Kurdische Giftgasopfer Aus Dem Irak in Temporären

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  • 8/14/2019 Kurdische Giftgasopfer Aus Dem Irak in Temporren

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    Kurdische Giftgasopfer

    aus dem Irak

    in temporren Aufnahmelagernder Trkei 1988

    Lager

    Sst bei Yksekova

    Augenzeugen

    Bericht

    13. September 1988

    von

    Ferdinand Hennerbichler

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    Kurdische Giftgasopfer aus dem Irak

    in Aufnahmelagern der Trkei 1988

    Augenzeugen-Bericht

    Flchtlingslager Sst bei Yksekova

    13. September 1988

    von Ferdinand Hennerbichler

    Die Trkei hat im September 1988 Zehntausende Kurden, dieaus dem Nord-Irak vor Giftgasangriffen der irakischen Armee ge-flchtet waren, vorbergehend in Lagern von Ost-Anatolien auf-genommen. Die meisten dieser irakischen Kurden waren Giftgas-opfer leichterer Grade, die sich noch in die Trkei retten konnten.Die Trkei anerkannte diese kurdischen Flchtlinge aber nicht als

    Giftgasopfer, weil sie sich nicht dafr zustndig sah, wie sie er-klrte, der Vlkergemeinschaft Beweise zu liefern, dass der Irakseine eigene kurdische Bevlkerung vergast habe. Offizielle Be-grndung: Trkische rzte knnten in Flchtlingslagern keine ira-kischen Giftgasopfer finden, nachweisen und daher auch nichtbehandeln. Daraufhin bekamen kurdische Giftgasopfer aus demIrak von trkischen Behrden weder Medikamente noch entspre-chende medizinische Behandlung gegen Gasvergiftungen. In derFolge musstenTausende kurdische Giftgasopfer auch auf derFlucht in der Trkei unmenschlich leiden und auch qualvoll ster-ben. Vor allem Schwache wie Kinder und alte Menschen.

    SST BEI YKSEKOVA

    Temporres Aufnahmelager kurdischer Flchtlinge aus dem Irakin Sst bei Yksekova in Sdost-Anatolien. Nachmittag. DieSonne wirft lange Schatten. Die Farben des ganzen Elends imCamp werden satter. Auch die Spuren, die der Gastod an jenen,die ihn bisher berlebt haben, hinterlassen hat. Farben zumFrchten. Aggressive Farben: giftiges Gelb, stechendes Rot.Farben des Todes: dreckiges Erdbraun, abgestorbenes Schwarz.Dazwischen bunte, lebensfrohe Farben kurdischer Trachten. So,als htten sie sich in einen Friedhof verirrt. Massen. Trauben von

    Menschen beieinander. Ein riesiges Gewirr. Stimmen. DumpfeTne. Fragende Augen. Dazwischen immer wieder Schreie,schmerzverzerrte Schreie: hhh. hhhhhhhhhhhh.cccccccccccchh. aaahhhhhhhh....

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    KURDISCHE GIFTGASOPFER IRAK 1988 - AUGENZEUGENBERICHT

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    BABY IN ROT

    Ein Kurde um die dreiig, Gummilatschen, braune Tracht, wei-blau-gestreiftes Hemd, Vollbart, gtige Augen, Kaffieh am Kopf, -hlt mir ein Baby hin. Es schreit markerschtternd bereits stun-denlang. Schreit und schreit und hrt nicht auf. Ibrahim, meinbersetzer, sagt, seit er dieses Kleine kenne, wrde es nurschreien, nichts als schreien, kaum essen, sich gegen den dro-henden Tod aufbumen, und das gehe schon Tage so. Das Babybrlle oft nur noch vor unertrglichen Schmerzen.

    Eine Frau kommt mit einem blauen Tuch, trnkt es mit Wasserund legt es dem Kleinen auf den Kopf. Das Tuch hilft nicht viel.Das Baby schreit lauthals weiter um sein Leben. Der Kurdeschaukelt es im Arm hin und her, versucht es zu beruhigen, ver-geblich.

    Der kleine Schmerzbinkel vor mir krmmt und windet sich. Ermisst vielleicht einen halben Meter, hat eine winzige braun-grneKurdentracht an, ein lila Hemdchen, strohblonde Haare und einTrnenmeer von Augen, aus denen er sich stndig die Schmer-

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    zen wegreiben will. Das Kleine bringt die Augen kaum auf. SeinGesicht ist kugelrund, feuerrot, geschwollen, fast aufgedunsen.Die Haut schuppt ab. Helle Flecken drngen nach. Pigmente zie-hen sich von gelb ber braun bis rot. Das Kinn ist voller Runzeln,die wie kleine Narben aussehen. Die Nase ist geschwollen, rinnt

    pausenlos, ist verstopft und chronisch entzndet. Das Baby be-kommt kaum Luft, hat den Mund dauernd offen, brllt, schnapptnach Atem, rchelt entsetzlich, wirft seinen Brustkorb, windet sichzur Seite, bumt sich auf, ohne je die Augen aufzumachen, klam-mert sich fest, lsst sich wieder erschpft zurcksacken, wischtsich blonde, in Schwei gebadete Haarstrhne aus der Stirn,schreit und schreit. Seine Hnde sind krebsrot wie das Gesicht,geschwollen und klitschnass von Trnen. Eine Windel, die sonstdem Kleinen auf das Gesicht gelegt wird, damit es manchmal dieWelt um sich nicht mitbekommt und gelegentlich in Schlaf verfllt,hat es abgestreift. Die Windel hngt wie eine Binde um den Halsdes Kleinen. Manchmal juckt die Haut. Dann kratzt sich das Baby

    halb wund.

    Der Kurde umklammert geduldig die linke Hand seinesElendsbndels und beginnt dessen Schicksal zu erzhlen...

    KURDE: Dieses Baby ist eines der jngsten Giftgasopfer der ira-kischen Armee. Am 26. August 1988 hat es das Kleine erwischt.An diesem Tag kamen Flugzeuge. 18 Flugzeuge. Das war so zwi-schen neun und zehn Uhr nachts. Da haben sie mit Chemiebom-ben angegriffen. Zehn Chemiebomben haben sie auf unser Dorfabgeworfen. Zehn. Wir sind in Panik davongelaufen. Mussten

    alles zurcklassen. Nur ein paar kleine Kinder wie das da konn-ten wir retten und hierher in die Trkei mitbringen. Alle anderensind zurckgeblieben und gestorben. Alle bis auf uns sind umsLeben gekommen.

    FRAGE: Ist das Kleine sein Kind oder gehrt es Nachbarn vonihm?

    IBRAHIM (bersetzer): Das ist sein Kind.

    FRAGE: Das Kleine muss entsetzliche Schmerzen haben...

    KURDE: Das Baby weint nur noch und kratzt sich die ganze Zeit.Es hat frchterliche Schmerzen. Es ist ein Mdchen. 18 Monatealt.

    FRAGE: Wie hat es den Giftgasangriff berlebt?

    KURDE: Nachdem die Chemiebomben detoniert waren, habe ichblitzartig alles zusammengerafft, was ich noch mitnehmen konn-te, auch mein Kleines hier, und bin mit ihm, so schnell ich konn-te, um unser Leben in die Berge davongelaufen.

    FRAGE: Was sagt der Doktor? Hat die Kleine eine Chance,durchzukommen?

    IBRAHIM: Doktor?

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    KURDE: ...Doktor??

    FRAGE: Ja, Doktor! Warum fragen Sie? Gibt es keinen Doktorhier in diesem Lager?

    IBRAHIM: ...doch...

    FRAGE: Aber?!

    IBRAHIM: Der hat nicht viel, kann nicht viel und verschreibt nichtviel...

    FRAGE: Was heit: verschreibt nicht viel? Hat der Lagerdoktorhier - oder wer immer in diesem Camp fr medizinische Fragenverantwortlich ist - hat sich der dieses kleine Mdchen hier ange-sehen? Hat er es als Giftgasopfer diagnostiziert? Ja oder nein?

    Und hat er ihr Anti-Giftgas-Medizin gegeben? Ja? Oder nein??

    IBRAHIM: Jein! ... (Fragt den Vater des Babys).

    KURDE: Ja, es gibt einen Lagerdoktor hier. Der diensthabendeArzt ist sogar bemht. Ja, er anerkennt, dass meine Tochter einGiftgasopfer ist. Ja, er hat der Kleinen auch etwas verschrieben.Aber: erstens, was er ihr gegeben hat, ntzt nichts. Das hat derDoktor selbst gesagt. Und zweitens hat er gesagt, dass er hier indiesem Lager gar keine Medikamente hat, Giftgasopfer zubehandeln. Die Kleine msste in ein Spital...

    FRAGE: Gut, sie msste in ein Spital. Aber sofort...!

    KURDE: Der Doktor sagt, das geht nicht.

    FRAGE: Was geht nicht? Warum geht das nicht?

    KURDE: Der Doktor redet nicht recht aus. Aber soweit wir ver-standen haben, gibt es hier Probleme...

    FRAGE: Welche Probleme? Wo liegt hier das Problem, bitte?Hier haben wir ein Giftgasopfer. Dort drben ist ein Doktor. Und

    in Hakkari ist das nchste groe Provinzspital. Mit einem Auto istdie Kleine in ein bis zwei Stunden im Spital in Hakkari und kannbehandelt werden. Wo ist da ein Problem?

    IBRAHIM: Die Trken sagen, es gbe keine Giftgasopfer in die-sen Lagern...

    FRAGE: Was??? Ist was wahr???

    IBRAHIM: Ja, sie sagen...

    FRAGE: ...also, was immer die Trken sagen mgen, diesen Arztsehe ich mir an. Mit dem werde ich reden...

    IBRAHIM: Das knnte Schwierigkeiten machen...

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    FRAGE: Euch oder mir?

    IBRAHIM: Wei nicht...

    FRAGE: Was heit Schwierigkeiten machen. Du lieber Gott,wenn dieses kleine armselige Geschpf hier kein Giftgasopfer istund nicht schleunigst entsprechende, medizinische Hilfe be-kommt, wird es sterben, und wir knnen in diesem Lager unsereMenschenrechte gleich mitbegraben! Um keinen Fehler zu ma-chen: was hat der Vater des Mdchens genau gesagt? DerLagerdoktor hat der Kleinen Medikamente verschrieben? Kor-rekt?! Er hat gesagt, diese Medikamente wrden aber nichtsgegen Gasvergiftung ntzen. Stimmt das so?

    KURDE: Ja, der Lagerdoktor hat meiner Tochter Medikamentegegeben, aber keine gegen Giftgaskrankheiten oder so etwas,

    nur dagegen, dass die Schmerzen weniger werden. Oder so. Hatder Doktor gesagt. Und dass er hier in diesem Lager keineMedikamente gegen - wie sagt man - vergaste Personen hat. Garkeine...

    FRAGE: Wenn das stimmt, was dieser Mann sagt, ist das ja ent-setzlich. Vllig unmenschlich. Das bedeutet: die Kleine knnte

    jederzeit sterben. Sie msste elendig zugrunde gehen. DieserMann dort auch. Diese Frau dort drben ebenfalls. Und allehier?? Das darf nicht wahr sein! Du lieber Gott! Diesen Lager-doktor sehe ich mir einmal an. Ich kann nicht glauben, dass ein

    Arzt, der einen medizinischen Eid abgelegt hat, alle Krankengleich welcher Herkunft zu heilen und niemand vorstzlich ster-ben zu lassen, ruhigen Gewissens auch nur ein Giftgasopferohne entsprechende Medikamente elendig - und in diesem Fallauch noch qualvoll - umkommen lassen wrde....

    KURDE: Die sagen, es gebe keine Giftgasopfer hier, daher ht-ten sie auch keine entsprechenden Medikamente...

    FRAGE: Das werden wir sehen. Ibrahim, kommen Sie bitte mitbersetzen...!

    IBRAHIM: Soll ich?

    FRAGE: Ja, Sie sollen, es muss sein. Spricht der LagerarztKurdisch?

    IBRAHIM: Kurdisch? Nein, wo denken Sie hin. Die Trkenbehaupten, es gbe berhaupt keine Kurden in der Trkei. Nur"Bergtrken". Kurdisch ist als offizielle Sprache hier in der Trkeiverboten...

    FRAGE: Also gut. Ein einziger trkischer Arzt, der kein WortKurdisch versteht, fr 10.000 Kurden. Das ist bereits eineFeinheit fr sich.

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    Aaaaahhhhhh. Eeeaaaaaaaahhhhccccchh. -hhhhhh...

    Die markdurchdringenden Schmerzensschreie der Kleinen, dieeinen Gaskrieg der anderen jenseits der Viertausender vor uns

    am Horizont berlebt hat und nun einen verbissenen Kampf mitdem Tod fhrt, gehen allmhlich im Stimmengewirr von Tausen-den Flchtlingen unter, die bereits wieder vor der Klte der nch-sten Lagernacht zu zittern beginnen...

    "YALLAH, YALLLLAAAAAH ...!"

    13. September 1988

    Lager Sst bei Yksekova. Spter Nachmittag. Tausende kurdi-sche Flchtlinge drngen um ein kleines weies Zelt, etwa dreiSchritte breit und so hoch wie meine ausgestreckte Hand. DieEingangsflappen vorne sind links und rechts hochgeschlagen. DasInnere des Zeltes besteht aus einem einfachen Holzgestell mitFchern aus Brettern. Darauf stehen reihenweise Medikamente.

    Bunte Schachteln. Blaue, weie, schwarze, braune. Alle beschrif-tet. Groe, kleine, ein paar dicke. Keine Gerte zum Operieren.Auch Spritzen sind nicht zu sehen. Der Zelteingang ist an dnnenSchnren mit Heringen im Boden verankert. Davor steht eine wak-kelige Bank. Auf ihr sitzt ein junges trkisches Mdchen in einemweien Mantel, schreibt auf einem Holztisch vor sich in ein Buchein, dreht sich von Zeit zu Zeit um, holt von hinten aus dem ZeltMedikamente heraus, verteilt sie an kurdische Patienten, die ver-suchen, in einem totalen Chaos Schlange zu stehen, und erwecktden Eindruck, als wre sie in erster Linie umfassend beunruhigt.Hinter ihr zwischen Zelt und Holztisch steht ein gestikulierender,eher kleiner Mann um die 40, ebenfalls in Wei, der Kittel offen,brauner Anzug, Schlips, rundes Gesicht, schtteres Haar, einStethoskop um den Hals, den Kopf hoch in der Masse und einekommandierende Stimme wie ein Marktschreier am Platz:

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    DOKTOR: Yallah! Haiii yaaaalllaaahhhhh...!

    FRAGE: Das ist der Lagerdoktor, den wir suchen?

    IBRAHIM: Ja, das ist der Mann.

    FRAGE: Doktor! ...!? Dooooktorrr!!

    DOKTOR: Yallah! Nam?

    FRAGE: Sind Sie der diensthabende Amtsarzt in diesem Lager?

    DOKTOR: (Will von uns sichtlich nicht gestrt werden...) Ja. Dassehen Sie doch...

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    Medikamente trkischer Behrden, unter anderem gegen Schmerzenund Durchfall, aber nicht gegen Gasvergiftungen.

    Menschenschlangen vor dem rztezelt. Sichtlich bemhte trkischerzte und Schwestern. Sie hatten aber keine Medikamente zur

    Behandlung von Giftgasopfern zur Verfgung.

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    FRAGE: Herr Doktor, woran leiden diese Flchtlinge hier?

    DOKTOR: Fast alle haben Durchfall, - Brechdurchfall, chroni-schen Dauerdurchfall, auch eine Art von Ruhr -, klagen berbelkeit, Schmerzen, Substanzverlust ... also ber Krankheiten

    dieser Art.

    FRAGE: Worin liegen die Ursachen fr diese Krankheiten?

    DOKTOR: ... Wetter, Flucht, Strapazen...

    FRAGE: Sie behandeln da ein kleines Baby auf dem Arm dieserFrau da. Dieses Kleine schaut so aus wie ein anderes Baby dahinten: krebsrot im Gesicht, brllt vor Schmerzen, hat trnendeAugen, eine rinnende Nase, sieht nichts, rchelt aus dem Ra-chen, krmmt sich...Ich bin zwar Laie und kein Experte, aber die-ses Kleine hier und das dort da drben sind doch eindeutige

    Giftgasopfer? Oder nicht? Was sagt Ihre Diagnose?

    DOKTOR: Ja. Ich wei...

    FRAGE: (Fahre elektrisiert hoch): Ibrahim, habe ich mich verhrt,oder hat der trkische Amtsarzt hier gerade zugegeben, dass esGiftgasopfer in diesem Lager gibt? bersetzen Sie bitte meineFrage noch einmal...

    IBRAHIM: ... (wiederholt meine Frage nach Giftgasopfern...)

    DOKTOR: Ja! Aber ich habe keine Medikamente dagegen ...!FRAGE: Herr Doktor: ich habe Sie korrekt so verstanden: Siesagen, es gebe auch kurdische Flchtlinge hier, die ganz offen-sichtlich Opfer chemischer Waffen geworden wren, Sie wsstendas, Sie htten nur keine entsprechenden Medikamente gegenGiftgasopfer hier in diesem Lager zur Verfgung ...?!

    DOKTOR: (Die Antwort des Lagerarztes geht in einem riesigenStimmengewirr von kranken kurdischen Flchtlingen unter, diesich um den Arzt drngen...)

    IBRAHIM: (Streckt seinen Kopf aus der Menge und ruft dem tr-kischen Amtsarzt noch einmal meine Frage zu...)

    DOKTOR: (Untersucht gelbe Streifen an Gesicht, Hand, Ober-krper und Fen des kleinen Babys...): Ich sage Ihnen doch: ichhabe keine Medikamente gegen Giftgasopfer zur Verfgung. Ichkann mich da nur an Anweisungen halten...

    IBRAHIM: Der trkische Doktor sagt immer wieder, er habe keineMedikamente gegen Giftgasopfer und knne daher auch keineGiftgasopfer in diesem Lager behandeln...

    FRAGE: Das habe ich schon mitgekriegt. Aber fragen Sie ihn,warum er gegen diesen Zustand nichts tut. Nein, fragen Sie ihn

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    vorerst, ob er dagegen irgend etwas tut. Ob er je etwas dagegengetan habe. Tun wolle. Und wenn, was er zu tun gedenke...

    IBRAHIM: (Fragt eingehend...)

    DOKTOR: Ich habe hier nur Medikamente gegen Kopf-schmerzen, Bauchschmerzen, Durchfall, Grippe, belkeit, alsoFieber- und Schmerzmittel. Und ein paar Sedativa.

    FRAGE: Das heit: Sie verordnen Giftgasopfern im Prinzip nichtsanderes als ein besseres Aspirin?

    DOKTOR: (Wendet sich ab. Antwortet nicht...)

    FRAGE: Herr Doktor! Hren Sie doch. Ich sehe, Sie bemhensich hier. Sie versuchen doch offensichtlich Ihr Bestes als Arzt.Sie sind doch ein Mediziner. Sie erwecken auf mich den Eindruck

    eines engagierten Menschen. Sie haben im Lauf unseres kurzenGesprches hier - von sich aus - fast schon zu oft betont, dassSie keine Medikamente zur Behandlung von Giftgasfllen zurVerfgung htten. Sie sagten das deutlich so, als tte Ihnen diesalles leid, als wollten Sie sich fr jemand entschuldigen... Wer istdenn verantwortlich dafr, dass Sie hier keine Medikamente ge-gen Giftgasopfer zur Verfgung gestellt bekommen??

    DOKTOR: Ich kann hier nur einfache Normalflle behandeln...

    FRAGE: ...Herr Doktor...! Und was ist mit dem erdrckenden

    Rest? Die Menschen sterben hier! Sie sterben in Massen. Daskann Ihnen doch nicht entgehen und auch nicht gleichgltig sein.Sie mssen doch...

    DOKTOR: ...Gastroenteritis, "Mal Nutrition" ...

    FRAGE: Sie brauchen nicht Englisch zu reden. Der junge Mannhier bersetzt, was Sie sagen...

    DOKTOR: ..."Dehydration"...

    FRAGE: ...und G I F T G AS O P F E R ! ! ! Wie steht es damit???

    DOKTOR: ..."thank you very much...! Thank you..." (Wendet sichab...).

    FRAGE: Doktooor!!

    DOKTOR: (rgerlich): ...auch wenn Sie noch zehnmal immerwieder dasselbe fragen: Giftgasopfer, ja, aber ich habe keineMittel dagegen. Nooooo! Noooothing! Zero! You understand...!!??Tamam???

    FRAGE: I do. Aber wer ist dafr verantwortlich? Wer?

    DOKTOR: Sehen Sie denn nicht, ich bin hier schwer unter Druck!Begreifen Sie das nicht?

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    FRAGE: ...doch...!

    DOKTOR: Ich kann Ihnen nur das eine sagen: das kommt vonoben. Das haben Leute entschieden, die ranghher sind als ich.Leute, die zu entscheiden haben. Ich habe mich deren Wei-

    sungen zu beugen. Fragen Sie diese Leute!

    FRAGE: Wo sind die?

    DOKTOR: ...thank you very much...!

    FRAGE: Thank you as well. Aber noch kurz: wo sind dieVerantwortlichen?

    DOKTOR: ...gehen Sie doch einmal nach Hakkari! Und jetzt ent-schuldigen Sie mich bitte, ich habe zu tun!

    FRAGE: Herr Doktor, wie heien Sie? Wollen Sie mir IhrenNamen sagen...?

    DOKTOR: Ruft seinen Namen ber ein Meer von Kpfen kurdi-scher Giftgasopfer und verschwindet in seinem kleinen, weienAspirin-Zelt...

    IBRAHIM: Es wre vielleicht besser, den Namen dieses Doktorsnicht zu erwhnen. Er knnte hier seine Karriere als Medizinerbegraben haben...

    Nicke, packe mein Mikrophon ein, schiee noch ein paar Fotosvom ersten Doktor, der in meiner Gegenwart gestand, in derTrkei gebe es irakische Giftgasopfer, die er aber laut Weisungvon oben nicht als Giftgasopfer behandeln drfe, medizinischauch nicht knne, und dass er dies gegen seine rztliche ber-zeugung hinnehme.

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    INTERVIEWSmit dem kurdischen Arzt Dr. Josef Bejar

    sowie Kurdenfhrern aus dem Irak

    13. September 1988

    FRAGE: In diesem Lager sind kurdische Giftgasopfer aus dem Irak.Knnen Sie das auch als betroffener kurdischer Arzt besttigen?

    BEJAR: ...ja!

    FRAGE: ...aber die trkische Regierung behauptet, sie habe inder Trkei keinerlei Beweise dafr gefunden, dass Kurden, die indiese Aufnahmelager geflchtet sind, im Irak Opfer eines Gas-krieges durch die irakische Arme geworden seien.

    BEJAR: ...keine Beweise? Ich persnlich bin bereits ein Beweis.Sehen Sie mein Gesicht: braune Gasnarben an Wangen undSchlfen. Die Hnde halb verbrannt. Die Haut toten-starr gelb.Ich habe mit diesen halb kaputten Hnden viele, viele Giftgas-opfer behandelt. Ich persnlich. Ich bin Zeuge meines Volkes vorder Geschichte. Ich habe in der Region um Arbil im irakischenKurdistan Menschen vor dem Gastod gerettet. Tag und Nacht.

    Bis ich nicht mehr konnte...

    FRAGE: Wo sind diese Giftgasopfer?

    BEJAR: Auch hier in diesem Lager haben wir Giftgasopfer. Abereines muss ich Ihnen gleich sagen: Sie werden hier in den La-gern in der Trkei in der Regel nur leichtere Flle finden. Dieganz schweren Flle sind meist schon whrend eines Gasan-griffes durch die irakische Armee an Ort und Stelle gestorben. Diemittleren Gasopfer konnten sich entweder zum Teil in die Bergeretten und haben dort vielfach nicht berlebt, oder Freundeschleppten sie zum Teil selbst auf ihrem Buckel ber Stock undStein bis hierher in die Trkei. Viele von ihnen sind aber auf derFlucht vor dem Gastod zugrunde gegangen. Elendig zugrundegegangen.

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    Versuchen Sie sich doch plastisch vorzustellen: wrden Sie esschaffen, einen Mann wie mich hunderte Kilometer ber Felsenund Berge auf Ihrem Rcken zum nchsten Doktor in die Trkeizu schleppen? Das schaffen und berleben die wenigsten. In denmeisten Fllen haben daher auch nur die leichteren Flle die

    Flucht vor dem Gastod in die Trkei berstanden. Diese Flleknnen wir Ihnen reihenweise prsentieren. Vom Baby bis zumGreis. Von einigen schweren Fllen haben wir gehrt. Soweit wirinformiert sind, versteckt die Trkei diese Schwerstopfer jedochin ein paar abgeriegelten Spitlern vor der Weltffentlichkeit. DieTrkei will wegen dieser kurdischen Giftgasopfer keinen Krachmit dem Irak riskieren. Will der Welt nicht Beweise fr einenGaskrieg gegen die Kurden liefern. Will Bagdad nicht moralischden Strick drehen. Die Trkei leugnet so ziemlich alles. Leugnetkurdische Giftgasopfer auf eigenem Territorium. Leugnet selbst,dass es in der Trkei Kurden gibt. Mehr als 10 Millionen Men-schen in der Trkei! Luft? Keine Existenz? Keine Menschen? Wir

    drfen nicht existieren, weil es uns nicht geben darf? Nicht einmalals entsetzlich geschundenes Volk? Die Welt ignoriert uns auchim Gastod?...Oh Gott...!?

    FRAGE: Welche Giftgase setzt die irakische Armee gegen dieeigene kurdische Bevlkerung ein?

    BEJAR: ...Senfgas, Sarin, Tabun, Phosygen, Organophosphoras,Phosphoras-Bomben, jede Menge Misch-Verbindungen undalles, was die Iraker an Gastod mixen knnen.

    FRAGE an irakischen Kurdenfhrer: Sagen Sie uns, was Siebezeugen knnen!

    KURDENFHRER: Die erste Nacht, wo die irakische Armee uns- also all diese Tausenden Menschen, die Sie hier in diesemCamp bei Yksekova sehen - mit Giftgas bombardiert hat, warder 25. August 1988. In dieser Nacht haben uns etwa 12Hubschrauber angegriffen. Das war in der Region um Amadiehnahe der trkischen Grenze. Die Hubschrauber kamen zwischen10 Uhr nachts und 1 Uhr morgens. Sie begannen uns mit chemi-schen Waffen zu bombardieren. Auch mit Giften in Pulverform.Die Bomben waren fast lautlos, machten nur ganz wenig Lrm,

    so: ssssssssssssssscht bummmm. Das war alles. Und derGastod hat sich am Boden verbreitet. Langsam. Schleichend.Wie ein Nebel. So hnlich wie ein Chemie Pilz. So wie ein chemi-sches Hiroshima. Diese Nacht war die Nacht des langen undqualvollen Sterbens. So viele Menschen starben. Ich habe soviele Menschen sterben gesehen. So unendlich viele. Auch iraki-sche Soldaten. Auch sie sind gestorben. Ich habe gesehen, wieeinige dieser irakischen Soldaten am Boden noch versuchten,ihre Gasmasken auf Mund und Nase zu pressen. Aber zu spt.Auch sie berlebten nicht. Und die Gasmasken waren aus derSowjetunion. Made in Russia. CCCP ist daraufgestanden.

    FRAGE: Irakische Soldaten sind ebenfalls gestorben?

    BEJAR: Ja, auch irakische Soldaten sind an Giftgas umgekommen...

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    KURDENFHRER: ...die sind nahe von uns in Position gele-gen...

    FRAGE: ...und die irakische Armee hat mit der eigenen kurdi-schen Bevlkerung auch ihre eigenen Soldaten in Kurdistan ver-

    gast?

    KURDENFHRER: Ja! Die 12 Hubschrauber konnten uns in derRegion um Amadieh nicht einzeln vergasen. Auch nicht geson-dert. Daher hat die irakische Armee auch eigene Truppen, die siegegen uns in Vormarsch geschickt hatte, mitvergast. Sonst ht-ten sie uns dort in diesem Gelnde nicht umbringen knnen.

    FRAGE: Woher stammte das Giftgas der irakischen Armee?

    KURDENFHER: Das wissen wir nicht. Wir haben dafr keiner-lei Hinweise oder Anhaltspunkte gefunden.

    FRAGE: Welche Symptome haben die Giftgasopfer gezeigt?

    KURDENFHRER: Die Ereignisse, die ich schildere, haben sichum einen Hgel in der Region von Amadieh abgespielt. Soweitwir erlebt haben, waren die Chemikalien selbst schwerer als dieGiftgase. Die Chemikalien haben sich daher auch zunchst amBoden festgesetzt. Dann sind die Giftgase zur Wirkung gekom-men. Sie haben unmittelbar Augen, Nasen, Mund, Rachen undLunge angegriffen. Die Giftgasopfer bekamen rote, trnende Au-gen. Ihre Nasen begannen zu tropfen. Mund und Rachen brann-ten wie Feuer. Die Luft blieb ihnen weg. Viele hatten Symptomeals wrden sie ersticken. Den Leuten wurde entsetzlich schlecht.Viele haben frchterlich gebrochen. Die Giftgase haben auchekelerregend gestunken. Wie eine Mischung aus faulen Eiern,Abfall und Plastik...

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    BEJAR: ...einige Gasopfer haben auch Blasen auf der Hautbekommen...

    KURDENFHRER: ...und einen Ausschlag...

    BEJAR: ...und haben ihren Tastsinn verloren. Ihre Haut war wietot. Sie sprten pltzlich nichts mehr. Als wrden sie an der Hautzu sterben anfangen...

    FRAGE: ...wie hat das Giftgas gerochen? Knnen Sie das nocheinmal formulieren?

    BEJAR: ...wie ein fauliger Apfel, wrde ich sagen. So, als wrdeSie jemand zwingen, einen verrotteten Apfel zu essen. So hateinem davor geekelt. Ein morbider Moder, der sich im Krperfestgefressen hat. Zum Speiben!...

    FRAGE: ...und die Haut?

    BEJAR: ...wenn wir die Haut berhrt haben, ist sie auseinander-gefahren. Die befallenen Stellen sind immer grer und grergeworden. Schlagartig. Und, was ich noch konstatieren will, vorallem Atemnot. Hhhhh. Hhhhhh. Hhh. Die Leute haben gekeuchtund gekotzt gleichzeitig. Als htte ihre letzte Stunde geschlagen.Manche haben auch Durchfall bekommen. Einige eine chroni-sche Diarrhe. Dann sind sie buchstblich ausgeronnen undhaben Lebenssubstanz verloren. Wer keine Abwehrkrfte mehrentwickeln konnte, ist alleine an Krperschwche gestorben.

    Was heit gestorben, verreckt, grauenhaft verreckt.FRAGE: Hatten Sie denn nicht irgendwelche Medikamente?

    KURDENFHRER: Einige der "Peshmergas", der kurdischenFreiheitskmpfer, hatten Gasmasken. Nicht gekaufte Gasmas-ken, sondern solche, die sie im Kampf von irakischen Soldatenerobert haben. Damit haben viele "Peschmergas" berlebt. Aberdie einfachen kurdischen Dorfbewohner hatten nichts. Schlichtund einfach nichts. Sie sind nach Gasangriffen von ihren Drferndavongelaufen und versuchten sich zum Teil in die Berge zu ret-ten, wurden aber auch dort vielfach vom Gastod eingeholt...

    BEJAR: ...das einzige, was sie gemacht haben, war, entwederdie blanke Hand vors Gesicht zu halten, vor Nase und Mund,oder sie haben Kopftcher nass gemacht und wie ein Schutztuchaufs Gesicht gepresst. Oder sie sind auf Hgel gelaufen, um demGasnebel am Boden zu entrinnen. Aber gentzt hat das allesnicht viel...

    KURDENFHRER: Es sollte noch viel schlimmer kommen. Dort,wo wir herkommen, aus der Region Amadieh, - wie gesagt - , dortgibt es Gebiete, die werden von kurdischen "Peschmergas" kon-trolliert, und andere, die unter Kontrolle der irakischen Armee ste-hen. Verzweifelte kurdische Giftgasopfer sind ja auch nicht nur indie Berge gerannt, um sich zu retten, sondern sind auch in iraki-sche Spitler in der Region um Hilfe gekommen.

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    Und ich muss Ihnen sagen, soweit ich mit eigenen Augen gese-hen habe und aus eigener Erfahrung bezeugen kann, wurdenviele kurdische Giftgasopfer unter Drohungen und Erpessungenunbehandelt wieder weggeschickt. Ich wei alleine von mehr als500 Giftgasopfern aus der Gegend, aus der ich komme. 500.

    Viele von ihnen schleppten sich in das ffentliche Krankenhausvon Amadieh und baten um medizinische Hilfe. Vllig vergeblich.Die irakischen Beamten dort sagten ihnen: "Ihr werdet hier nurdann behandelt, wenn ihr eine Erklrung unterschreibt, dassEuch "Peschmergas" vergast haben!" So wurde diesen unschul-digen Gasopfern auch noch gedroht. Stellen Sie sich das einmalvor. Unfassbar!

    FRAGE: Wieviele Kurden sind im Irak den Gastod gestorben?Wie viele insgesamt?

    BEJAR: Insgesamt?

    FRAGE: Ja, alles in allem...

    KURDENFHRER: Von etwa 25.000 Menschen im gesamtenirakischen Kurdistan wissen wir bis heute nicht, was mit ihnengeschehen ist. Diese Kurden sind derzeit noch immer von Ein-heiten der irakischen Armee eingekesselt. Sie werden tglich mitchemischen Waffen bombardiert...

    BEJAR: ...vor allem in den Gebieten Haqra, Shekhan und Agri.Von deren Schicksal wissen wir nichts...

    FRAGE: Ja, aber ich meine jetzt vor allem Giftgasopfer: dasheit: wie viele irakische Kurden sind bisher - soweit bisher be-kannt wurde - bei Angriffen der irakischen Armee mit chemischenWaffen ums Leben gekommen? Tausende? Zehntausende? Wieviele?

    KURDENFHRER: Ich will Ihnen ein Beispiel geben: von etwa60 Menschen aus meinem Dorf konnten sich nur 21 in die Trkeiretten. Rund 40 sind umgekommen. Das ist ein Verhltnis 2 zu 1.So hoch drfte im ganzen irakischen Kurdistan meiner Ein-

    schtzung nach auch die Todesrate von Giftgasopfern sein.FRAGE: Das wrde bedeuten, dass bisher Zehntausende iraki-sche Kurden den Gastod gestorben sein drften...?

    KURDENFHRER: ...alleine am "blauen Fluss" sind mehr als3000 Menschen nach chemischen Angriffen gestorben. GanzeFamilien. Frauen. Kinder. Greise. Alle. Selbst Tiere...

    DAVID HIRST (The Guardian): Was ist mit den Toten gesche-hen?

    BEJAR: Die irakische Armee hat die meisten dieser Giftgasopfereinfach in den Fluss geworfen. Nur ganz wenige wurden begra-ben.

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    FRAGE: Darf ich noch einmal auf die Totenbilanz zurckkommen:Was Sie sagen, bedeutet, dass es auch im irakischen Nord-Kurdistan Gebiete gibt, wo die Menschen hnlich grausam und inMassen wie in Halabdscha in Sd-Kurdistan den Gastod gestorbensind. Kann man daher von einem neuen Halabdscha reden?

    BEJAR: Ein neues Halabdscha? Ich wrde eher sagen: einneues kurdisches Hiroshima!

    KURDENFHRER: Vllig richtig! Ein kurdisches Hiroshima! EinChemie-Bomben-Hiroshima! Und ein neuer Hitler! Saddam Hus-sein, der "Barbar des Irak", ein Massenmrder wie dazumalHitler...!

    BEJAR: ...Saddam Hussein ist schlimmer als Hitler...

    KURDENFHRER: Bisher sind garantiert mehr als 50.000 Kur-

    den von der irakischen Armee vergast worden. - Das ist keinHalabdscha mehr. Das ist ein zehnfaches Halabdscha. Das istein Massen-Vlkermord, wie ihn die Geschichte seit dem 2. Welt-krieg nicht mehr erlebt hat.

    FRAGE: Sie sprechen von Vlkermord in Nazi-Dimensionen?

    KURDENFHRER: Mussolini war besser als Saddam Hussein.Auch Pinochet ist besser. Selbst Hitler war nicht schlimmer.Saddam Hussein ist einer der letzten wirklich grausamen Barba-ren der Geschichte...

    BEJAR: Wenn es noch wirkliche Unmenschen gibt, die der Teufelholen soll, dann ist Saddam Hussein einer der schrecklichsten,der das kurdische Volk je heimgesucht hat. Er will alle Kurdenumbringen. Er will die Kurden schlicht ausrotten. Aus-rot-ten!!Saddam Hussein hat 99 Prozent des irakischen Kurdistan ver-nichtet.

    KURDENFHRER: Wir sind nun schon 8 Monate auf der Flucht.In den Anfangsmonaten unserer Odyssee haben wir noch jedenMorgen, wenn wir aufgestanden sind, Fchse gesehen. An die30 Fchse kann ich mich erinnern. Sie waren alle tot. Waren

    neben uns in den Bergen bei Angriffen mit Chemie-Bomben aus-gerottet worden. Lange Zeit haben wir auf der Flucht auch nochVgel singen gehrt. Nun existiert nichts mehr. Auch diese Tieresind gestorben. Verstummt. Kurdistan ist tot. Ausgestorben.Menschenleer. Verbrannt und vernichtet. Auf dem Weg hierherhaben wir keine Drfer mehr gefunden. Keine Menschen. Kurdis-tan ist ein schwarzes Land geworden. Schwarz wie der Tod...Finished! Die Welt soll kommen und sich ein unabhngiges Bildmachen. Der Irak soll das zulassen und auch die Trkei. Und wirsind persnlich bereit, in das irakische Kurdistan mit zurckzuge-hen und an Ort und Stelle zu beweisen, dass wir Opfer einesGiftgas-Vlkermordes geworden sind. Wenn sie das nicht zulas-sen, bedeutet alleine dies ein stillschweigendes Eingestndnis,dass der Irak chemische Massenvernichtungswaffen gegen seineeigene kurdische Bevlkerung eingesetzt hat...

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    FRAGE: Es steht zu befrchten, dass weder der Irak noch dieTrkei auf ihrem Territorium eine zeitgerechte, unabhngigePrfung Eurer Angaben zulassen werden...

    KURDENFHRER: (Resignierend)...zwei bis drei Jahre lang wer-

    den die Menschen in unser vergastes Kurdistan nicht mehr zurck-kehren knnen. Viele Babys haben noch den Giftgastod in sich. Siesind zwar geboren worden, leben auch, - sagen wir besser: vege-tieren dahin! -, werden aber Zeit ihres Lebens Krppel bleiben undvermutlich sterben, bevor sie das Leben gesehen haben. Sie sindzum langsamen, qualvollen Sterben verurteilt. Viele Mtter muss-ten ihre Kinder zurcklassen, um sich selbst zu retten. Ich habeKinder gesehen mit rotunterlaufenen weinenden Augen, rotzigenNasen und keuchenden Lungen in ihren letzten Zgen, mitten imabsoluten Nichts, in schwarzen Ruinen einer verbrannten Erde,habe sie schreien gesehen, verzweifeln und zusammenbrechen.Mit ihnen haben sie uns unsere Zukunft genommen.

    FRAGE: Wieviele Babys , die Opfer von Giftgasangriffen gewor-den sind, leben hier in diesem Lager?

    KURDENFHRER: Das ist schwer zu sagen. Mehr als hundertFamilien sind hier in diesem Lager. Die meisten von ihnen muss-ten ihre Kinder im irakischen Kurdistan zurcklassen. Konntensie nicht hierher bringen. Diese Kinder leben im vergasten Kur-distan ohne Vater, ohne Mutter, ohne Groeltern...

    FRAGE: Wie viele irakische Kurden mussten insgesamt vor An-

    griffen mit chemischen Waffen flchten? In die Trkei und in denIran?

    KURDENFHRER: ...in die Trkei bisher mehr als 100.000. Inden Iran ein Vielfaches dieses Flchtlingsstromes. Einen genau-en berblick haben wir von hier aus in Yksekova aber nicht.

    BEJAR: Zwischen 60.000 und 140.000 Kurden sind im Irak nochimmer von Einheiten der Armee eingekesselt und mit dem Giftgastodbedroht. Wir wissen nichts ber das Schicksal dieser Kurden.

    FRAGE: An welchen Krankheiten leiden kurdische Flchtlinge hier?

    BEJAR: Schrecklich viele sind hier krank. Ich bin Arzt. Ich kannIhnen detaillierte Auskunft geben: Die Kinder leiden meist anGastroenteritis (Brechdurchfall), schlechter Ernhrung bzw.Unterernhrung. Und zwar Babys genauso wie Kinder undJugendliche. Die meisten Frauen leiden an Brustinfektionen undFehlgeburten. Viele Mtter hatten Fehlgeburten.

    FRAGE: Warum?

    BEJAR: Erstens, weil es sehr kalt war, als wir flchten mussten.Zweitens, weil wir alle nichts zu essen hatten, dauernd auf derFlucht waren, ein paar Tausender hoher Berge berqueren muss-ten, zu Fu, Autos haben wir erst an der trkischen Grenze zuGesicht bekommen...

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    FRAGE: Die Trken haben sofort LKWs zur Verfgung gestellt?

    BEJAR: Ja, aber nur Viehlastwagen. Keine LKWs, mit denenman normaler Weise auch Menschen transportiert. Vielmehr typi-sche Viehtransporter. Das sind diese Klapperkisten, mit denen

    die Trken in der Regel Schafe und Ziegen transportieren. Auchzur Schlachtbank. Die Trken haben uns nicht etwa PKWs zurVerfgung gestellt, als wir ankamen. Auch nicht normale Laster,wie gesagt. Schon gar nicht schne Autobusse. - Bei uns war das

    jedenfalls so und nicht anders. Das hat uns menschlich und psy-chologisch schwer getroffen. Wir dachten zuerst, die Trken wr-den uns als Giftgasopfer akzeptieren und von Anfang an betontmenschlich behandeln. Und dann haben sie uns auf Viehlasternabtransportiert. Wie Tiere!

    FRAGE: Was ist Ihnen persnlich passiert?

    BEJAR: Mir? Nun, Ich habe eine schwere Brustkorbinfektion.Auch Ruhr. Und wie die meisten von uns entwickle auch ich tota-len Kraftverfall und rinne buchstblich bis an den Rand desZusammenbruchs aus. Vor allem deshalb, weil wir von denTrken hier nichts Anstndiges zu essen bekommen. Jeder vonuns bekommt nur Brot, Tee und eine Art von "Halawa".

    FRAGE: Wie oft bekommen Sie zu essen am Tag?

    BEJAR: Dreimal am Tag. Aber nur Fladenbrot und Tee...

    FRAGE: Nicht mehr? Wirklich nicht mehr? Die Trken sagen, siewrden Euch auch Fleisch geben...

    BEJAR: Fleisch? Du lieber Gott, nein wirklich nicht. Wir habenschon monatelang kein Fleisch mehr gesehen. Schon gar nicht indiesen Flchtlingslagern in der Trkei.

    KURDENFHRER: Saddam Hussein hat vor ein paar Tagennach Giftgasprotesten in der Weltpresse gesagt, er wolle das kur-dische Volk gar nicht bestrafen. Das ist blanker Zynismus. Wirleben doch nicht dafr, von schrecklichen Barbaren und Massen-mrdern unseres Jahrhunderts nicht bestraft zu werden. Wir

    Kurden sind auch Menschen. Keine Tiere, die froh sein mssten,einmal keine Schlge zu bekommen. Wir wollen Autonomie, De-mokratie, echte Demokratie, Freiheit, endlich Freiheit, unsereeigene Freiheit. Wir wollen ein menschliches Leben haben. Wiealle Menschen auf der Welt auch. Unsere Heimat - Kurdistan -wre ein fruchtbares und an Rohstoffen reiches Land. Sie habenuns alles weggenommen. Selbst unser Leben...

    BEJAR: Wir wollen nur noch eines: ein bisschen Freiheit.Wenigstens etwas Freiheit. Wir wollen nur Freiheit. Wir wollennur leben drfen...

    KURDENFHRER: Wenn wir kmpfen, tun wir das mit ehrenwer-ten Kampftraditionen. Und glauben Sie mir, wir kmpfen seitJahrtausenden nur um eines: fr unsere Freiheit...

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    FRAGE: Welche Zukunft hat das kurdische Volk fr Sie?

    KURDENFHRER: Wenn Sie sich all diese Flchtlinge anschau-en: seit sie hier in Lagern der Trkei sind, verloren sie jedeHoffnung. Wurden verzweifelt. Sehen keinen Ausweg mehr. Das

    ist unsere wahre Situation heute in diesen Aufnahmelagern. - DieTrken reden ja nicht einmal von Flchtlingslagern, weil sie unsweder als Flchtlinge anerkennen noch einen Asyl- Status gebenwollen. Sie sprechen von "Camps auf Zeit". So, als wre unsereZeit bereits abgelaufen, bevor sie noch begonnen habe. Aberbitte. Wir haben im Irak bereits einen Giftgasvlkermord berlebt,daher werden wir auch das hier in der Trkei berstehen. Was ichaber zu unseren Zukunftsaussichten sagen will: wir sind nach wievor bereit, gegen das unmenschliche Regime von SaddamHussein im Irak weiterzukmpfen...

    FRAGE: ...trotz allem?

    BEJAR: Trotz allem!

    KURDENFHRER: Es sind noch immer viele "Peschmerga" imirakischen Kurdistan, die weiterkmpfen, die weiter Widerstandleisten. Vor allem in der Kandil-Region, um Arbil, an der Grenzezur Trkei, auch um Suleimaniya im Sden Kurdistans. Die"Peschmergas" kmpfen dort, bis sie sterben. Alle von uns sindbereit, zurckzugehen und weiterzukmpfen...

    BEJAR: ...jeden Moment sind wir bereit, wenn unsere Fhrer

    sagen, wir sollten gehen. Wir werden niemals unsere Hoffnungauf Freiheit aufgeben. Wir sind nur hoffnungslos hier und sehenin diesen trkischen Lagern keinerlei Zukunft fr uns. - Nichts zuessen. Nichts zu drinken. Todkrank. Beschissen behandelt. Wirsind hier schon so fix und fertig, dass wir uns sagen, lieber wol-len wir sterben als in diesen Lagern so weiterzuvegetieren. Wennunsere Kinder nicht wren, fr die wir Verantwortung haben,wren wir schon lngst gestorben. Htten wir uns selbst umge-bracht...

    FRAGE: Sie sind schon so verzweifelt, dass Sie lieber in den Todgehen als so weiterleben wollten?

    BEJAR: Korrekt. Wir sind Null. Lasst uns sterben und wir sterben!Unser Leben ist nicht wichtig. Wir hngen aber am Leben unse-rer Kinder. Wren unsere Kinder nicht, wren wir schon lange tot.

    FRAGE: Sie sind bereit, zu sterben?

    BEJAR: Wir sind bereit, fr unser kurdisches Volk zu sterben!

    KURDENFHRER: Ja, wir sind in der Tat bereit, zu sterben. Frunsere kurdische Zukunft. Fr die Freiheit des kurdischen Volkes.Fr Kurdistan.

    FRAGE: Welche Zukunft wrden Sie gerne haben? Wofr kmp-fen Sie?

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    KURDENFHRER: Fr Freiheit. Autonomie. Demokratie. UndSelbstbestimmung. Wie alle Vlker dieser Welt.

    FRAGE: Wie funktioniert die Verteilung von Brot hier im Lager?Wie luft das?

    BEJAR: Die Trken haben eine Lagerverwaltung aufgezogen.Inklusive einem ganzen Netz von Militr, Polizei, Geheimdienst-leuten und jeder Menge Spitzel, die Sie leicht ausmachen kn-nen, weil sie brandneue kurdische Kleider wie vom Schneider tra-gen, whrend die wirklichen kurdischen Flchtlinge zum Teil inFetzen herumlaufen mssen. Was uns Kurden betrifft, haben wireine Art Lager-Selbstverwaltung gewhlt, soweit dies die Trkenzulieen. Jedes Dorf hat dabei einen eigenen Fhrer bestimmt.Diese Fhrer vertreten alle kurdischen Flchtlinge gegenberder trkischen Lagerverwaltung.

    FRAGE: Also Kooperation mit begrenzter Mitverantwortung...

    BEJAR: Ja, aber das klingt besser als es in Wirklichkeit ist. Ichwill Ihnen ehrlich sagen: ich bin Arzt und habe mein Medizin-studium gemacht. Ich bin schwer krank und habe auch Diabetes,den ich hier in diesem Lager gar nicht behandeln kann. Ich weinicht, ob Sie verstehen, welche Schmerzen dies fr mich bedeu-tet. Und - sehen Sie mir ins Gesicht, sehen Sie meine braun ver-gilbten Schlfen? Schauen Sie sich meine Hnde an: Runzeln,alles Giftgasfolgen! Glauben Sie im Ernst, ich wre hierher ge-kommen, htte ich mein Schicksal frei whlen knnen? Ich htte

    es bei Gott nicht notwendig gehabt, diese Hlle mit meinem Volkdurchzuleben. Ich htte ein flottes Leben als gutbezahlter Arzt inder Gegend um Arbil fhren knnen, wo ich herkomme. Ich httenur den Mund halten, kuschen, bei der Diktatur gegen mein Volkmitmachen, vor dem Elend wegschauen mssen, htte mich nurvor der Unterdrckung zu prostituieren brauchen, und mir wrees bestens gegangen. Aber das htte ich niemals machen kn-nen. Ich wre moralisch draufgegangen. Daher sitze ich heutehier in dieser Hlle zusammen mit meinem geschundenen Volk.Sehen Sie sich um: hier sitzt ein Ingenieur. Dort ein Architekt.Intellektuelle. Gebildete Menschen. Wir sind kein Fetzenvolk. Wirsind ein stolzes Volk mit groer kultureller Tradition. Glauben Sie,

    wir wren hierher gekommen, in den finstersten Hinterhof derTrkei, htten wir auch nur einen Funken von Freiheit gehabt,ber unser Schicksal selbst zu bestimmen?

    FRAGE: Darf ich noch einmal auf Ihre politischen Ziele zurck-kommen. Sie sagten, Sie kmpften fr Autonomie?

    BEJAR: Ja. Korrekt.

    KURDENFHRER: Wenn Sie auf Lostrennung Kurdistans vomIrak hinauswollen, mchte ich Ihnen klar sagen: wir sind keineSeparatisten, wie uns unsere Gegner immer wieder anzuschwr-zen versuchen. Wir wollen echte Selbstverwaltung. Wirkliche Au-tonomie. Freiheit. Besonders kulturelle Freiheit und Eigenstn-digkeit. Aber wir wollen all dies im Staatsverband des Irak.

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    Wollen Kooperation mit Bagdad. - Trotz allem! - Wollen einenDialog. Wollen Menschenrechte und Demokratie. Wir mchten inerster Linie, dass unsere Kinder in Kurdisch erzogen werden.Nicht, dass das Kurdische in den Schulen systematisch immerweiter zugunsten des Arabischen zurckgedrngt wird, wie es

    derzeit geschieht, sondern dass Kurdisch in unserer Heimat alsdominierende Kultursprache anerkannt und durchgesetzt wird.Auch im ffentlichen Leben. In den mtern. In der Presse. In Ra-dio und Fernsehen. Kurz gesagt: die Kurden wrden gerne imIrak demokratische und menschenrechtliche Zustnde haben,wie sie zum Beispiel bei Ihnen in sterreich herrschen. Oder wiesie die Sdtiroler in Italien haben.

    FRAGE: Dr. Bejar, Sie sind selbst ein Giftgasopfer? Schildern SieIhre Erfahrungen...

    BEJAR: Ich bin seit fnf Monaten ein Giftgasopfer und habe bis

    heute berlebt. Ich habe selbst viele Opfer chemischer Angriffe ineinem Dorf nahe Arbil behandelt. Diese Menschen sind zu mir inBehandlung gekommen. 32 starben in meinen Hnden. Mehr als40 weitere Gasopfer konnte ich retten.

    FRAGE: Womit haben Sie die Menschen behandelt?

    BEJAR: Ich selbst habe Verbrennungen zweiten Grades. Schau-en Sie her, sehen Sie in meinem Gesicht, hier an den Schlfenund Wangen, sehen Sie diese braunen, runzeligen Flecken? Dassind Giftgasverbrennungen. Die habe ich dadurch bekommen,

    weil ich die Menschen mit bloen Hnden behandelt habe. Ichhabe praktisch nichts zum Heilen gehabt. Ich war der einzigeDoktor in der Gegend weit und breit. Die Lage wurde immerschlimmer. Und noch schlimmer. Giftgasopfer sind in Massen inmeine Ordination gekommen. Der Strom der Verletzten wurdeimmer grer und hat nicht mehr aufgehrt. Ich habe Tag undNacht gearbeitet, bis ich selbst nicht mehr konnte. Ich habegeschuftet und geschuftet, habe nur Doktor-Handschuhe gehabt,die ich zuletzt nicht einmal mehr wechseln konnte, bin mir mit denHandschuhen ins Gesicht gefahren, habe mir damit auch denSchwei von der Stirn gewischt, wenn es ganz schlimm gekom-men ist, habe mir mit denselben verseuchten Handschuhen zwi-

    schendurch auch gelegentlich ein Jausenbrot gegriffen, wennmich der Hunger unertrglich plagte, fr ein normales Essen blieb

    ja keine Zeit, die Verletzungen wurden immer rger, die Not gr-er und grer, ich war soooo mde, entsetzlich kaputt und habedie Menschen zuletzt nur noch vllig erschpft behandelt...

    FRAGE: Sie haben Verbrennungsmerkmale an Wangen, Stirnund Schlfen hier, ja, ich kann das sehen. Und auch Ihre Haut istzerfressen, bis zu den Hnden...

    BEJAR: Ja, ich habe mich an diesen Stellen selbst behandelt. Ichhabe Hydrocortisone genommen...

    KURDENFHRER: ...er hat Pillen geschluckt!

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    BEJAR: ...seither geht es mir besser. Aber ich will betonen: ichselbst bin kein direktes Giftgasopfer. Ich persnlich bin in keinenAngriff mit chemischen Waffen geraten. Ich bin ein indirektesGasopfer. Ich habe Gasopfer behandelt und mich dabei zweitenGrades angesteckt. An deren giftgasverseuchten Kleidern, an

    ihrer Haut, dadurch, dass ich den Opfern Bder gemacht und siegewaschen habe...

    FRAGE: ...aber jedenfalls knnen Sie zweifelsfrei als Doktor, derwei, wie Giftgasverletzungen aussehen, bezeugen, dass die ira-kische Armee erwiesener Maen chemische Waffen gegen dieeigene kurdische Bevlkerung eingesetzt hat...

    BEJAR: Ja, natrlich. Ich bin bereit, Giftgaszeugnis fr mein Volkvor der ganzen Welt abzulegen. Ich sage Ihnen noch einmal: Ichhabe in den vergangenen fnf Monaten persnlich in einerGegend, die Balisan heit und in der Nhe von Arbil liegt, mit

    blanker Hand mehr als 70 kurdische Giftgasopfer behandelt. Indieser Balisan-Region hat die irakische Armee die kurdischeBevlkerung mit chemischen Waffen angegriffen. Alle Opfer, diesich in meine Ordination retten konnten, hatten Vergasungs-Symptome zweiten Grades. Sie litten an Atemnot, hatten roteentzndete Augen, Sehstrungen, chronisch rinnende Nasen,Brechdurchfall, Substanzverlust, Haluzinationen, Larengitis undhnliche Symptome. 32 von ihnen starben unter meinen Hnden.Ich werde mir diese Zahl mein Leben lang merken. Die anderenkonnte ich nicht mehr retten. Sie sind mir gestorben. Gott ist meinZeuge: ich konnte ihr Leben nicht mehr retten...

    Einmal ist ein groer Mann zu mir gekommen. Er war etwa 50Jahre alt. Er brachte sein Kind zu mir, ksste mein Hand undsagte: "Doktor, das ist mein letztes Kind. Vier habe ich gehabt.Drei sind bei chemischen Angriffen der irakischen Armee umsLeben gekommen. Dieses Kind lebt noch. Es ringt mit dem Tod.Retten Sie es fr mich. Bitte retten Sie es!" Er sagte dies zu mir,ksste meine Hand und ging. Und ich konnte sein Kind wirklichretten...

    FRAGE: Wie behandeln Euch die Trken?

    BEJAR: Ich will Ihnen gerne die Wahrheit sagen. UnsereEinstellung ist die: Wir sagen, und das meinen wir todernst, unserLeben hier ist nicht mehr wichtig. Die Trken sollen uns lieberhngen als so weiter vegitieren lassen!

    KURDENFHRER: Wir wollen fair bleiben und auch positiv aner-kennen: Das erste, was die Trken mit uns gemacht haben, alswir uns aus der Gaskammer der irakischen Armee in die Trkeigerettet haben, war das: sie haben uns nicht in unser Verderbenzurckgeschickt, sondern aufgenommen. Sie haben zu uns ge-sagt: "Kommt zu uns in die Trkei! Wir wollen Euch helfen! Ihrseid in Not!" - Das war fr unser berleben zunchst einmal dasWichtigste, was die Trken fr uns getan haben. Dafr sind wirihnen zutiefst dankbar. Die zweite, ganz entscheidende Sache,die Trken fr uns gemacht haben, war dies: Sie haben der Welt-

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    presse wie Euch ermglicht, hierher zu kommen, sich ein unab-hngiges Bild von unserer Lage zu machen und darber in allerWelt zu berichten. Dadurch hat die Welt genauer vomVlkermord an uns mit chemischen Waffen im Irak erfahren. Undder dritte Punkt, der fr uns auerordentlich wichtig war, ist der:

    Die Trken brachten uns hierher in diese Aufnahmelager. Abersonst knnten die Trken wirklich mehr fr uns tun. Wir bruch-ten vor allem viel mehr zum berleben hier in diesen trkischenLagern. Mehr zum Essen. Mehr Medikamente. Mehr Kleider.Mehr zum Zudecken, damit wir in der Klte der Nacht nicht erfrie-ren. Mehr! Mehr...!

    BEJAR: ...wir sterben an Klte. Wir sterben, weil wir nichtsAnstndiges zu essen bekommen und halb verhungern. Wir ster-ben an Seuchen, weil der ganze Lagerplatz hier ein einzigerKothaufen ist. Sehen Sie sich das an. Eine handvoll Plumpsklosfr mehr als 10.000 halb vergiftete Flchtlinge, die der Gaskam-

    mer der irakischen Armee entkommen sind. Schauen Sie sichdort zum Beispiel das kleine Kind an, wie es seine Notdurft nebenseinem Fetzenbinkel verrichtet, auf dem es die heutige Nachtlebend berstehen soll. Der Kleine schafft es gar nicht mehr biszu den Holzklos dort drben. Er hat die totale Ruhr. Und sehenSie dort drben bei den Klos, sehen Sie die Schlangen vonMenschen, die sich dort um die wenigen rtchen drngeln, die eshier gibt? Der Knirps da vorne htte berhaupt keine Chance, indie Lagertoiletten da drben zu kommen. Er msste sich vorherschon in die Hose machen, was viele der giftgasgeschdigtenKinder hier brigens leider ohnehin tun...

    KURDENFHRER: Die Kinder sterben hier in diesem Lagereines nach dem anderen. Das Kindersterben hrt nicht auf...

    BEJAR: ...innerhalb von drei Tagen sind alleine in diesem Lagerzwlf Kinder gestorben!

    FRAGE: Zwlf??

    BEJAR: Ja, zwlf...!

    FRAGE: Eine unmenschliche Todeszahl zum Verzweifeln! Haben

    Sie Ihre Bemerkung wirklich ernst gemeint, die Trken solltenEuch lieber hngen...?

    BEJAR: Wirklich, ich meine das todernst! Ich sage Ihnen dieWahrheit. Was die Trken mit mir machen, ist nicht wichtig. Ichhabe schon zweimal versucht, mir das Leben zu nehmen, habees aber dann doch nicht getan. Sehen Sie sich dieses Elend hieran. Wenn ich als letzter kurdischer Arzt auch noch gehe, werbleibt dann ber, meinem kurdischen Volk in unmenschlicher Notzu helfen? Aber ich sage Ihnen offen: wenn mich die Trken hn-gen, wre ich nur froh darber...! Meinen Bruder haben siebereits im Irak gehngt...

    FRAGE: ...und die irakischen Behrden wollten Sie auch hn-gen?

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    BEJAR: Ja, das irakische Regime wollte auch mich hngen!Ursprnglich haben sie mich gefrdert. Ich war der zweitbestemeines Jahrganges an der Uni. Meine Noten in Medizin waren sogut, dass sie mich zur Facharztausbildung ins Ausland schickewollten. Ich sollte in England im "Royal College of Surgeons" mei-

    nen Facharzt machen. Einen Monat, bevor ich nach Englandgehen sollte, kam pltzlich die irakische Sicherheitspolizei zu mirund begann mir Fragen ber meinen Bruder zu stellen. Dann ver-suchten sie mich selbst mit Fragen zu lchern: "Warum sind Sienicht in unserer regierenden Baath-Partei? Warum weigern Siesich, unserer Sicherheitspolizei zu helfen? Warum wollen Sienicht fr uns arbeiten?" - Fragen dieser Art haben sie mir gestellt.Ich kann mich sogar noch erinnern, wie mir einer dieser Geheim-dienstleute sagte: "Und wrest Du der beste Jungmediziner imganzen Irak, wir wrden Dich nicht zur Facharztausbildung insAusland schicken!" - So war das. Mir hat das nichts ausgemacht.Ich habe mir eine eigene Ordination aufgebaut und als prakti-

    scher Arzt zu arbeiten begonnen. Dann ist es erst recht losgegan-gen. Ich hatte fast tglich die Staatspolizei in meiner Ordination.Sie stellte immer bohrendere Fragen: "Wir hren, Sie behandelnauch kurdische "Peschmerga"!? Sie haben Beziehungen zu kur-dischen Parteien im Untergrund?" Einmal sind sie an einemSonntag gekommen und haben mir vorgehalten: "Jetzt haben sieden "Peschmergas" auch Medikamente geschickt!" - Ich solltemich in acht nehmen. Da habe ich gewusst, wenn ich so weiter-mache und meinem Volk als Arzt helfe, knnte es nicht mehr lan-ge dauern, bis sie auch mich hngen wrden. Und da ist fr michdann die Stunde der persnlichen Entscheidung gekommen.

    Sie war kurz und schmerzlich. Ich habe mich entschlossen, allesaufzugeben und mein kurdisches Volk heilen zu helfen. Leicht istmir dies nicht gefallen. Ich hatte ein schnittiges Auto, Geld,Wohnung, ein gutes Leben. Ich habe all diesen Luxus fr meinVolk aufgegeben. Mein Volk hat das verstanden, die Trken abernicht. Als ich hierher kam, haben mich die Trken keineswegs alsArzt akzeptiert. Sie haben versucht, mich als dahergelaufenenDorfhirten aus irakischen Bergen herunterzumachen, und habenmich effektiv daran gehindert, kurdische Flchtlinge zu behan-deln. Das hat nicht nur mich schwer getroffen...

    FRAGE: Wie heien Sie eigentlich wirklich?

    BEJAR: ...Yussuf. Josef.

    FRAGE: Josef was...?

    BEJAR: Im kurdischen Widerstand haben wir aus Sicherheits-grnden nur Decknamen. Meiner ist "Bejar". Man nennt mich "Dr.Josef Bejar".

    FRAGE: In dieser Region um Yksekova im trkischen Kurdistanist es traditionell sehr kalt. Es hat sibirische Winter bis zu minus40 Grad! Jetzt, im September, hat es nachts bereits unter Null.Die Nchte sind zum Erfrieren kalt. Ihr knnt daher hier niemalsden kommenden Winter berleben. Nach dem Gastod drohtEuch nun der Kltetod...!

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    BEJAR: Wir wissen das und machen uns deshalb auch groeSorgen. Wir knnen hier in der Gegend um Yksekova hchstensein paar Wochen berleben. Dann muss etwas geschehen.Zurck in den Irak knnen wir nicht mehr. Dort droht uns dersichere Tod. Bleiben uns nur noch die Trkei und der Iran als letz-

    te Hoffnungen. Aber unsere Hoffnungen hier in der Trkei schwin-den immer mehr. Heute nacht hatte es mindestens minus einenGrad unter dem Gefrierpunkt. Ich konnte vor Klte nicht schlafen.Tausende Flchtlinge konnten vor Klte nicht schlafen. DieMenschen standen zu Dutzenden wie in Trauben zusammen,haben einander gewrmt, Mut gemacht, und haben so die Nachtberstanden...

    DAVID HIRST (The Guardian): Haben Sie denn keine Decken?

    BEJAR: Schon, aber nur ganz wenige. Auf sechs Personenkommt derzeit eine Decke. Das heit: die Leute hier in diesem

    Lager knnen, wenn berhaupt, nur in Schichten schlafen. SechsFlchtlinge mssen sich nchtelang abwechseln, mit nur je einerDecke zu berleben. Zelte sind im Augenblick auch noch wenigvorhanden. Wenn es viele sind, dann um die 150 Zelte fr -sagen wir - sicherlich mehr als 10.000 Giftgasopfer. Das ist vielzu wenig. Sehen Sie sich selbst um: die meisten Flchtlingeschlafen unter freiem Himmel, haben sich mit Stauden, Laub undStecken provisorische Unterstnde gemacht. Wie die Steinzeit-menschen...

    FRAGE: Nur eine Decke fr sechs?

    BEJAR: Ja, und dabei habe ich meine Decke, die Sie hier sehen,aus dem Irak mitgenommen. ich habe sie um zehn irakischeDinar erstanden und bis hierher mitgeschleppt. Das ist dieWirklichkeit!

    FRAGE: Was passiert nun mit Euch? Ihr werdet hier den Kltetodsterben, wenn sich an Euren Verhltnissen nichts drastisch n-dert. Und das ist kaum zu erwarten...

    BEJAR: Wir frchten, dass hier bald ein Klte-Hiroshima am kur-dischen Volk passieren wird.

    KURDENFHRER: Wir sitzen alle aufrecht Klte und Nchtedurch und warten tglich nur auf eines: auf den ersten Son-nenstrahl morgens, um wieder Lebensmut zu bekommen.

    FRAGE: Frauen, Kinder und Greise schlafen auch unter diesenBedingungen?

    BEJAR: Ja. Einige Familien haben ein bisschen von ihrem Habund Gut vom Irak herberretten knnen. Aber nur wenige habendas geschafft. Vielleicht 20 oder - soll sein - ein paar mehr.

    KURDENFHRER: Die meisten von uns haben auch seit mehrals drei Wochen keine warme Mahlzeit mehr gesehen. Auch dieKinder nicht.

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    FRAGE: Aber die Trken sagen doch, Ihr wrdet regelmigauch warmes Essen bekommen, auch Fleisch und Vitamine...!

    KURDENFHRER: Hier in diesem Lager, sage ich Ihnen, ist diesnachweislich nicht der Fall. Fragen Sie jeden Kurden, den Sie

    wollen. Alle Menschen hier sind meine Zeugen. - Ob die Verhlt-nisse in anderen Lagern zu diesem Zeitpunkt anders sein knn-ten, wei ich nicht. Ich habe jedenfalls bisher nichts dergleichengehrt. Hier, in diesem Lager bei Yksekova bekommen wir je-denfalls, seit wir hier sind, nur Tee, Fladenbrot, und heute habenwir gehrt, dass es bald auch Melonen geben soll. Fr jedenFlchtling eine Schnitte. Aber das ist alles. Nicht mehr und nichtweniger.

    BEJAR: Wasser ist auch ein Problem. Aus dem Bach, der davorne am Lager die Strae entlang vorbeifliet, knnen wir nichttrinken. Dieser Fluss ist zu schmutzig. Die Trken bringen daher

    Trinkwasser in Tanks. Das ist relativ sauber.

    KURDENFHRER: Damit Sie nicht glauben, wir tten nichtsanderes, als ber unser Elend lamentieren: wollen Si einen Witzhren?

    FRAGE: Schieen Sie los!

    KURDENFHRER: Ich erzhle Ihnen den jngsten Kurdenwitzber unseren Weltbarbaren Saddam Hussein. Der Witz geht so:Saddam Hussein fliegt mit seinem Vize, Tarek Azziz, und dem

    Giftgasmord-Vertuscher Saadin Hammadi in einem Flugzeugber Kurdistan. Tarek Azziz hat einen guten Tag erwischt, ziehtzwanzig Dinar aus der Geldbrse, und schmeit sie aus demFlieger, um unten zwanzig Menschen happy zu machen. Ham-madi wirft vierzig Dinar aus dem Flugzeug. Vierzig Menschenfreuen sich. Saddam Hussein lsst eine Million Dinar springen,um eine Million Menschen glcklich zu machen. Und am Schlusshat Radio Kurdistan noch ein letztes Interview mit dem sowjeti-schen Piloten der Prsidentenmaschine gebracht. Der Sowjet hatdabei fr Kurdistan exklusiv erklrt, als er mitgekriegt habe, wiediese nationale irakische Spendierhose funktioniere, habe er sichentschlossen, den Schleudersitz zu bettigen, abzuspringen, und

    den Flieger in den Bergen von Kurdistan abstrzen zu lassen.Um ein ganzes Volk glcklich zu machen.

    FRAGE: (Die kurdischen Gesprchspartner zerkugeln sich vorLachen und hauen sich auf die Schenkel.) Also, Ernst beiseite,die Hilfe der Trken kommt offensichtlich nur sehr langsam undviel zu wenig...

    KURDENFHRER: Ja. Exakt.

    FRAGE: Wer soll diesen Flchtlingen dann wirklich effektiv ber-leben helfen? Die lokale kurdische Bevlkerung in dieser Gegendist ja auch bitter arm und kann nicht - sagen wir - mehr als 10.000Flchtlinge ernhren.

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    KURDENFHRER: Wir sind alle Kurden, im Irak, in der Trkei,im Iran, wir halten ber Grenzen zusammen. Die lokaleBevlkerung hilft uns auch, so gut sie kann. Zum Teil auch ver-steckt, damit die Trken keine Schwierigkeiten machen. Abersicherlich, diese Hilfe ist gering und hat eher symbolischen

    Charakter.

    FRAGE: Das heit, die lokale Bevlkerung darf mit denFlchtlingen in diesem Lager freien Kontakt halten?

    KURDENFHRER: Nein, so ist das nicht. Unser Lager ist prak-tisch von der Auenwelt abgeriegelt. Niemand darf freien Kontaktzu uns halten. Normaler Weise auch Journalisten nicht. Wir dr-fen auch nicht frei hinaus und wieder herein. Dies luft alles berdie lokale Lagerverwaltung ab. Sprich ber die Lagerpolizei, dieSicherheitsbehrden und das trkische Militr. Was die zulassen,kann geschehen, sonst nichts. Generell ist die Trkei nicht daran

    interessiert, uns groe lokale Kontakte aufzumachen, weil siefrchtet, damit knnte die Kurdenfrage in der Trkei zur Explo-sion kommen. Die Trkei bestreitet ja berhaupt, dass es ein Volkder Kurden gibt. Die Kurden werden hier in der Trkei gezwun-gen, ihre ethnische Identitt als Volk zu verleugnen und mssensich offiziell "Bergtrken" nennen lassen. Traurig...

    FRAGE: Ihr msst hier bleiben?

    BEJAR: Wir knnen nicht hier bleiben. Das ist nicht unsereExilheimat. Wir knnen hier nicht berleben. Wir wrden erfrieren

    und verhungern.FRAGE: Gibt es Probleme mit Geheimdienstleuten in diesemLager?

    BEJAR: Mit trkischen oder irakischen?

    FRAGE: Mit beiden!

    KURDENFHRER: Ja, diese Schwierigkeiten gibt es. Trkischeund irakische Geheimdienste kooperieren in den Lagern gegenuns. Leute werden verhrt. Eine ganze Reihe von Kurden sind

    bereits spurlos verschwunden. Manche wurden in den Irak ver-schleppt und dort hingerichtet. Auch Kurden mit westlichenPssen, die uns helfen wollten, sind von trkischem Territoriumin den Irak verschleppt worden. Und vieles mehr. Aber ich will fol-gendes klarstellen: wir sind als Flchtlinge hier und haben kei-nerlei Absicht, uns in interne Angelegenheiten der Trkei einzu-mischen. Wir wollen hier in trkischen Lagern lediglich in Sicher-heit leben und vom irakischen Regime, das uns bereits vergasenwollte, in Ruhe gelassen werden. Ich stehe auch nicht an, einzu-rumen, dass die Trkei keine offizielle Politik verfolgt, uns in denIrak zurckzuzwingen. - Ob uns die Trkei lieber heute als mor-gen wieder loswerden wollte, ist eine andere Frage. Aber auf

    jeden Fall sind bereits einige hssliche Zwischenflle passiert,wie ich angedeutet habe, die uns Kopfzerbrechen bereiten.

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    FRAGE: Hat die Trkei bisher - soweit Sie informiert sind - auchnur einen einzigen "Peschmerga", einen aktiven Widerstands-kmpfer, in den drohenden Tod in den Irak zurckgeschickt?Kennen Sie auch nur einen derartigen Fall?

    KURDENFHRER: Nein, nein. Bisher nicht. Hier in diesem Lagerist jedenfalls kein derartiger Fall bekannt geworden. Aber bereines drfen Sie auch sicher sein: sollte es darauf ankommenund darum gehen, dass wir unser Leben zu verteidigen habenwrden, dann wrden wir uns auch in den Lagern in der Trkei zuwehren wissen. Wir sind "Peschmerga" und haben gelernt, wiedas Wort schon sagt, dem Tod ins Auge zu blicken...

    FRAGE: Apropos Tod ins Auge blicken. Sehe ich recht: Dort dr-ben ist ein Hgel. Der schaut so aus, als wre er eine ArtTotenhgel. Wird dort nicht gerade jemand begraben?

    BEJAR: Ja, eine alte Frau. Sie ist vor ein paar Stunden gestor-ben. Wir wollten sie in einem regelrechten Friedhof begraben.Aber hier um dieses Lager herum gibt es keinen offiziellenFriedhof. Der nchste wrde in einem kurdischen Dorf etwasechs Kilometern dort nrdlich von diesem Hgel am Fu dieserhohen Berge am Horizont liegen, wo Sie auf den Gipfeln bereitsSchnee sehen knnen. Dieser Schnee wird bald zu uns an die-sen Fluss kommen und uns alle zudecken. Hoffentlich nicht zurewigen Ruhe. Wir haben die Trken gebeten, unsere Toten amDorffriedhof da drben beerdigen zu drfen. Die Trken habendies abgelehnt. Sie haben Angst, an jedem Begrbnis eines toten

    Kurden knnten sich Unruhen entznden. Seither begraben wirunsere Toten unter uns. Dort vorne auf diesem Hgel. Zuerst, alswir gekommen sind, waren dort nur drei Grber. Heute sind esschon Dutzende. Und das Sterben hrt nicht auf. Das Sterbenwird immer mehr. Manchmal habe ich das Gefhl, als wrden wiralle nur noch darauf warten, zu sterben und dort oben auf diesemHgel begraben zu werden. Das einzige wirkliche Leben, dasderzeit in diesem Lager noch einiger Maen aktiv vor sich geht,ist das Geschft des Todes. Darauf warten die Leute tglich.Davor haben sie schreckliche Angst. Und viele sagen, es drfenicht unser Schicksal sein, dass wir der Gaskammer der iraki-schen Armee nur deshalb entkommen wren, damit wir uns hier

    im Vorhof der Hlle fr ein groes Massensterben im Todestaktanstellen mssten. Unser Leben muss weitergehen als bis zudiesem Totenhgel da drben. Wenn unser Leben, das Lebenvon Kurden, berhaupt noch einen Sinn haben soll...

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    VOM BERLEBEN UND STERBEN

    Aufnahmelager Sst bei Yksekova

    13. September 1988

    An einem Krankenlager unter freiem Himmel...

    FRAGE: Wie heien Sie?

    IBRAHIM: ...bersetzt...

    MUSTAFA KHALIL EMIN: ...sagt seinen Namen.

    FRAGE: Und Du bist bei einem Giftgasangriff der irakischenArmee verletzt worden?

    MUSTAFA: Ja. Das ist am 25. August 1988 passiert. Pltzlichkamen 12 Hubschrauber. Um etwa 10 Uhr nachts. Die habenzuerst aus Nylonscken eine Art chemisches Pulver aus denHubschraubern geworfen. Dann haben sie uns mit Chemie-Bomben angegriffen. Bis Mitternacht haben die Iraker auch min-destens 120 Raketen auf uns abgeschossen. So etwas wie "KAT-JUSCHA". Ich wei den Namen nicht genau. Aber wir sagen zudiesen Raketen "KATJUSCHA". 120.

    FRAGE: Wo war das?

    MUSTAFA: Das war in der Gegend um Arbil und in der Regionvon Amadieh.

    FRAGE: Wie haben Sie diese Angriffe berlebt?

    MUSTAFA: Mich hat es aus dem Schlaf gerissen. Ich wollte ausdem Bett springen und mich ins Freie retten, schaffte es abernicht mehr. Mich hatte eine Giftgas-Ladung voll erwischt. Ichhabe die giftigen Gase total eingeatmet, weil wir alle vlligahnungslos waren, was da mit uns passieren wrde. Die Gasewaren in meiner Lunge. Ganz schwer. Schmerzlich. Ich wollte sieherauspressen, konnte aber nicht. Ich war wie benommen. Da

    bin ich in Panik geraten. Ich wollte weglaufen. Nur wegrennen.Irgendwohin. Weg von dort. ich bin aber nur fnf Meter gekom-men. Dann bin ich zusammengebrochen. Ich konnte mich nichtmehr konzentrieren. Mir wurde schwummelig vor den Augen.Alles war verschwommen. Ich habe nichts mehr klar gesehen.Habe mir die Augen auszuwischen versucht. Griff mir an denKopf. Nichts hat mehr gentzt. Ich bin nur noch hin und her getau-melt. Hin und her. Wie halb hinber. Bin gefallen, wieder aufge-standen, neuerlich hingefallen, konnte mich abermals hochrap-peln und habe mich so an die 20 Meter vom Haus wegge-schleppt. Und dann war es aus mit mir. Ich wurde bewusstlos, binstocksteif umgefallen und liegengeblieben. Sieben Stunden langwar ich bewusstlos.

    FRAGE: Wer hat Sie dann gerettet?

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    MUSTAFA: Ich bin wieder zu mir gekommen. Damals habe ichnicht mehr gewusst, wer ich bin. Ein Mensch? Ein Stck lebendi-ges Fleisch? Ein "Peschmerga"? Oder ein vlliger Niemand, derin der Gegend brig geblieben ist. Irgendwie brig geblieben.Zeitweise hatte ich Haluzinationen und habe geglaubt, ich htte

    Selbstmord an mir verbt, wre hinber, und so wrde es im Jen-seits aussehen. Nach dem Tod. Ich hatte alles vergessen. Wuss-te nicht mehr, wer ich war, wie ich hie. Wer mein Vater war,meine Mutter. Alles. Meine Kinder. Alles war total weg. Mein gan-zes frheres Leben. Wie ausgelscht. Weg. Vorbei. Da habe ichbegonnen, mich anzugreifen und abzutasten, ob das, was da vormir stand, wirklich ich wre. Habe mich gezwickt. Das habe ichgesprt. Und dann ist mir hundeelend geworden. Ich habe ent-setzlich gebrochen. Blut ist herausgekommen. Ich habe frchter-lich Blut gebrochen. Mir war speibel. Und alles hat gestunken.Alles in mir, um mich, alles.

    FRAGE: Waren Sie da allein?

    MUSTAFA: Nein. Wir waren fnf Leute. Drei davon sind gestorben.Nur zwei haben diesen Giftgasangriff berlebt. Ich und noch einer.

    FRAGE: Wie hat er sich schlielich hierher geschleppt?

    MUSTAFA: Nach sieben Stunden Bewutlosigkeit konnte ichnicht mehr. Ich habe es alleine nicht mehr geschafft. MeinKamerad hat mich gerettet und bis hierher in die Trkeigeschleppt. Ich verdanke ihm mein Leben.

    FRAGE: Geschleppt? Wie geschleppt?

    MUSTAFA: ...auf dem Buckel!

    FRAGE: Wie weit hat er das durchgehalten?

    MUSTAFA: ...kilometerweit. Bis wir zu Autos gekommen sind.

    FRAGE: Hat in Ihrer Gegend auer Ihnen und Ihren Freundenberhaupt jemand die Giftgasangriffe berlebt?

    MUSTAFA: Ich kann mich nur noch an das Schicksal der fnfMenschen erinnern, von denen ich Ihnen erzhlt habe, inklusivemeiner Person. Sonst wei ich nichts mehr. Ich kann mich nichtmehr erinnern. Das war Nervengas. Schauen Sie mich an, ich binfertig. Fahl, gelb, eingefallen, zittrig, eine Ruine da drinnen...(Deutet auf Brustkorb und Lunge...)

    Fnf Leute. Acht Leute waren wir ursprnglich...

    FRAGE: Acht?

    MUSTAFA: Ja, acht waren wir. Aber ich wei nur noch, was mitfnf passiert ist. Von den anderen wei ich nichts mehr. DieErinnerung kommt erst langsam wieder. Ganz langsam. Undschmerzlich. Es tut alles weh. Es tut alles so schrecklich weh...!

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    FRAGE: Waren alle gleich schwer verletzt?

    MUSTAFA: Nein. Das ist ganz darauf angekommen, wo Sie sichgerade aufgehalten haben, als die Chemiebomben explodierten.Mich hat es am schwersten erwischt. Eine Bombe ist unmittelbar

    neben mir explodiert. Ich bin im Detonationsbereich gelegen.Gott sei Dank war ich doch wenige Meter von der unmittelbarenExplosionsstelle weg. Die anderen drei waren noch nher. Diehat es voll erwischt. Mein Kamerad, der mich gerettet hat, hatteGlck. Er war etwas weiter weg und weniger schwer verletzt.

    IBRAHIM: Ich wei das aus eigener Erfahrung. Auch mein Dorfhaben die Iraker mit chemischen Waffen bombardiert. Das liegtschon Monate zurck. Und sie haben nicht nur einmal bombar-diert. Sie sind immer wieder gekommen. Immer wieder. Mit derZeit haben wir bereits bung bekommen, wie man Gasangriffeberlebt. Gasmasken haben wir keine gehabt. Auch keine Medi-

    kamente. Schon gar keine Gegen-Spritzen. Daher haben wir dasgetan, was alle wehrlosen Giftgasopfer tun: wir sind davonge-rannt. Sind auf Hgel gerannt. Oder auf Berge. Giftgase sindnmlich schwer. Sie setzen sich am Boden fest. Je hher manvor ihnen davon klettert, umso geringer wird ihre Giftgaswirkung.Das hat sich in ganz Kurdistan schnell herumgesprochen. Undso haben viele berlebt. Oben auf Bergen. - Dem Herrgott nherals dem drohenden Chemietod unten...

    FRAGE: Die kurdische Zivilbevlkerung hatte berhaupt keineSchutzmittel gegen einen Gaskrieg?

    IBRAHIM: Nichts, soviel ich wei...

    MUSTAFA: Nein, nichts. Ganz wenige "Peschmergas" hattenGasmasken von irakischen Soldaten in der Region erobert. Gele-gentlich auch einmal eine Anti-Giftgasspritze. Aber das war esauch schon. Die Masse der Bevlkerung hatte nichts. Absolutnichts. Das kurdische Volk war diesem Vlkermord vllig schutz-los ausgeliefert. Die meisten haben nur eines getan: sie sind weitweg gelaufen in die Berge und haben sich nasse Kopftcher oderihre "Kaffieh" vor Mund, Nase und Gesicht gehalten. Sonst nichts!

    FRAGE: Die irakische Regierung sagt, sie habe berhaupt keinechemischen Waffen gegen das eigene kurdische Volk eingesetzt.Das sei alles nur Lge und Verleumdung. Was sagen Sie dazu?

    IBRAHIM: Die lgen...

    MUSTAFA: Das ist eine so dreckige und miese Lge, dass sie nurden Hirnen ohne jede Moral von Unmenschen, Diktatoren,Barbaren, Gaunern und Verbrechern wie einem Saddam Husseinund Konsorten entsprungen sein kann. Jeder anstndigeMensch, der noch einen Funken Humanitt in sich hat, lgt nichtso etwas daher, was man jederzeit widerlegen kann. Tausend-fach. Zehntausendfach. Was sage ich: millionenfach. SchauenSie her! Schauen Sie mich an. Meine Hnde, mein Gesicht, mei-nen Krper. Ein Wrack. Ich bin ein Wrack fr den Rest meines

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    Lebens, wenn ich berhaupt noch ein Leben vor mir haben soll-te. Ich bin Opfer. Ich bin Zeuge...! Ich bin..., ach, Gott!, ich binnichts mehr...!

    IBRAHIM: Ich bin auch ein Giftgasopfer. Mich hat es, wie gesagt,

    bereits vor Monaten erwischt. Ich habe diese Giftgasangriffe seit-her berstanden. Mir geht es wieder besser. Ich war aber nur mit-tel verletzt. Dieser Mann hier ist schwerverletzt.

    FRAGE: ...schwer verletzt...

    IBRAHIM: ...vor rund einem Jahr habe ich auch so ausgesehenwie dieser Mann hier...

    (Ibrahim zeigt mir ein Foto von damals...)

    FRAGE: Wenn ich mir dieses Foto so ansehe: Ich habe hier ein

    Foto von einem jungen Mann vor mir, der entsetzlich mitgenom-men aussieht. Ein Gesicht von Runzeln und Schmerzen zer-furcht. Vorn bergebeugt. Gekrmmt. Kann nicht mehr stehen.Hlt sich kaum noch aufrecht. Fahl. Eingefallen. Apathisch. Fastwie weggetreten. Wird gesttzt. Der Mund halb offen. Die Augenhohl. Ein Totenblick ins Leere. Ein Mann im Vorhof zum Jenseits.

    MUSTAFA: (Hebt sein Hemd hoch. Entblt seinen Oberkrper.Zeigt Giftgasverwundungen auf der Haut, am Bauch, am Hals,am Rcken...)

    Sehen Sie diese groen Flecken? Mein ganzer Krper ist ber-sht davon. Groe. Kleine. Dunkle. Auch mein Rcken ist ber-zogen davon. Hier, sehen Sie, ist die Haut bereits wie inSchuppen abgefallen. Hier sehen Sie hellere Stellen. (Zieht auchdie Schuhe aus...)

    Sehen Sie sich meine Zehen an. Gelb. Braun. Streifen. VonFlecken voll. Auch hier blttert die Haut ab. - Das sind alles ein-deutige Beweise fr Folgen von Giftgasen. Zweifelsfreie Be-weise. Wenn das keine Beweise sind, dann kann man vor derUngerechtigkeit dieser Welt nur noch verzweifeln...!

    IBRAHIM: Er schmt sich. Er htte noch mehr Giftgas-Verletzungen zum Herzeigen. Aber er schmt sich, sie vorzuzei-gen...

    FRAGE: Das braucht es gar nicht. Wir haben schon genug gese-hen. Ich bin berzeugt davon, dass dieser Mann Opfer chemi-scher Waffen der irakischen Armee geworden ist. Ich habe garkeine Zweifel. Soweit ich bisher als Laie Giftgasopfer in Spitlerngesehen habe und mir von Experten Symptome dieser Krank-heiten auch an Hand von Fotos erklren lie, stimmt all dies mitdem zusammen, was ich an diesem Mann erkennen kann. - Wiean vielen Giftgasfllen hier in diesem Lager.

    IBRAHIM: Mustafa hat auch selbst Tote begraben, bevor es ihnerwischt hat!

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    FRAGE: Ja? Wie das? Ich habe geglaubt, er hat gesagt, er httees nicht einmal mehr geschafft, selbst zu berleben?

    MUSTAFA: Ich habe von zwei verschiedenen Gegenden undunterschiedlichen Zeiten gesprochen: von der Region um Arbil

    und jener von Amadieh. Ich komme aus der Gegend um Arbil.Von dort bin ich bereits vor Monaten weg, als die irakische Armeebegonnen hat, Landstriche wie das "Balisan Tal" mit chemischenWaffen zu bombardieren. Da bin ich mit Freunden weggezogen.Wir wollten in die Berge. Wir dachten, die Berge wren sicherer.Die Leute haben das erzhlt. Unten in Arbil habe ich noch Glckgehabt. Ich bin relativ glimpflich davongekommen. Meine Ver-wandten und Nachbarn aber nicht. Ich habe sie sterben gesehen.Habe sie alle sterben gesehen. Und dann haben wir sie auchbegraben. Drei habe ich mit eigener Hand begraben. Ich habegesehen, wie sie von Chemiebomben zugerichtet waren. Ent-setzlich. Ich habe so etwas in meinem ganzen Leben noch nicht

    gesehen. Dann haben wir uns Richtung Amadieh durchgeschla-gen. In Amadieh haben wir Sicherheit gesucht und sind vom Gas-tod eingeholt worden...

    FRAGE: Wie haben die Toten ausgesehen?

    MUSTAFA: Wie in Gips gehauen. In Totenstarre. Das Gesichtverzerrt. Verkrampft. Gesichter wie in Totenmasken. Einer warvllig blau...

    FRAGE: ...blau?

    MUSTAFA. ...ja, ganz blau...

    FRAGE: ...auch ein Indiz auf den Gastod!

    MUSTAFA: Keiner hatte irgendwelche uere Verletzungen.Keine Kugeleinschsse. Keine Blutlachen. Der starre Tod. DieSzene war so, als wre jemand gekommen und htte Mensch,Tier und Landschaft einen Moment lang in Gips festgehalten,eine Momentaufnahme in einem ewigen Zement gegossen. NurChaos und Unordnung war ringsherum. Aber sonst hat es so aus-gesehen, als htte der Gadtod aus Kurdistan ein riesiges bizar-

    res Wachsfigurenkabinett gemacht. Ein Totenkabinett. Gruselig.Ich erinnere mich: einer war auf seinen Kopf gefallen, die Hndeausgebreitet am Boden, die Fe gegen den Himmel. Sein Kr-per war so liegengeblieben. Angelehnt an Ruinen. Und er ist dortin seiner Totenstarre so liegengeblieben. Es ist auch zu hysteri-schen Szenen gekommen. Die Leute kriegten hysterische An-flle. Agierten wie Vollbesoffene. Wie in einem unfreiwilligenTrancezustand. Haben zu schreien angefangen. Zu brllen. Ha-ben echt durchgedreht. Konnten sich nicht mehr kontrollieren.Sind durch die Gegend gelaufen. Wild hin und her. Und durchein-ander. Einige versuchten auch offen, sich umzubringen, mit ihremLeben Schluss zu machen. Sie haben ihren Drang zum Selbst-mord aber nicht so recht mitbekommen. Sie wussten nichts da-von. Es war ihnen nicht bewusst, dass sie sich umbringen woll-ten. Schrecklich! Die reine Hlle auf Erden...!

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    AUF DEM HGEL, WO DER TOD WOHNT...

    13. September 1988

    Ibrahim zeigt mir den Hgel, wo der Lagertod wohnt...

    Lager Sst bei Yksekova. Die Sonne geht am Horizont unter.In einer unerreichbaren Ferne. Am Horizont letzter Hoffnungen.Dmmerung kriecht von Viertausendern vom Zagros bis zuHakkari vor uns zu Tal. Die Sonne wirft lange, bizarre Schattenvor sich her. An der Brcke halten LKWs. Davor postieren trki-sche Soldaten mit Gewehren im Anschlag. Am Fluss hockenBuben und Mdchen wie Tauben am Ufer und werfen Steine insWasser. Rauch liegt ber dem Lagerplatz. berall brennen kleineFeuer. Frauen kochen Tee. Mnner reden oder schweigen zu-sammen. Inmitten von Rauch, Elend und Gemurmel steht einknallgelbes Telephon auf der Lagerwiese. Die Trken haben es

    ins Camp gestellt. Kaum jemand telephoniert. Die einen sagen,sie htten sowieso kein Geld, die anderen, sie trauten den Trkennicht, sie wrden nur abgehrt und berwacht, wieder andere, siehtten niemand mehr, mit dem sie telephonieren knnten, und dieganz Verzweifelten meinen, die Welt lasse die Kurden ohnehinim Stich, wozu daher mit ihr zu telephonieren? Unten an derBrcke lsst ein trkischer Wanderhndler den Roll-Laden seinesfahrbaren LKW-Tandlerladens herunter. Er scheint zufrieden. Beiihm gibt es alles, was die Lagerverwaltung nicht bietet. Vom CocaCola bis zum Anzug. Die Trken sagen, die Kurden htten damitdas Dorf im Camp, wren frei, zu kaufen, was sie wollten und

    brauchten. Die Kurden sagen, was sie bruchten, erhofften sievon den Trken. Kostenlos. Nicht zu Lagerpreisen im Monopoldreimal so teuer wie im Dorf, wohin sie obendrein nicht drften.Sie seien bettelarm und auf der Flucht. Die Trken sollten sienicht halb verhungern lassen und ihnen dann zu berhhtenMonopolpreisen an LKW-Buden im Camp ihr letztes Geld ausder Tasche ziehen, das sie aus der Gaskammer im Irak in dieTrkei herbergerettet htten. - Die Kurden seien undankbar,sagen die Trken, und reagieren bse.

    Einen Feldweg entlang kriecht ein Jeep der trkischen Armee amLager vorbei. Er verschwindet hinter einer Kuppe. Ihm folgt eine

    Kompanie im Marschschritt. Sie rckt in ihre Baracke ein. IhrMilitrlager ist von der Strae nicht einsehbar. Es liegt in einerMulde hinter dem Camp, schwer bewacht, perfekt ausgestattet.So, dass den Soldaten auf Wacht nichts fehlen sollte. Nrdlichdieses Militrlagers Richtung Berge sind mit freiem Auge nochdie weien Grabsteine des nchsten Dorffriedhofes in der Ge-gend auszumachen, wo die Kurden aus dem Irak ihre Toten nichtbegraben drfen. Und davor hockt ein kleiner, steiniger Hgelzwischen dem Camp der Soldaten und dem Lager der Kurden,kahl, nackt, von Felsen zerfurcht, wo der Lagertod wohnt, wo dieKurden den letzten Giftgastod sterben und ihre Toten begraben...

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    KURDISCHE GIFTGASOPFER IRAK 1988 - AUGENZEUGENBERICHT

  • 8/14/2019 Kurdische Giftgasopfer Aus Dem Irak in Temporren

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    REPORTAGE:

    Wir stehen hier an der Bahre einer alten Frau, die im Sterbenliegt. Ihre Haare sind schlohwei, wie ihr Kopftuch, das sie umden Hals nach hinten geschlungen hat. Ihr Gesicht ist von Falten

    und Runzeln zerfurcht. Sie trgt noch ein letztes warmesLebenslicht auf ihrem Antlitz. In der Klte einer beginnendenTotenstarre. Ihre Augenlider sind geschlossen. Eine kurdischeFrau, die an der Bahre kniet, hat sie ihr vor wenigen Minutenzugedrckt. Die Nase hngt halb ber den geschlossenen, zahn-losen Mund. Das Kinn ist nach vor geschoben. ber dem ganzenGesicht liegt eine unendliche Ruhe. Die Tote lchelt fast, als httesie ihren ewigen Frieden gefunden. Eine vershnliche Gte liegtber ihren letzten Zgen. Der kleine, zierliche Krper dieser Frauim Sterben ist starr. Sie liegt auf einer primitiven Holzbahre, dieumstehende Kurden aus einer Latte und Stangen selbst gebastelthaben. Einen Sarg gibt es in diesem trkischen Lager nicht. Auch

    keinen Totengrber. Ebensowenig einen Priester. Die Kurdenbegraben ihre Toten selber ohne jede Hilfe. So, wie sie ihre Totenseit Jahrtausenden immer schon begraben haben.

    Im Hintergrund beginnt ein lterer Kurde mit hoher Makam-Stimme einen Totengesang anzustimmen. Die Menschen um

    mich fangen an, Texte zu murmeln, ihre Kpfe zu wiegen, eine ArtToten-Rhythmus in den Boden zu stampfen und ihre Krper zuverneigen. Eine Frau, die an der Bahre kniet, streift der Sterben-den eine dicke, wollene Decke ber den Kopf. Nur noch ein Zipfeldes weien Totentuches ist zu sehen. Und ein groer, bunterPolster aus Rot, Gelb, Wei, blauen und grnen Blumen. Die alteFrau hat ihr Leben ausgehaucht. Sie rhrt sich nicht mehr. IhrKrper ist tot. Ihr Geist ist unter diesen trauernden Menschenhier. Und all das, was sie in ihrem Leben einmal gewesen ist. EinStck Geschichte. Eine lebende Erinnerung. - Vier junge Kurdenhieven nun die Bahre der Verstorbenen hoch, tragen sie auf ihrenSchultern und steigen mit langsamen Schritten den Hgel derToten, wie ihn die Kurden nennen, hoch. Um uns hunderteMenschen. Sie formieren sich zu einem letzten Trauerzug. EinigeFrauen weinen. Kinder haben groe, traurige, fragende Augen.

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    Die Mnner tragen den Tod im Gesicht. Die Dmmerung um unsverbreitet eine dumpfe Stimmung. Der Mann im Hintergrund singtnoch immer sein Lied vom Sterben und vom Tod. Und von einembesseren Leben drben im Jenseits, auf das hier alle Kurden hof-fen...

    FRAGE: Woran ist diese Frau gestorben?

    KURDE: Sie hat einen Giftgasangriff auf ihr Dorf nicht bererlebt.Sie konnte sich nicht mehr retten, weil sie alt und gebrechlich war.Als die Giftgasbomben fielen, sind alle im Dorf in die Berge aufund davon gelaufen. Nur die alte Frau nicht. Sie musste zurck-bleiben und wurde voll von den chemischen Waffen getroffen.

    FRAGE: Ihr habt sie ihrem Schicksal berlassen?

    KURDE: Nein! Zuerst, als die Flugzeuge mit den Giftgasbomben

    kamen, mussten wir fliehen, sonst wren wir selbst draufgegan-gen. Als sie weg waren, sind wir sofort ins Dorf zurck und habengeschaut, wen wir noch retten knnten. Darunter war diese alteFrau. Sie war bewusstlos, als wir sie fanden. Dann haben wir siedurchgebracht und bis hierher in die Trkei mitgenommen. Siehat aber leider nicht berlebt. Wir konnten ihr nicht mehr helfen...

    FRAGE: Diese alte Frau hatte nie eine Chance zu berleben?

    KURDE: Eigentlich nicht. Wir haben alles versucht, was wir konn-ten...

    FRAGE: ...und Ihr hattet keinerlei Anti-Giftgasmittel?

    KURDIN: Wir hatten nichts. Wir waren schutzlos. Wir sind nurdavongerannt...!

    FRAGE: ...und hier in diesem trkischen Lager gab es auch keineAnti-Giftgas-Medizin...?

    IBRAHIM: Davon haben Sie sich selbst berzeugen knnen.Auch der trkische Lagerarzt hat gesagt, dass er keineMedikamente gegen Giftgasopfer hat...

    FRAGE: Ich wei. Das heit: - und das ist die bittere Wahrheit -Ihr alle, mehr als 10.000 Menschen alleine in diesem Lager, seidim Irak schutzlos dem Giftgastod ausgeliefert gewesen und seidauf der Flucht in Lagern in der Trkei noch immer ohne Medi-kamente dem Giftgas-Tod ausgeliefert. In Massen. Ohne Hilfs-mittel. Oh, Du lieber Gott! Wenn das so weitergeht wie bisher,werden viele von Euch wie diese alte Frau hier sterben. Frauen,Kinder, Greise, Jugendliche. Alle...

    IBRAHIM: Wir haben wirklich keine Chance. Wir haben nur vagegehrt, ganz wenige Kurden htten die Trken in Spitlernbehandelt. Sechs oder neun, sagen sie. Niemand von uns hatdavon aber etwas gesehen oder Genaueres gehrt...

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    FRAGE: ...und all die anderen sind auch in der Trkei zumGiftgastod verurteilt. Zu einem langsamen, qualvollen Sterben!

    IBRAHIM: (Bekommt Trnen in den Augen...).

    FRAGE: Ibrahim, wenn ich Ihnen so ins Gesicht sehe, das istelendig traurig...

    IBRAHIM: (Fasst sich...) Manchmal denke ich, das Leben hat kei-nen Sinn mehr. Ich schme mich. Ich schme mich fr mein Volk.Schme mich, wie man mein Volk behandelt. Erniedrigt. Aus... -wie sagt man - ausradiert...

    FRAGE: ...ausgerottet...

    IBRAHIM: ...ja, ausgerottet. Wir sind auch Menschen. Wir sindkeine Untermenschen. Wir sind ein stolzes Volk. Ein Volk mit tau-

    sendjhriger Kultur. Sie sollen aufhren, uns wie Tiere zu behan-deln. Als wir hierher kamen in die Trkei, haben mir bereits zweiDinge zutiefst weh getan. Dass uns die Trken auf Viehlastwagenverfrachtet haben, und dass sie zu uns gesagt haben: jetzt wrenwir auf trkischem Boden und drften nun nicht mehr sagen, dasswir Kurden wren. Wir mssten uns wie die anderen Kurden hier"Bergtrken" bezeichnen. Das hat sehr weh getan. Die Viehlasterhaben wir noch berstanden. Aber unser Kurdentum lassen wiruns nicht wegnehmen. Weder vom Irak, der uns vergast, nochvon der Trkei, die uns den Gastod sterben lsst. Wenn sie unsschon alles nehmen wollen - auch das Leben - eines werden sie

    uns nie wegnehmen knnen: dass wir sagen drfen: wir sindKurden. Dass wir wenigstens das sagen drfen. Und dass wir esin unserer schnen, eigenen Sprache sagen drfen. Kurdistan istunser Leben. Auch im Tod...

    FRAGE: Sind alle so verzweifelt hier wie Sie?

    IBRAHIM: Die meisten. Sie haben keinen Lebensmut mehr undkeine Hoffnung. Sie wollen nicht mehr. Sie knnen nicht mehr. Ichschme mich nicht, Ihnen zu sagen: manchmal, nachts, gehe ichauf diesen Hgel hierher herauf, wo wir unsere Toten begraben,und weine bitterlich. Weine ber mich und mein Volk. Da sieht

    mich niemand. Nur die Tot