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Kundera, MilanEine BegegnungEssays

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… Begegnung meiner Reflexionen mit meinen Erinne-rungen; meiner alten (existentiellen und ästhetischen) The-men mit meinen alten Lieben (Rabelais, Janácek, Fellini,Malaparte …) …

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Inhalt

IDie brutale Geste des Malers:

Über Francis Bacon11

IIRomane, existentielle Sonden

Die komische Abwesenheit des Komischen(Dostojewskij: Der Idiot) 29

Der Tod und das Tralala (Louis-Ferdinand Céline:Von einem Schloss zum andern) 32

Die Liebe in der sich beschleunigenden Geschichte(Philip Roth: Professor der Begierde) 35

Das Geheimnis der Lebensalter(Gudbergur Bergsson: Der Schwan) 38

Die Idylle, eine Tochter des Grauens(Marek Bienczyk: Tworki) 42

Der Zusammenbruch der Erinnerungen(Juan Goytisolo: Der blinde Reiter) 45

Der Roman und die Fortpflanzung(Gabriel García Márquez: Hundert JahreEinsamkeit) 48

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IIIDie schwarzen Listen oder Divertimento zu Ehren

von Anatole France51

IVDer Traum vom Gesamterbe

Dialog über Rabelais und die Misomusischen 77Der Traum vom Gesamterbe bei Beethoven 83Der Erzroman, offener Brief zum Geburtstag

von Carlos Fuentes 86Die Ablehnung des Erbes insgesamt oder

Iannis Xenakis (1980 veröffentlichter Textmit zwei Interludien von 2008) 89

VSchön wie eine

mehrfache Begegnung97

VIAnderswo

Das befreiende Exil, wie Vera Linhartováes sieht 121

Die unberührbare Einsamkeit eines Fremden(Oscar Milosz) 124

Feindschaft und Freundschaft 128

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Rabelais und den Surrealisten treu,die in den Träumen schürften 134

Über die beiden großen Frühlinge und überdie Skvoreckys 136

Von dort unten wirst du Rosenduft riechen(Zum letzten Mal bei Ernest Breleur) 142

VIIMeine erste Liebe

Der große Wettlauf eines Einbeinigen 147Die nostalgischste aller Opern 154

VIIIDas Vergessen von Schönberg

Für mich gibt es nichts zu feiern(Ein 1995 in der Frankfurter Rundschaumit Texten anderer Autoren veröffentlichterAufsatz zum 100. Geburtstag des Kinos) 167

Was wird von dir bleiben, Bertolt? 170Das Vergessen von Schönberg 173

IX»Die Haut«: Ein Erzroman

177

Nachwort205

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I

Die brutale Geste des Malers:Über Francis Bacon

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Michel Archimbaud, der einen Band mit Porträts undSelbstporträts von Francis Bacon plant, schlägt mir einesTages vor, einen Essay über diese Bilder zu schreiben. Erversichert mir, dies sei der Wunsch des Malers persönlichgewesen. Er erinnert mich an meinen kleinen Text in derRevue L’Arc, den Bacon für einen der wenigen hielt, in de-nen er sich wiedererkannte. Ich leugne nicht meine Bewegt-heit bei dieser Botschaft, die mich nach Jahren von einemKünstler erreicht, dem ich nie begegnet bin und den ich sosehr bewundert habe.

Diesen Text in L’Arc über das Porträt-Triptychon vonHenrietta Moraes (der später ein Kapitel meines Buchs vomLachen und Vergessen angeregt hat) habe ich in der aller-ersten Zeit meiner Emigration, um 1977, geschrieben, nochverfolgt von Erinnerungen an das Land, das ich gerade ver-lassen hatte und das mir als eine Welt der Verhöre und derÜberwachung im Gedächtnis geblieben war. Heute kannich meine neue Reflexion über Bacons Kunst wieder nurmit demselben alten Text beginnen:

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»Es war im Jahr 1972. Ich traf mich mit einem Mädchen amStadtrand von Prag in einer Wohnung, die uns jemand zurVerfügung gestellt hatte. Zwei Tage zuvor war sie vierund-zwanzig Stunden lang von der Polizei über mich verhörtworden. Jetzt wollte sie mich heimlich treffen (sie befürch-tete, ständig beschattet zu werden), um mir zu sagen, wel-che Fragen man ihr gestellt und was sie geantwortet hatte.Bei einem möglichen Verhör mussten meine Antworten mitihren übereinstimmen.

Es war ein blutjunges Mädchen, das die Welt noch kaumkannte. Das Verhör hatte sie aufgewühlt, und seit drei Ta-gen drehte die Angst ihr unentwegt den Magen um. Sie warganz blass und verließ während unseres Gesprächs andau-ernd das Zimmer, um auf die Toilette zu gehen, so dass unserganzes Treffen vom Rauschen des sich füllenden Wasserkas-tens begleitet wurde.

Ich kannte sie seit langem. Sie war intelligent, geistreich,sie wusste ihre Gefühle perfekt zu beherrschen und war im-mer so tadellos angezogen, dass ihr Kleid genauso wenig wieihr Verhalten die allerkleinste Blöße zu erkennen gab. Undnun auf einmal hatte die Angst sie wie ein großes Messer ge-öffnet. Sie stand vor mir, klaffend wie der zweigeteilteRumpf einer Färse an einem Fleischerhaken.

Das Rauschen der Wasserspülung hörte praktisch nichtauf und ich hatte plötzlich Lust, sie zu vergewaltigen. Ichweiß, was ich sage: sie zu vergewaltigen, nicht, Liebe mitihr zu machen. Ich war nicht auf ihre Zärtlichkeit aus. Ich

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wollte brutal die Hand auf ihr Gesicht legen und sie eineneinzigen Moment lang ganz nehmen, mit all ihren so uner-träglich erregenden Widersprüchen: mit ihrem tadellosenKleid wie mit ihren revoltierenden Gedärmen, mit ihrerVernunft wie mit ihrer Angst, mit ihrem Stolz wie mit ihremUnglück. Ich hatte das Gefühl, dass in all diesen Widersprü-chen ihre Essenz verborgen war: dieser Schatz, dieser Gold-klumpen, dieser im tiefsten Innern versteckte Diamant. Ichwollte sie eine einzige Sekunde lang besitzen, gleicherma-ßen mit ihrer Scheiße wie mit ihrer unaussprechlichen Seele.

Aber ich sah diese Augen, die mich angstvoll ansahen(verängstigte Augen in einem vernünftigen Gesicht), und jeverängstigter diese Augen waren, desto absurder, dümmer,skandalöser, unbegreiflicher und unmöglicher wurde meinBegehren.

Fehl am Platz und nicht zu rechfertigen, war dieses Be-gehren deshalb doch nicht weniger real. Ich könnte es nichtleugnen – und wenn ich Francis Bacons Porträt-Triptychenansehe, ist es so, als erinnerte ich mich daran. Der Blick desMalers legt sich wie eine brutale Hand auf das Gesicht undversucht, sich dessen Essenz zu bemächtigen, dieses im tiefs-ten Innern versteckten Diamanten. Wir sind zwar nicht si-cher, ob das tiefste Innere wirklich etwas verborgen hält –aber wie dem auch sei, in jedem von uns ist diese brutaleGeste, diese Bewegung der Hand, die das Gesicht des ande-ren in der Hoffnung zerdrückt, darin und dahinter etwasVerstecktes zu finden.«

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Die besten Kommentare zu Bacons Werk hat Bacon selbstin zwei Gesprächen abgegeben: in dem mit Sylvester imJahr 1976 und mit Archimbaud im Jahr 1992. In beiden Fäl-len spricht er voller Bewunderung von Picasso, insbeson-dere von dessen Periode zwischen 1926 und 1932, der ein-zigen, der er sich wirklich nahe fühlt. Darin sieht er einenBereich eröffnet, der »noch nicht erkundet wurde: eine or-ganische Form, die sich auf das Menschenbild bezieht, aberseine komplette Verzerrung ist«. (Hervorhebung von mir.)

Abgesehen von dieser kurzen Periode, die Bacon er-wähnt, könnte man sagen, dass überall sonst bei Picassoeine leichte Geste des Malers Motive des menschlichenKörpers in eine zweidimensionale und nicht unbedingtähnliche Form verwandelt. Die spielerische Euphorie Pi-cassos wird bei Bacon abgelöst durch Erstaunen (wennnicht Entsetzen) angesichts dessen, was wir sind, was wirstofflich, physisch sind. Von diesem Entsetzen bewegt, legtsich die Hand des Malers (um die Worte meines alten Texteswiederaufzunehmen) mit einer »brutalen Geste« auf einenKörper, auf ein Gesicht, »in der Hoffnung, darin und da-hinter etwas Verstecktes zu finden«.

Aber was versteckt sich darin? Sein »Ich«? Selbstver-ständlich wollen alle Porträts, die je gemalt wurden, das»Ich« des Modells enthüllen. Doch Bacon lebt in der Zeit,in der sich das »Ich« allmählich überall entzieht. Tatsäch-lich lehrt uns unsere banalste Erfahrung (vor allem, wennsich das hinter uns liegende Leben zu sehr verlängert), dass

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die Gesichter beklagenswert gleich sind (wobei die unsin-nige demographische Lawine dieses Gefühl noch ver-stärkt), dass man sie verwechseln kann, dass sie sich durchirgendeine kaum fassbare Winzigkeit unterscheiden, die in-nerhalb der Proportionen mathematisch oft nur wenigeMillimeter Unterschied ausmacht. Hinzu kommt unserehistorische Erfahrung, die uns klargemacht hat, dass sichdie Menschen in ihrem Handeln gegenseitig imitieren, dassihre Verhaltensweisen statistisch berechenbar, ihre Mei-nungen manipulierbar sind und der Mensch daher wenigerein Individuum (ein Subjekt) ist als das Element einerMasse.

In dieser Zeit der Zweifel nun legt sich die vergewalti-gende Hand des Malers mit einer »brutalen Geste« auf dasGesicht seiner Modelle, um irgendwo im tiefsten Innern ihrvergrabenes »Ich« zu finden. Bei dieser baconschen Sucheverlieren die einer »vollständigen Verzerrung« unterzoge-nen Formen nie ihren Charakter lebendiger Organismen,erinnern an ihre körperliche Existenz, an ihr Fleisch undbewahren immer ihre Dreidimensionalität. Und außerdemähneln sie ihrem Modell! Doch wie kann das Porträt seinemModell ähneln, dessen bewusste Verzerrung es ist? Aber dieFotos der Porträtierten beweisen es: sie ähneln ihnen; sehenSie sich die Triptychen an – drei nebeneinandergestellteVariationen des Porträts ein und derselben Person; dieseVariationen unterscheiden sich voneinander und haben zu-gleich etwas gemeinsam: »jenen Schatz, jenen Goldklum-pen, jenen versteckten Diamanten«, das »Ich« eines Ge-sichts.

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Ich könnte es anders sagen: Bacons Porträts loten die Gren-zen des »Ich« aus. Bis zu welchem Grad von Verzerrungbleibt ein Individuum noch es selbst? Bis zu welchem Gradvon Verzerrung bleibt ein geliebter Mensch noch ein ge-liebter Mensch? Wie lange bleibt ein liebes Gesicht, das sichin eine Krankheit, in Wahnsinn, in Hass, in den Tod ent-fernt, noch erkennbar? Wo ist die Grenze, hinter der ein»Ich« aufhört, »Ich« zu sein?

5

In meiner imaginären Galerie der modernen Kunst bildetenBacon und Beckett seit langem ein Paar. Dann lese ich dasGespräch mit Archimbaud: »Ich habe mich immer überdiesen Vergleich zwischen Beckett und mir gewundert«,sagt Bacon. Dann, an anderer Stelle: »… ich habe immer ge-funden, dass Shakespeare viel besser, richtiger und stärkerausgedrückt hat, was Beckett und Joyce sagen wollten …«Und weiter: »Ich frage mich, ob Becketts Ideen über seineKunst nicht am Ende sein Schaffen abgetötet haben. Es gibtbei ihm etwas gleichzeitig zu Systematisches und zu Intel-ligentes, vielleicht ist es das, was mich immer gestört hat.«Und schließlich: »In der Malerei belässt man immer zuvielGewohntes, man eliminiert nie genug, aber bei Becketthabe ich oft den Eindruck, dass vor lauter Eliminierennichts mehr übriggeblieben ist und dass dieses Nichts letz-ten Endes hohl klang …«

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Wenn ein Künstler über einen anderen spricht, spricht er(indirekt, auf Umwegen) immer über sich selbst, und ebendas macht sein Urteil so interessant. Wenn Bacon über Be-ckett spricht, was sagt er uns dann über sich selbst?

Dass er nicht eingeordnet werden will. Dass er sein Werkvor Klischees schützen will.

Außerdem: dass er sich den Dogmatikern des Modernis-mus widersetzt, die eine Schranke zwischen der Traditionund der modernen Kunst errichtet haben, so als stellte dieseinnerhalb der Kunstgeschichte eine isolierte Periode darmit ihren eigenen unvergleichbaren Werten, ihren ganz au-tonomen Kriterien. Bacon aber beruft sich auf die gesamteKunstgeschichte; das 20. Jahrhundert enthebt uns nicht un-serer Schulden gegenüber Shakespeare.

Und genauso versagt er es sich, seine Ideen zur Kunstallzu systematisch zu äußern, weil er befürchtet, seineKunst könnte in eine Art vereinfachte Botschaft umge-formt werden. Er weiß, dass die Gefahr umso größer ist, alsdie Kunst unserer Jahrhunderthälfte von einer lärmenden,opaken theoretischen Logorrhöe verrußt wird, die einWerk daran hindert, in direkten, nicht durch Medien ver-mittelten, nicht vor-interpretierten Kontakt mit dem Be-trachter (Leser, Hörer) zu treten.

Also verwischt Bacon, wo er nur kann, die Spuren,um die Exegeten abzuschütteln, die den Sinn seines Werkesauf einen klischeehaften Pessimismus reduzieren wollen: ersträubt sich dagegen, in Bezug auf sein Werk das Wort»Grauen« zu gebrauchen; er unterstreicht die Rolle, die derZufall in seiner Malerei spielt (ein beim Arbeiten eingetre-

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tener Zufall, ein unversehens gesetzter Farbfleck, der aufeinmal sogar das Thema des Bildes verändern kann); er be-steht auf dem Wort »Spiel«, während alle den Ernst seinerGemälde rühmen. Man möchte von seiner Verzweiflungsprechen? Gut, aber, stellt er sogleich klar, in seinem Fallhandelt es sich um eine »fröhliche Verzweiflung«.

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In seiner Reflexion über Beckett sagt Bacon: »In der Male-rei belässt man immer zuviel Gewohntes, man eliminiertnie genug« … Zuviel Gewohntes, das heißt: alles, was keineEntdeckung des Malers ist, was nicht sein ureigener Bei-trag, seine Originalität ist; alles, was Erbe, Routine, Füll-werk, aus technischer Notwendigkeit Ausgearbeitetes ist.Es ist das, was zum Beispiel in der Form der Sonate (sogarbei den Größten, bei Mozart, bei Beethoven) alle (oft sehrkonventionellen) Übergänge von einem Thema zum ande-ren sind. Fast alle großen modernen Künstler haben dieAbsicht, diese »Füllsel« wegzulassen, alles wegzulassen,was vom Gewohnten herkommt, alles, was sie hindert, sichunmittelbar und ausschließlich mit dem Wesentlichen aus-einanderzusetzen; das Wesentliche: was der Künstler selbstund er allein sagen kann.

So auch Bacon: sein Bildgrund ist ganz einfach, mono-chrom; aber: die Körper im Vordergrund sind in ihren Far-ben und Formen umso reicher und dichter. Eben dieser(shakespearesche) Reichtum liegt ihm am Herzen. Denn

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ohne diesen Reichtum (der im Kontrast zu dem monochro-men Bildgrund steht) wäre die Schönheit asketisch, gleich-sam auf Diät gesetzt, geschmälert, und es geht für Baconimmer und vor allem um die Schönheit, um die Explosionder Schönheit, denn auch wenn es heute abgedroschen, alt-modisch erscheint, so ist es dieses Wort, das ihn mit Shake-speare verbindet.

Und deshalb reizt ihn das Wort »Grauen«, das seinerMalerei hartnäckig zugeschrieben wird. Tolstoi sagte überLeonid Andrejew und seine schwarzen Novellen: »Er willmich erschrecken, aber ich habe keine Angst.« Es gibt heutezu viele Bilder, die uns erschrecken wollen und uns lang-weilen. Der Schrecken ist keine ästhetische Empfindung,und das Grauen, das wir in Tolstois Romanen finden, istnie da, um uns zu erschrecken. Der herzzerreißendenSzene, wenn der lebensgefährlich verwundete Andrej Bol-konski ohne Betäubung operiert wird, fehlt es nicht anSchönheit, wie es keiner Szene von Shakespeare, keinemGemälde von Bacon je an Schönheit fehlt.

Fleischerläden sind grauenhaft, aber wenn Bacon davonspricht, vergisst er nicht anzumerken, dass »es für einenMaler die große Schönheit der Farbe des Fleisches gibt«.

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Weshalb nur hat Bacon für mich, trotz all seiner Vorbehalte,weiterhin etwas mit Beckett zu tun?

Beide befinden sich etwa an der gleichen Stelle der Ge-

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schichte ihrer jeweiligen Kunst. Nämlich in der allerletztenPeriode der dramatischen Kunst, in der allerletzten Periodeder Geschichte der Malerei. Bacon ist ja einer der letztenMaler, dessen Sprache noch Öl und Pinsel ist. Und Beckettschreibt noch Theaterstücke, deren Grundlage der Text desAutors ist. Nach ihm existiert das Theater zwar noch, viel-leicht entwickelt es sich sogar noch, aber es sind nicht mehrdie Texte von Dramatikern, die diese Entwicklung inspirie-ren, innovativ beleben, sichern.

In der Geschichte der modernen Kunst sind es nicht Ba-con und Beckett, die den Weg öffnen; sie schließen ihn. AufArchimbauds Frage, welche zeitgenössischen Maler wichtigfür ihn seien, antwortet Bacon: »Nach Picasso weiß ich nichtso recht. Zur Zeit läuft eine Pop-Art-Ausstellung in derRoyal Academy […], wenn man all diese Bilder versammeltsieht, sieht man nichts. Ich finde, da ist nichts drin, das istleer, völlig leer.« Und Warhol? »… für mich ist er nicht wich-tig.« Und die abstrakte Kunst? O nein, die mag er nicht.

»Nach Picasso weiß ich nicht so recht.« Er redet wie eineWaise. Und er ist es. Er ist es sogar ganz konkret in seinemLeben: jene, die den Weg öffneten, waren umgeben vonKollegen, Kommentatoren, Bewunderern, Sympathisan-ten, Weggefährten, von einer ganzen Bande. Er ist allein.Wie Beckett. Im Gespräch mit Sylvester sagte Bacon: »Ichglaube, es wäre aufregender, einer von mehreren gemein-sam arbeitenden Künstlern zu sein. […] Ich glaube, es wärewahnsinnig angenehm, jemanden zu haben, mit dem mansprechen kann. Heute gibt es absolut niemanden, mit demman sprechen könnte.«