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1 Kritik und Radikalisierung der Phänomenologie bei Michel Henry * Michael Staudigl Betrachtet man die gegenwrtigen Diskussionen zur Problematik von Limesphnomenen und gesttigten Phnomenen nach J.-L. Marion, so lt sich vor diesem Hintergrund keineswegs schon ein eindeutiges Ergebnis festhalten, das darüber zu entscheiden erlaubte, ob die Abgründigkeit der intentionalen Selbstkonstitution zur Desintegration des phnomenologischen Diskurses als solchen führt. 1 Im Gegenteil scheint der Verlauf der Diskussion zur Zeit eher darauf hinzudeuten, da der ontologische und epistemologische Primat der Intentionalitt diesseits von egologischer Polarisierung und korrelativer Bindung an Intuition und Signifikation geradezu unversehrt wiederkehrt. Sicherlich wre, diesen Umweg über eine Dekonstruktion des genuin husserlschen erkennntnistheoretischen Idealismus so in aller Kürze zusammenfassend, damit jenen Phnomenen Geltung verschafft, die mehr eine Herausforderung bilden, der wir unter Umstnden zu entsprechen vermgen, aber weniger einen Anspruch, dem man zu antworten hat. 2 Ist mit dieser Verlagerung der Initiative der Sinngebung, mit ihrer Dissemination in eine in anonyme Regionen ausgreifende Bewegung der Sinnbildung im Gegenzug jedoch der absoluten Faktizitt ebenso noch zureichend Rechnung getragen, mit der wir als Lebendige irreduzibel konfrontiert sind? Bedeutet also die Fokussierung auf einen wilden Sinn im Sinne Merleau-Pontys, der in der asubjektiven Tektonik des Weltwerdens und den Rhythmisierungen diesseits symbolischer Kodifizierung nach Richir etwa aufbricht, nicht trotz aller Radikalitt des Ansatzes nicht auch noch eine Ausklammerung der phnomenologisch entscheidenden Frage nach der Rezeption als unaufhebbarer Rezeptivitt passiver Lebensübereignung, der ich im Rekurs auf Phnomene wie Ereignis, Alteritt, Anruf und eben transpassible Kraftlinien immer noch ausweichen kann? * Dieser Text verdankt sich einem Forschungsaufenthalt am Zentrum für phänomenologische Forschung der Tschechischen Akademie der Wissenschaften und der Karls-Universität Prag, Mrz-Mai 2002. Eine erste, kürzere Version ist in der Zeitschrift Principia im Juni 2002 in polnischer Sprache erschienen. 1 Vgl. Alter. Revue de phénoménologie 1 (1993 ff.), dazu v. Verf., Phnomenologie an der Grenze?, in: Recherches husserliennes 16 (2001) 13-38, bes. 33 f. 2 Vgl. zu dieser Differenzierung von Anspruch und Herausforderung diesseits des responsiven Apriori L. Tengelyi, Die Erfahrung und ihr Ausdruck, in: J. Trinks (Hg.), Das Phänomen und die Sprache, Wien: Turia+Kant 1998, 24-37, hier 34 f.

Kritik und Radikalisation der Phanomenologie

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Kritik und Radikalisation der Phanomenologie

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  • 1Kritik und Radikalisierung der Phnomenologie bei Michel Henry*

    Michael Staudigl

    Betrachtet man die gegenwrtigen Diskussionen zur Problematik von Limesphnomenen und

    gesttigten Phnomenen nach J.-L. Marion, so lt sich vor diesem Hintergrund keineswegs

    schon ein eindeutiges Ergebnis festhalten, das darber zu entscheiden erlaubte, ob die

    Abgrndigkeit der intentionalen Selbstkonstitution zur Desintegration des phnomenologischen

    Diskurses als solchen fhrt.1 Im Gegenteil scheint der Verlauf der Diskussion zur Zeit eher

    darauf hinzudeuten, da der ontologische und epistemologische Primat der Intentionalitt

    diesseits von egologischer Polarisierung und korrelativer Bindung an Intuition und Signifikation

    geradezu unversehrt wiederkehrt. Sicherlich wre, diesen Umweg ber eine Dekonstruktion

    des genuin husserlschen erkennntnistheoretischen Idealismus so in aller Krze

    zusammenfassend, damit jenen Phnomenen Geltung verschafft, die mehr eine

    Herausforderung bilden, der wir unter Umstnden zu entsprechen vermgen, aber weniger

    einen Anspruch, dem man zu antworten hat.2 Ist mit dieser Verlagerung der Initiative der

    Sinngebung, mit ihrer Dissemination in eine in anonyme Regionen ausgreifende Bewegung der

    Sinnbildung im Gegenzug jedoch der absoluten Faktizitt ebenso noch zureichend

    Rechnung getragen, mit der wir als Lebendige irreduzibel konfrontiert sind? Bedeutet also die

    Fokussierung auf einen wilden Sinn im Sinne Merleau-Pontys, der in der asubjektiven

    Tektonik des Weltwerdens und den Rhythmisierungen diesseits symbolischer Kodifizierung

    nach Richir etwa aufbricht, nicht trotz aller Radikalitt des Ansatzes nicht auch noch eine

    Ausklammerung der phnomenologisch entscheidenden Frage nach der Rezeption als

    unaufhebbarer Rezeptivitt passiver Lebensbereignung, der ich im Rekurs auf Phnomene wie

    Ereignis, Alteritt, Anruf und eben transpassible Kraftlinien immer noch ausweichen kann?

    * Dieser Text verdankt sich einem Forschungsaufenthalt am Zentrum fr phnomenologische Forschungder Tschechischen Akademie der Wissenschaften und der Karls-Universitt Prag, Mrz-Mai 2002. Eineerste, krzere Version ist in der Zeitschrift Principia im Juni 2002 in polnischer Sprache erschienen.1 Vgl. Alter. Revue de phnomnologie 1 (1993 ff.), dazu v. Verf., Phnomenologie an der Grenze?, in:Recherches husserliennes 16 (2001) 13-38, bes. 33 f.2 Vgl. zu dieser Differenzierung von Anspruch und Herausforderung diesseits des responsivenApriori L. Tengelyi, Die Erfahrung und ihr Ausdruck, in: J. Trinks (Hg.), Das Phnomen und dieSprache, Wien: Turia+Kant 1998, 24-37, hier 34 f.

  • 21. Die Konstellation der historischen PhnomenologieDer kritische Einsatz Henrys erscheint demgegenber von schlichter Pointiertheit. Die

    klassische Phnomenologie verstellte sich und zwar von Husserl, ber Heidegger und Fink bis

    Merleau-Ponty durch den Inauguralakt der Reduktion und den damit installierten Primat der

    Schau genau das, was sie eigentlich zum Thema machen wollte: das rein phnomenologische

    Leben in seinem transzendentalen Fungieren als Sich-selbst-offenbaren. Als das zentrale

    Scharnier dieser Ausblendung konnte Henry dabei gleichgltig, ob in egologischer Polari-

    sierung, oder nicht die Figur der Intentionalitt isolieren. Ihre thematische Vorherrschaft

    strukturiert ihm zufolge die phnomenologische Methode nmlich operativ, ohne jedoch

    erkennen zu lassen, da es genau ihre Auszeichnung als operatives Medium und Relais

    methodischer Selbstkonstitution ist, die ihren Begriff beschrnkt und ihren Gegenstand

    begrenzt. Die Radikalitt einer Kritik der Phnomenologie bliebe dementsprechend daran zu

    messen, inwiefern die Phnomenologie selbst die Krisis der Intentionalitt als ihr Thema

    anzuerkennen vermag, ohne damit jedoch ihre Positivitt auch nur ansatzweise zu leugnen.

    Vor dem Hintergrund der damit einsetzenden radikalen Infragestellung der methodischen

    Prinzipien der Phnomenologie3 kann die Kritik an der Phnomenologiebegrndung, die mit

    dem Durchbruch dieser Einsicht implizit gefordert wird, sich nun aber nicht mehr schlicht in

    einer blo inneren Systemkorrektur als Methodendiskussion erschpfen. Im Gegenteil bleibt die

    phnomenologische Methode damit zugunsten der Sache selbst, das heit der Entfaltung

    (Henry spricht von Phnomenalisierung) der sie irreduzibel tragenden Phnomenalitt

    umzukehren.4 Konkret bedeutet dies, das Primat der auf intuitive Erfllung abzielenden Schau

    zugunsten der prinzipiellen Unsichtbarkeit5 des Lebens als sich-phnomenalisierendem

    Selbsterscheinen allen Erscheinens aufzugeben. Genauso bedeutet es aber auch, die Egologie

    deren immanente Motivation Henry von Husserl bernimmt rigoros von jenem an Husserls

    erkenntnistheoretischen Idealismus orientierten Konstitutionsprimat abzukoppeln und gem

    ihrem affektiven Eigenwesen als Immanenz neu zu denken.

    Die Destruktion der Leitfden historischer Phnomenologie, die dem Absolutismus ihres

    methodischen Kalkls zu begegnen sucht, verwandelt sich damit in eine Dekonstruktion der

    3 Vgl. M. Henry, Quatre principes de la phnomnologie, in: Revue de Mtaphysique et de Morale(1/1991), 3-26; dazu R. Khn, Studien zum Lebens- und Phnomenbegriff, Cuxhaven: Junghans 1994,435-452.4 Wie es M. Henry in Incarnation. Une philosophie de la chair, Paris: Seuil 2000, 35-132, als Programmformuliert.5 Das Unsichtbare nennt hier also, gegenber der ek-statischen, welthaften Erscheinensweise, die Henryauch als Manifestation bezeichnet, das rein subjektive, immanente Selbsterscheinen des Erscheinensselbst. Damit ist keineswegs eine Nicht-Phnomenalitt oder ein Unbewutes gemeint, sondern vielmehreine andere Erscheinensweise, nmlich jene der Immanenz, die Henry auch anhand von Begriffen wieDunkelheit, Einsamkeit oder Nicht-Freiheit etwa analysiert und phnomenologisch alsOffenbarung identifiziert. Vgl. Lessence de la manifestation, Paris: P.U.F. 1963, 349 ff., 477 ff. u.557 ff.

  • 3Strategien ihrer intentionalen Selbsterhaltung; die Kritik der Phnomenalitt nach Husserl wird

    zu einem durch und durch positiven Projekt einer Rekonstruktion jener Phnomenalitten, die

    sich in der in-tentionalen Designierung des phnomenalen Feldes nur befristet und unter

    Vorbehalt einem einheitlichen Begriff des Erscheinens beugen.

    War der Gedanke der Radikalisierung des in der natrlichen Einstellung befangenen

    (philosophischen) Denkens bereits bei Husserl ein beraus zentrales Motiv der

    Methodenentwicklung, so verschiebt sich deren Bedeutung mit Henry und den anderen

    Vertretern der gegenwrtigen Diskussion signifikant. Bezeichnete Radikalisierung bei Husserl

    die teleologisch fortschreitende transzendentale Selbstbesinnung auf einen apodiktischen,

    voraussetzungslosen Anfang, der in der transzendentalen Subjektivitt als der Urregion6 oder

    auch dem Urboden7 allen Sinns und Seins zu finden sei, und die Phnomenologie zu einer

    Praxis absoluter Selbstverantwortung fhren sollte8, so stellten Husserls Nachfolger die

    thematische und die methodologische Integritt dieser Konzeption schon verschiedentlich in

    Frage. Heidegger, Patoka, Merleau-Ponty, Lvinas, Derrida und Marion versuchten dem-

    gegenber in je verschiedener Weise, die ontologische Indetermination der Bewutseinssphre

    aufzubrechen, ihre parallele ich-intentionale Polarisierung und berdetermination zu

    dekonstruieren und weiterhin auf andere phnomenale Konstellationen zu verlagern, deren

    eigenwesentliche Dynamik in je unterschiedlicher Weise in den Proze der Selbstkonstitution

    eingreift. Dementsprechend arbeiteten sie ontologische Vorstrukturen bzw. verschiedene

    Phnomene passiver Vorgegebenheit, supplementrer Differenz und transzendenter bzw. zuletzt

    immanenter Alteritt etwa heraus, deren Irreduzibilitt die Subjektivitt je in ihrem Inneren

    betrifft und zuletzt sogar nicht nur in ihrem epistemologischen Status regelrecht aufspaltet

    und absetzt.9

    Schon Husserl hatte den philosophischen Mythos einer konstituierenden Subjektivitt mit

    seiner genetischen Phnomenologie implizit infragegestellt. Sptestens mit Merleau-Pontys

    analytischem Nachweis einer wesensmigen Unmglichkeit der Vollstndigkeit der

    6 Ideen zu einer reinen Phnomenologie (Hua. III/1), Den Haag: Nijhoff 1976, 159.7 Vgl. Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil (Hua. VII), Den Haag: Nijhoff 1956, 170: Urboden allerErkenntnisklrung, Die Krisis der europischen Wissenschaften (Hua VI), Den Haag: Nijhoff 21962,178: Boden letzter Voraussetzungen.8 Vgl. Formale und transzendentale Logik (Hua. XVII), Den Haag: Nijhoff 1974, 9 f. Zum Motiv derVerantwortung bei Husserl vgl. F. Kuster, Wege der Verantwortung, Dordrecht: Kluwer 1996.9 Bei Marion kehrt sich, im Gefolge hier von Lvinas Analysen zu Geiselschaft, Rekurrenz undSubstitution die Situation dermaen um, da der Raum des Subjekts deswegen frei wird, weil dasSubjekt vor der Unmigkeit des Gegebenen und seinem Anspruch, dem Anspruch verlassenerPhnomene ausgesetzt, gleichsam desertiert (vgl. Etant donn. Essai dune phnomnologie de ladonation, Paris: P.U.F. 1997, 431). Es ist also nicht mehr nur als hingegeben (adonn) bzw. ange-sprochen (interloqu) im Verzug konstituiert, sondern mit der uersten Mglichkeit einerPhnomenalitt konfrontiert, deren Nicht-Gebung die Position des Subjekts berhaupt aus-setzt (letant-abandonn).

  • 4Reduktion10 wurde dieser Mythos sodann auch auf methodologischer Ebene transparent. Die

    phnomenologische Tradition stellte ihm zunehmend das in opake, anonyme und radikal

    vorprdikative Regionen ausfasernde Geschehen einer Dissemination der konstituierenden

    Instanz entgegen, dem gegenber die epistemologische Dignitt der Kategorien von Subjekt und

    Subjektivitt erst zu integrieren blieb, was insbesondere Derrida als Leitfaden einer

    fundamentalen Kritik und Dekonstruktion der metaphysischen Implikationen der ungedachten

    Axiomatik11 der husserlschen Phnomenologie entfaltete. Die Konsequenzen dieser

    Entwicklung sind betrchtlich: Transzendenz, Alteritt und Differenz sind in dieser Perspektive

    nicht lnger mehr blo transzendentale Leitfden, an denen die Genealogie der

    Selbstentfremdung (qua Selbstobjektivierung) der transzendentalen Subjektivitt sichtbar

    gemacht werden kann. Im Gegenteil beginnen sie sich nun als immer schon konstitutiv in die

    Konstitution der reduktiven Instanz eingegangene Strukturen zu manifestieren. Was damit dann

    weiterhin aber zur Frage steht, ist die Weise, wie jene Manifestation auftritt, wie sie sich zur

    Manifestation einer subjektiven Instanz verhlt, und wie dieses Verhltnis diesseits seiner

    konstitutionstheoretischen Entfaltung im Rahmen einer Analytik der Vorgegebenheit

    verstanden wird, deren problematische Voraussetzung darin besteht, die Gegebenheit auf jene

    Figuren12 zu beschrnken, die sich in der Ek-stase der Weltuerlichkeit zur Anzeige bringen.

    In-tentionalitt, Diff(a)erenz, Anruf, Sorge etc. sind in dieser Perspektive Figuren der

    Distanz, deren Bedeutung sich aber keineswegs darin erschpft, die Gegebenheit in die

    sinnfllige Dimension des Auen einzuschreiben. Im Gegenteil sichern sie die ontologische

    Konsistenz dieses Auen vielmehr noch dadurch, da sie sein Werden als das Werden der

    Gegebenheit selbst konzipieren, als Zeit.13

    Die Konstitution des phnomenologischen und letztlich des philosophischen Feldes, die sich

    durch diese Erweiterung ihres Anspruchs in ihrer transzendental-subjektiven Definitivitt beein-

    sprucht findet, wird damit jedoch ihrerseits aufs neue problematisch. Die Legitimierung des

    Phnomens durch sich selbst, durch das absolute Faktum seiner Gegebenheit, die sich im

    Zuge dieser Radikalisierung also immer mehr einer Explikation gem den Bedingungen der

    Objektivitt und der Gegenwrtigung entzieht, vollendet hier nmlich die Suspension des

    Prinzips des zureichenden Grundes, die Husserls Durchbruch bereits eingeleitet hatte: Das

    Phnomen steht nicht mehr beim Grund in Schuld, weil seine Gegebenheit selbst als Grund

    10 Vgl. Phnomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1964, 11 (Vorwort).11 J. Derrida, Punktierungen. Die Zeit der These, in: H. D. Gondek u. B. Waldenfels (Hg.), Einstze desDenkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt/M.: Suhkamp 1997, 25.12 Zur Differenzierung solcher Figuren vgl. J.-L. Marion, Rduction et donation. Recherches surHusserl, Heidegger et la phnomnologie, Paris: P.U.F. 1989, 57 ff. u. bes. 303 ff.13 Vgl. M. Henry, Radikale Lebensphnomenologie, Freiburg/Mnchen: Alber 1992, 80 f.

  • 5gilt.14 Indem die Phnomenologie auf diese Weise also die Ekstase der anschaulichen Erfllung

    und die Polarisierung des Ego gem der Intentionalitt unterluft, erffnete sie, wie die

    Diskussion zu den Grenzphnomen eindrucksvoll zeigt, zugleich denjenigen Phnomenen das

    Feld, die wie das Unsichtbare im Sinne Henrys von Unmglichkeit nicht nur gezeichnet,

    sondern durch diese vielmehr definiert sind.15 Es handelt sich dabei um Phnomene, die gerade

    kein Defizit an Gebung (donation) aufweisen, sondern im Gegenteil sogar von einem berma

    derselben zeugen; einer Flle gleichsam, die Husserl gewissermaen nur oberflchlich verwal-

    tete, ohne jedoch nach ihrem Status, ihrer Reichweite und ihrer Identitt zu fragen.16

    Der von Marion im Detail erarbeitete Grundsatz phnomenologischer Methodenentwicklung,

    Je mehr Reduktion, desto mehr Gegebenheit17, beschreibt diese Situation

    phnomeno-logischer Defizienz auf adquate Weise. Henrys Einsatz besteht nun, dieser

    Einsicht kritisch verpflichtet, jedoch nicht so sehr darin, erneut und vielleicht in noch

    detaillierterer Weise nachzuzeichnen, da das Unsichtbare die Strategien der Intentionalitt

    unterbricht, da es also gewissermaen ein faktisch Nichtgesehenes im Gegensatz zum

    Unscheinbaren nach Heidegger bleibt, dessen Exzessivitt die Bedingungen der

    Sichtbarmachung bisweilen unterwandert oder phnomenal bersttigt. Seine tiefergreifende

    Absicht kann in diesem Zusammenhang vielmehr darin festgemacht werden, dieses radikal

    Unsichtbare, das heit die reine Immanenz, als die ontologische Bedingung der damit an ihre

    Grenzen gefhrten Intentionalitt schlechthin zu thematisieren18, das heit als ihre ursprngliche

    Selbstgebung (auto-donation).19 Inwiefern diese sich eidetisch gem den Gesetzen der

    transzendentalen Affektivitt20 vollzieht und integriert, also die irreduzible und niemals

    abwesende Bedingung allen Erscheinens als pathisch-tonales Selbsterscheinen ist, kann hier

    zunchst dahingestellt bleiben.21 Was fr unseren Zusammenhang nmlich entscheidend ist,

    betrifft die Tatsache, da Henry die Intentionalitt in ihrer immanenten Begrenzung damit zu

    14 J.-L. Marion, Aspekte der Religionsphnomenologie, in: A. Halder e.a. (Hg.), Religionsphilosophieheute. Chancen und Bedeutung in Philosophie und Theologie, Dsseldorf: Patmos 1988, 84-103, hier 88,vgl. systematisch ders., Etant donn, op. cit.15 Ebd., 89.16 J.-L. Marion, Rduction et donation, a. a. O., 62.17 Ebd., 303: La prcdente rgle autant dapparence, autant dtre , se redouble donc dunnonc plus essentiel : autant de rduction, autant de donation. Autrement dit, les conditions de larduction fixent les dimension de la donation. Vgl. R. Khn, Mehr Reduktion Mehr Gebung. ZurDiskussion eines phnomenologischen Prinzips bei J.-L. Marion, in: Salzburger Jahrbuch frPhilosophie XLIII (1998) 73-114.18 Vgl. Lessence de la manifestation, 278 ff., 323 f. und bes. 340 ff.19 Vgl. M. Henry, Nicht-intentionale Phnomenologie, in: R. Khn u. M. Staudigl (Hg.), Epoch undReduktion. Formen und Praxis der Reduktion, Wrzburg: Knigshausen & Neumann 2002, 75-94, bes.81 ff., zur Differenz von Selbstkonstitution und Selbstgebung.20 LEssence de la manifestation, a. a. O., 31 ff., sowie 54 ff., zur Abgrenzung der Affektionsrealittvon der Sinnesempfindung, der Kantschen Achtung und der Schelerschen Gefhlsintentionalitt. Vgl.auch Die Barbarei. Eine phnomenologische Kulturkritik, Freiburg/Mnchen: Alber 1994, 145 ff., Ichbin die Wahrheit. Fr eine Philosophie des Christentums, Freiburg/Mnchen: Alber 1997, 148 ff.21 Vgl. dazu insgesamt R. Khns Studie, Leiblichkeit als Lebendigkeit, Freiburg/Mnchen: Alber 1992.

  • 6einem eigenstndigen Thema macht, ohne ihre strukturelle Defizienz noch zum Motor des

    phnomeno-logischen Fortschritts selbst zu erheben. Da die Intentionalitt als Matrix der

    Phnomenalitt also zerbricht, verweist darauf, da der Begriff der Phnomenalitt, dem gem

    jene sich entfaltet, selbst nicht radikal genug angesetzt worden ist.

    2.Radikalisierte Reduktion und PhnomenalittsbegriffDoch gehen wir zunchst, bevor wir die Implikationen dieser Radikalisierung bei Henry nher

    ausloten, zunchst erneut auf die Konstellation der historischen Phnomenologie zurck, und

    damit auf diejenige Form der Radikalisierung, die ihre Entwicklung prgte. So wenig, wie die

    Grenzen des phnomenologischen Diskurses also fest und definitiv umschrieben werden

    konnten und knnen, genausowenig konnte und kann die Positivitt des Gegenstandes der

    Phnomenologie darin als bereits fixiert gelten. Husserls Nachfolger konnten vielmehr ja

    ebenfalls zeigen, da der Gegenstand der Phnomenologie, dem der Rckgang auf die Sachen

    selbst Rechnung zu tragen versucht, sich mit der Radikalisierung des analytischen Zugriffs

    selbst wiederum wesentlich vernderte: Nicht individuelle, in Deskription und eidetischer

    Variation aufweisbare Phnomene, sondern der phnomenale Status der Sachen selbst, ihre

    Phnomenalitt (qua Zeit, Welt, Ek-sistenz, Aufschub, Rekurrenz und Anruf z.B. als selbst

    phnomenale bzw. phnomenal werdende Schemata der Phnomenwerdung), wurde damit zum

    Thema. Die phnomenologische Frage nach dem Wie der Gegebenheit (gegenber dem noe-

    matischen Was der Vermeintheit) schien damit in ihrer originren Bedeutung ernst genommen

    und wenn auch nicht im genuin husserlschen Sinne geradezu erneuert.

    Bei Henry findet sich nun aber, ber die fundamentalontologisch, dekonstruktiv,

    hermeneutisch oder auch ethisch motivierten Weiterfhrungen noch hinauszielend, die kritische

    Tendenz, die vorgebliche Ursprnglichkeit und Autonomie des damit eingesetzten Seinsbegriffs

    ihrerseits noch radikal infrage zu stellen.22 Der entsprechende Ansatz hierzu lt sich dabei wie

    folgt fassen: Insofern die Phnomenologie immer schon darber entschieden hat, wie Sein zur

    Gegebenheit kommt23, zeichnet sich in der hier skizzierten Perspektive einer

    Phnomenologie nicht-intentionaler Grundlegung die Notwendigkeit ab, diejenige

    Korrelation zu hinterfragen und zu reduzieren, die die historische Phnomenologie

    verschwiegenerweise zwischen ihrem Gegenstand und ihrer Methode etabliert hatte. Henry

    zufolge handelt es sich hierbei ja nicht blo um eine ungedachte, sondern vielmehr eben um

    22 Fr eine Detaildiskussion vgl. R. Khn, Radikalisierte Phnomenologie, Wien: Turia+Kant 2002 (imErscheinen).23 Vgl. dazu auch J.-L. Marion, Rduction et donation, bes. 90 ff., zu Heideggers Rckgang auf dasPhnomen Sein.

  • 7eine operative Identitt24, deren Herrschaft den Begriff der Phnomenalitt jedoch, wie wir im

    Ausgang von einer Analyse der Verfassung des phnomenalen Feldes und seiner Vor-

    gegebenheit bereits sahen, immerzu auf das eidetisch zusehends ausgeweitete Feld der

    Selbstkonstitution der Intentionalitt beschrnkt, dessen Unabschliebarkeit und Abgrndigkeit

    sie zugleich zum Katalysator ihrer konstitutiven Integration erhebt. Damit aber verbleibt der

    ontologische Status der von ihr erffneten Transzendenz jedoch in dem Mae im Dunkeln, wie

    das Vermgen dieser Hervorbringung, das heit seine Immanenz und deren Geschichte,

    zuletzt seinerseits vllig unbestimmt verbleibt25: Die Tatsache, da die Intentionalitt von dem,

    was sie exponiert, keine Rechenschaft abzugeben vermag, da sie es im Gegenteil immer nur in

    einer grundstzlichen Indifferenz und Leere hervorbringt26, da sie zugleich aber sich selbst in

    ein und derselben Bewegung integrieren soll, verweist genau darauf.

    Die mit Husserl und seinen Nachfolgern bisher vorliegenden Radikalisierungen der Reduktion27,

    deren Aufgabe es war, die Grenzen des phnomenalen Feldes zu erweitern und gegenber jeder

    im weitesten Sinne metaphysischen Beschrnkung zu schtzen28, verbleiben Henry zufolge also

    schlicht unzureichend: Wurde die Phnomenalitt zwar zu einem entscheidenden Thema,

    insofern sie als Matrix der Phnomenwerdung berhaupt aufgewiesen wurde, so war sie darum

    noch nicht als solche zum Thema geworden, das heit in ihrem (unsichtbaren)

    phnomenologischen Eigenwesen. Der Begriff der Phnomenalitt, der die Bedingungen

    bezeichnet, denen gem das Phnomen sich gibt, damit zugleich also die innerste Bedingung

    der Ontologie als Phnomenologie bildet29, blieb im Gegenteil gnzlich unentfaltet und

    unbegrndet. Die dieser Ausblendung in eins zur Seite tretende Erhebung der Transzendenz zur

    allgemein ontologischen Kategorie und zur Bedingung alles Seienden verschleierte so jedoch

    nur ihre eigene ontologische Inkonsistenz, um im Gegenzug die Immanenz selbst noch als eine

    ontische Kategorie30 vorzustellen: Die grundstzliche Abstraktheit, in der das Denken der

    Transzendenz damit verblieb, bedingte damit zuletzt jedoch nicht weniger, als ihre

    grundstzliche Nicht-Phnomenalitt31: einen originren Mangel an Gegebenheit als

    Mglichkeitsbedingung von Gegebenheit schlechthin.

    24 Zum Motiv dieser Identitt von Methode und Gegenstand siehe M. Henry, RadikaleLebensphnomenologie, 63 ff.25 Vgl. M. Henry, Lessence de la manifestation, 276, 309, 322 f., 333 und fter.26 M. Henry, Incarnation, 59 ff.27 Zum Motiv dieser Radikalisierung vgl. R. Khn u. M. Staudigl, Von der skeptischen Epoch zurGegen-Reduktion, in: dies. (Hg.), op. cit., 11-33, hier 22 ff.28 Zum Verhltnis von Phnomenologie und Metaphysik vor diesem Hintergrund bei Husserl vgl. J.-L.Marion, Rduction et donation, 11 ff.29 Was ja eindeutig Husserls Absicht darstellt; vgl. Ideen zu einer reinen Phnomenologie. Drittes Buch.Die Phnomenologie und die Fundamente der Wissenschaften (Hua. V), Den Haag: Nijhoff 1952, 76 f.30 M. Henry, Lessence de la manifestation, 321.31 Ebd., 263.

  • 8Eine entsprechend einseitige, historisch jedoch umso wirksamere Definition des Phnomens

    ber sein sichtbarmachendes Sich-Zeigen-Mssen in methodischer Schau (als theora, Distanz,

    Differenz, Ek-sistenz etc.) ist Henry zufolge die gewichtige Konsequenz dieser hier in aller

    Krze skizzierten phnomenologischen Meta-Genealogie. Die Wirksamkeit dieser

    Definitionsmacht ist Henry zufolge geradezu universal, um in der gegenwrtigen

    Phnomenologie schlielich als solche dann problematisch zu werden:

    Diese Mglichkeit, sich auf Objekte zu beziehen, sich auf sie hin zu bersteigen, um sie zu erreichen, ist

    in der Husserlschen Phnomenologie die Intentionalitt, die die Grundlage des Bewutseins selbst, dessen

    Vermgen des Sehenlassens und Aufweisens, definiert, das heit die Phnomenalitt selbst. Es ist sehr

    bemerkenswert, da in den Philosophien, die vorgaben, die Begriffe von Bewutsein und Subjektivitt zu

    verwerfen (oder auch im antiken Denken, das diese Begriffe nicht benutzte), dieselben Voraussetzungen

    heimlich am Werk sind. Wissen ist immer Sehen; Sehen heit das Gesehene sehen. Dieses Gesehene ist,

    was sich im Da vor uns befindet. Und was vor uns gestellt ist, ist das Objekt. Genau in dem Mae, wie

    es vor uns gesetzt wird, ist es Ob-jekt, wird es gesehen und erkannt, so da das Wissen, das Bewutsein,

    dieses Setzen ins Vor oder Vorstellen als solches ist, das heit die Objektivitt und was diese letztlich

    begrndet. Die Ausschaltung der Begriffe von Subjektivitt und Bewutsein durch die

    Posthusserlsche, Heideggersche und besonders Postheideggersche Phnomenologie ist genau die

    Abweisung von allem, was sich nicht auf dieses ursprngliche Hervorbrechen des Auen reduzieren

    lt, indem sich das Objekt schlechthin hlt.32

    Aus diesen berlegungen resultiert nun aber weiterhin eine grundstzliche ontologische

    Drftigkeit33 des Bewutseinsfeldes selbst, die zudem unvermittelt auf den Seinsbegriff selbst

    zurckschlgt, dessen phnomeno-logische Integritt sich dadurch radikal infrage gestellt findet.

    Diese Drftigkeit, deren diskursive Ausprgung Henry als einen seit dem Beginn der

    abendlndischen Philosophie nahezu unumschnkt vorherrschenden ontologischen

    Monismus34 anspricht, kann jedoch nicht einfach vermittels einer Substitution des Seins durch

    das rein phnomenologische Leben als neues epistemisches Paradigma korrigiert werden. Das

    Leben ist, so kann dieser Sachverhalt vielmehr auch benannt werden, niemals ein schlichtes

    Thema. Das Denken selbst das entsprechend auch lediglich eine spezifische Form der

    Intelligibilitt verkrpert35 setzt vielmehr immer schon sein Vollzogensein apriorisch

    voraus36, das sich in der Immanenz des phnomenologischen Lebens leibhaftig bzw. intensiv

    32 Die Barbarei, 90 f.33 Vgl. M. Henry, Incarnation, 47, 55 ff.34 M. Henry, Lessence de la manifestation, 59 ff.; dazu R. Khn, Leiblichkeit als Lebendigkeit, 51-126.35 Vgl. dazu Incarnation, Conclusion: Par-del phnomnologie et thologie : lArchi-intelligibilitjohannique, 361 ff.,36 Vgl. Die Idee der Phnomenologie (Hua. II), Den Haag: Nijhoff 1950, 31, wo Husserl diese Bedingungparadigmatisch beschreibt: Jedes intellektive Erlebnis, und jedes Erlebnis berhaupt, indem es vollzogenwird, kann zum Gegenstand eines reinen Schauens und Fassens gemacht werden, und in diesem Schauenist es absolute Gegebenheit. Zur Entartung des Begriffs der absoluten Gegebenheit, der bei Husserl

  • 9kon-zentriert, ohne damit aber noch den Variablen extensionaler Bestimmung gem konzipiert

    werden zu knnen.

    Die Konsequenz, die aus der Klrung dieser Zusammenhnge zu ziehen ist, ist entscheidend:

    Die Korrelation Denken/Leben bleibt in radikalphnomenologischer Perspektive nmlich

    schlichtweg umzukehren. Insofern das Leben nicht mehr nur der Brechungsindex eines sich

    selbst zur Vernunft erhebenden Denkens und seiner lichthaften Teleologien ist, das als solches

    zudem zugleich Denken des Seins sein soll, ist entsprechend aber nicht nur die Seinsfrage

    aufs neue zu stellen. Zudem ist so vielmehr noch die Notwendigkeit aufgewiesen, das operative

    Verhltnis von Denken/Leben als Intelligibilittsprinzip zugunsten des rein praktisch-

    phnomenologischen Verhltnisses von Leben/Denken umzukehren. Dadurch aber ist insgesamt

    nicht weniger als der von Henry geforderte Umsturz der Phnomeno-logie insgesamt und

    ihrer leitenden Fundierungsordnungen gefordert und in eins legitimiert, den er zugleich ja in

    nichts anderem als ihrer eigensten Mglichkeit begrndet sieht. Die Figur des Umsturzes

    bleibt unauflslich auf den Begriff der Phnomenologie bezogen: Die Identitt von Methode

    und Gegenstand, von logos und Phnomen, die die historische Phnomenologie zum

    Angelpunkt ihres Diskurses erhoben hatte, ist es, die konsequenterweise umzustrzen ist; der

    Begriff der Phnomenalitt, der bislang regulativ auf die Phnomenalitt der Welt und die

    Objektivitt ihrer sinngenerierenden Exteriorisierung bezogen worden war, ist es, der auf-

    zubrechen bleibt, um der Selbstintelligibilitt (auto-intelligibilit) des sich selbst-

    offenbarenden Phnomens als Leben37 dagegen zuletzt den ihr entsprechenden Raum

    zukommen zu lassen.

    Henry zufolge bleibt diesseits einer schlichten Substitution also, in deren Logik die

    Konstellation der Vorgegebenheit nur erneut wirksam bliebe, vielmehr noch die Ob-jektivitt

    der Welt als Inbegriff der Phnomenalitt berhaupt in aller Radikalitt zu reduzieren, womit

    beispielsweise auch das Da-sein als privilegierter Ort der Verwirklichung des Lebens

    entfllt38, um demgegenber das Leben aus solch einer privativen Interpretation zu befreien.39

    Die Selbstndigkeit des damit intendierten Wesens allen Erscheinens mu vielmehr selbst,

    diesseits aller sorge-erschlieenden Existenzialstrukturen oder sinnhaft differierenden

    Horizontverweise noch zur Gegebenheit kommen; als selbstndige mu sie selbst

    erscheinen.40 Ansonsten nmlich bliebe, wie etwa der in dieser Perspektive sodann

    zurckzuweisende Vorwurf von B. Waldenfels lautet41, die von Henry angezielte reine

    in diesem Kontext zuletzt nur mehr eine Abwesenheit indiziert, die er durch die Substitution einernoematischen Essenz aufzuheben versucht, vgl. nochmals Henry, Radikale Lebensphnomenologie, 80.37 Incarnation, 125.38 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tbingen: Niemeyer 1986, 50.39 Ebd.40 Vgl. M. Henry, Lessence de la manifestation, 28 f. zu Autonomie und Selbstndigkeit desWesens der Erscheinung; zum Begriff des Selbsterscheinens vgl. ebenfalls Incarnation, 35-39.41 Vgl. Phnomenologie in Frankreich, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, 349-355.

  • 10

    Immanenz dieses Lebens zuletzt doch noch eine innere Welt, die Immanenz mit Husserl

    gesprochen nichts anders als die Logik der Welt42. Dies wre der Fall, da sie, das heit ihre

    Gegebenheit, so nur erneut in phnomenologisch-struktureller Abhngigkeit von den

    Konstitutionsgesetzen eben jener Welt und insbesondere der ihr zugeschriebenen

    Phnomenalitt verstanden wre, ohne da deren Mglichkeit wiederum geklrt wre.43

    3. Ontologischer Monismus und Gegen-ReduktionHenrys entsprechende Intuition einer rein phnomenologischen Positivitt des unsichtbaren

    Lebens44 erfordert damit jedem Substanzdenken, jeder hermeneutischen

    Strukturvorentscheidung sowie jeder Begriffsphilosophie und ihrer Voraussetzung vielfltiger

    Sinnhorizonte gegenber eine radikale Gegen-Reduktion.45 Diese hyperbolische

    bersteigerung der Reduktion zielt auf eine Suspension der reduktiven Konstellation selbst und

    der damit inaugurierten intentionalen Sichtbarkeits- wie Methodenbedingungen ab, um ihren

    immanenten Beschrnkungen gegenber die rein phnomenologische Materialitt des

    Erscheinens zu thematisieren, die in der monistisch-formalen Bestimmung des Phnomens

    wie gezeigt ja strukturell verloren geht. In diesem Sinne suspendiert eine materiale

    Phnomenologie den Weltbezug, dem ja ein tatschliches Sein korrespondiert, auch nicht, wie

    ihr das verschiedentlich vorgeworfen wird, sondern nur die Objektivitt der Welt als

    Totalittsform46 der Erfahrungsgenerierung.47

    Zum entscheidenden phnomenologischen Thema wird damit die grundstzliche

    Differenzierung im Bereich der Phnomenalisierungsweisen und des ihnen zugesprochenen

    Wahrheitsanspruchs, die von Henry so genannte Heterogenitt der Erscheinensweisen von

    Leben und Welt.48 Der Aufweis dieser Heterogenitt, die sich bereits in der husserlschen

    Gegenberstellung von Gegebenem und Gegebenheit in den Vorlesungen von 1907 mehr

    zurckzieht, als da sie zu einem autonomen Thema wird, darf jedoch keineswegs als Endpunkt

    der Analyse gelten. Damit wre eine antithetische Konzeption des Phnomens und der

    Korrelation von Immanenz und Transzendenz als ontologisches Begrndungsverhltnis nur 42 Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg: Meiner 1985, 37.43 Vgl. etwa Die Barbarei, 202 f.44 Das Unsichtbare bleibt hier von den intuitiv nicht erfllbaren Grenzphnomenen im Sinne Husserls,vom gesttigten Phnomen nach Marion, genauso aber auch vom Unscheinbaren Heideggers zuunterscheiden, da diese noch im Rahmen der Problematik e-videnter Selbstgegebenheit verbleiben. DieMglichkeit einer Phnomenologie des Unscheinbaren problematisiert D. Janicaud, Le tournantthologique de la phnomnologie franaise, Paris: Eclat 1991, 57-73.45 Vgl. Nicht-intentionale Phnomenologie, bes. 85 ff.46 E. Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1. Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre (Hua.-Dok. II/1), Dordrecht: Kluwer 1988, 71.47 Vgl. M. Henry, Ich bin die Wahrheit, 67.

  • 11

    erneut festgeschrieben, die Konstellation des ontologischen Monismus also als genuin

    phnomenologische retabliert. Im Gegenteil mu diese Heterogenitt Henry zufolge als eine

    eidetische Duplizitt entfaltet und das heit in ihre phnomenologische Positivitt gedacht

    werden.49 Diese Duplizitt bezeichnet nun aber weniger ein doppeltes Leben des Subjekts50,

    in welchem die Intentionalitt zuletzt die Gegebenheitsbedingung par excellence bleibt. Ganz

    im Gegenteil beschreibt sie die nicht-intentionale Investition der Gegebenheit durch die

    Bedingungen ihres Gegebenseins, das heit die je besondere Verwirklichungsweise des

    Erscheinens.51 Diese Bedingungen bezeichnen dabei nun wiederum nicht mehr die

    Kategorien nach Kant oder Objektivitt und Gegenwrtigung als die Phnomenbedingungen

    nach Husserl, sondern vielmehr jenen vom Blickpunkt der historischen Phnomenologie nicht-

    phnomenalen Akt, der dem Erscheinen des Phnomens in dem Mae Rechnung trgt, wie er es

    als Gegebenheit sich entfalten, sich diesseits der Anonymitt des es gibt und seines

    Ereignisspielraums noch geben lt.52 Diese Rckeinschreibung der Intentionalitt in das

    Nicht-Intentionale, die Henry als Aufgabe einer radikalen Lebensphnomenologie versteht,

    wird jedoch, wie wir zuvor schon andeuteten, in dem Mae zur eigenwesentlichen Aufgabe

    jeder Phnomenologie, wie die Intentionalitt den ursprnglichen Mangel ihrer selbst den

    supplementierenden Wirkungen ihrer Selbst-Konstitution opfert, ohne dabei jedoch von ihnen

    selbst Zeugnis ablegen zu knnen.

    In der Konstellation des ontologischen Monismus ist dieser Zusammenhang diesseits jeder

    Fundierungsordnung aber, das bezeichnet das entscheidende, uns leitende Problem,

    unthematisch: Einer ontologisch abgrndigen Phnomenalitt (der Welt-Objektivitt in ihrer

    Andersheit und Indifferenz, die das in ihr Erscheinende letztlich eben nie in dessen Existenz

    hervorzubringen oder gar zu legitimieren vermag53) korrespondiert darin letztlich nmlich

    immer nur ein phnomenologisch unaufgewiesenes (un-denkbares) Vermgen. Dieses entzieht

    sich in seinem Hervorbringungsakt zudem unaufhaltsam, wie Henry am Beispiel der

    Negativitt bei Hegel, der Intentionalitt bei Husserl oder der ursprnglichen Zeit bei

    48 Vgl. ebd., 51 ff., 272 ff., zur Differenzierung von Wahrheit des Lebens und Wahrheit der Welt;Die Barbarei, bes. 216 ff.49 Vgl. Incarnation, 101, 160, 216 f. und Lessence de la manifestation, 561, wo die irreduzibleHeterogenitt der Erscheinensweisen bereits als Indifferenz verstanden wird. Vgl. zu diesem, wohlvon Schelling und Fichte bernommenem Begriff, F. Khosrokhavar, La duplicit du paraitre, in: Revuephilosophique de la France et de ltranger (3/2001) 305-319.50 R. Bernet, La vie du sujet. Recherches sur lintrpretation de Husserl dans la phnomnologie, Paris:P.U.F. 1994, bes. 297-327.51 M. Henry, Radikale Lebensphnomenologie, 150.52 Dazu R. Khn, Zur Phnomenalitt des Es gibt als reines Sich-geben, in: Wiener Jahrbuch frPhilosophie XXXI (1999) 211-227.53 Vgl. M. Henry, Incarnation, 59 f.

  • 12

    Heidegger etwa exemplarisch nachweist.54 Die unterschiedlichen Strukturen der Phnomenalitt

    und die ihnen entsprechenden Gesetze der Phnomenalisierung verbleiben damit aber eben

    gnzlich unthematisch; die konomie, die diese Konstellation errichtet, verhindert dies. Der

    monistischen Interpretation des Erscheinens entspricht darin vielmehr eine essentielle

    Gleichschaltung der Phnomenalitt.

    Die Bedeutung dieser Einsicht erschpft sich jedoch nicht im Rahmen einer Methodenkritik. Solange man

    das Erscheinen nmlich im Rahmen dieser Konstellation betrachtet, seine Dynamik und Faktizitt auf

    dem Boden der Vorgegebenheit der Welt oder der Weltbefangenheit nach Fink etwa thematisiert, ist

    seine Konsistenz unantastbar; die Intentionalitt sichert sie in dem Mae, wie sich ihr damit ein

    unendliches Feld erffnet: Die Intentionalitt selbst bleibt darin jedoch problematisch, ihre Selbstgebung

    unthematisch, denn ihre ontologische Konsistenz erschpft sich in der Logizitt der Supplemente, die sie

    zum Leben erweckt, in jener Logik folglich, die sich immer erst nachtrglich auf sie selbst anwenden lt.

    Da die Selbstkonstitution also zugleich die Konstitution des Anderen ist, da sich das Andere

    unaufhebbar in die Figuren jeder intentionalen Selbstgegebenheit eingeschrieben findet55, bedeutet in

    dieser Perspektive folglich weniger einen Aufbruch des Imperialismus der objektivierenden

    Intentionalitt, als einen originren Mangel, den die phnomenologische Methode ins Konstitutive

    wendet. Diesen Mangel am Leitfaden von Horizont, intentionaler Transzendenz und Ekstase und die

    von ihm ausgehende Telologik aber zum Paradigma des Erscheinens zu erheben, bedeutet wie gesagt

    zugleich, das Erscheinen auf das Sich-Zeigen im Auen zu reduzieren. Die Affektion des Urimpressio-nalen durch eine phnomengenerierende Leere erffnet damit die Bewegung der Konstitution und der

    Sinngebung, die forthin ber alles Gegebene in-formierend hinwegzieht. Diesem Werden aber wird in

    dieser Konzeption zugleich die Konstitution jenes auf ewig aufgeschobenen Selbst anheimgestellt, das

    sich im Rahmen der historischen Phnomenologie immer nur in seinen Korrelaten anzeigt, sich immer

    nur als intentionales oder transzendental-leistendes Leben investiert findet, ohne damit aber einen eigenen

    phnomenologischen Status zu erlangen oder aufrechterhalten zu knnen. Dieser Mangel, Henry

    diagnostiziert in ihm die Abwesenheit, das Opfer und letztlich die Ttung des Lebens selbst56, ist

    jedoch eminent problematisch: Es handelt sich dabei nmlich nicht mehr blo um ein frakturiertes

    Subjekt, um eine fragmentierte Geschichte derjenigen Instanz, die die Konstitution trgt, oder um die

    Dissemination des Konstituierenden selbst, die den Kreislauf des Sinnes diesseits des Idealismus einer

    sinnbildenden Intentionalitt unbestritten in Atem halten. Im Gegenteil impliziert dieser Mangel nmlich

    nicht nur eine Krise des Sinnes, den die Wendungen der Intentionalitt inmitten der Konstitution

    auslsen, sondern grundstzlicher eine Krise der Phnomenalitt, die sich aus sich selbst heraus

    aufzulsen beginnt, ohne eben von dem, was sie hervorzubringen scheint, noch Zeugnis ablegen zu

    knnen.

    54 Vgl. zum Phnomenalittscharakter negativer Erfahrungswirklichkeit weiterhin R. Khn, Anfang undVergessen. Phnomenologische Lektre des deutschen Idealismus - Fichte, Schelling, Hegel (imErscheinen).55 Dazu D. Zahavi, Self-Awareness and Alterity, Evanston: Northwestern University Press 1999.56 Incarnation, 105.

  • 13

    Die Totalittsstruktur des Erscheinens wird in dieser Perspektive zu einer Topologie der Irrealitt,

    deren Gesetze sich allem Erscheinenden aufzwingen, schlimmer noch als die Tyrannei der entfremdeten

    Werke, die den Menschen schon nicht mehr gehren57. Diese Welt, und d. h. ihre Erscheinensweise,

    exemplifiziert Henry zufolge nmlich, und damit geht seine Phnomenologie kulturkritisch ber eine

    Methodendiskussion hinaus, eine Form der Gewalt, die unter den Vorzeichen von sich be-schleunigender Mathematisierung, Technisierung und Informatik gegenwrtig barbarische Zge

    annimmt und sich unserer humanitas selbst zu bemchtigen anschickt58: die vllige Gleichgltigkeit des

    Erscheinens gegenber dem, was in ihr erscheint, eine Gleichgltigkeit, die vom Erscheinenden nicht nur

    kein Zeugnis abzulegen vermag, sondern es vielmehr noch zu einer uerlichen, indifferenten Andersheit

    macht. Das Projekt der Lebensphnomenologie wre dagegen der Versuch, auch die Welt wieder als

    jenen Aufenthalt (ethos) zu retablieren, der sie aufgrund der uns tragenden Erdeinverleiblichung59

    (corps-propriation) vergessenerweise immer schon ist.

    Mit dem Begriff der Gegen-Reduktion ist vor diesem Hintergrund daher zunchst sicherlich

    eine Destruktion derjenigen Sichtbarkeits- und Methodenbedingungen intendiert, denen gem

    die historische Phnomenologie die Phnomenalitt der Sachen selbst im Lichte der Ekstase

    des Objekts monistisch als Transzendenz vorstellte. Diese Wendung der Kritik erscheint alleine

    schon deshalb legitim, da die Phnomenologie ihren Prinzipien in dem Mae selbst untreu

    wurde, wie Husserl die Intuition methodenimmanent zum Ma der Phnomenalitt erhob, nicht

    aber die ihr irreduzibel vorhergehende Gegebenheit (donation)60, die ihr Werk auch diesseits

    von intuitiver Erfllungsgerichtetheit vollbringt, wie es das genannte Beispiel der

    Grenzphnomene im Rckgriff auf Marion eindrcklich belegt. Zugleich ist damit aber auch

    und das bezeichnet sicher ein noch zu lsendes methodisches Problem eine Reduktion

    a priori anvisiert, mit der Henry einen die irreale Distanz der reduktiven Substitutionen

    berbrckenden Sprung in die immer schon gegebene Realitt des Lebens im Pathos (den

    impressionalen Tonalitten) seiner uripressionalen Erprobung (preuve de soi) zum Ausdruck

    bringen mchte.61 Die Struktur dieses Sich-Erweises bestimmt aber wiederum, und dies ist

    der entscheidende Schritt, jeden Lebendigen als eine transzendentale Affektivitt in deren je

    individueller Ipseitt ihres willentlich-praktischen Sich-Empfindens, das sich in der

    lebendigen Eidetik der Offenbarungsaffektivitt als Sich-erleiden und Sich-erfreuen nicht nur je

    ergreift, sondern in-dividuell vergeschichtlicht.62 Eine Phnomenologie der Erprobung bildet

    57 E. Lvinas, Totalitt und Unendlichkeit. Versuch ber die Exterioritt, Freiburg/Mnchen: Alber 1993,355 f.58 Vgl. M. Henry, Die Barbarei, op. cit.; zur Diskussion S. Nowotny, Barbarische Gegenwart. Leben,Kultur und Kritik in M. Henrys Die Barbarei, in: ders. u. R. Khn (Hg.), Michel Henry, op. cit.59 M. Henry, Die Barbarei, 165 ff.60 Vgl. nochmals J.-L. Marion, Rduction et donation, 48 ff.61 Zu dieser Beweisprobe der Lebensrealitt, die gleichursprnglich eine Heimsuchung indiziert, vgl.Radikale Lebensphnomenologie, 197 f., 261 ff., auerdem Ich bin die Wahrheit, 397 (Glossar).62 Vgl. Lessence de la manifestation, 53, 585 ff.

  • 14

    damit, die Figuren des Ereignisses, der Andersheit und des Anrufes etwa selbst noch

    integrierend, das entscheidende Desiderat sich radikalisierender Phnomenologie: Insofern darin

    nmlich die Frage nach der Rezeption als Rezeptivitt zuletzt aufbricht, diese zugleich als

    Pathos der Lebensbereignung in ihrer irreduziblen Gewalt durchsichtig wird, impliziert die

    Radikalitt solch apodiktischer, transzendentaler Geburt eine praktische Phnomenologie jener

    Rezeptivitt im Modus der Sinnlichkeit, die mit nichts anderem als der Subjektivitt als dem

    phnomenologischen Wesen dieses Empfindens identisch ist.63

    4. Phnomenologischen Differenz und IndividualittIn aller Notwendigkeit verbindet sich die Reduktion jedes ontischen Gehalts in dem hier

    entwickelten Zusammenhang schlielich mit dem Gedanken einer rein immanenten Retro-

    referenz64 des Wesens selbst, die ihre ontologische Kraft gnzlich auf sich selbst abldt65 und

    so schlielich ohne jeden Genitiv ist und wird. Damit aber ist, wie soeben bereits

    angedeutet, definitiv eine Individualitt diesseits jeder ontologischen Differenz und des

    lichthaften Ereignisspielraums noch erreicht, die sich nicht mehr auf ein ontologisch-

    ousiologisch besetzbares Individuierungsfeld (ordo effabile) im Sinne des id quod est und seines

    esse bzw. des begrifflich bestimmenden Logos (genus species) im Felde sich differenzierender

    Termini abblenden bzw. reduzieren lt.66 Im Gegenteil schpft dieses Individuum seine

    Individualitt diesseits jeder raum-zeitlichen Lokalisierung eben aus nichts anderem als der

    absoluten Passivitt67 und der mit ihr verbundenen abgrndigen Gewalt der in ihr

    immemorial wirksamen Lebensbereignung68, die Henry in Incarnation neuerdings als

    fleischliche Passibilitt (d. h. als urfaktische Identitt von Gebung und Rezeptivitt) zu

    thematisieren sucht: Das Individuum ist also, so lt sich diesbezglich zusammenfassen,

    keineswegs mehr als Referenzpunkt oder Gefge des Erscheinens und des in ihm auf der

    vorausgesetzten Folie bzw. dem Schirm des Bewutseins aufbrechenden Erscheinenden zu

    fassen. Es geht vielmehr immer nur aus der Intensitt der im Erscheinen aufbrechenden

    63 Dazu R. Khn u. M. Staudigl, Intensitt und Passibilitt. Fr eine neue Phnomenologie (imErscheinen).64 M. Henry, Lessence de la manifestation, 289.65 Vgl. ebd., 294.66 Vgl. Die Barbarei, 218 f.; dazu C. Majolino, Est individuum ineffabile?, in: R. Khn u. S. Nowotny(Hg.), Michel Henry, a.a.O., 81-107.67 Zu dieser Grundeinsicht M. Henrys (Lessence de la manifestation, 37, 367), die sich aus derunzerbrechlichen Positivitt der Affektivitt als Erfahrungsbedingung ergibt, siehe R. Khn, HusserlsBegriff der Passivitt, 430 ff.68 Zur damit gegebenen Implikation von Animalitt auf transzendentaler Ebene vgl. R. Khn,Animalitt, Sexualitt und Urkind, in: Alter 3 (1995) 345-381.

  • 15

    phnomenologischen Differenz selbst hervor, die als transzendentale Geburt im Sinne einer

    unzerbrechlichen generatio des Lebens als solchen zu verstehen ist.69 Das Individuum kommt

    also, anders formuliert, zur Gegebenheit, empfngt sich als aller intentionalen Effekt-konomie

    entzogene Gabe70, insofern es eine Differenz im-pliziert, die sich nicht aus ob-jektiven und

    referentiell versammelten Abweichungen kontinuierlich ineinander berfhrender Termini bzw.

    Terminologien rekrutiert, die sich gem der kategorial entfaltbaren Ordnung von genus und

    spezies entfalten lieen. Genau damit aber findet sich nicht nur das phnomenologische Feld

    jeder temporisierend-verrumlichenden Formvorentscheidung und weiterhin auch jeder

    Heterogenese smbolischer Institution entzogen. Vielmehr noch wird damit Husserls Hinweis auf

    eine Implosion des Lebens in der Immanenz des Ego71 diesseits genetischer Synthesistotalitt

    und den transparenten Vorgaben generierter Faktizitt entfaltet, dessen Prsenz die historische

    Phnomenologie sicherlich vorschnell als metaphysisch besetzt denunziert und ausgeblendet

    hatte.72

    Entsprechend erfat Henry die mit der Entfaltung der phnomenologischen Differenz von

    Wie und Was genannte reine, absolut passive und das heit nicht-intentionale Investitur durch

    das Leben als eine unaufhebbare wie unaufschiebbare bermacht leibhaftig an sich selbst

    gegebener Potentialitt73. Deren unerschpflicher Reichtum lt sich nun, behalten wir die

    Dynamik sich radikalisierender Reduktion im Auge, jedoch keineswegs mehr auf die

    wahrnehmungsapriorisch entworfene Bestimmbarkeit endloser Horizontvorzeichnungen

    grnden, sondern verdankt sich im Gegenteil ausschlielich der urfaktischen

    phnomenologischen Reziprozitt von (absolutem) Leben und je Lebendigem, die in der

    transzendentalen Geburt des Ich kann als phnomenologischem Ursprungsleib terminiert.

    Da sich damit die Sinnlichkeit, als die Matrix dieser Reziprozitt, als affektive Kraft diesseits

    aller Synthesisgraduierung nach Husserl, immer schon in jeden auch noch so abstrakten

    Weltbezug konstitutiv eingeschrieben findet, impliziert ein entsprechender Rckgang in die

    Figuren reiner Immanenz so zuletzt einen Paradigmawechsel von Intentionalitt und Praxis

    (Khn), dessen umfassende Bedeutung in der von uns aufgerissenen Perspektive nun allererst

    realisiert zu werden vermag. Dadurch nmlich wird nicht nur jeder in der historischen

    69 Vgl. Ich bin die Wahrheit, 86 ff. u. 213 ff.; zur Geburt des Ich im Akkusativ in der Geburt desabsoluten Lebens vgl. J. G. Hart, Michel Henrys phenomenological Theology of Life, in: HusserlStudies 15/3 (1998) 183-230, 212 ff. Die Struktur dieser generatio impliziert weiterhin nicht nur die Figurrein immanenter Alteration, sondern als Ko-Pathos ist sie zugleich immer schon inter-subjektiv.70 R. Bernet, Christianity and Philosophy, in: Continental Philosophy Review (3/1999) 325-342, hier329.71 Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil. Theorie der phnomenologischen Reduktion, Den Haag:Nijhoff 1959, 48.72 Vgl. M. Haars Kritik, in der Metaphysik mit Onto-Theologie zu korrelieren scheint, hier Michel Henryentre phnomnologie et mtaphysique, in: ders., La philosophie franaise entre phnomnologie etmtaphysique, Paris: P.U.F. 1999, 113-143.73 Vgl. bes. Gnalogie de la Psychanalyse. Le commencement perdue, Paris: P.U.F. 1985, 387 ff.

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    Phnomenologie noematisch distanzierte und gegenwrtig durch Technik, konomie und

    Informatik noch zunehmend irrealisierte Weltgehalt als Korrelat ursprnglicher

    Leiblichkeit selbst greifbar.74 Vielmehr noch erweist sich diese Leiblichkeit so zugleich in ihrer

    phnomenologischen Substanz, was genauer bedeutet, da sie in dem genannten Wie der

    Lebensselbstoffenbarung als unauflslicher Einheit von Gehalt und dessen Ausbung75

    ihren ursprnglichen Bestand und Ausdruck findet, was entsprechende Konsequenzen fr jede

    Theorie von Kultur, Arbeit, Wirtschaft z. B. impliziert.76

    In einer Analytik des gegen-reduktiven Weltgehalts, der die Sinnlichkeit als tatschlich

    affektive Kraft nach Husserl entsprechend in jeden auch noch so abstrakt veranschlagten

    Weltbezug rckeinschreibt, wird in dieser Perspektive schlielich jede pauschale Kritik an der

    radikalen Lebensphnomenologie durch den Nachweis einer von ihr tatschlich erreichten

    Materialitt hinfllig: Diese teilt sich in der genannten phnomenologischen Reziprozitt des

    Lebens jedem transzendentalen Individuum immer schon in seiner je unaufkndbaren

    Passibilitt der fleischlichen Lebensbereignung rezeptiv mit, ohne seine subjektive

    Phnomenalitt chiasmatisch etc. aufzubrechen77, und ohne noch auf ein radikal Ichfremdes

    (Urhyle) zurckzugreifen, dessen problematische Vorgegebenheit sie dann immer nur

    sinngebend in-formiert.

    Was die Lebensphnomenologie damit realisiert, besteht darin, die Phnomenologie als

    solche nach Marion von den Ansprchen der Selbstkonstitution zu befreien, die jede

    Phnomenologie des Anderen immer nur im Rekurs auf ihre eigene Integration zu denken

    vermag. Die Kritik an der Identifikation der Methode der Phnomenologie mit ihrem

    Gegenstand, die Destruktion der Leitfden von Intentionalitt, Horizont und egologischer

    Polarisierung bedeutet in dieser Perspektive zunchst einmal ein Korrektiv der operativen

    Selbsterhaltung klassischer Phnomenologie. Was eine praktische Phnomenologie dagegen

    allerdings positiv allererst geltend zu machen hat, besteht in der Heterogenese der

    transzendentalen Akffektivitt. Wenn die Logik der Affektion eine differentiale Identitt

    impliziert, die Henry im Begriff der Ipseitt diesseits aller Transzendenzrelationen ansiedelt,

    so verwirklicht sich die vorher genannten Retro-Referenz des Wesens auf einer rein

    intensiven Ebene. Die Intensitten, die der differentialen Logik der Affektion

    entspringen, lassen damit diesseits von eidetischem Weltentwurf, symbolischer Schemati-

    sierung, kategorialem Apriorismus und transzendentalem Bedingungsverhltnis die qualia, also

    dieses Gefhl und diese Empfindung z. B., unaufhrlich ineinander bergehen, ohne damit 74 Vgl. Incarnation, 185 u. ff.; vgl. weiterhin v. Verf., Umsturz der Phnomenologie?, in:Phnomenologische Forschungen (1/2002) 79-99, hier bes. 95 ff.75 Vgl. M. Henry, Lessence de la manifestation, 287.76 Dazu R. Khn, Leben als Bedrfen. Eine lebensphnomenologische Analyse zu Kultur und Wirtschaft,Heidelberg: Physica, 1996.

  • 17

    jedoch einer Universalitt distanzgenerierender Transzendenzbewegung in die Hnde zu

    spielen, d. h. ohne aus dem Erscheinungswesen etwas Relatives zu machen. Das Feld der

    Phnomene in der ihm eigenen Phnomenologik zu analysieren dies besagt damit nicht mehr,

    als individuum und quid individuum eidetisch zu differenzieren und das Prinzip des

    begrifflich bestimmenden logos auszuschalten. Jene intensiven, lebendig individuierenden

    bergnge, so wie diese in den grundlegenden phnomenologischen Korrelationen aufscheinen,

    die Ich/Mich, Knnen/Bewegung und Lebensselbstaffektion/transzendentale Geburt auf dem

    Boden einer transpassiblen Gemeinschaftlichkeit in der Vollzugswirklichkeit je subjektiver

    Lebensselbsterprobung in-differenzieren, werden damit erst zum mglichen Gegenstand einer

    zuknftigen Phnomenologie. Diese intensive Logik der Affektion zu beschreiben, inbesondere

    in dem Mae, wie diese nur allzu leicht auf einen ontologischen Effekt des ordo abgeblendet

    wird, impliziert weiterhin ein grundstzlich ideologiekritisches Potential der Phnomenologie:

    Verwaltet jede Ideologie eine bestimmte Leere derjenigen Immanenz, die sie generiert, so

    erlaubt es der lebensphnomenologische Zugang, der erstmals die Problematik der

    Selbstindividuierung des Phnomens zu stellen scheint, dagegen in aller Radikalitt, das

    Individuum als jenes Phnomen zu denken, das keine ontologische Funktion der Differenz

    bentigt, um sich zu geben, und das foglich kein Terminus der onto-logischen Ordnung mehr

    ist.

    77 Vgl. R. Khn, Rception et rceptivit. La phnomnologie de la vie et sa critique, in: Revuephilosophique de la France et de ltranger (3/2001) 295-304, bes. 302 f.