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Tyrolia Wilhelm Kuehs · Jakob Kirchmayr Kärntner Sagen

Kärntner Sagen - tyroliaverlag · Gute Frau Percht unterwegs. Das alles machte mir keine Angst. Mein Großvater hatte mir alles über die Andere Welt erzählt, und ich fühlte mich

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Page 1: Kärntner Sagen - tyroliaverlag · Gute Frau Percht unterwegs. Das alles machte mir keine Angst. Mein Großvater hatte mir alles über die Andere Welt erzählt, und ich fühlte mich

Tyrolia

Wilhelm Kuehs · Jakob Kirchmayr

Kärntner Sagen

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Kärntner Sagen

Erzählt von

Wilhelm Kuehs

Zeichnungen von

Jakob Kirchmayr

Tyrolia -Verlag · Innsbruck –Wien

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Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2013

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: Michael Karner, Gloggnitz,

unter Verwendung eines Bildes von Jakob Kirchmayr

Typografie und Satz: Michael Karner, Gloggnitz

Lithografie: pixelstorm, Wien

Druck und Bindung: Theiss, Kärnten

isbn 978-3-7022-3314-3

E-Mail: [email protected]

Internet: www.tyrolia.at

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Vorwort

In den Sommernächten meiner Kindheit lag ich oft in der Dunkel-

heit in meinem Bett und hörte, wie das alte Bauernhaus knackte

und knarzte. Oben am Dachboden waren Schritte zu hören, und

draußen im Wald, das wusste ich genau, waren die Saligen und die

Gute Frau Percht unterwegs. Das alles machte mir keine Angst.

Mein Großvater hatte mir alles über die Andere Welt erzählt, und

ich fühlte mich beschützt.

Von den Königen im Berg, von Zwergen und dem Teufel handel-

ten seine Geschichten, und meine ganze Kindheit war bevölkert

von diesen Wesen. Losgelassen haben sie mich nie, und dafür bin

ich dankbar.

Mit diesem Buch möchte ich das Geschenk meines Großvaters

weitergeben. Ich habe die schönsten Sagen aus Kärnten ausge-

sucht und sie neu erzählt, damit sie auch für junge Leser inter-

essant und spannend sind. Befreit vom Staub der Jahrhunderte,

frisch und glänzend muten sie ganz modern und zeitgemäß an.

Ja, und das sind sie ja auch. Immer noch sehnen wir uns nach den

Feen, fürchten uns vor den unheimlichen Gestalten in der Dun-

kelheit, und immer noch fühlen wir uns magisch von all dem Ge-

heimnisvollen angezogen. In der Begegnung mit den Feen und

Geistern lernen wir etwas Wichtiges über uns selbst und über das

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Land, in dem diese Geschichten erzählt werden. Wer Kärnten ein

bisschen besser verstehen will, der wird in den Sagen mehr als nur

ein paar Hinweise finden.

Die Reise durch die Sagenwelt meistert man nicht alleine. Ohne

meine Frau Ingrid, ihre Liebe und Unterstützung würde es dieses

Buch nicht geben. Jakob Kirchmayrs wunderbare Zeichnungen

sind mir eine Inspiration, und ich freue mich, dass wir nun ein ge-

meinsames Buch gescha◊en haben.

Wilhelm Kuehs

Völkermarkt, Juni 2013

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Inhaltsverzeichnis

Bezirk Spittal an der Drau

Wie die Kärntner das Singen lernten . . . . . . . . . . . . . . . 13

Der Lindwurm im Maltatal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Die Gräfin Salamanka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

Der krumme Reißecker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Die Entstehung des Pasterzengletschers . . . . . . . . . . . . 27

Das Riesenspielzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

Beim Perchtelbauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

Die Saligen am Weißensee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Der Ahornbaum am Millstätter See . . . . . . . . . . . . . . . . 37

Ritter Bibernell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Bezirk Hermagor

Der Wechselbalg und die Schnitterin . . . . . . . . . . . . . . 41

Das Venedigermandl in Rattendorf . . . . . . . . . . . . . . . . 42

Der Kegelschub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Der beinerne Tisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Die guaten Leutlan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

Die Wilde Jagd im Radegundergraben . . . . . . . . . . . . . . 52

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Bezirk Villach Stadt und Land

Der Schatz auf Landskron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

Der Brennsee und der Afritzer See . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Der Zwerg im Dobratschsee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

Der Poltergeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

Der Wassermann von St. Jakob . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

Die Kirche von Maria Gail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

Die Saligen von Rosegg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

Die Tödin in Fe◊ernitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Der verschwundene Schnaps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

Bezirk Feldkirchen

Der entlarvte Wolkenschieber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Die weiße Schlange in Friedlach . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Die Dreikönigssinger von Gnesau . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Die heilige Quelle von St. Leonhard . . . . . . . . . . . . . . . 90

Das Kirchlein von Tauern und die schöne Frau vom See . . . 92

Im Bugglwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

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Bezirk Klagenfurt Stadt und Land

Der steinerne Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Das Wörtherseemandl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Der Lindwurm zu Klagenfurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

Der schwarze Felsen vom Wörthersee . . . . . . . . . . . . . . 109

Die Gründung des Klosters Viktring . . . . . . . . . . . . . . . 111

Der Türmer zu Klagenfurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Die neun Saligen vom Turiawald . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Der Teufelstritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Die unheimliche Überfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Der Fassbinder von Gotschuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Bezirk St. Veit an der Glan

Die steinernen Linsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Margarethe Maultasch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Die Räuber vom Wolschartwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

Hemma von Gurk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Die Pest in Weitensfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

Die Winterbrentlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Die Quittung aus der Hölle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

Die Krönleinschlange von Zeltschach . . . . . . . . . . . . . . 147

Das Dukatenstriezel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Das Irrlicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

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Bezirk Völkermarkt

Die Teufelsbrücke bei Völkermarkt . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Der Lindwurm von Gri◊en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

Hildegard von Stein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Die Wohnung der Saligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Die Muttergottes von Diex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Kralj Matjaž in der Petzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Ante Pante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

Die Rosaliengrotte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

Das verlorene Lamm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Bezirk Wolfsberg

Wie das Lavanttal entstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Richter, richte recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Die steinerne Stiege auf der Koralpe . . . . . . . . . . . . . . . 181

Othmar der Lange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Die Hadachweiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

Der Sauerbrunn in Prebl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

Die Osterfeuer im Lavanttal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Die Wilde Jagd in Pölling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

Der Erzähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Der Zeichner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

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Bezirk Spittal an der Drau

Wie die Kärntner das Singen lernten Maltatal

Am Pflügelhof im Maltatal ging den Mägden und Knechten die

Arbeit schwer von der Hand. Die Sonne brannte ihnen auf den

Kopf, wenn sie draußen auf der Wiese standen und das Gras mäh-

ten. Schritt für Schritt arbeiteten sich die Frauen und Männer vor,

keuchend und stumm.

An diesem Vormittag kam eine Frau am Pflügelhof vorbei und

fragte nach Arbeit. Es schien, als ginge ein Leuchten von ihr aus,

und als sie nach einer Sense gri◊ und das erste Gras unter ihren

Schwüngen fiel, sahen alle auf und staunten. Die Knechte mur-

melten, und die Mägde steckten die Köpfe zusammen. Das war

sicher keine Menschenfrau, so wie sie aussah, so wie sie das Gras

mähte, musste sie eine Salige sein.

Von nun an kam die Salige jeden Tag und half bei der Arbeit. Das

Gras fiel ohne Mühe unter den Sensen. Die Äpfel purzelten wie

von selbst in die Schürzen und Säcke, und die Kühe und Ziegen

gaben mehr und süßere Milch als jemals zuvor.

Das Leben am Pflügelhof war leicht in diesem Sommer. Die Salige

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war aber noch nicht ganz zufrieden. Die Menschen lachten so sel-

ten. Sie waren nie fröhlich und ausgelassen. Dann, eines Tages im

Herbst bei der Flachsernte, begann die Salige zu summen. Der

Rhythmus breitete sich unter den Arbeitern aus, und schon nah-

men die ersten die Melodie auf und summten mit. Leise, dann im-

mer lauter und kräftiger sang die Salige: »In da Mölltalleitn, auf da

Sunnaseitn, do blüahn die Bleamlan noch amol so schean.«

Zuerst hörten die Menschen zu, aber schon bald sangen sie mit.

Die Mägde folgten der Stimme der Saligen, und die Knechte fan-

den ihre eigene Stimmlage, und bald tönte es dreistimmig über

die Wiesen und Wälder. So lernten die Menschen am Pflügelhof

im Maltatal das Singen, und sie trugen die neue Kunst hinaus in

das Land. Seither singen die Kärntner, nicht immer ganz richtig,

aber voller Leidenschaft und in beiden Landessprachen.

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Der Lindwurm im MaltatalMalta, Rangersdorf

Zwischen dem Großglockner und Villach lag früher ein riesiger

See. Er war ungefähr achtundzwanzigmal so groß wie der Wör-

thersee. Wahrscheinlich lebte dort nicht nur ein Lindwurm, son-

dern mehrere. Als der See dann austrocknete und nur Reste da-

von blieben, zogen sich die Lindwürmer zurück. Einer hauste im

Weißensee, ein anderer im Millstätter See, und ein dritter machte

es sich oben im Liesertal bequem. Nicht von allen Lindwürmern

wissen wir Genaueres, aber von einigen sind unheimliche und be-

ängstigende Geschichten überliefert.

So erzählt man sich vom Lindwurm in Ranigois im Mölltal, der in

einem See mitten im Berg haust. Dort drinnen im Taxenplan ist es

dunkel und kalt, und der Lindwurm ernährt sich von blinden Mol-

chen und Fröschen. Niemand weiß, welche Quelle den See speist.

Den Abfluss des Sees, den kennt aber jeder. Es sind die neun Bäche,

die ganz eng beieinander aus dem Felsen treten.

Eines Tages wird es dem Lindwurm in seinem See zu eng werden,

und dann wird er mit seinen mächtigen Tatzen und seinem Schä-

del ein zehntes Loch in den Berg schlagen. So gewaltig wird die-

se Ö◊nung sein, dass der ganze See in einem Schwall aus dem Fel-

sen hervorbricht und Döllach überschwemmt und die Häuser und

Menschen in einer großen Flut hinwegspült.

Ähnlich gefährlich scheint der Lindwurm weit oben im Malta-

tal zu sein. Heute findet man am Ende der Malta-Hochalmstraße

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das größte Speicherkraftwerk Österreichs. Die Kölnbreinsperre

staut mit ihren 200 Meter Höhe über 200 Millionen Kubikmeter

Wasser auf und hält diesen riesigen See zwischen den Bergflanken

gefangen. Genau an jener Stelle soll vor langer Zeit eine beinahe

ebenso gewaltige Felswand das Wasser zurückgehalten haben. In

diesem Bergsee lebte ein ziemlich großer und ziemlich missmuti-

ger Lindwurm. Die Almwirtschaft brachte nicht viel ein, weil der

Lindwurm den Bauern das Vieh von den Weiden stahl. Auch die

vielen Gämsen, die heute den Autofahrern auf der Hochalmstraße

auflauern, gab es nicht. Sobald der Lindwurm auch nur eine Gams

irgendwo sah, rannte er ihr nach, zertrümmerte nötigenfalls ein

paar Felsen und packte das Tier mit seinen Krallen.

Entstanden war der Lindwurm aus einem Hahnenei. Ein sieben-

jähriger Haushahn legte eines Tages ein rotes Ei in den Misthau-

fen. Dort lag das Ei drei Jahre lang und wurde von der Wärme

des Mists ausgebrütet. Ein kleiner Lindwurm, nicht größer als

die Hand eines Kindes, schlüpfte und wuselte über die Wiese und

über die Hänge zum nächsten See.

Zuerst fraß der Lindwurm Käfer und Larven, Kaulquappen und

kleine Fische. Als er größer wurde, stellte er den Forellen nach,

und bald machte er Jagd auf Murmeltiere und Schneehasen. Zu

dieser Zeit bemerkten die ersten Senner und Mägde, dass in dem

Bergsee etwas Seltsames vor sich ging. Doch noch machte sich

niemand Sorgen. Als die ersten Schafe verschwanden, dachte man

an einen Bären oder ein Rudel Wölfe.

Ein Jäger legte sich auf die Lauer und staunte nicht schlecht, als

statt eines Wolfes ein Lindwurm aus dem Gebüsch kroch und sich

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auf die angebundene Ziege stürzte. Vor Schreck vergaß der Jäger

aufs Schießen, ja er bekam solche Angst, dass er seine Flinte weg-

warf und so schnell den Berg hinunterlief wie noch nie zuvor.

Im Wirtshaus von Malta wartete man schon auf den Jäger. Außer

Atem und zitternd wie Espenlaub kam er an und brach zusammen.

Erst nach zehn Minuten war er so weit bei Atem, dass er seine Ge-

schichte erzählen konnte.

Die Männer überlegten hin und her. Wahrscheinlich war es keine

gute Idee, auf den Lindwurm zu schießen. Kugeln konnten den

dicken Panzer nicht durchdringen, und die Knallerei machte den

Lindwurm sicher nur noch wütender. Auch den Vorschlag, den

Lindwurm in eine Falle zu locken, verwarf man. Zum einen hat-

te niemand eine Ahnung, wie man eine so große und vor allem so

stabile Falle bauen konnte, und zum anderen hatte man dann im-

mer noch einen überaus lebendigen Lindwurm.

Die Diskussion dauerte bis in die Morgenstunden. Schon krähten

die Hähne, und die ersten Knechte begannen mit der Arbeit. Die

Holzfäller kamen im Gasthaus vorbei und bestellten das erste Bier,

und die Wirtin räumte die Gläser vom Tisch der Bauern, wusch sie

aus und überlegte. Da hatte sie doch vor einiger Zeit so eine ähnli-

che Geschichte gehört. Ein Holzhändler aus dem Salzburgischen

hatte sie erzählt. Dort hatte man den Drachen mit ungelöschtem

Kalk getötet.

Die Bauern fanden die Idee ganz hervorragend. Sie schlachteten

ein Kalb, füllten es mit ungelöschtem Kalk und brachten den Ka-

daver hinauf zum See. Diesmal legte sich nicht nur der Jäger auf

die Lauer. Hinter den Büschen, in den Mulden versteckten sich

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die Bauern. Manchmal schaute noch ein Hut zwischen dem Alm-

rausch und den Latschen hervor, aber darauf achtete der Lind-

wurm nicht. Er kroch aus dem See und stürzte sich auf das Kalb.

Kaum hatte er es verschlungen, begann er sich vor Schmerzen zu

winden. Der ungelöschte Kalk vermischte sich mit dem Speichel

des Drachen und verätzte ihm den Rachen und fraß sich in seinen

Magen.

Vor Schmerz und Wut bäumte sich der Lindwurm auf, versuchte

das Kalb wieder hervorzuwürgen und schlug um sich. Die Wogen

des Sees türmten sich und krachten gegen das Ufer. Mit letzter

Kraft warf sich der Drache herum und durchbrach die Felswand,

die den See zurückhielt.

Das Wasser raste durch das Tal, entwurzelte Bäume und riss Häu-

ser mit sich. Berghänge wurden unterspült und große Felsbro-

cken wie Kieselsteine durch die Luft gewirbelt. Das Maltatal ging

in dieser Flut unter. Als sich die Wellen legten, war vom alten Ort

Malta nichts mehr zu sehen. Man konnte noch nicht einmal sagen,

wo einst die Kirche gestanden war.

Den Lindwurm hat man seit dieser Zeit nicht mehr gesehen. Aber

wer weiß, was sich oben im größten Stausee Österreichs unter der

Wasseroberfläche verbirgt?