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Kurt Tsadek Lewin (1890-1947) 1. Biographie 2. Kurzer Abriss der Theorie 2.1. Einführung 2.2. Um was geht es eigentlich in der Feldtheorie? 2.3. Entstehung der Feldtheorie 2.3.1. Unerledigte und unterbrochene Handlungen 2.3.2. Ersatzhandlungen 2.3.3. Psychische Sättigung 2.4. Einige Begriffe der Feldtheorie 2.4.1. Lebensraum und Aufforderungscharakter 2.4.2. Konflikte und Barrieren 2.5. Die universelle Verhaltensgleichung 2.6. Die dynamische Theorie des Schwachsinnigen 2.6.1. Psychische Sättigung 3. Bezug zur Syndromanalyse / Vergleiche bzw. Bezüge zu anderen Personen 3.1. Bezug zur Syndromanalyse 3.1.1.Von der aristotelischen zur galileischen Sicht in der Psychologie (und allgemein) 3.1.2. Systemtheoretischer Ansatz 3.2. Vergleiche bzw. Bezüge zu anderen Personen 3.2.1. L.S. Wygotski Literatur

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Kurt Tsadek Lewin (1890-1947)

1. Biographie 2. Kurzer Abriss der Theorie 2.1. Einführung 2.2. Um was geht es eigentlich in der Feldtheorie? 2.3. Entstehung der Feldtheorie 2.3.1. Unerledigte und unterbrochene Handlungen 2.3.2. Ersatzhandlungen 2.3.3. Psychische Sättigung

2.4. Einige Begriffe der Feldtheorie 2.4.1. Lebensraum und Aufforderungscharakter 2.4.2. Konflikte und Barrieren

2.5. Die universelle Verhaltensgleichung 2.6. Die dynamische Theorie des Schwachsinnigen 2.6.1. Psychische Sättigung

3. Bezug zur Syndromanalyse / Vergleiche bzw. Bezüge zu anderen Personen 3.1. Bezug zur Syndromanalyse 3.1.1.Von der aristotelischen zur galileischen Sicht in der Psychologie (und allgemein) 3.1.2. Systemtheoretischer Ansatz

3.2. Vergleiche bzw. Bezüge zu anderen Personen 3.2.1. L.S. Wygotski

Literatur

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1. Biographie 9.9.1890 Wird Lewin in Mogilno (damals preußische Provinz Posen, jetzt zu Polen

gehörend) geboren

1905- 1908 Besucht Lewin bis zu seinem Abitur das Kaiserin-Augusta-Gymnasium

1909-1910 Fängt Lewin ein Medizinstudium in Freiburg an. Wechselt dann nach München

und danach nach Berlin

1910-1914 Wendet sich in Berlin dann ganz der Philosophie, Wissenschaftstheorie und

Psychologie zu (Dr. phil.)

1914-1918 Dient Lewin als Kriegsfreiwilliger

1921-1932 Lehrt Lewin an der Universität und am Psychologischen Institut Berlin

1933 Emigriert Lewin in die USA und setzt dort seine theoretischen Arbeiten fort

1933-1935 Lehrt Lewin an der Cornell University in Ithaka im Staate New York und

1935-1944 an der Iowa State University

12.02.1947 Stirbt Lewin unerwartet in Newtonville bei Boston an den Folgen eines

Herzschlags (mit 56 Jahren)

2. Kurzer Abriss zur Theorie 2.1. Einführung Kurt Lewin gilt als einer der einflussreichsten amerikanischen Sozialpsychologen. Viele wird

diese Einschätzung vielleicht überraschen, da er sicher keine der besonders populären

Figuren der Psychologie ist, wie etwa Freud.

Er ist ein ehemaliger Gestaltpsychologe und unter anderem bekannt durch Untersuchungen

zur Affekt- und Handlungspsychologie. Auf diese gehen wir im Punkt 2.3. ein. Lewin machte

sich verdient um den Versuch eine „Dynamische Theorie des Schwachsinns“ zu entwickeln.

Mit diesem Versuch beschäftigen wir uns im Punkt 2.6.

Die Bezeichnung für seine Lehre änderte er im Laufe seines Lebens mehrfach:

„Topologische Psychologie“, „Vektorpsychologie“, „dynamische Psychologie“ und

„Feldtheorie“. Der Begriff „Feldtheorie“ hat sich inzwischen für seine Lehre durchgesetzt.

„Er wollte – kommend von der experimentellen Sozialpsychologie – eine Wissenschaft

begründen, deren Forschungsergebnisse unmittelbar Nutzen für Pädagogen, Sozialarbeiter

etc. haben konnten. Lewin wollte praxisnahe Hypothesen aufstellen und entsprechend

diesen Hypothesen sinnvolle Veränderungen im sozialen Feld durchführen und dann in

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längerfristigen Studien die Auswirkungen dieser Veränderungen kontrollieren.“

(http://www.stangl-taller.at/Arbeitsblaetter/forschungsmethoden/Handlungsforschung.shtml).

Nicht nur in der Psychologie ist der Begriff „Feldtheorie“ in verschiedenen Bedeutungen und

Zusammenhängen verwendet worden. Die Feldtheorie Kurt Lewins hat sich aus der Willens-

und Gestaltpsychologie heraus entwickelt. Das Gemeinsame bei den meisten

Verwendungen ist, dass sie den ganzheitlichen Charakter und den dynamischen

Zusammenhang von Wahrnehmung, Erleben und Verhalten betont. Damit stehen die

Feldtheorien vor allem im Gegensatz zu allen zergliedernden und elementaristischen

Betrachtungsweisen.

Die bereits auf die Antike zurückgehende grundlegende These, dass das Ganze mehr als die

Summe seiner Teile sei, war auch Lewin verpflichtet. Es führt seiner Meinung nach nicht

weiter, wenn man Handeln in Einzelteile zerlegt. Es sei viel sinnvoller, von einer Analyse der

Gesamtsituation auszugehen.

2.2. Um was geht es eigentlich in der Feldtheorie?

„Ganz einfach gesagt darum, dass wir uns zu manchen Dingen in unserer Umgebung

hingezogen und von anderen abgestoßen fühlen, ähnlich wie sich eine Masse im Schwerfeld

oder Eisenfeilspäne im Magnetfeld verhalten“(Lück, 1996). Dabei bezieht sich Lück mit

„Dingen“ auch auf Personen, Personengruppen oder Gedanken. Lewin nannte die

„Wertigkeit“ eines Ziels in der Umgebung Auforderungscharakter. „Die Gebilde sind

gegenüber dem Kind nicht neutral, sondern haben eine unmittelbare psychologische

Wirkung auf sein Verhalten: Viele Dinge reizen das Kind zum Essen, andere zum Klettern,

zum Greifen, zum Manipulieren, zum Saugen (…). Diese fordernden Umwelttatsachen- wir

nennen sie Aufforderungscharaktere – bestimmen die Richtung des Verhaltens“ (Lewin,

Werkausgabe Band 6).

Oft wird für diesen Begriff „valence“ gewählt. So sind es nicht die physikalischen

Eigenschaften der Dinge, die zum Beispiel für das Kind ausschlaggebend sind, sondern die

funktionellen Möglichkeiten.

Bevor wir genauer auf die Entstehung von Lewins Feldtheorie und ihre weiteren Begriffe

eingehen, möchten wir kurz auf den Feldbegriff (bezogen auf Gravitationsfeld) in der Physik

eingehen, um eine genauere Vorstellung von dem Begriff „Feld“ zu bekommen.

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„Ein Feld beschreibt meist eine Energieverteilung, die erst dann wirksam wird, wenn „etwas

mit ihr geschieht“: Erst das Eintreten eines Körpers in das Gravitationsfeld und erst das

Einbringen einer Kompassnadel in ein Magnetfeld lassen den Charakter und die Wirkung

des Feldes deutlich werden“(Lück, 1996).

„Mit dem Terminus „Feld“ bezeichnet man in der Physik in der Regel nicht die in einem

bestimmten Raume verteilten Energien, sondern die in einem Raume bestehenden, durch

Kraftlinien dargestellten Zug- und Druckkräfte“ (vgl. Lück, 1996).

So steht auch der Mensch in Spannungsfeldern und die Zug- und Druckkräfte im Feld

beschreiben das menschliche Verhalten (Handeln).

2.3. Entstehung der Feldtheorie

Wie schon am Anfang erwähnt wurde, hat Lewin seine Feldtheorie aus der Willens- und

Gestaltpsychologie heraus entwickelt. Für das Verständnis der Feldtheorie Lewins ist es

wichtig zu wissen, dass auch Handlungen Gestaltcharakter besitzen können.

Die Untersuchungen zur Affekt- und Handlungspsychologie, die Lewin und seine Schüler in

Berlin in der Zeit von etwa 1922-1932 im Rahmen von Doktorarbeiten durchgeführt haben,

haben entschieden zur Entstehung der Feldtheorie beigetragen. Daher werden an dieser

Stelle kurz Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen dargestellt. Einige Versuche

wurden sowohl mit Kindern als auch mit Erwachsenen durchgeführt. Die Versuchspersonen

wurden während der Versuche nicht nur beobachtet, sondern im Anschluss auch interviewt.

Gefragt wurde z.B. danach, wie sie die Instruktion verstanden haben, was sie beim Versuch

dachten usw. (vgl. Lück 1996).

Die Untersuchungen lassen sich in fünf Themen einordnen. Hier werden drei davon

thematisiert. Lewin machte ebenfalls experimentelle Untersuchungen mit Berliner

Hilfsschülern und versuchte eine dynamische Theorie des Schwachsinns in ihren

Grundzügen zu entwickeln. Dabei befasst er sich ebenfalls mit den drei (folgenden)Themen.

Der Bezug zur dynamischen Theorie des Schwachsinns findet jedoch im Punkt 2.6. und 3.2.

statt.

2.3.1. Unerledigte und unterbrochene Handlungen

Die Untersuchungen wurden von Bluma Zeigarnik zwischen 1924 und 1926 an 164 Kindern

und Erwachsenen durchgeführt. Die Versuchspersonen mussten verschiedene Aufgaben wie

zum Beispiel ein Puzzle zusammensetzen, Perlen aufziehen usw. erledigen. Die Hälfte

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dieser Aufgaben ließ Zeigarnik jeweils zu Ende führen, bei der anderen Hälfte wurden die

Versuchspersonen bei ihrer Handlung unterbrochen und mussten eine neue Aufgabe

erledigen. Am Ende wurde geprüft an welche Aufgabe sie sich am stärksten erinnern.

Es wurde beobachtet, dass unerledigte Handlungen fast doppelt so gut behalten wurden als

erledigte Handlungen.

2.3.2. Ersatzhandlungen

Vera Mahler hat die Untersuchungen zu Ersatzhandlungen zwischen 1930 und 1931 ähnlich

dem Zeigarnik-Typ durchgeführt. Hier wurden die Handlungen der Versuchspersonen

ebenfalls auf Befehl zum Abbruch gebracht. Daraufhin wurden ihnen verschiedene

Möglichkeiten von Ersatzhandlungen angeboten. Mahler prüfte die Wirksamkeit der

Ersatzhandlungen indem sie nach der Durchführung der Ersatzhandlungen den

Versuchspersonen die Möglichkeit gab, die unterbrochene Handlung zu Ende zuführen.

Hier wurde beobachtet, dass das Interesse an Ersatzhandlungen größer ist, wenn die

Ersatzhandlung der ursprünglichen ähnlich ist und wenn die ursprüngliche Handlung fast zu

Ende geführt wurde.

2.3.3. Psychische Sättigung:

Der Begriff der Sättigung soll den Zustand beschreiben, in dem eine Person eine bestimmte

Tätigkeit nicht mehr ausführen möchte. Das Kriterium hierfür ist die Beendigung einer

Handlung ohne Aufforderung von außen. Anita Karsten hat 1928 diesen Zustand untersucht.

Ein wichtiges Ergebnis der Arbeit war die Erkenntnis, dass sehr gleichförmige Tätigkeiten

sowie Tätigkeiten mit geringer Ich- Beteiligung schneller zur Sättigung führen. Bei häufiger

Wiederholung einer Handlung muss die Leistung keineswegs besser werden. Sie kann sogar

durchaus sinken.

Als Lewin und seine Schüler diese Untersuchungen durchführten, sprach man jedoch noch

nicht von einer Feldtheorie, da der Feldbegriff erst später in seiner Theorie auftaucht. Aber

wie schon erwähnt, haben diese Untersuchungen den Weg zur Feldtheorie bereitet.

2.4 Begriffe der Feldtheorie

2.4.1. Lebensraum und Aufforderungscharakter

Lewin betrachtet menschliches Handeln und stellt es in Feldern dar. In diesem Feld

(Umgebung) gibt es viele Gebilde und Ereignisse, die einen Aufforderungscharakter

aufweisen.

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„Die Art und Stärke eines Aufforderungscharakters werden wesentlich durch die

momentanen Bedürfnisse der Person bestimmt. Man muss sich daher den Lebensraum des

Individuums in steter Veränderung vorstellen: Einige Dinge gewinnen an Reiz, andere

verlieren ihn; manche positiven Regionen des Lebensraums sind nur zu erreichen, wenn

Regionen mit negativen Valenzen durchschritten werden. So ist der akademische Grad

(positiver Aufforderungscharakter) nur zu erreichen, wenn eine Region mit negativer Valenz

(Arbeit und Entbehrungen im Studium) durchlaufen wird.“ (Lück, 1996). Sicherlich ist dies

auch individuell zu betrachten. Für einige ist es ja kein Entbehren. So ist aber dieses

Durchschreiten des Lebensraums nicht nur im physischen, sondern auch im

psychologischen Sinn gemeint. „Lokomotion“ ist der von Lewin benutzte Begriff für diese

Veränderung in Richtung auf eine Valenz (Aufforderungscharakter).

2.4.2. Konflikte und Barrieren

Eine Situation, in der eine Person an einer Aufgabe, Beschäftigung oder an einem

Gegenstand Interesse hat, lässt sich feldtheoretisch leicht beschreiben:

Es besteht ein positiver Aufforderungscharakter (Valenz), und es besteht eine Feldkraft von

der Person in Richtung auf das Ziel, topologisch dargestellt als Vektor (↑↓). Die

Voraussetzung für das Wirksamwerden der Valenz ist, dass dieser im Vergleich zu den

sonst wirksamen Feldkräften stark genug sein muss.

Beispiel: Ein Kind will sein Spielzeug wiederbekommen und auf dem Weg zum Ziel befindet

sich ein Hindernis, von Lewin topologisch als „Barriere“ bezeichnet. Die Barriere kann

physikalischer oder psychologischer Art sein (Gartenbank; Verbot eines Erwachsenen).

Diese Barriere wird die Aktion des Kindes auf das Ziel hin erschweren. Das Kind wird

vermutlich versuchen, um die Bank herumzulaufen, oder es wird versuchen, den

Erwachsenen umzustimmen. Lewin beschreibt dies als eine „natürliche Teleologie“. Die

psychologische Situation des Kindes kann allerdings zum Konflikt werden. Lewin sieht im

Konflikt entgegengesetzt gerichtete, etwa gleichstarke Feldkräfte, die gleichzeitig auf das

Individuum einwirken.

Zum psychischen Lebensraum gehören neben der Realitätsebene auch Irrealitätsschichten.

„Die Irrealität, das Land der Träume und Luftschlösser, stellt psychologisch- dynamisch ein

weiches und leicht bewegliches Medium dar. Es ist durch die Tatsache charakterisiert, dass

man in ihm kann, was man will“ (Lewin; Werkausgabe 6, S. 218). Diese Ebene wird durch

das fehlen fester Barrieren und durch eine weniger ausgeprägte Grenze zwischen Ich und

Umwelt charakterisiert.

So kann es geschehen, dass sich eine Person bei einem besonders starken Konflikt diesem

nicht mehr stellt, sondern aus dem Feld geht. Sie weicht einer unangenehmen Realität in die

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beliebig angenehm machbare Irrealität der Wunderwelt aus. Dies erfolgt umso eher und

häufiger, je negativer die Valenzen sind und je einfacher es ist, sich dem Konflikt nicht zu

stellen.

„Die Konfliktsituationen werden wesentlich durch die Umwelt des Individuums bestimmt,

jedoch ist stets zu beachten, dass der Lebensraum in Lewins Theorie stets die vom

Individuum wahrgenommene Umwelt und nicht die dingliche Umgebung ist.“ (Lück, 1996)

2.5 Die universelle Verhaltensgleichung Ab der zweiten Hälfte der Zwanziger Jahre bemühte sich Lewin um eine stärkere

Formalisierung und Mathematisierung seiner Psychologie. Er war überzeugt, dass er mit

Hilfe der Mathematik einen größeren Grad an Genauigkeit in seine Theorie einbringen

könnte. Die Mathematik als Hilfsmittel ermöglicht eine Reduzierung von Komplexität.

So findet sich in vielen seiner Veröffentlichungen eine Gleichung, die später als universelle

Verhaltensgleichung Lewins bezeichnet wurde:

V = f (P,U)

Hiernach ist das Verhalten (V) eine Funktion (f) der Person (P) und seiner Umwelt (U). Da

der Lebensraum die Person und die Umwelt umfasst, kann nach Lewin auch geschrieben

werden: V = f Das Verhalten ist nach Lewin eine Funktion des Lebensraums (Lück, 1996).

Ein wichtiger Gesichtspunkt dieser Betrachtungsweise ist die Betonung der Gegenwart. Man

sollte unterscheiden zwischen historischen und systematischen Fragen. Man sollte

vergangene Ereignisse nie kausal als Ursache gegenwärtigen Verhaltens ansehen. Es soll

aber nicht bedeuten, dass frühere Ereignisse bedeutungslos sind. Sie sind insofern wichtig,

als dass sie die gegenwärtige psychische Verfassung und gegenwärtiges Verhalten

bestimmen.

2.6. Die dynamische Theorie des Schwachsinnigen 1933 erschien Lewins Schrift: Die dynamische Theorie des Schwachsinnigen. Lewin

versuchte eine dynamische Theorie des Schwachsinns in ihren Grundzügen zu entwickeln.

Er wollte mit experimentellen Untersuchungen die intellektuellen Prozesse dieser Kinder

erfassen. Diese Theorie ist auf der Suche nach der Antwort auf die Frage nach der Natur des

geistigen Zurückbleibens. Lewin will nicht den geraden und direkten Weg der Erforschung

des Intellektes „schwachsinniger Kinder“ gehen, sondern versucht ihren Willen und ihre

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Bedürfnisse (Affekt) zu erforschen um dort Antworten über ihre Eigenart zu finden. (vgl.

Lewin, Band 6)

Bei der Beschreibung dieser Theorie werde ich Lewins Begriffe von Behinderung

beibehalten.

„Als Versuchspersonen dienten Schüler verschiedener Berliner Hilfsschulen im Alter von 6

bis 12 Jahren. Die Mehrzahl war als debil, einige wenige waren als imbezil zu bezeichnen.

Es wurden Vergleichsversuche von denselben Versuchsleitern an normalen Kindern der

verschiedenen Altersklassen durchgeführt.“ (Lewin, Band 6, S. 226).

Wie schon bei Punkt 2.3. beschrieben, interessierte sich Lewin für den Vorgang der

psychischen Sättigung, der Wiederaufnahme unerledigter und unterbrochener Handlungen

und den Ersatzwert von Ersatzhandlungen. An dieser Stelle beschäftigen wir uns nur mit den

Ergebnissen zur psychischen Sättigung.

2.6.1. Psychische Sättigung

Die Kinder sollten fortlaufend Mondgesichter zeichnen, bis sie genug hatten. Durch die

Wiederholung wandelt sich der positive Aufforderungscharakter der Arbeit bzw. ihr neutraler

Charakter allmählich in einen gleichgültigen und schließlich in einen negativen

Aufforderungscharakter. Nach dem Abbruch der Handlung hatte jedes Kind die Möglichkeit

zum freien Zeichnen angeboten bekommen.

Ergebnisse:

• Den 9- 11 jährigen Hilfsschülern machte die Aufgabe keine besonderen

Schwierigkeiten.

• Jedoch die 8-jährigen Hilfsschüler zeichneten weniger Monde je Minute als die

gleichaltrigen Regelschüler.

• Die Gesamtdauer des Sättigungsversuches (Mondgesichter plus freies Zeichnen)

war bei 8-jährigen Hilfsschülern im Durchschnitt kürzer als bei den gleichaltrigen

Regelschülern.

• Die Dauer für die Gesamtsättigung bei Regel- und Hilfsschülern scheint sich bei

solchen Tätigkeiten nicht sehr wesentlich zu unterscheiden.

Jedoch beschreibt Lewin gewisse typische Unterschiede der Verlaufsform:

• 10-11jährige Hilfsschüler sind fast durchgehend mit dem Malen von Mondgesichtern

ausgefüllt. Nach der Sättigung weigerten sie sich frei zu zeichnen.

• Bei den Regelschülern ist es umgekehrt. Das Mondgesicht malen sättigt sie viel

schneller, aber sie waren dafür bereit frei zu zeichnen.

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Lewin leitet aus diesen Beobachtungen ab, dass der Konflikt zwischen dem Wunsch, weiter

zu zeichnen und der beginnenden Sättigung beim Hilfsschüler sehr viel häufiger zu

Ruhepausen und Zwischenhandlungen führt. Der Regelschüler reagiert nach Lewin viel

elastischer und weicher. Er nutzt dazu allmähliche und fließende Übergänge und findet den

Weg des Kompromisses zur Lösung des Konfliktes. So führt der Konflikt nicht zum

unvermittelten Abbruch der begonnenen Aufgabe.

Lewin sucht die Erklärung für den “Unterschied“ zwischen Hilfsschüler und Regelschüler

eher bei den Hilfsschülern.

„Ich möchte glauben, dass hier eine sehr viel fundamentalere Eigenschaft des

Schwachsinnigen eine Rolle spielt: eine funktionelle Starrheit, eine Unbeweglichkeit des

seelischen Materials, die ihrerseits die eigentliche Ursache auch für die intellektuellen

Schwierigkeit ist.“ (Lewin, Werkausgabe Band 6, S. 226)

Bei dem Punkt 3. 2. werde ich noch einmal auf Lewins dynamische Theorie des

Schwachsinnigen eingehen, jedoch in Bezug auf Wygotski.

3. Bezug zur Syndromanalyse / Vergleiche bzw. Bezüge zu anderen Personen

An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass Kurt Lewin im Grunde in keinem direkten Bezug

zur Syndromanalyse steht und er nicht direkt als Person an deren Entwicklung beteiligt war.

Es besteht aber ein indirekter Bezug zur Syndromanalyse, da Wygotski sich auf Lewins

dynamische Theorie des Schwachsinns bezogen hat. Zimpel beschreibt den Einfluss Lewins

wie folgt:

„Später entwickelte er eine dynamische Handlungstheorie aus der experimentellen Arbeit mit

Berliner Hilfsschülern. Auf diesen Ergebnissen baute die kulturhistorische Schule Wygotskis

ihren pädagogischen Optimismus auf, sogar schwere Hirnschäden pädagogisch zu

kompensieren“ (Zimpel, 1994, S. 43).

3.1. Bezug zur Syndromanalyse

3.1.1.Von der aristotelischen zur galileischen Sicht in der Psychologie (und allgemein)

Hierbei gehen wir auf das Bemühen Kurt Lewins, um eine galileische Sicht in der

Psychologie ein. Damit ist gemeint, dass die vorwissenschaftliche Vorgehensweise

(Methode: Häufigkeit, Statistik; Ermittlung der Intelligenz des „normalen Kindes“) in der

Psychologie abgelöst werden muss durch eine wissenschaftliche Vorgehensweise (Methode:

auch Einzelfall ist gesetzlich; Überwindung von Einordnung in „normal-unnormal“). Bei der

Beobachtung von Verhalten darf es nicht zu einer ungerechtfertigten Gleichsetzung von

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Phänotyp (Beobachtetem) und Genotyp (dynamisches Gesetz) kommen. Häufigkeit als

Wahrheitskriterium kann zu einer Klassifikation von wesentlichen und unwesentlichen

Verhaltensweisen führen. Menschen, die unter behindernden Bedingungen leben, wären als

„schwach“ angesehen. Dies wäre ihr Wesen. (vgl. Zimpel, 1994, S. 74). Genau dies versucht

die Syndromanalyse aufzubrechen. Sie fordert eine Klarheit des Beobachterstandpunktes.

„In der Anwendung statistischer Verfahren sieht Lewin den handgreiflichsten Ausdruck dieser

Denkweise in der Psychologie, vor allem in der Durchschnittsberechnung.“ (Zimpel, 1994, S.

85).

Gegenstand der Diagnostik (Syndromanalyse) sollte nicht die Intelligenz sein, welche folglich

durch Tests ermittelt wird, sondern die Intelligenz ist etwas, was man dem Verhalten

unterstellen sollte.

Die klassische Logik, dass Informationen unabhängig von subjektiver Wahrnehmung

bestehen, wird durch eine Neubewertung geistiger Entwicklung aufgehoben. Lernen wird

nach Lewin als ein ganzheitlicher Prozess betrachtet.

„Es ist heute Allgemeingut, dass Schwachsinn keine isolierte Krankheit des Intellekts ist,

sondern die Gesamtperson berührt. Über diese allgemeine Einsicht ist man jedoch wenig

hinausgekommen. Insbesondere fehlt eine positive Charakterisierung dieser Eigenheit der

Gesamtperson.“ (Lewin, KLW, Band 6).

Dies sind wichtige Aspekte für die Bewertung von Behinderung. Geistige Behinderung darf

nicht mehr vorwissenschaftlich als verspätetes oder ausbleibendes Erreichen von

Bildungsnormen bezeichnet werden und einem Menschen als Attribut zugeschrieben

werden.

3.1.2. Systemtheoretischer Ansatz

Interessant ist hierbei auch die Verbindung zur Systemtheorie.

Lewin benutzte den Systembegriff, aber er spricht von einem System praktisch nur bei seiner

Diskussion der Persönlichkeitsstruktur. System ist für ihn ein „Bereich“, der unter dem

Gesichtspunkt seines Zustandes, insbesondere seines Spannungszustandes, betrachtet

wird. (Lück, 1996). Die Beschreibungen des Lebensraumes lassen auch erkennen, dass er

diesen als offenes System ansieht, das Veränderungen unterliegt. Man kann auch

andersrum schauen und feststellen, dass es sich bei der Systemtheorie um eine dynamische

Theorie bzw. Feldtheorie handelt.

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3.2. Vergleiche bzw. Bezüge zu anderen Personen 3.2.1. L.S. Wygotski

Wygotskis Erkenntnisse basieren unter anderem auf der Auseinandersetzung mit Lewins

dynamischer Feldtheorie. Ein Jahr nach Wygotskis Tod wurde der von ihm verfasste Artikel

„Das Problem des geistigen Zurückbleibens“ (1935) veröffentlicht. In dieser Schrift bezieht er

sich auf den Text von Lewin „Eine dynamische Theorie des Schwachsinnigen“ (1933).

Wir möchten hieraus einige Aspekte herausgreifen.

Wygotski schreibt, dass Lewin als erster systematisch versucht, eine dynamische Theorie

des kindlichen Schwachsinns auszuarbeiten. Er sagt, dass diese neue Richtung richtig

betont, dass der Schwachsinn keine isolierte Erkrankung des Intellekts ist, sondern die

Persönlichkeit als Ganzes erfasst. Doch seiner Meinung nach hat diese neue Richtung den

Bogen zu sehr in die andere Richtung überspannt. Früher suchte man im Grunde den

Schwachsinn im intellektuellen Defekt. Dies war nach Wygotski auch falsch. Die neue

Richtung hat aber wie erwähnt, fast jegliche Bedeutung des intellektuellen Defektes zur

Erklärung der Natur des geistigen Zurückbleibens bestritten. Dies sei nach Wygotski auch

nicht korrekt. Hier geht es nach Wygotski nicht um ein gegenüberstellen von Affekt und

Intellekt, sondern um deren Beziehung zueinander.

„Die kleinste Einheit zum Verstehen menschlicher Verhaltensweisen ist nach Wygotski die

Beziehung zwischen Intellekt und Affekt, zwischen Wissen und Leidenschaft oder mit den

Worten Leontjews Sinn und Bedeutung.“ (Zimpel, 1994, S. 78)

Pädagogische Ideen zielen auf die Überwindung eines isolierenden Verhältnisses von Sinn

und Bedeutung.

Wygotski kritisiert die fehlende Berücksichtigung der Motive und Zeichenebenen in Lewins

Untersuchungsmethodik. So macht Wygotski deutlich, dass der Gegenstand des Lernens

von größter Bedeutung bei der geistigen Entwicklung ist.

Wie wichtig es ist, die Motive und Zeichenebenen der Kinder zu berücksichtigen, zeigen die

nachgestellten Versuche zu Sättigung beim Zeichnen von Mondgesichtern nach Kurt Lewin

(siehe 2.6) durch Zimpel. Die Kinder erzählten freiwillig, was die Zeichnungen für sie

bedeuten. Ein Kind kommentierte seine Mondgesichter nach der Qualität. „Das ist nichts

geworden. Noch einmal! Das ist jetzt besser. Wenn ich schneller male, werden sie

schlechter…“ usw. (Zimpel, 2001)

Ein anderes Kind sah seine Gesichter im Zirkus. Es malte nach dieser Erkenntnis schneller

und stellte keine Einzelpersonen mehr da, sondern das Publikum.

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Bei den Kindern ließen sich unterschiedliche Motive erkennen. Diese verweisen auf

unterschiedliche Phasen der Entwicklung des kindlichen Spiels. Wurde die affektive Dynamik

der Aufgabe so verändert, dass sie dem Spielmotiv der logisch späteren Spielphase

entsprach, also z.B. vom Rollenspiel zum Regelspiel, dann hatte die Handlung schon einen

höheren Aufforderungscharakter für die Kinder. Es muss also geeignetes Material gefunden

werden, welches die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Dabei muss die Möglichkeit gezielte

Syndrome zu berücksichtigen gegeben sein.

Literatur: Lewin K., Werkausgabe Band 6, Psychologie der Entwicklung und Erziehung, Hrsg. Weinert Franz, Bern; Klett-Cotta 1982. Lewin K, Werkausgabe Band 4, Feldtheorie, Hrsg. C.-F. Graumann, Bern: Klett-Cotta 1982. Lück E. Helmut, Kurt Lewin, Eine Einführung in sein Werk, Basel: Beltz Verlag 2001. Wygotski, L Semjonowitsch (1935) In: Zimpel A. Frank, Systemische Syndrom und Gegenstandsanalyse, Reader zum Förderschwerpunkt „geistige Entwicklung“ S. 174- 211. Zimpel A. Frank, Der Wille zur Norm- Zur Rolle der Eigenzeit in der geistigen Entwicklung, (In: http://bidok.uibk.ac.at/library/beh2-98-rolle.html?hls=Kulturhistorische). Zimpel A. Frank, Entwicklung und Diagnostik, Hamburg, Münster: LIT Verlag 1994. Zimpel A. Frank, Buchstaben verändern das Denken, In: Hrsg. Jantzen, Wolfgang: Jeder Mensch kann lernen- Perspektiven einer kulturhistorischen (Behinderten) Pädagogik, München: 2001; S. 164.177.