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Käthe Recheis Wolfsaga 1

Käthe Recheis Wolfsaga - dtv · 2011. 1. 19. · Käthe Recheis Wolfsaga 1. Käthe Recheiswurde 1928 in Engelhartszell, Österreich, gebo-ren. Für ihr schriftstellerisches Werk,

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Käthe RecheisWolfsaga

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Käthe Recheis wurde 1928 in Engelhartszell, Österreich, gebo-ren. Für ihr schriftstellerisches Werk, das in viele Sprachenübersetzt wurde, erhielt sie zahlreiche in- und ausländischePreise. Ebenso standen ihre Bücher mehrfach in der Auswahl-liste zum Deutschen Jugendliteraturpreis. Weitere Titel von Käthe Recheis bei dtv junior: siehe Seite 508

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Käthe Recheis

Wolfsaga

Roman

Mit Illustrationenvon Karen Holländer

Deutscher Taschenbuch Verlag

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8. Auflage 20111997 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© 1995 KeRLE in der Herder Verlag GmbH, Freiburg im Breisgau

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagbild und Typografie: Karen Holländer

Gesetzt aus der Palatino 10/13.

Gesamtherstellung: Kösel, KrugzellPrinted in Germany · isbn 978-3-423-70469-4

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Inhalt

Im Tal der Flüsternden Winde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Waka, das Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20Die Kunde vom Rudel Zahllos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31Hota, der Alte vom Berg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Der Kampf mit dem Riesenwolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74Im verlassenen Tal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92Die Wölfin Tokala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97Die Botschaft des alten Bären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106Die neue Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119Mahanas Feindschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135Die Tollheit der Wölfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144Schiriki und Schogar Kan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153Das Pumajunge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165Die Nacht auf dem Berg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176Der Weg ins Ungewisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183Die Wölfin vom See . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205Glückliche Tage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215Die Jägerin mit den leisen Pfoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225Tokalas Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235Wieder auf der Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

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Der Hinterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257Im kalten Licht des Wintermondes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272Die Lawine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278Der Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284Das öde Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302Das Land des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311Die kleine Wölfin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318Im Lager der Hogalawölfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334Das Wunder der Hogala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343Die große Jagd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358Kip-Kip und die Wölfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367Die nackten Wölfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382Der Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399Nach Norden! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410Der stumme Frühling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426Die Schattenwölfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439Wieder vereint . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455Der Schwache und der Starke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464Eine Lawine aus Stein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481Der Traum von Wakas guter Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

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Ein hohes Gitter zwischen mir und den Wölfen, ein tieferGraben, den sie leicht überspringen könnten, wäre nicht der

Drahtzaun dahinter. Ein künstlicher Hügel. Ein paar Steinblöcke,Sträucher und Bäume, die jetzt, in der Mittagszeit, keinen Schattengeben. Zwei Wölfe, einander so ähnlich, dass ich sie nicht unterschei-den kann, laufen entlang des Grabens; sie kehren um, laufen zurück,kehren wieder um. Wie weit laufen Wölfe, wenn sie ihrer Beute fol-gen, fünfzig Kilometer oder mehr? Unter einem der Büsche liegt einschmächtiger Wolf, die Schnauze auf den Pfoten. Eine schlanke Wöl-fin sitzt daneben, ihr Fell ist silbergrau, im grellen Sonnenlicht fastweiß. Einer der Wölfe, braun wie eine Kastanie, trottet zu ihr. Zweijunge Wölfe, das haselnussfarbene Fell noch wollig wie bei Welpen,spielen miteinander, zausen einander am Pelz. Oben auf der Hügel-kuppe steht ein schwarzer Wolf, der größte aus der Schar. Er schautauf mich herab. Was bin ich für ihn – ich, der Mensch?

Ich sehe in die Augen der Wölfe, wenn ihr Blick mich streift, undich glaube Traurigkeit darin zu lesen. Was mögen sie empfinden, sie,die Gefangenen in ihrem winzigen Revier, das wir Freilandgehegenennen? Ergeben in ihr Geschick, das sie nicht ändern können, so

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scheinen sie mir. Aber das ist ein menschlicher Begriff. Um wirklichzu wissen, was in ihnen vorgeht, müsste ich ein Wolf sein wie sie.

Vor dem Gitterzaun stehend, den tiefen Graben zwischen mir undden Wölfen, wünsche ich mir, ich könnte einer von ihnen sein, könntedenken und fühlen wie sie – nur ein paar Herzschläge lang. Aber dasist ein vergeblicher Wunsch. Was mich von den Wölfen trennt, istnicht nur der Zaun, ist nicht nur der Graben.

Die silbergraue Wölfin und der braune Wolf berühren einandermit den Schnauzen. Eine zärtliche Geste, sage ich mit meinen Men-schenworten. Die zwei am Zaun trotten noch immer hin und her, hinund her. Oben auf dem Hügel hebt der schwarze Wolf den Kopf, alswollte er sein Lied anstimmen und das Rudel rufen – aber er bleibtstumm.

Der schmächtige Wolf unter dem Busch ist eingeschlafen. SeinSchwanz bewegt sich, die Ohren zucken. Läuft er im Traum durchhohes Gras, das seine Flanken berührt, läuft er im Schatten endloserWälder dahin?

Ich wünsche, ich könnte mein Menschsein vergessen und denTraum des Wolfes mit ihm träumen.

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Im Tal der Flüsternden Winde

Schiriki träumte. Im Traum lief er durch hohes Gras, das anseine Flanken schlug, duftend nach Blumen und Sonnen-

wärme. Die Wiese war erfüllt von friedlichen Lauten, vom Ra-scheln der Gräser, dem Sirren und Summen der Mücken undFliegen, Bienen und Hummeln, dem Huschen der kleinen undkleinsten Geschöpfe, Maus und Käfer und Grashüpfer. SeineNase nahm die vielfältigen Gerüche auf, die der leichte Windihm zutrug, den Geruch der Kräuter, den Duft der Blumen undall die Botschaften, die ihm sagten, an welchem der kleinen Ge-schöpfe er vorüberlief. Er träumte, die Wiese sei endlos, reichebis dorthin, wo Himmel und Erde einander begegneten undnoch darüber hinaus. Er lief und lief und da war kein Hindernis,

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das ihm den Weg versperrte, ihn einschloss von allen Seiten. DieWelt, durch die er lief, hatte keine Grenzen.

Als Schiriki erwachte, hob er, noch halb im Schlaf, den Kopf.Seine Ohren nahmen die friedlichen Laute auf, seine Nase dievielfältigen Gerüche. Die sonnenüberflutete Wiese war gespren-kelt von Blumen. Auf den Hügelhängen rings um das Tal, bis zuden runden Kuppen hinauf, wuchs dichter Wald, dunkles Na-delgrün und helles Laubgrün ineinander verwoben.

Nach Nordosten zu erhob sich die breite Flanke eines Ber-ges; der schneeumhüllte Gipfel ragte so hoch ins Himmels-blau, dass er die weißen Sommerwolken zu berühren schien.Ein Bach rann plätschernd und murmelnd durch die Tal-sohle. Am Talrand standen Espen im Gras. Ihre Blätter aufden dünnen Stielen hielten keinen Augenblick still, jederWindhauch wisperte und flüsterte im Laub. Das hatte demTal seinen Namen gegeben. Tal der Flüsternden Winde nann-ten es die Wölfe.

Eine Schar Vögel strich über Schiriki dahin, er schaute ihnennach, bis sie über den waldbedeckten Kuppen verschwundenwaren. Dort, hinter den Hügeln, war die Grenze des Jagdge-bietes, die man nicht überschreiten durfte, vor allem nicht,wenn man ein Jungwolf war und noch dazu das schwächsteund kleinste der Geschwister. Vögel aber durften fliegen,wohin sie wollten. Sehnsucht erfüllte Schiriki. Er wünschte wiein seinem Traum dahinzulaufen, über endlose Wiesen, überHügel und durch Täler, immer weiter und weiter. Irgendwo inunbekannter Ferne lag Nitakama, das Land des Sommers, vondem die Wandervögel erzählten, wo die Sonne auch im Winterwarm schien und wo es keinen Schnee, keine Kälte und keineeisigen Winde gab.

Ein raues Kreischen schreckte Schikiri auf. In einem derBäume saß Schak, der Häher, und äugte auf ihn hinunter.

»Träumst du schon wieder, Kleiner?«, schnarrte er.

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»Schak«, rief Schiriki, »du hast Flügel! Hast du dir niegewünscht fortzufliegen, weit fort?«

»Wozu? Bin ich ein Wandervogel? Immerzu fliegen, Tag umTag um Tag! Das ist nichts für unsereins. Und nur, damit duGeschichten erzählen kannst von einem Land, in dem es, wieich gehört habe, keine Zapfenbäume geben soll wie hier beiuns!«

»Aber möchtest du nicht wissen, Schak, was hinter denHügeln liegt?«

Der Häher begann kreischend auf seinem Ast hin und herzu hüpfen. »O du kleines Spitzohr!«, spottete er. »Zieh dochmit den Wandervögeln, dann weißt du es! Nur hast du keineFlügel und wirst, fürchte ich, vom Himmel fallen.«

Schak schwenkte den dunkelblauen Schopf, breitete die blauund weiß gestreiften Flügel aus, betrachtete sie wohlgefällig,flog auf und strich zum Wald hin, wo sein schäkerndes Geläch-ter in den Baumkronen verklang.

Schiriki setzte sich auf. Beim Espenwäldchen waren seineGeschwister aufgetaucht, Sternschwester und Imiak, der Bru-der, Jährlinge wie er selbst. Ihnen nach trotteten die Welpen,die in diesem Frühling geboren worden waren, Itsi und To.

Über dem Tal, hoch oben am Himmel, zog der größte allerGeflügelten, ein Adler, seine Kreise; von einer Luftströmunggetragen, schwebte er ruhig, ohne Schwingenschlag, dahin.Aber Itsi und To waren nicht in Gefahr, selbst ein Adler würdees sich zweimal überlegen, bevor er Welpen angriff, wennandere Wölfe in der Nähe waren. Schiriki verschwendete kei-nen Blick zum Himmel hinauf.

Imiak und Sternschwester stelzten durchs Gras, den Kopfvorgereckt, ganz gespannte Aufmerksamkeit. Dann sprangImiak auf allen vieren hoch; den Rücken gekrümmt, hing ereinen Augenblick lang in der Luft, landete mit gespreizten Vor-derbeinen, schnappte nach etwas, biss zu und schluckte. Im

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gleichen Augenblick sprang auch Sternschwester. Die Welpenmachten es eifrig nach, waren aber noch zu langsam, sie ver-fehlten die Beute und winselten enttäuscht. To setzte sich aufdie Hinterbeine, fuhr sich mit der Pfote über die Schnauze undwiefte, während Itsi es sofort von neuem versuchte. Diesmalwar sie erfolgreich und Sternschwester fiepte anerkennend.»Das hast du gut gemacht, Itsi.«

Imiak und Sternschwester lehrten die Welpen, wie manGraupelzchen jagt. Und das war nicht so einfach, wie es schei-nen mochte; bis Welpen lernten Mäuse zu erbeuten, musstensie es immer und immer wieder üben. Was einem Spiel glich,war ebenso lebensnotwendig wie die Jagd auf Hornträger.Auch wenn ein Graupelzchen nur ein winziger Happen war,stillten viele Graupelzchen doch den Hunger, wenn andereBeute ausblieb.

Wieder sprang Sternschwester, aber diesmal mit dem Kopfvoran in die Höhe. Sie sprang aus Freude an der Bewegungund weil der Tag so schön war und die Luft voller Sonnen-wärme. Mit wehendem Schwanz schwebte sie senkrecht überder Wiese, drehte sich in einer fließenden Bewegung um sichselbst und sank wieder ins Gras hinab. Ihr Pelz war so hell,dass er im Schein der Sonne weiß wirkte; in mondhellen Näch-ten schimmerte er gleich den Nachtlichtern am dunklen Him-mel. Schiriki hatte ihr daher, als sie noch Welpen gewesenwaren, den Namen Sternschwester gegeben.

Die Lust am Spiel packte auch die anderen. Schiriki standauf und trottete zu seinen Geschwistern. Imiak jagte Stern-schwester nach, die leichtfüßig dahinlief. Itsi und To fielenübereinander her und balgten sich, einer versuchte den ande-ren auf den Rücken zu werfen oder den Schwanz des Gegnerszu erhaschen. Als sie Schiriki erblickten, stürzten sie sich ver-eint auf ihn und verbissen sich zähnefletschend in seinen Pelz.Bevor er sie abschütteln konnte, kam vom jenseitigen Hügel-

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hang her ein tiefes, kehliges Knurren, dem ein lautes Kläffenfolgte, das in ein freudiges Heulen überging.

Jungwölfe und Welpen erstarrten, spitzten die Ohren undrannten dann über das Tal auf den Hang zu. Schak, der Häher,gesellte sich kreischend zu ihnen. Auch er hatte die Botschaftvernommen, dass die Jagd erfolgreich gewesen war.

Hohes Gras streifte die Flanken der Wölfe, Samenrispenund Blütenköpfe schwankten. Schiriki und seine Geschwisterrasten mit weiten Sprüngen dahin, voll Vorfreude auf dieMahlzeit. Sie erreichten den Talrand, tauchten in den Wald ein,sprangen über gestürzte, halb vermoderte Baumstämme undglitten durchs dichte Unterholz ebenso mühelos wie durchsGras. Die Welpen folgten, so schnell sie es mit ihren kurzenBeinen vermochten. Schak flog über den Baumkronen underreichte als Erster den Platz, wo die Wölfe ihre Beute geschla-gen hatten, einen schon altersschwachen Hirschbock.

Palo Kan und Ahkuna, der Leitwolf und die Leitwölfin, undWuk und Wok, die Rangnächsten, hatten schon zu fressenangefangen. Als Mahana, die junge Wölfin, sich zwischen diebeiden Leitwölfe drängen wollte, zog Ahkuna die Lefzen hoch,bleckte die Zähne und knurrte. Mahana sprang behändezurück, drehte und wendete herausfordernd ihren geschmeidi-gen Körper um die Aufmerksamkeit des Leitwolfes zu erregen.Palo Kan beachtete sie nicht.

Schak flog aus den Wipfeln herab und schnappte sich einenBissen. Ahkuna begrüßte ihn mit einem leichten Schwanz-wedeln. Der Häher pikste sie ins Ohr, hüpfte auf die Geweih-stange und schäkerte. Das Rudel ließ sich nicht stören; dieWölfe duldeten den mutwilligen Vogel in ihrer Schar, er hei-terte sie mit seinen Späßen auf und vertrieb ihnen die Zeit.

Als Schiriki und seine Geschwister ankamen, krochen Itsiund To auf dem Bauch zu Ahkuna, stießen bettelnd mit denNasen an ihre Schnauze und an die Kinnbacken und verkün-

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deten winselnd, dass sie klein, schwach und hungrig waren.Ahkuna ließ das Stück Fleisch fallen, das sie im Maul hatte,leckte den Welpen das Fell und schubste sie dann zärtlich zurSeite.

Jetzt endlich durfte Mahana ungestört fressen. Auch Schi-riki, Imiak und Sternschwester begannen ihre Mahlzeit, zuerstbescheiden, wie es sich gehörte, ohne den älteren Wölfen diebesten Bissen streitig zu machen. Das reichliche Nahrungsan-gebot und der verlockende Geruch des frischen Blutes ließ dieRangordnung aber schnell vergessen. Fröhlich und ausgelassentrugen die Wölfe Scheingefechte aus. Sie fuhren aufeinanderlos, knurrend, grollend, die Zähne gefletscht, jeder gegenjeden, als wäre ein tödlicher Kampf ums Futter ausgebrochen.To purzelte auf Wuk und Wok herum, Itsi kläffte den Leitwolfan und zwickte ihn respektlos in den Pelz. Schak flattertezeternd über den Wölfen und munterte sie auf, einander totzu-beißen.

Als alle satt waren, kehrten die Wölfe in gemächlichem Trabzu ihrem Lager am Waldrand zurück. Schak war fortgeflogenund trieb sich mit einer Schar anderer Häher im Wald umher,wo sie schäkernd durch die Baumwipfel strichen, einem Eich-hörnchen, das unachtsam war, einen Föhrenzapfen abjagtenund das zornige Keckern mit kreischendem Gelächter beant-worteten. Beim verlassenen Hirschkadaver hatten sich Rabeneingefunden; ihr Krächzen lockte einen streunenden Fuchs an.Auch ein Wiesel huschte herbei und holte sich seinen Teil vonden Resten der Wolfsmahlzeit.

Dichtes Buschwerk umschloss an drei Seiten den Lagerplatzder Wölfe, zur Wiese hin war er offen und gewährte einenfreien Ausblick über das Tal. Weiter drinnen im Wald lag, hin-ter Farnen verborgen, der Eingang zur Höhle, in der Ahkunajeden Frühling ihre Welpen aufzog. Jetzt waren Itsi und Toschon groß genug und brauchten den Schutz der Höhle nicht

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mehr. Der Bach plätscherte den Hang herab und sammelte seinWasser in einem Tümpel, bevor er durch den ebenen Wiesen-grund floß.

Die Wölfe hatten sich unter den tief herabhängenden Ästender Nadelbäume ausgestreckt, schliefen oder dösten. Palo Kanund Ahkuna lagen auf einem Erdbuckel vor dem Lager undschienen fest zu schlafen; jeder ungewohnte Laut, und wäre erauch noch so leise gewesen, hätte sie aber sofort aufgeschreckt.

Der Tag neigte sich dem Ende zu, die Sonne verschwandhinter den Hügeln, das Licht verdämmerte langsam, fastunmerklich. Am immer dunkler werdenden Himmel flimmer-ten die ersten Sterne. Itsi und To wurden munter, waren soforthellwach und fanden, dass es Zeit für ein Spiel sei. Sie wähltensich Wok als Opfer aus, zausten ihm zuerst einmal gründlichdas Fell und versuchten dann seinen buschigen Schwanz aus-zureißen. Wuk kam seinem Gefährten zu Hilfe und rollte sichauf den Rücken, eine Aufforderung, der die Welpen nicht wie-derstehen konnten. Sie ließen von Woks Schwanz ab, klettertenauf Wuk herum und kniffen ihn einmal da und einmal dort inden Pelz. Ein Pfotenhieb hätte ihm genügt um sie fortzuschleu-dern, aber Wuk ließ alles geduldig über sich ergehen.

Die drei Jungwölfe schauten den spielenden Welpen zu.Mahana war auf die Wiese hinausgeschlendert, reckte undstreckte sich im Sternenlicht und versuchte Imiaks Blicke aufsich zu ziehen. Mahana war die Einzige, die nicht in dasRudel hineingeboren worden war. Im vergangenen Winterwar sie ins Tal gekommen, demütig und unterwürfig, undhatte sich ins Rudel eingebettelt. In der ersten Zeit hätte nie-mand anhänglicher und hilfsbereiter sein können als sie; alleDemut war aber vergessen, sobald sie ihren Platz im Rudelgesichert wusste.

Itsi und To hatten sich müde gespielt und rollten sich zwi-schen Wuk und Wok ein. Den Wölfen fielen die Augen zu.

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Über dem Tal spannte sich der hohe Nachthimmel, schwarzwie Rabengefieder; die Kleinen Nachtlichter, die Sterne, strahl-ten und funkelten, unzählig und dicht gestreut. Die Stille warerfüllt von heimlichen Geräuschen. Blätter wisperten, kleinePelzwesen huschten und raschelten im Gras. Vierbeinige Jägerschlichen auf weichen Pfoten dahin. Über das Tal und die Wäl-der klangen die Rufe der geflügelten Nachtjäger, die gleichSchatten durch die Dunkelheit schwebten. All diese vertrautenLaute störten die Wölfe nicht im Schlaf. Meist streiften auch sieum diese Zeit durch ihr Jagdgebiet, nur hatten sie diesmal dieBeute schon am Tag geschlagen.

Plötzlich begannen die Ohren der Wölfe zu zucken. Derleichte Wind von Norden her trug ihnen Schwingungen derLuft zu, die sie aus dem Schlaf schreckten. Palo Kan undAhkuna erhoben sich, Wuk und Wok sprangen auf, die Jung-wölfe folgten ihrem Beispiel. Mit hochgereckten Köpfen, dieOhren aufgestellt, standen die Wölfe lauschend da. Von fern-her, von jenseits der Hügel, wo das Nachbarrudel lebte, TaschKans und Ayanas Schar, kam ein angsterfülltes Heulen, leise,aber deutlich wahrnehmbar. Ein Heulen, das zitternd verhallteum gleich danach wieder anzuschwellen. Den Wölfen sträubtesich der Pelz, jeder Nerv in ihren Körpern vibrierte.

»Was ist das?«, stieß Imiak hervor.Die Welpen winselten.Von schluchzenden Tönen durchsetzt, wie das Jammern des

Windes, der sich an Felsklippen bricht, endeten die klagendenLaute in einem verzweifelten Schrei: Gefahr! Gefahr! Fürchtetfür euer Leben!

Palo Kan und Ahkuna nahmen den Schrei auf, aus ihrenKehlen brach das gleiche klagende Geheul. Die anderen fielenein, zuerst Wuk und Wok, dann die Jungwölfe und Mahana,auch Itsi und To. Obwohl die Welpen nicht begriffen, was ihreBeschützer in Angst versetzte, heulten sie mit ihren dünnen

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Stimmen mit. Die Schnauzen zum nachtschwarzen Himmelerhoben, gaben die Wölfe den Warnruf weiter.

Als sie aussetzten, erhielten sie Antwort vom Süden her, ausdem Jagdgebiet des nächsten Rudels. Das Heulen im Nordenwar verstummt.

Die Wölfe vom Tal der Flüsternden Winde starrten einanderan. Was bedeutete die Botschaft? Welches Unheil war überTasch Kans Rudel hereingebrochen? Ein Unheil, das nicht nurihn und seine Schar betraf, sondern jedes Rudel? Nur dann,wenn Gefahr für alle drohte, wurde dieser Ruf angestimmt,damit ein Rudel ihn dem anderen weitergab und alle gewarntwaren.

Schiriki hockte zusammengekrümmt unter einem derBüsche. Das angsterfüllte Heulen hatte eine Erinnerung in ihmgeweckt. Er wusste auf einmal, warum es ihn im Traum soglücklich gemacht hatte über die grenzenlose Wiese zu laufen.Denn vor diesem Traum hatte er einen anderen geträumt – denAngsttraum vom Netz, wie das einer Spinne, aber hart undunzerreißbar, das ihn einschloss von allen Seiten, das er nichtüberspringen konnte und aus dem es kein Entrinnen gab.

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Waka, das Gesetz

Nachdem auch das südliche Nachbarrudel verstummtwar und die letzten Rufe über den Hügeln verklangen,

war es den Wölfen, als seien sie von einer atemlosen Stilleumgeben, als habe sich jedes Geschöpf, ob Vierbein oder Geflü-gelter, in seinem Erdloch oder in seinem Schlupfwinkel verkro-chen. Die Blätter hingen reglos an den Zweigen, kein Wind-hauch bewegte sie mehr.

»Wuk und Wok«, befahl Palo Kan, »geht nach Norden undfragt Tasch Kan und Ayana, vor welcher Gefahr sie uns war-nen.«

Wuk und Wok brachen wortlos auf und trabten, Schulter anSchulter, in das schweigende Dunkel des Waldes hinein. Was

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