Ersten Welt-

kriegs stellen also ein forschungsmäßig lange vernachlässigtes spezielles Thema der

Minderheitengeschichte des Ersten Weltkriegs dar, das bisher nicht systematisch

und – vor allem – nicht aus einer komparativen Perspektive betrachtet wurde.9

Die Beiträge dieses Sammelbandes sind das Produkt einer an der Freien Univer-

sität Bozen im Jahre 2015 stattgefundenen Tagung,10 deren Ziel es war, die bestehende

einschlägige Forschung zusammenzuführen und das Thema anhand verschiedener

konkreter Fallbeispiele unter Berücksichtigung mehrerer grundlegender Fragestel-

lungen in einer stärker analytischen und vergleichenden Art und Weise zu fokussie-

ren. In diesem Kontext lehnt sich die Definition dessen, was unter ›Minderheiten-

Soldaten‹ zu verstehen sei, einerseits an klassische Differenzierungsmodelle an,

wonach es sich bei Minderheiten handelt um:

»A group numerically inferior to the rest of the population of a State, in a non-dominant

position, whose members – being nationals of the State – possess ethnic, religious or lin-

guistic characteristics differing from those of the rest of the population and show, if only

implicitly, a sense of solidarity, directed towards preserving their culture, traditions, reli-

gion or language.«11

7 Sehr stark in diese Richtung gehen die Arbeiten von Panikos Panayi. Vgl. Panikos Panayi, Dominant Societies and Minorities in the Two World Wars, in: ders., Minorities in Wartime. National and Ra-cial Groupings in Europe, North America and Australia during the Two World Wars, Oxford 1993, S. 3–23; ders., Germans as Minorities during the First World War. A Global Comparative Perspec-tive, Farnham 2014; vgl. zuletzt auch zusammenfassend: ders., Minorities, in: Jay Winter (Hrsg.), The Cambridge History of the First World War, Bd. 3: Civil Society, Cambridge 2014, S. 216–241.

8 Vgl. dazu als Überblicke mit neuester Forschungsliteratur: Matthew Stibbe, Civilian internment and civilian internees in Europe, 1914–1920, in: Immigrants and Minorities 26 (2008) 1-2, S. 49–81; ders., Enemy Aliens and Internment, in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, ed. by Ute Daniel, Peter Gatrell, Oliver Janz, Heather Jones, Jennifer Keene, Alan Kra-mer, and Bill Nasson, issued by Freie Universität Berlin, [http://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/enemy_aliens_and_internment], 10.05.2017.

9 Selbst im Programm der an der Universität Chester 2014 stattgefundenen, thematisch einschlägi-gen Tagung zu »Minorities and the First World War« lassen sich nur einzelne Beiträge zum Thema der soldatischen Minderheiten finden. Vgl.: https://www.chester.ac.uk/node/21354.

10 »Minderheiten-Soldaten. Ethnizität und Identität in den Armeen des Ersten Weltkrieges«, organi-siert vom Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen am 9. Novem-ber 2015. Für den Band neu hinzugekommen sind die Beiträge von Andrea Di Michele, Volker Prott und Reinhard Nachtigal.

11 Nach der klassischen Definition von Francesco Capotorti, zit. bei: United Nations Human Rights, Office of the High Commissioner, Minorities under international law, [http://www.ohchr.org/EN/Issues/Minorities/Pages/internationallaw.aspx], 14.04.2017.

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OSWALD ÜBEREGGER12

Dementsprechend beziehen sich die im Band versammelten Fallstudien, erstens,

auf vornehmlich grenzregional verankerte nationale Gruppen verschiedener Staa-

ten, deren Minderheiten-Status sich im Zuge des Nation-Building-Prozesses im 19. Jh.

erst artikuliert bzw. verschärft hatte.12 »Nationale Minderheiten im heutigen Wort-

sinn konstituierten sich erst in Wechselwirkung mit der modernen Nationsbildung

der jeweiligen Majoritäten und mit der Formierung von Nationalstaaten.«13 In dem

Maße, wie die Nationsidee immer offensichtlicher den Charakter einer leitideolo-

gischen Orientierung annahm, wurden Minderheiten als gesellschaftliche Gruppen

immer stärker sichtbar und als quantitative Größe vermessen.14 Die Tatsache, dass

sich die Kategorien der Differenz und folglich auch die Formen von Inklusion und

Exklusion immer stärker an nationalen Zugehörigkeitsmustern orientierten, ver-

komplizierte den Status von ethnischen bzw. nationalen Minderheiten innerhalb

des zunehmend ›nationalisierenden‹ Staates.15 Zwar ist es natürlich richtig, dass es

sich bei der Diversität im Militär um ein »klassisches Problem« handelt, »mit dem

sich Armeen schon immer konfrontiert sahen«; der moderne Nation-Building-Pro-

zess stellte aber zweifellos eine Zäsur in dem Verhältnis zwischen Mehrheit und

Minderheit dar.16

Und zweitens rekurriert die Definition von Minderheit auf die Gruppe der »dis-

persed European minorities« und meint damit Minderheiten, die in diversen Staa-

ten präsent waren, wie beispielsweise die Juden, denen der abschließende Beitrag

dieser Publikation von Gerald Lamprecht gewidmet ist.17

Sozialwissenschaftlich bzw. organisationssoziologisch gesprochen, geht es also

vorwiegend um die so genannte »skewed group« (schiefe bzw. verzerrte Gruppe)

und damit um eine Minderheitengruppe, die von der Majorität vor allem als über-

schaubares, einheitliches Kollektiv wahrgenommen wird. Aufgrund der mehrheits-

seitig herrschenden Tendenz zur Konstruktion einer in sich geschlossenen, homo-

genen Gruppe geraten individuelle Handlungs- und Verhaltensmuster infolge einer

12 Vgl. zur Frage der ›nationalen Minderheiten‹ die begriffsgeschichtliche Analyse von Kai Struve, »Nationale Minderheit« – Begriffsgeschichtliches zu Gleichheit und Differenz, in: Leipziger Bei-träge zur jüdischen Geschichte und Kultur II (2004), S. 233–258.

13 Rudolf Jaworski, Nationalstaat, Staatsnation und nationale Minderheiten. Zur Wechselwirkung dreier Konstrukte, in: Hans H. Hahn und Peter Kunze (Hrsg.), Nationale Minderheiten und staat-liche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jh., Berlin 1999, S. 19–27, hier S. 21.

14 Vgl. dazu etwa die Anmerkungen von Hans Lemberg, Minderheiten als Konfliktursache?, in: Ralph Melville, Jiří Pešek und Claus Scharf (Hrsg.), Zwangsmigrationen im mittleren und östlichen Europa. Völkerrecht – Konzeptionen – Praxis (1938–1950) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Beihefte 69), Mainz 2007, S. 99–109, insbes. S. 99f.

15 Vgl. Hans Henning Hahn, Nationale Minderheiten und Mehrheitsnationen im 19. Jahrhundert. Ei-nige grundsätzliche Überlegungen zur kollektiven Identitätsbildung, in: ebd., S. 205–210, hier S. 207.

16 Thomas Hallmann, Diversity Management im Militär. Eine historische Betrachtung anhand aus-gewählter Fallbeispiele, in: Gerhard Kümmel (Hrsg.), Die Truppe wird bunter: Streitkräfte und Min-derheiten (Militär und Sozialwissenschaften 47), Baden-Baden 2012, S. 47–71, hier S. 47.

17 Vgl. zur Differenzierung den Abschnitt über »Typologies of minorities«, in: Panayi, Minorities, S. 217–219.

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MINDERHEITEN-SOLDATEN 13

dominierenden stereotypen Zuschreibungspraxis in das Hintertreffen.18 Öffentliche

Sichtbarkeit und Wahrnehmungsintensität der Minderheit als solche waren schließ-

lich auch Voraussetzung dafür, dass die jeweilige Minorität staatlicher- und militä-

rischerseits als Problem empfunden wurde. In einem als vormodern-autokratisch

zu charakterisierenden Großreich wie Russland, in dem der Nationalisierungspro-

zess noch nicht so weit fortgeschritten war, bestand das Minderheitenproblem in

lediglich geringerem Ausmaß.19 In ähnlicher Weise verhielt es sich etwa mit den jü-

dischen Soldaten innerhalb der k.u.k. Armee, die »nur schwer als (Minderheiten-)

Gruppe festzumachen«20 waren. Im letzteren Fall verbanden sich Staatspatriotismus

und Kriegsunterstützung sogar mit der Hoffnung auf einen weiteren Meilenstein in

der gruppenspezifischen Emanzipationsgeschichte.21

In Ergänzung zu den skizzierten klassischen Einordnungsmodellen versteht sich

›Minderheit‹ im Kontext dieses Bandes allerdings auch als kriegsimmanentes Dif-

ferenzierungskonzept. Auf diese Weise macht es analytisch durchaus auch Sinn,

Soldatengruppen als Minderheitenkollektive zu begreifen, die a priori und vorder-

gründig wohl nicht als solche erscheinen mögen. Hier sind es vornehmlich Rekru-

tierungsweisen, Einsatzkontexte und kollektive Wahrnehmungsmuster, die – das

zeigt etwa der Beitrag von Daniel Marc Segesser – Minderheitenkonstellationen

kriegsimmanent evozierten. Gerade mit Blick auf diese nicht vordergründig und

augenscheinlich fassbaren ›anderen‹ Minderheitencharaktere, die weit über rein

sprachliche, nationale, ethnische oder religiöse Distinktionsmuster hinausgehen

und tief in den Bereich der kriegsimmanenten sozialen und kulturellen Gruppen-

bildung hineinreichen, gibt es international noch beträchtlichen Forschungsbedarf.

Auch Segesser ortet unter den Soldaten der Dominions eine kriegsimmanente Form

der Nationalisierung, sodass sich die »Primäridentifikation […] mehr und mehr auf

die immer häufiger als eigenständig wahrgenommene, unmittelbare Herkunftsna-

tion [verschob].«22 Insofern stellte der Erste Weltkrieg auch in diesem Fall eine un-

verkennbare Zäsur mit Blick auf die Veränderung von Identitäten und nationalen

Verortungen dar.

18 Vgl. zu diesen organisationssoziologischen Überlegungen, basierend auf den Studien von Rosabeth Moss Kanter und anderen, die Ausführungen von Gerhard Kümmel, Die Minderheiten, das Fremde und das Militär: Eine Einleitung, in: Kümmel, Truppe, S. 9–25.

19 Vgl. dazu die Anmerkungen von Reinhard Nachtigal, S. 153–158.20 Gerald Lamprecht in seinem Beitrag über die jüdischen Soldaten in diesem Band, S. 179.21 Vgl. nunmehr auch Marsha Rozenblit, Der Habsburg-Patriotismus der Juden, in: Helmut Rumpler

(Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band XI: Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg, Teil 1: Vom Balkankonflikt zum Weltkrieg, 1. Teilband: Der Kampf um die Neuordnung Mitteleuropas, Wien 2016, S. 887–917, hier S. 892–897.

22 Daniel Marc Segesser in seinem Beitrag über die australischen, neuseeländischen und indischen Soldaten, S. 170.

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OSWALD ÜBEREGGER14

Problemfelder und Fragen

Bezüglich der weiter oben erwähnten grundlegenden Fragestellungen, die im Kon-

text des Themas von hoher Relevanz sind, ist vor allem auf drei Problemfelder zu

verweisen, die direkt oder indirekt, mehr oder weniger stark mit dem komplexen

Beziehungsgeflecht zwischen nationalisierendem Staat, nationaler Minderheit und

»konnationalem Patronagestaat«23 zusammenhängen, das Rogers Brubakers tref-

fend als »triadic nexus« bezeichnet hat.24 Innerhalb dieser Trias gestalten sich die

Beziehungen zwischen den Subjekten weniger als eindeutige, sondern eher als zwi-

schen inklusiven und exklusiven Strategien konkurrierenden bzw. situativ changie-

renden dynamischen und fluiden Ausverhandlungs- und Interpretationsprozessen,

die auf der Wahrnehmung der Praxis des jeweiligen Gegenübers basieren.25

In diesem thematischen Kontext steht ein erster Fragenkomplex dieses Sammel-

bandes im Zusammenhang mit den konkreten Kriegserfahrungen und dem Charak-

ter der Kriegslebenswelten von Minderheiten-Soldaten, was immer man auch unter

Minderheiten-Soldaten in spezifischen Situationen verstehen mag. Diese Kriegsle-

benswelten waren selbstredend in hohem Maße von politischen und militärischen

Zuschreibungen innerhalb der skizzierten Trias und der perspektivisch jeweils unter-

schiedlich beantworteten zentralen Frage nach dem Loyalitätsverhältnis der Min-

derheiten zur Staatsnation abhängig. Nationale Minderheiten wurden vielfach in

sehr pauschaler Weise als unzuverlässige und illoyale Staatsbürger kategorisiert,

wobei insbesondere der Typus grenzregionaler Minderheiten teilweise mit einer Art

doppeltem Misstrauen (des nationalisierenden Staates, vielfach aber auch des kon-

nationalen Patronagestaates) konfrontiert war. Die Frage nach diesen Stereotypisie-

rungen und Schwarz-Weiß-Etikettierungen, ihrem realen bzw. fiktiven Hintergrund

sowie ihren konkreten Auswirkungen auf die Kriegslebenswelt der Soldaten ist ein

erstes zentrales Bestimmungsmoment, das wohl nur aus einer komparativen Pers-

pektive sinnvoll und gewinnbringend zu beantworten ist. Welche Gemeinsamkeiten

und Unterschiede lassen sich im Umgang mit den Minderheiten aus einer verglei-

chenden Perspektive festmachen, und welche Bedingtheiten und Faktoren evozier-

ten bestimmte Handlungs- bzw. Reaktionsmuster innerhalb der Akteure des skiz-

zierten Beziehungsgeflechtes?

Ein weiterer, noch spezifischerer Fokus steht in einem Zusammenhang mit der

zentralen Frage nach der Transformation nationaler Identitäten im Krieg: Wie stark

waren nationale Identitäten im Spannungsfeld zwischen Nation und Region? Sind

23 Gerhard Seewann, Mehrheits- und Minderheitsstrategien und die Frage der Loyalität 1919–1939, in: Mathias Beer und Stefan Dyroff (Hrsg.), Politische Strategien nationaler Minderheiten in der Zwi-schenkriegszeit, München 2013, S. 15–25, hier S. 15.

24 Vgl. Rogers Brubaker, Nationalism Reframed: Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge 1996. Vgl. dazu auch Peter Haslinger/Joachim von Puttkamer, Staatsmacht, Minderheit, Loyalität – konzeptionelle Grundlagen am Beispiel Ostmittel- und Südosteuropas in der Zwischenkriegszeit, in: Peter Haslinger und Joachim von Puttkamer (Hrsg.), Staat, Loyalität und Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1918–1941, München 2007, S. 1–16, hier S. 1f.

25 Vgl. ebd. S. 2.

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MINDERHEITEN-SOLDATEN 15

nationale Identifikationsmuster etwas – darauf weisen verschiedene neuere Studien

teilweise hin –, was man in der Forschung bisher überschätzt hat? Was bedeuteten

Nation und nationales Bewusstsein beispielsweise für den einfachen Trentiner

Bauern, der 1914 im Verbande der k.u.k. Armee in den Krieg zog, oder für den Elsäs-

ser Soldaten, der 1914 in das deutsche Heer eingereiht wurde? Spielen nationale

Identifikationen wirklich etwa auch eine wichtige Rolle für das Phänomen der mi-

litärischen Verweigerung, oder ist letztere auch innerhalb der Gruppen von Minder-

heiten-Soldaten ganz überwiegend eine direkte Folge des Krieges und der von ihm

ausgehenden Desillusionierung? Sind diese Gruppen-Konstruktionen von nationa-

len Minderheiten, mit denen geschichtswissenschaftlich vielfach operiert wird, letzt-

lich eine unzulässige Reduktion von Komplexität? Und haben wir es auch mit Blick

auf die Minderheiten-Soldaten defakto mit einer Vielzahl von teilweise stark diffe-

rierenden Mehrfach-Identitäten zu tun? Welche Rolle spielen die verschieden stark

ausgeprägten Separatismen/Irredentismen und die jeweilige Haltung des konnatio-

nalen Patronagestaats für die konkreten Handlungsmuster der Minderheiten-An-

gehörigen im Krieg? Und schließlich stellt sich auch noch die Frage nach der bereits

angedeuteten Transformation von Identität während des Krieges. Wann ist die im

Krieg zweifellos zu beobachtende Politisierung oder Nationalisierung eine wirkliche

Ideologisierung und wann nimmt sie eher den Charakter einer reaktionären oder

sekundären Politisierung als Reaktion auf erfahrene Diskriminierung bzw. Ungleich-

behandlung an? Oder ist sie vielfach schlichtweg auch nur Ausdruck einer ›oppor-

tunistischen‹ Entscheidung? Verstärkt der Krieg in Verbindung mit Sieg oder Nie-

derlage Formen der Alterität oder bringt er zumindest situativ auch so etwas wie

eine integrative Sogwirkung hervor? Damit verbunden stellt sich die Frage nach den

Erwartungshaltungen: Loyalität im Krieg als eine Art Hoffnungsträger, als ›Motor‹

für einen erhofften Emanzipationsschub?

Ein dritter und letzter Fragenkomplex ist mit dem Thema der erinnerungskultu-

rellen Deutungen angesprochen, das in diesem Band nur eine untergeordnete Rolle

spielt, nichtsdestotrotz aber von großer Bedeutung ist: Geschichtspolitische Verein-

nahmung und Umdeutung sowie retrospektive Politisierung/Nationalisierung be-

ginnen ganz offensichtlich schon im Krieg und setzen sich nach 1918 fort, unabhän-

gig davon ob nun im Rahmen verschiedener, auch regionaler Dolchstoßlegenden

oder im Rahmen diverser nationaler Gründungsmythen neu entstandener Natio-

nalstaaten. Im Falle der Sukzessionsstaaten der Habsburgermonarchie ist dieses

Phänomen natürlich ganz besonders eklatant. Ohne die Freilegung dieser Geschichte

von Instrumentalisierung und retrospektiver Politisierung ist letztlich auch die Ge-

schichte der Minderheiten-Soldaten im Ersten Weltkrieg nicht zu verstehen.

Loyalität und Identität

Mit Blick auf den oben skizzierten Fragenkomplex in Zusammenhang mit den zwi-

schen Minderheit und Staat bestehenden Loyalitätskonstellationen und der damit

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OSWALD ÜBEREGGER16

verbundenen kriegsimmanenten Veränderung von Identität gilt es zunächst darauf

hinzuweisen – das zeigen die in dieser Publikation versammelten Beiträge in ein-

mütiger Deutlichkeit –, dass sich die tief verankerte Loyalitätsskepsis, die vielfach

schon vor 1914 unter den politischen, vor allem aber militärischen Eliten gegenüber

den ethnischen Minderheiten grassierte, in der Krisensituation des Kriegs noch ein-

mal verstärkte und sich tendenziell zu einer Art Generalverdacht auswuchs. Das in

den Armeen praktizierte ›Diversity Management‹ speiste sich vor allem aus diesen

stereotypen kollektiven Verdächtigungen, die es aus militärischer Perspektive zweck-

mäßig erscheinen ließen, den Minderheiten pauschal zu misstrauen und an ihrer

Loyalität den Titularnationen gegenüber zu zweifeln.26 Das galt für den Verdacht,

den die k.u.k. Militärs beispielsweise den italienisch- oder tschechischsprachigen

Soldaten der Habsburgermonarchie gegenüber hegten genauso wie jenem der deut-

schen Armeeführung gegenüber Elsass-Lothringern oder polnischen Soldaten. Wie

der Beitrag von Christoph Jahr zeigt, war die Situation der Iren im britischen Heer

eine ähnliche.27 Diese kollektiven Verdächtigungen waren als Zuschreibungen in

schier dominanter Weise präsent, obwohl die zumeist reibungslose Mobilisierung

im Sommer 1914 und das militärische Verhalten der Soldaten im Verlauf des Krieges

kaum Anlass zu Beanstandungen gaben. Die Integration in die Kriegsarmeen voll-

zog sich zumeist ohne größere Probleme, und auch das Phänomen der militärischen

Verweigerung von Minderheiten-Soldaten unterschied sich quantitativ und quali-

tativ nicht substanziell, sondern eher graduell von jener der Soldatenmehrheit. Die

Beiträge dieses Bandes und andere Neuforschungen weisen zudem unzweifelhaft

darauf hin, dass sich auch die Verweigerungshaltungen von Angehörigen nationaler

Minderheiten nur zu einem geringen Teil ursächlich mit politischen bzw. nationa-

len, im weitesten Sinne ideologischen Bekenntnissen oder Überzeugungen in Ver-

bindung bringen lassen.28 Es überwogen persönliche oder kriegsimmanente Motiva-

tionen, die vielfach auch die Folge einer nüchternen, recht unideologischen

Kosten-Nutzen-Strategie, und demnach also »fluide« waren, wie Volker Prott am Bei-

spiel der elsässischen Soldaten veranschaulicht.29 Neben der in zunehmendem Maße

als drückend empfundenen Kriegslebenswelt, der Sehnsucht nach einem Ende des

Krieges und der als Minderheiten-Angehöriger erfahrenen Diskriminierung traten

nationale und politische Desertionsmotive, die sich abseits einer nationalpatriotisch

euphorisierten politischen (Minderheiten-)Elite lediglich fallweise rekonstruieren

lassen, deutlich in den Hintergrund. Das gilt für die bereits erwähnten Elsässer ge-

nauso wie für Tschechen und Italiener in der Habsburgerarmee30 oder beispielsweise,

wie neue Forschungsergebnisse zeigen, etwa auch für die estnischen Soldaten in der

26 Vgl. Kümmel, Minderheiten, S. 15.27 Vgl. den Beitrag von Christoph Jahr, S. 103–117.28 Vgl. dazu auch die Anmerkungen von Oswald Überegger, Politik, Nation und Desertion. Zur Rele-

vanz politisch-nationaler und ideologischer Verweigerungsmotive für die Desertion österreichisch-ungarischer Soldaten im Ersten Weltkrieg, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8 (2008) 2, S. 109–119.

29 Vgl. dazu die Anmerkungen von Volker Prott, S. 8630 Vgl. die Anmerkungen von Volker Prott, S. 85–101, und Andrea Di Michele, S. 45–68.

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MINDERHEITEN-SOLDATEN 17

russischen Armee, worauf Reinhard Nachtigal aufmerksam macht.31 Insgesamt kann

man mit Blick auf das Verhältnis zwischen Minderheit und Staat wohl am treffends-

ten von einer Strategie der »minimalen Loyalität« (Jens Boysen) sprechen.32 Ange-

hörige ethnischer und nationaler Minderheiten zogen in der Regel nicht patriotisch

enthusiasmiert in den Krieg, verhielten sich im militärischen Sinne aber mehr oder

weniger korrekt und kamen ihren staatsbürgerlichen soldatischen Pflichten insge-

samt ziemlich beanstandungslos nach.

Neben den im Kriegsverlauf kaum weiter auffälligen Desertionsraten der Min-

derheiten-Soldaten zeigt auch die weitgehend gescheiterte Politik der Gewahrsams-

mächte, in Kriegsgefangenschaft geratene fremdstaatliche Minderheiten-Soldaten

für die eigene Armee anzuwerben, dass genuin nationale Motivationen kaum auf

breiterer Ebene vorhanden gewesen sein dürften. Mit rund 1.650 von über 20.000

in Kriegsgefangenschaft geratenen Elsässern und Lothingern ließ sich nur eine Min-

derheit im einstelligen Prozentbereich für einen Eintritt in die französische Armee

gewinnen. Ähnlich verhielt es sich bei den kriegsgefangenen polnischen Soldaten

des deutschen Heeres oder den in deutsche oder österreichisch-ungarische Kriegs-

gefangenschaft geratenen Soldaten russischer Minderheiten.33 Wie Andrea Di Mi-

chele in seinem Beitrag aufzeigt, hielt sich auch die Bereitschaft der in russische

Kriegsgefangenschaft geratenen italienischsprachigen k.u.k. Soldaten, sich in die

italienische Armee einreihen zu lassen, sehr in Grenzen.34 Gänzlich gescheitert war

ferner das Projekt zur Bildung eines aus irischen Kriegsgefangenen in Deutschland

bestehenden Freiwilligenkorps, das auf deutscher Seite hätte kämpfen sollen. Von

den rund 3.000 irischen Kriegsgefangenen hatten lediglich 56 ihr Interesse bekun-

det.35 Unabhängig davon, ob man nun auf die polnische Minderheit im ostdeutschen

Grenzgebiet oder die Italiener im habsburgischen adriatischen Küstenland blickt,

die Masse der sich aus dem ländlichen Raum und entsprechend bildungsschwachen

Milieus rekrutierenden Soldaten war vielfach nur rudimentär nationalisiert oder

kaum über nationale Themen politisiert. Demgegenüber waren häufig lokale und

regionale Identitäten und Zugehörigkeitsmuster von ungleich entscheidender Re-

levanz.36 Auf diese Diskrepanz zwischen nationalen, regionalen und lokalen Identi-

täten gilt es in der künftigen Forschung mehr Augenmerk zu werfen.

Ungeachtet der skizzierten realen Verhältnisse und als direkte Konsequenz des

erwähnten Generalverdachts installierten die militärischen Führungskader der euro-

päischen Armeen des Ersten Weltkriegs sich strukturell durchweg ähnelnde spezielle

Kontrollmechanismen, die von intensiveren Überwachungsmaßnahmen (die ver-

schiedenen Spielarten der Zensur, Entfernung aus gewissen Frontabschnitten usw.)

bis hin zur offensichtlichen Diskriminierung (Beschimpfungen, Misshandlungen,

31 Vgl. dazu den Beitrag von Reinhard Nachtigal, S. 140–145.32 Vgl. dazu die Anmerkungen von Jens Boysen, S. 82.33 Vgl. dazu die Anmerkungen von Volker Prott, S. 91, Jens Boysen, S. 80f. und Reinhard Nachtigal,

S. 119–158.34 Vgl. den Beitrag von Andrea Di Michele, S. 60–66.35 Vgl. den Beitrag von Christoph Jahr, S. 112.36 Vgl. dazu die Anmerkungen von Richard Lein, S. 27, und Jens Boysen, S. 82f.

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OSWALD ÜBEREGGER18

Verweigerung der Urlaubsgewährung u. dgl.) reichten und damit letztlich rasch auch

einen stark repressiven Charakter annahmen. Das den ebenfalls pauschal als poli-

tisch unzuverlässig betrachteten eigenen nationalen Minderheiten zugedachte Re-

pressionsinstrumentarium des deutschen Heeres ähnelte etwa frappierend dem

Vorgehen des österreichisch-ungarischen Militärs – nicht zuletzt auch in seiner kon-

traproduktiven Wirkung. Unbenommen aller strukturellen Ähnlichkeiten gestaltete

sich die Übersetzung des Misstrauens in die konkrete Diskriminierungspraxis aber

auch unterschiedlich. So scheint etwa das Vorgehen der k.u.k. Armee gegen die ita-

lienischsprachige Minderheit ungleich radikaler gewesen zu sein als jene des briti-

schen Heeres gegen die Iren. Selbstredend waren dafür auch kriegsimmanente

Gründe ausschlaggebend. Die Erfahrung persönlicher Diskriminierung und Un-

gleichbehandlung führte auf der Seite der betroffenen Minderheiten-Soldaten zu

einer raschen Frustration und umgehenden Desillusionierung, die in den Selbst-

zeugnissen der Betroffenen gut dokumentiert sind. Die Diskriminierungs-Erfahrung

der Soldaten, wie sie etwa der elsässische Deserteur Dominik Richert in beeindru-

ckender Weise schildert,37 gleicht den in zahlreichen Selbstzeugnissen österreichi-

scher Soldaten und Deserteure italienischer Nationalität dokumentierten Kriegs-

erfahrungen.38 Daraus resultierte letztlich eine Form der kriegsimmanenten,

sekundären Nationalisierung bzw. Politisierung, die – nicht überall und in verschie-

denen Ausprägungen und Nuancen – eine Art nicht unbedingt und primär national

oder politisch motivierten, sondern vor allem reaktionären Frust-Irredentismus be-

förderte: Unbeschadet einer grundsätzlich bestehenden Loyalität zur Titularnation

führten das Kollektiv diskriminierender Maßnahmen und das pauschale Misstrauen

allerdings schließlich zu einer sukzessiven Entfremdung, die sich vor allem in der

zweiten Kriegshälfte dann auch in höhere militärische Verweigerungsraten über-

setzte, die angesichts der Tatsache, dass Desertionen generell im Zunehmen begrif-

fen waren, allerdings kaum überraschen können.

Ressentiments als kriegsimmanente Medialisierungsprozesse

Der militärische Blick auf die Minderheiten-Soldaten und das sich daraus ableitende

Handeln basierten auf verschiedenen Komponenten, die in ihrer Gesamtheit die

Entwicklungsgenese dieses (vorgefertigten) Bildes nachvollziehbar werden lassen.

Die innerhalb der militärischen Führungsriegen traditionell vorhandenen Ressen-

timents präjudizierten ein pejorativ konnotiertes Bild der Minderheiten insgesamt,

das sich in der Krisenzeit des Krieges und aufgrund der Konstellation der Kriegs-

37 Vgl. Richert, Gelegenheit.38 Vgl. dazu die vom Museo Storico del Trentino und vom Museo Storico Italiano della Guerra, Ro-

vereto, herausgegebene Reihe »Scritture di guerra« mit edierten Tagebüchern und Kriegserinne-rungen von Trentiner Soldaten. Seit 1994 sind insgesamt zehn Bände erschienen. Vgl. auch den Beitrag von Andrea Di Michele in diesem Band.

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MINDERHEITEN-SOLDATEN 19

bündnisse (unter den jeweiligen Kriegsgegnern befand sich auch so mancher kon-

nationaler Patronagestaat der jeweiligen Minderheit) deutlich verschärft hatte. Ob-

wohl das reale militärische Verhalten zu Beginn und im weiteren Verlauf des Kriegs

kaum konkreten bzw. größeren Anlass zur Beunruhigung gab, hielt sich das spezi-

fische Bild der unzuverlässigen ethnischen oder nationalen Minderheiten hartnä-

ckig. Dieses Faktum resultierte auch aus einem – bisher lediglich in seinen Kontu-

ren erforschten – spezifischen Medialisierungsprozess, der im Rahmen der bereits

erwähnten Tendenz, Minderheiten als homogene Gruppe zu begreifen und auf diese

Weise von den Renitenzen und Verweigerungshaltungen einzelner auf eine ver-

meintliche Gruppenpraxis zu schließen, dafür sorgte, dass das bestehende Bild stän-

dig perpetuiert und im Laufe des Krieges radikalisiert wurde. Obwohl es meist jeder

realen Grundlage entbehrte, erschien das als unzuverlässig und illoyal gebrand-

markte Verhalten der Minderheiten-Soldaten öffentlich gleichsam als ›self-fulfilling

prophecy‹. Richard Lein beschreibt diesen Medialisierungsprozess anhand eines

tschechischen Beispiels eindrücklich: Obwohl sich im Nachhinein eindeutig heraus-

gestellt hatte, dass sich das Scheitern zweier tschechischer Infanterieregimenter im

Frühjahr 1915 an der Ostfront nicht auf ein ausschließliches und spezifisches Versa-

gen der tschechischen Soldaten zurückführen ließ, blieben das militärische Miss-

trauen und das schlechte Image der tschechischen Truppenkörper, die sich in Wirk-

lichkeit an zahlreichen Frontabschnitten wacker geschlagen hatten, für die gesamte

Dauer des Krieges bestehen. Ähnliche Anschuldigungen gegen zwei mehrheitlich

tschechische Infanterieregimenter wiederholten sich im Rahmen eines – an sich

unbedeutenden – Gefechtes nahe der Stadt Zborów im Juli 1917 und führten zu einer

polarisierenden, medial inszenierten öffentlichen Debatte über die Frage der Loya-

lität der tschechischen Soldaten, die letztlich suggerierte, dass sich letztere »in zu-

nehmendem Maß illoyal verhalten [würden], auch wenn dies bekanntlich nicht den

Tatsachen entsprach.«39 Realiter hatten rund 1,2 Millionen tschechische Soldaten

vielfach bis zum Ende des Krieges anstandslos im Verbunde der k.u.k. Armee ge-

dient.

Ähnliche Schuldzuweisungen schlugen etwa auch den irischen Soldaten im März

1918 entgegen, als die britische Front infolge der Frühjahrs-Offensive des deutschen

Heeres einzubrechen drohte.40 Und in derselben hartnäckigen Weise hielt sich der

Topos der Unzuverlässigkeit auch im Fall der italienischen Minderheit in der k.u.k.

Armee. Auch hier waren es die Konsequenzen ähnlicher Medialisierungsstrategien,

die dazu beitrugen, dass sich in der Öffentlichkeit derlei Stereotypen langfristig hal-

ten konnten.41 Schließlich beschreibt auch Dominik Richert in seinem Tagebuch,

wie sich diese öffentlich transportierten und vor allem im Offizierskorps tief sitzen-

den, vorgefertigten Aversionen den nationalen Minderheiten gegenüber vielfach

39 Vgl. den Beitrag von Richard Lein, S. 38.40 Vgl. dazu den Beitrag von Christoph Jahr, S. 114.41 Vgl. den Beitrag von Andrea Di Michele, S. 45–68.

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erst im persönlichen Kontakt zwischen (Minderheiten-)Soldaten und (Mehrheits-)

Offizieren relativierten und fallweise auch auflösten.42

Die zweifellos im Falle der ›Besiegten‹ auch im Kontext der durchschlagenden

Rechtfertigungsrhetorik zu sehende Schuldzuweisung an die nationalen Minder-

heiten und die ihnen entgegengebrachte generelle Skepsis fügen sich allerdings in

den (langfristigen) Prozess der als Top-down-Zuschreibung zu verstehenden Kons-

truktion grenzregionaler Identitäten ein, bei denen es sich letztlich primär um »in-

ventions of nationalist activists« handelte, »intent on creating the objects for their

policies of nationalization.«43 Diese Art ›gap‹ zwischen einer zusehends dominan-

ten nationalisierenden Perspektive, die Grenzregionen und ihre Gesellschaften fast

ausschließlich als in nationaler Hinsicht konfrontative Differenz-Räume wahrnahm,

und einer bei weitem nicht im zugeschriebenen Ausmaß nationalisierten (Grenz-)

Bevölkerung war für eine Vielzahl von nationalen Minderheiten im Ersten Weltkrieg

zweifelsohne verhängnisvoll.

Letztlich nahmen sich die von den Militärs ergriffenen Maßnahmen als weitge-

hend kontraproduktiv aus. Die sich aus dem skizzierten Generalverdacht ableiten-

den verschiedenen Praktiken der militärischen Führung erreichten genau das Gegen-

teil des Beabsichtigten: Sie konterkarierten das bestehende Loyalitätsverhältnis der

Elsässer, Lothringer, Trentiner, Triestiner, Polen, Dänen und anderer Minderheiten

zu den entsprechenden staatlichen Titularnationen, das gegen Ende des Kriegs dann

vielfach nur mehr in Ansätzen vorhanden war. Während die Tatsache fortschreiten-

der soldatischer Desillusionierung zweifellos mehrere Gründe hat, nehmen sich die

Ursachen dieses Entfremdungsprozesses weitgehend als militärisch ›hausgemacht‹

aus. Letztlich gehörten sie mit zu den ›Triebfedern‹ militärischer Verweigerung, die

man von Seiten des Militärs stets zu verhindern gesucht hatte.

Rechtfertigungsstrategien und Erinnerungspolitik

Gerade in Österreich war, wie bereits erwähnt, die Betonung politischer und natio-

naler Ursachen von Verweigerungshaltungen ein wesentlicher, konstitutiver Be-

standteil der militärischen und staatlichen Rechtfertigungsargumentation im Rah-

men der Dolchstoß-Legende.44 Teilweise noch während des Ersten Weltkrieges

42 Vgl. dazu den Beitrag von Volker Prott, S. 92.43 Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontier of Imperial Austria,

Cambridge (MA)/London 2006. Auf die Widersprüchlichkeit bzw. Uneindeutigkeit grenzregiona-ler Identitäten hat schon eindringlich Peter Thaler hingewiesen, der von »zones of fluid identity« spricht und für »a more fluid side of national identity« plädiert. Peter Thaler, Fluid Identities in Central European Borderlands, in: European History Quarterly 31 (2001) 4, S. 519–548; vgl. auch Pieter M. Judson, Do Multiple Languages Mean a Multicultural Society? Nationalist »Frontiers« in Rural Austria, 1880–1918, in: Johannes Feichtinger und Gary B. Cohen (Hrsg.), Understanding Mul-ticulturalism. The Habsburg Central European Experience (Austrian and Habsburg Studies 17), New York/Oxford 2014, S. 61–82.

44 Vgl. dazu generell ausführlicher: Überegger, Politik.

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MINDERHEITEN-SOLDATEN 21

entstanden, fand diese Variante des Dolchstoßes nach 1918 als Erklärungsansatz für

die Niederlage in hegemonialer Art und Weise Eingang in das kommunikative Nach-

kriegs-Gedächtnis, wurde schließlich auch nach 1945 als vermeintliche Gewissheit

beharrlich weitertradiert und ist noch heute vornehmlich in pseudo- und populär-

wissenschaftlichen Arbeiten präsent. Diesen Deutungen zufolge, die in der Offiziers-

historiographie der Zwischenkriegszeit ihren Höhepunkt fanden, »blieben von allen

Nationen nur die Deutschen, die einzig verläßliche Stütze des Staates und des Hee-

res, auf sich selbst gestellt.«45 »Die Deutschösterreicher dürfen für sich den Ruhm

geltend machen«, urteilt das von Offiziershistorikern erarbeitete Monumentalwerk

»Österreich-Ungarns letzter Krieg«, »daß sie den Staat, den sie vor allem gründen

und tragen halfen, bis zuletzt mit dem Aufgebot der äußersten Kräfte verteidigt ha-

ben, und daß sie in ihrer Kampfentschlossenheit und ihren Opfern allen anderen

Völkern der Monarchie vorangegangen [...] sind.«46

Derlei Rechtfertigungsanstrengungen suchten die während des Krieges errunge-

nen militärischen Erfolge primär als Erfolge deutschösterreichischer Truppenver-

bände der k.u.k. Armee zu verbuchen, während die Schuld für die Niederlage – wenn

sie nicht überhaupt geleugnet wurde – eindeutig dem nicht-deutschen Part der be-

waffneten Macht – und damit vor allem den nationalen Minderheiten innerhalb der

multinationalen Habsburgerarmee – zugeschrieben wurde. Dem solcherart auf poli-

tisch-nationale Kausalitäten zurückgeführten Desertions- und Verratsvorwurf an

die nichtdeutschen Einheiten der österreichisch-ungarischen Armee als integrativer

Teil des Dolchstoß-Vorwurfes ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht über lange

Zeit hinweg kaum kritisch entgegengetreten worden. Das mag schließlich auch da-

ran liegen, dass der Verweis auf politisch-nationale Verweigerungshintergründe nach

1918 nicht nur auf österreichischer Seite rechtfertigungsstrategische Wichtigkeit be-

saß; der als politisches Bekenntnis interpretierten militärischen Verweigerung kam

vielmehr auch in den Sukzessionsstaaten der Habsburgermonarchie eine wichtige

Legitimationsfunktion zu. Sie gehörte gewissermaßen zu den ›Gründungsmythen‹

der neuen postimperialen Nationalstaaten in Ostmittel- und Südosteuropa. Erfolgte

auf der einen Seite die militärische (und teilweise auch politische) Rechtfertigung

der Niederlage u. a. auch auf dem Rücken der nationalen Minderheiten, avancierten

letztere auf der anderen Seite zum regelrecht heroisierten staatlichen Legitimations-

faktor innerhalb eines Prozesses der Konstruktion einer weitgehend fiktiven Tradi-

tion, gleichsam im Hobsbawm’schen Sinne. Soldatische Verweigerungsformen, über

deren Ursachen und Hintergründe man sich hier wie dort also einig zu sein schien,

wurden auf diese Weise – unabhängig voneinander und zwischen Helden- und Ver-

ratsrhetorik changierend – gleich in zweifacher Richtung politisch instrumentali-

siert. Das gilt nicht nur für die Minderheiten der Habsburgermonarchie, sondern

etwa auch für den in diesem Band von Volker Prott beschriebenen Fall der Elsass-

Lothringer und anderer Minderheiten. Die spezifischen Ausprägungen von konkre-

45 Alfred Krauß, Die Ursachen unserer Niederlage. Erinnerungen und Urteile aus dem Weltkriege. München 1920, S. 73.

46 Zit. bei: Carl von Bardolff, Deutsch-österreichisches Soldatentum im Weltkrieg, Jena 1937, S. 33.