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FÜR ERWACHSENE EMPFOHLEN Kurzgeschichten von Jugendlichen über Erfahrungen, die ihr Leben aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Ein kidz4kids-Themenbuch.

Kurzgeschichten von Jugendlichen über Erfahrungen, die ihr ... · die Idee zu unserem “Löwen-Buch” war ja schon in 2017 entstanden und hat dann doch, bis zur Umsetzung, weit

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Kurzgeschichten von Jugendlichen über Erfahrungen , die ihr Leben

aus dem Gleichgewicht gebracht haben . Ein kidz4kids-Themenbuch .

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Liebe Leserinnen, liebe Leser,

die Idee zu unserem “Löwen-Buch” war ja schon in 2017 entstanden und hat dann doch, bis zur Umsetzung, weit über ein Jahr gedauert. Aber es hat sich gelohnt! Wir haben authentische Texte erhalten, die uns berührt haben, die uns zum Weinen brachten, bei denen wir das unsägliche Leid, das teilweise dahinter steckte, förmlich erspüren konnten. Welch ein Mut gehört dazu, dies alles zu Papier zu bringen und veröffentlichen zu lassen! Die jungen Autoren, die so viele unterschiedliche Schicksalsschläge gemeistert haben und teilweise noch meistern müssen, haben unseren größten Respekt verdient. Uns erreichten aber auch viele E-Mails der Autorinnen und Autoren, in denen sie uns gedankt ha-ben für diese Chance, ihre Erlebnisse, Gefühle, Ängste und Nöte veröffentlichen zu dürfen. Zum einen ist ja bekanntlich geteiltes Leid halbes Leid, zum anderen wird durch das Aufschreiben der Erfahrungen und Begebenheiten schon das Verarbeiten mit eingeleitet. Genauso sollte das sein!

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Unsere Vorsitzende von kidz4kids, Anuschka Gulde

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Allerdings hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich mitten in der Produktion des Löwen-Buches selbst Betroffene werden sollte. An Weihnachten 2017 wur-de bei mir eine schwere bösartige Krebserkrankung diagnostiziert. Mittler-weile liegen unzählige Chemo-Therapien hinter mir, und die Erkrankung ist in Remission. Auch ich gehe damit an die Öffentlichkeit, allerdings nicht durch Schreiben von Texten, sondern durch meinen Youtube-Channel “DerKrebshat-Krebs”, auf dem ich von dem Umgang mit meiner Krankheit erzähle.

Ich möchte dem Team um Andrea Petry, Marianne Petry und Monika Schiller danken, das diese jungen Autoren “gefunden” und die Texte gesammelt hat, was nicht immer einfach war. Aber es hat sich absolut gelohnt!

Und DANKE den mutigen, couragierten Autoren, die sich getraut haben, ihre ganz persönlichen Erlebnisse mit uns zu teilen – ihr seid außerordentlich! Herzlichst, Eure Anuschka Gulde und das Team von kidz4kids,

Anuschka Gulde Andrea Petry Gertrud M. Petry Monika Schiller

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Unsere Vorsitzende von kidz4kids, Anuschka Gulde

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Wir vergessen , dass wir Löwen sindEin Vorwort von Lea Petry

Manchmal passieren Dinge, auf die sind wir nicht vorbereitet. Manchmal passieren Dinge, auf die man sich niemals hätte vorbereiten können.

Vielleicht hat man davon schon mal gehört, konnte sich damit auseinanderset-zen, wusste, dass so etwas passieren kann und trotzdem trifft es einen unerwar-tet und mit einer Wucht, die man nie vergessen kann.

Manchmal passieren Dinge, mit denen man nicht rechnen konnte und trotzdem weiß, dass sie einen für immer verändern werden. Uns ist so etwas passiert. Wenn ich von uns spreche, meine ich meine Freunde und mich. Ein ganz normaler Freundeskreis.

„Wir vergessen, dass wir Löwen sind“ ist ein Satz, der uns alle begleiten wird, wahrscheinlich für immer. Warum? Er ist nicht nur für uns wichtig. Er ist in seiner Einfachheit treffend, für all die Situationen, in denen wir an uns zwei-feln, nicht glauben, dass es noch einmal besser werden wird.

Wir haben das nicht geglaubt. Im Alter von 18 Jahren ist uns etwas passiert, das die meisten nur aus Filmen kennen. Völlig unerwartet, völlig aus dem Nichts ist unsere beste Freundin gestorben. Vom einen auf den anderen Tag war sie nicht mehr da. Wie geht man mit so etwas um? Wir waren gleich alt. Uns ging es gut, körperlich, sie war weg. Sie war weg, wir waren noch da. Wir konnten nichts mehr daran ändern. Die Ungerechtigkeit war kaum auszuhalten. Sie war weg, wir waren noch da. Warum? So sehr man sich manchmal wünschte, es wäre andersrum, das ging nicht. Sie war weg, wir waren noch da.

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Wir klammerten uns mit der Verzweiflung von Kindern, denen ihre Schwester genommen wurde, aneinander und schenkten uns den aufrichtigsten Trost, den man sich vorstellen kann. Das einzige was uns blieb. Alles schien überwältigend, nichts machte Sinn. Alles war verschoben, anders als zuvor. Sie war weg und wir waren noch da. Fieberhaft klammerten wir uns an die letzten Momente, Gespräche, die wir mit ihr teilen durften.

„Wir vergessen, dass wir Löwen sind“. Ein Satz, den sie nur einige Wochen vor ihrem plötzlichen Tod zu einem unserer Freunde sagte und der uns nie wieder verlassen sollte. Ein Ratschlag, der so von Herzen kam und nicht erahnen ließ, was passieren würde, aber jetzt fast wie ein Ratschlag für unsere Zukunft klingt.

Manchmal passieren Dinge, auf die sind wir nicht vorbereitet. Manchmal passieren Dinge, die uns für immer verändern. Aber jeder von uns trägt einen Löwen in sich, der, auch wenn er sich manchmal versteckt, hinter kleinen und großen Sorgen, immer da ist und wartet. Wartet, auf den Moment, in dem man ihn hervorholt. Denn man muss ihn nur rufen. Auch wenn wir das manchmal vergessen.

Manchmal passieren Dinge, auf die sich keiner von uns vorbereiten kann, aber wir wachsen daran. So wie wir als Freundeskreis zusammengewachsen sind, so wächst jeder auf seine Weise.

Manchmal vergessen wir, dass wir Löwen sind. Aber wir sind da, und wir sind alle Löwen.

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Steckbrief

Christina Paluch

Geburtsjahr 1995 Die Idee hinter diesem Text Ich möchte Verständnis und Akzeptanz schaffen und anderen Menschen Mut machen! Facebook-SeiteMein Leben mit selektivem Mutismus

Christina Paluch

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Mutismus

Ich bin Christina, 22 Jahre alt – und manchmal bleibe ich stumm. Bin im Schweigen gefangen, obwohl ich gerne reden

möchte. Ich habe, seit ich denken kann, selektiven Mutismus. Das ist eine psychische Kommunikationsstörung und dadurch bin ich unfähig, in bestimmten Situationen oder mit bestimmten Menschen zu sprechen – obwohl ich gerne würde. Und obwohl ich eigentlich ganz normal sprechen kann – mit meiner Stimme und meinem Sprachvermögen stimmt alles. Bei manchen Men-schen kann ich sogar wie ein Wasserfall reden; zum Beispiel bei meiner Schwester oder bei meiner besten Freundin, die mittler-weile seit drei Jahren in meinem Leben ist. Aber in vielen Si-tuationen verstumme ich, obwohl ich das gar nicht will. Da ist diese Blockade in meinem Kopf. Manchmal habe ich ein völliges Blackout, habe gar keine Wörter in meinem Kopf. In anderen Momenten weiß ich ganz genau was ich sagen möchte, aber die

Worte finden trotzdem nicht ihren Weg nach drau-ßen. Das erschwert mir mein Leben manchmal

ziemlich. Ich habe Angst vor vielen Situatio-nen, es kommt zu Missverständnissen, Leute finden mich „komisch“ oder „gestört“. Und das ist nicht schön.

Was ist Mutismus? Die meisten Menschen, denen ich entweder sage oder schreibe, dass ich selektiven Mu-

tismus habe, sind erstmal sehr verwirrt. „Davon habe ich ja noch nie gehört“, ist

ihre Antwort. Und ja, das stimmt. Die meis-ten Menschen haben noch nie von diesem Be-

griff, von diesem Störungsbild gehört. Das liegt vor allem dar-an, dass der selektive Mutismus sehr selten und bisher immer

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noch sehr unbekannt ist. Ungefähr drei bis sieben Kinder von tausend Kin-dern sind betroffen. Und da viele Menschen nichts mit diesem Begriff anfan - gen können oder gar nicht wissen, dass diese Kommunikationsstörung überhaupt existiert, bleibt der selektive Mutismus oft unentdeckt. Die Störung hat ihren Beginn meist in der Kindheit und sollte daher im Kindergarten oder der Grund-schule erkannt werden. Kindergarten und Schule sind auch die typischen Orte, an denen betroffene Kinder schweigen. Während sie zu Hause mit der Familie ganz normal reden können, verstummen sie im Kindergarten oder in der Schu-le. Oder auch bei Arztterminen, bei Nachbarn, bei entfernteren Verwandten.

Manche Betroffene sind jahrelang in diesem Schweigen gefangen, bis sie endlich die Diagnose bekommen und die notwendige Unterstützung und Be-handlung erhalten. Das Umfeld ist vielleicht nicht so sehr interessiert, das Kind wird übersehen oder man hält das Schweigen für normale Schüchternheit und denkt, das würde sich im Laufe der Jahre wohl von alleine bessern.

Manche haben Glück und die Erzieherinnen im Kindergarten oder die Grundschullehrerinnen schauen genauer hin, informieren sich und leiten es mit den Eltern des Kindes zusammen in die Wege, dass das Kind zum Beispiel eine logopädische Behandlung erhält. Es ist sehr wichtig, dass das betroffene Kind frühzeitig professionelle Unterstützung erhält – denn die Mauer des Schweigens ist meist nur mit solcher professionellen Unterstützung zu durchbrechen. Und je früher man dies versucht, desto besser sind die Chancen. Bleibt die betroffe-ne Person jahrelang in diesem Schweigen und erhält erst sehr spät die richtige Unterstützung, hat sich das Schweigen schon sehr verfestigt und es wird schwie-riger, das Schweigen zu durchbrechen. Es ist auch dann nicht unmöglich – das sage ich aus eigener Erfahrung, aber es ist um einiges schwieriger. Wie sieht das alles bei mir aus? Ich gehöre zu den Betroffenen, die jahrelang nicht die richtige Unterstützung und Hilfe erhielten. Besser gesagt: Ich bekam gar keine Unterstützung. Man ließ mich völlig alleine. Im Kindergarten, in der Grundschule, auf dem Gymnasium. Schon im Kindergartenalter fiel auf, dass ich nicht immer und nicht mit jedem sprach, sondern oft verstummte. Später in der Schule genauso. Jeder sah das Problem, jeder hat mitbekommen, dass ich im Unterricht kein Wort gesagt habe, dass ich auch stumm blieb, wenn man mich ansprach oder mich etwas fragte. Aber es hat niemanden weiter interessiert. Im Unterricht sprach ich nicht, in den Pausen sprach ich nicht. Niemand kannte

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meine Stimme. Fast niemand hat mich jemals sprechen gehört. Jeder nahm es einfach so hin. Und ich? Ich blieb weiterhin mir selbst und dem Schweigen überlassen. Tag für Tag bekam ich immer mehr das Gefühl, total falsch und komisch zu sein. Irgendetwas ist mit mir nicht in Ordnung, dachte ich. Warum bin ich so? Was ist falsch mit mir? Was stimmt mit mir nicht? Warum kann ich nicht reden so wie jeder andere auch?

Irgendwann nach Jahren, ich glaube es war ungefähr ein bis zwei Jahre vor meinem Abitur, stieß ich im Internet auf den Begriff „selektiver Mutismus“. Ich habe ja schließlich auch immer wieder versucht herauszufinden, was denn nun falsch mit mir war und plötzlich las ich diesen Begriff. Las verschiedene Texte und Artikel im Internet. Und das Rätsel löste sich. All die Beschreibungen, all die Symptome, all die Verhaltensweisen – es passte perfekt. Es passte wie die Faust auf ’s Auge. Dieser Moment war total krass. Denn auf einmal sah ich auch – ich war nicht alleine damit. Ich war nicht die Einzige auf dieser großen Welt, die nicht sprechen konnte. Ich war nicht die Einzige, die immer und überall verstummte und im Schweigen gefangen war. Es ging noch ganz vielen anderen Menschen genauso wie mir. Ich war also doch kein Alien auf dieser Erde. Leider konnte ich diese „Entdeckung“ mit niemandem teilen. Denn auch, wenn ich nun wusste, was mit mir los war, konnte ich ja noch immer nicht sprechen. Also behielt ich dies für mich.

Die Schulzeit war sehr schlimm für mich. Meine persönliche Hölle, die ich je-den Tag besuchen musste. Denn in der Schule – da wird von einem erwartet, dass man spricht. Immer und überall. Ob nun in den Pausen mit den Mitschü-lern oder im Unterricht. Man muss sprechen. Und wenn man das nicht kann, weil man selektiven Mutismus hat und niemand einen versteht – dann wird man schnell zur Außenseiterin. So wie ich.

In der Grundschule war es noch einigermaßen okay. Da wird man nicht direkt in Schubladen eingeteilt, man wird nicht sofort als „verrückt“ oder „ge-stört“ abgestempelt, nur weil man ein wenig anders ist. In diesem Alter kön-nen Kinder noch besser damit umgehen, wenn jemand ein wenig „anders“ ist. Da spielt man noch mehr zusammen – und spielen, das kann man oft auch ohne großartige verbale Kommunikation. Ich hatte damals von der ersten bis zur dritten Klasse noch eine gute Schulfreundin mit der ich sprechen konnte

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und die auch manchmal das Reden für mich übernahm. Im Unterricht mel-dete ich mich so gut wie gar nicht – meiner Lehrerin fiel dies natürlich auf. Sehr wahrscheinlich hat sie dies auch für normale Schüchternheit gehalten, denn unternommen hat sie nichts. Genauso wie meine Eltern, die von meiner Grundschullehrerin an den Elternsprechtagen berichtet bekamen (und später von den Lehrkräften am Gymnasium), dass ich sehr, sehr still sei – aber auch sie dachten, dass sich das wohl mit der Zeit von alleine bessern würde. Das tat es aber nicht. Es wurde Jahr um Jahr schlimmer.

Jedes Mal, am letzten Tag der Schulferien, nahm ich mir immer so fest vor, am nächsten Tag zu sprechen. „Morgen. Morgen, da werde ich sprechen. Ich werde mich melden und einfach ganz normal sprechen!“ Aber ich blieb wei-terhin stumm. Auch wenn ich es mir noch so fest vornahm. Aber so einfach ist das nicht. Es hat nichts damit zu tun, dass man sich einfach nur mal überwin-den müsste zu sprechen. Nein. Diese riesige Mauer, diese riesige Blockade, die man im Kopf hat. Die kann man nicht einfach so überwinden. Nicht alleine. Nicht ohne Unterstützung. Ich wusste nicht was es war, das mich am Sprechen hinderte. Da war diese riesige Blockade in meinem Kopf. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich diese überwinden sollte; wie ich diese Blockade wegbekom-men sollte. Jeden Abend beim Einschlafen zerbrach ich mir den Kopf darüber. Warum konnten andere Menschen einfach so drauf los reden? Warum konnten sie ohne Probleme sprechen? Und dann auch noch immer und überall? Mit jedem Menschen? Mit den Lehrern, mit den Mitschülern, mit Nachbarn, mit fremden Eltern? Und warum konnte ich das nicht? Was war mit mir falsch, dass ich nicht sprechen konnte? Ich konnte ja sprechen, aber nur mit meiner Familie. Mit meinen Eltern und meiner Schwester. Selbst bei meiner Tante, bei meinen Cousinen oder meinen Großeltern verstummte ich. Waren diese bei uns zu Besuch oder wir bei denen, brachte ich kein einziges Wort raus. Wurde ich von meiner Tante etwas gefragt, erstarrte ich sofort, schaute unsicher zu Boden und wartete darauf, dass jemand mich aus dieser Situation erlöste, indem er für mich antwortete. Warum war das so schwierig? So unmöglich für mich? Was war falsch mit mir?

Denn. JA. Ich WOLLTE sprechen. Viele Menschen nehmen immer fälsch-licherweise an, dass von Mutismus Betroffene gar nicht sprechen wollen oder mit ihrem Verhalten nur provozieren wollen. Aber das stimmt nicht! Betroffene

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wollen in der Regel unbedingt sprechen! Können es aber durch diese Blockade nicht. Wie sehr habe ich mir immer gewünscht, sprechen zu können. Über-all. Sprechen können, wann immer ich wollte. Ich wollte so gerne ganz normal sprechen können, mit allen Menschen reden können, in Kontakt kommen kön-nen, Freundschaften knüpfen, dazugehören. Aber ich konnte nicht.

Aufgrund des Berufes meines Vaters zog meine Familie einige Male um. Die erste, zweite und dritte Klasse verbrachte ich in Nordrhein-Westfalen. Die vierte und fünfte Klasse in Norddeutschland. Zur sechsten Klasse erfolgte der letzte Schulwechsel. Wir zogen wieder zurück in die Kleinstadt nach Nordrhein-West-falen, ich kam zu einigen Mädchen in die Klasse, die ich noch aus der dritten Grundschulklasse kannte. In der Anfangszeit dieser sechsten Klasse gehörte ich noch dazu. Zu der Klasse. Zu der Mädchenclique. Aber das wurde mit der Zeit anders. Denn langsam wurden wir älter. Langsam kamen wir in die Pubertät. Langsam wurde man „uncool“ und uninteressant, sobald man ein klein wenig anders war als der Rest der Klasse. Mit mir konnte man nicht mehr viel anfan-gen. Ich redete ja nicht. Die ersten blöden Sprüche und Kommentare kamen. Mitschüler und Mitschülerinnen machten sich lustig über mich. Sie machten sich lustig darüber, dass ich nicht sprach. Sie fingen an mich zu beleidigen und zu beschimpfen. Auch rückte nun das Problem mit der mündlichen Beteiligung immer mehr in den Vordergrund. Die mündliche Beteiligung wurde von Jahr zu Jahr wichtiger und machte bald die Hälfte der Note aus. Und in mündlichen Fächern sogar die gesamte Note. Mündlich bekam ich Fünfen und Sechsen. Schriftlich war ich eine sehr gute Schülerin, schrieb immer Einsen und Zwei-en. Durch die schlechten mündlichen Noten versaute ich mir jedes Zeugnis. Die Lehrer/innen wunderten sich. Aber niemand fragte nach. Niemand fragte mich mal, warum ich denn eigentlich nie sprach? Ich war doch eine sehr gute Schülerin, ich müsste mich doch im Unterricht eigentlich ständig melden kön-nen? Niemand fragte. Oder schaute genauer hin. Warum fragte denn niemand genauer nach? Warum schaute niemand genauer hin? Es muss doch jedem klar gewesen sein, dass sich eine gute Schülerin sicher nicht mit Absicht all ihre Zeugnisse versaut?! Ich bekam von den Lehrkräften immer nur blöde Sprüche zu hören. „Christina, jetzt melde dich doch einfach mal!“ oder „Ich will, dass du dich ab morgen meldest, sonst kriegst du einen Minuskurs!“ oder „Haha,

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ich weiß jetzt am Ende des Schuljahres immer noch nicht deinen Namen, weil du nie redest!“ Das baute natürlich nur noch mehr Druck bei mir auf. Und mit Druck erreichte man genau das Gegenteil. „Redest du etwa immer noch nicht mit uns?“ Eine Deutschlehrerin in der Oberstufe war besonders schlimm. Sie hatte ein Talent darin, mich immer vor dem ganzen Deutschkurs bloßzustel-len. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken oder hätte mich unsichtbar gemacht. Immer machte sie Witze über mein Nicht-Sprechen, sodass alle mitla-chen konnten. Diese Deutschstunden habe ich ganz besonders gehasst!

In der Schule wurde ich ab der siebten Klasse immer mehr zur Außensei-terin. Mit mir wollte man einfach nichts mehr zu tun haben, denn wie schon erwähnt, ich war einfach uncool und uninteressant und komisch. Damit war ich ein leichtes Opfer – und das merkten die anderen sehr schnell. Ich konnte mich zudem auch überhaupt nicht wehren. Da ich ja nicht redete. Wie sollte ich mich da wehren können?

Man wollte im Unterricht nicht neben mir sitzen. Meine Mitschüler/in-nen machten sich darüber lustig, dass ich nicht sprach; sie machten sich darüber lustig, dass ich „voll das Opfer sei und keine Freunde hätte“. In Gruppenarbeiten wollte man mich nicht dabeihaben, denn „die redet ja nicht!“ Ich blieb immer alleine übrig und die Lehrerin musste mich einer Gruppe zuteilen. Die Gruppe war dann natürlich ganz und gar nicht begeistert darüber. Und ich? Ich habe mich einfach nur beschissen gefühlt. So unglücklich. Wie der letzte Dreck. Hät-te mich am liebsten in Luft aufgelöst. Es stimmte ja, ich konnte mich in Grup-penarbeiten nicht wirklich beteiligen, weil ich einfach nicht reden konnte – und dass man mir tagtäglich so böse und so ablehnend begegnete, machte es mir noch schwieriger und unmöglicher.

Horror war zum Beispiel auch der Sportunterricht in der Schule. Mann-schaftsspiele fielen mir unglaublich schwer und waren schrecklich für mich. Das fing damit an, dass zwei Mannschaftskapitäne ausgesucht wurden, die dann die Mannschaften gewählt haben. Ich blieb natürlich immer als Letzte übrig. Ers-tens war ich für die anderen praktisch unsichtbar – zweitens mochte mich nie-mand und drittens wusste jeder, dass ich in Mannschaftsspielen und Ballspie-len einfach schlecht war, weil ich Angst vor dem Ball hatte und weil ich nicht nur sprachlich, sondern in diesen Situationen auch körperlich total gehemmt und blockiert war. Meistens stand ich einfach nur am Rand des Spielfeldes

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ohne mich viel zu bewegen, weil ich es einfach nicht KONNTE. Deswegen wollte mich niemand in seiner Mannschaft dabeihaben. Somit musste mich der Sportlehrer dann meistens in eine Mannschaft einteilen, deren Mitspieler/innen natürlich sofort stöhnten und die Augen verdrehten. Um mir auch nochmal deutlich zu zeigen, dass man mich nicht dabeihaben wollte. Und wessen Schuld war es dann, wenn die Mannschaft, die mich als Mitglied hatte, verlor? Natür-lich meine Schuld.

Exkursionen und Klassenfahrten waren ganz schlimm für mich. Vor Klas-senfahrten habe ich Wochen und Monate vorher schon Panik gehabt. So unfass-bar viel Panik. Mehrere Tage zusammen mit meinen Mitschülern in irgendei-ner Jugendherberge. Mehrere Tage überhaupt gar nicht sprechen können. Zu Leuten ins Zimmer geteilt werden, die mich gar nicht dabeihaben wollen und die genervt von mir sind. Viele Busfahrten habe ich alleine verbracht. Habe aus dem Fenster gestarrt und mir gewünscht, es würde niemandem auffallen, dass ich alleine saß. Aber natürlich fiel es auf. Und es war die Bestätigung für die anderen: Die ist voll das Opfer und hat keine Freunde. Auf Klassenfahrten lief ich den anderen meist nur hinterher. Man musste immer in Kleingruppen un-terwegs sein, durfte nicht alleine durch die Stadt (oder den Zoo oder was auch immer) laufen. Also lief ich den anderen immer hinterher. Während die Zeit, jede einzelne Minute, so unglaublich langsam verging. Die Zeit zog sich immer, überall, wie Kaugummi. Im Unterricht, in Ballspielen im Sportunterricht, in den Pausen, auf Exkursionen, auf Klassenfahrten.

In Pausen habe ich auf dem Schulhof meistens abseits meiner Mitschüler gestanden. Sie standen in Gruppen zusammen, manchmal habe ich versucht, mich dazuzustellen. Aber ich war wie unsichtbar. Ich fiel gar nicht auf. Also stand ich meistens daneben. Und habe mir mal wieder, wie so oft, gewünscht, einfach im Erdboden verschwinden zu können.

Ich habe mich die ganze Schulzeit über danach gesehnt, Freundschaft zu schließen, Freundinnen zu finden. Es ist mir sehr, sehr schwergefallen bzw. ei-gentlich ist es mir unmöglich gewesen. Ich konnte nicht auf meine Mitschüler/innen zugehen, konnte nicht mit ihnen in Kontakt treten, da ich nunmal kein einziges Wort hervorgebracht habe. Ich habe immer und überall nur daneben-gestanden. Abseits. Ausgeschlossen. Durch mein Nicht-Sprechen wirkte ich auf meine Mitschüler/innen komisch. Man konnte nicht viel mit mir anfangen.

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Vielleicht waren manche verunsichert, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollten. Aber mobben. Sich über mich lustig machen. Das konnte man gut. Viel-leicht wäre es anders gewesen, wenn man mir netter und hilfsbereiter begegnet wäre. Vielleicht hätte ich irgendwann angefangen zu sprechen. Ich weiß es nicht.

Ich habe die gesamte Schulzeit gehasst. Für mich war sie wirklich die Höl-le. Jeden Tag. Immer dasselbe. Immer alleine. Mobbing. Blöde Sprüche. Überall ausgeschlossen werden. Angst. Panik. Verzweiflung. So viele geweinte Tränen. Einsamkeit. Daraus bestand jahrelang mein Leben. Ich hatte überhaupt keine Lebensfreude mehr. Ich war unglücklich, einsam und alleine, wollte am liebsten nur noch sterben... Und trotzdem. Machte ich jeden Tag weiter. Stand jeden Tag wieder auf. Und überlebte den Tag. Überleben. Das war damals das einzige, was ich tat. Mehr war das nicht. Es war nur noch ein Überleben. Ein Überleben einer Hölle. Ich war so, so, so unglaublich froh, als ich 2014 endlich mein Abitur machte und die Schulzeit ein Ende fand.

Eine einzige Lehrerin während meiner Schulzeit gab es, die mir ihre Hilfe und Unterstützung anbot. Die davon sprach, dass wir GEMEINSAM eine Lö-sung finden würden. Leider kam diese Lehrerin erst wenige Monate vor meinem Abitur in mein Leben – dabei hätte ich solch einen Menschen schon viel früher gebraucht. Sie war die erste Person, die mich wirklich gesehen hat. Mich wahr-genommen hat. Und ich bin ihr bis heute so unendlich dankbar dafür!!! Mit ihr hatte ich einige Gespräche, wir überlegten uns etwas für meine mündliche Be-teiligung in ihrem Unterricht, wir waren zusammen bei einer psychologischen Beratungsstelle, dort half mir eine Schulpsychologin dann, eine geeignete The-rapieform und Psychotherapeutin zu finden. Wäre diese Lehrerin nicht gewe-sen, wären wohl auch die nachfolgenden Schritte nie passiert. DANKE Frau S.!

Aber nicht nur die Schule, auch das restliche alltägliche Leben war/ist schwierig. Geprägt von Schwierigkeiten und Hindernissen. Als ich noch zu Hause bei mei-nen Eltern wohnte, war die Schule das Hauptproblem. Andere Dinge konnten meine Eltern für mich erledigen bzw. während der Schulzeit gab es noch nicht so viele andere Dinge, um die ich mich hätte kümmern müssen. Nach dem Abi-tur machte ich ein FSJ in einer Kita, dort klappte das Sprechen so mittelmäßig. Mit den Kindern konnte ich wirklich gut reden, nur mit meinen Arbeitskolle-ginnen sprach ich so gut wie kein Wort. Schien aber niemanden großartig zu

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stören. Mitte 2015 bin ich von zu Hause ausgezogen. Und war dann für Sämt-liches alleine verantwortlich. Behördengänge, Telefonate, um z.B. Arzttermine auszumachen, einkaufen, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren etc.

Das Telefonieren ist sehr schwierig für mich. Vor einigen Jahren war es unmöglich und ich habe alles per Mail erledigt. Mittlerweile kann ich ab und an telefonieren – es ist zwar noch immer schwierig, ich habe schweißnasse Hände und muss mir vorher Wort für Wort aufschreiben, was ich am Telefon sagen möchte, aber es funktioniert. Außer die andere Person am Telefon stellt Fragen, auf die ich nicht vorbereitet bin, dann habe ich wieder ein Blackout im Kopf und kann nichts sagen. Ich schaffe es inzwischen auch, beim Einkaufen an der Kasse „Hallo“ und „Danke, ebenso!“ zu sagen, wenn die Kassiererin mir ein schönes Wochenende wünscht. Beim Busfahrer ein Fahrticket zu kaufen – das war mir auch lange nicht möglich. Also vermied ich Busfahrten manchmal – denn nicht überall stehen die tollen Ticketautomaten. Mittlerweile kriege ich es hin, mit dem Busfahrer zu sprechen und ein Fahrticket zu kaufen. Oder Situationen, wenn man unterwegs / beim Einkaufen ist, irgendetwas sucht und nicht findet. Jeder andere Mensch fragt dann einfach eine/n Angestellte/n oder auf der Stra-ße einen anderen Passanten. Ich nicht. Mittlerweile manchmal. Wenn ich mich traue.

Seit Sommer 2014 bin ich in psychotherapeutischer Behandlung. Da dort aber andere Symptomatiken im Vordergrund stehen, habe ich 2015 zusätzlich noch eine logopädische Behandlung angefangen, die ich bis heute mache. In der Lo-gopädie übe ich das Sprechen. Am Anfang ging es darum, dass ich überhaupt erst einmal mit meiner Logopädin spreche. Mit verschiedenen Spielen und Übungen haben wir uns dem angenähert, bis ich irgendwann einzelne Wörter und kurze Sätze mit ihr sprechen konnte. In weiteren Stunden haben wir Fra-ge-Antwort-Spiele gemacht, wir haben kurze Dialoge und das Vorlesen geübt, einige Monate haben wir uns viel mit der Stimme beschäftigt, Stimmübungen gemacht. Momentan sind wir dabei, verschiedene in-vivo-Übungen zu machen – also Situationen „draußen in echt“ zu üben. Zum Beispiel Menschen auf der Straße ansprechen und etwas fragen.

Während der letzten drei Jahre habe ich auch endlich richtige Freundin-nen gefunden – Menschen, die mich so nehmen wie ich bin. Es mag auf den

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ersten Blick vielleicht komisch klingen, dass ich diese über das Internet ken-nengelernt habe, durch Mail- und Brieffreundschaften. Aber gut, das ist meine „Methode“, um Kontakte zu knüpfen. Meine beste Freundin und ich besuchen uns alle paar Monate gegenseitig oder fahren zusammen in den Urlaub. Und auch zwei andere Brieffreundinnen habe ich im letzten Jahr persönlich getrof-fen und sie sind nun richtige Freundinnen! Ich bin unglaublich dankbar, diese Menschen in meinem Leben zu haben. Sie akzeptieren und mögen mich so wie ich bin und sind immer für mich da!

Ich habe in den letzten Jahren viele und große Fortschritte gemacht und genau das ermutigt mich auch weiterzumachen. Jeden Tag aufzustehen und weiterzumachen.

Ich möchte Mut machen. Akzeptanz und Verständnis schaffen. Anderen Men-schen das Gefühl geben, dass sie nicht alleine sind. Egal welches Päckchen wir zu tragen haben – jeder Mensch ist einzigartig, wertvoll und gut so wie er ist! ⁄⁄

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Steckbrief

Lisi

Wohnhaft in Sachsen/Deutschland

Alter beim Schreiben der Texte 17

Geburtsjahr 1999 Hobbys Lesen, Klavier spielen, tanzen, schreiben

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(K )ein Hilferuf

Hallo,Ich bin eine siebzehnjährige Schülerin eines Gymnasi-

ums, liebe Musik und ich verletze mich selbst.Das ist wohl eine komische Art sich vorzustellen, aber

es sieht mir ähnlich. Oft werde ich gefragt, wo der Grund für mein seltsames Verhalten liegt. Aber wie erklärt man das jemandem? Wie erklärt man jemandem, wie es sich anfühlt, sich selbst zu verletzen, wenn derjenige noch nie darauf angewiesen war bzw. es eben selbst noch nie erlebt hat? Puh, keine Ahnung.

Gesunde Menschen verstehen oft nicht, weshalb man es schön finden sollte, sich selbst zu verletzen und tun dieses Verhalten als krank ab. Sicherlich ist es Teil einer Krankheit, aber vielleicht sollte man auch mal versuchen, das Ganze aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, bevor man abschätzige Kommentare à la "Die will doch nur Beachtung" fallen lässt. Klar, es wird immer Leute geben, die gewisse Dinge nutzen, um sich Aufmerksamkeit zu ver-schaffen, aber das zu pauschalisieren ist nicht richtig. Mög-licherweise hat das Mädchen, was ihre Narben sichtbar zur Schau trägt, kein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, sondern will einfach nur so akzeptiert werden wie sie ist, denn die Narben sind ein Teil von ihr, wie auch ihre Beine ein Teil von ihr sind.

Viele denken, es ginge mir nicht gut, wenn ich zum Dosenöffner greife, um mir Schaden zuzufügen. Das muss nicht zwingend sein, wobei es auf die Definition von „nicht gut“ bzw. „schlecht“ ankommt. Wenn man das Ganze mit depressiv gleichsetzt, so wie ich es tue, dann geht es mir nicht immer schlecht, wenn ich das mache.

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Ich würde mal sagen, Stress ist ein wesentlicher Faktor. Allerdings ist Stress bei mir fast ein Dauerzustand, weil ich mich noch über Sachen stressen kann, die Jahre her sind oder eben erst in Wochen eintreffen werden. Relativ häufig kann ich das verdrängen, aber manchmal geht es einfach nicht. Manchmal werfe ich mir Dinge vor, die dann Stress verursachen, obwohl sie es nicht müssten, weil es ziemlich unlogisch ist, dass das passiert bzw. dass das so stattgefunden hat oder die Person das so gemeint oder empfunden hat.

Letzten Endes läuft es wohl auf die sozialen Situationen hinaus. Manch-mal sagt jemand etwas, und ich fühle mich davon verletzter, als ich es eigentlich tun sollte. Aber Fakt ist, ich mache mir Gedanken darüber und BAMM ist es Stress für mich. Also verletze ich mich. SVV ist Stressabbau. Es ist entspannend. Da bist nur Du und das, was dir Schaden zufügt. Dein Kopf ist leer, du kannst dich ganz auf dich und das Gefühl, auf den Anblick konzentrieren. Nebenbei sei bemerkt, dass ich die Abkürzung für selbstverletzendes Verhalten lieber als „ritzen“ oder sonstige Wörter mit einer negativen Konnotation gebrauche.

Der Anblick ist wohl die zweite Sache. Frag mich nicht wieso, aber auf eine perfide Weise sind Narben schön. Sie machen dich einzigartig, jede einzelne hat eine Geschichte. Ich finde das äußerst faszinierend. Ich mag meine dunklen Kreuze auf Armen und Bauch, verblasste Schnitte auf meinen Beinen und an meiner Seite. Das ist vielleicht nicht ganz normal. Aber für mich macht das Sinn. Macht das für dich Sinn? Wohl eher nicht.

Schön. So ein tolles Wort, welches mich wohl oder übel zum nächsten Punkt bringt. Es ist nicht unüblich, dass Menschen mit einer Sozialphobie, also Menschen wie ich, an einer gestörten Wahrnehmung oder gar Dysmorpho-phobie leiden. Bei Letzterem weicht die Selbstwahrnehmung extrem von der Fremdwahrnehmung ab, zu beobachten beispielsweise bei Anorexia Nervosa, sprich Magersucht, bei der sich die Betroffenen viel dicker sehen als sie es wirk-lich sind. Wenn mir meine Mutter das vorwirft, dann weiß ich nicht so recht, wie ich adäquat reagieren soll. Woher soll ich wissen, wie mich andere sehen, wenn ich mich doch nur selbst als solches wahrnehmen kann? Und wie nehme ich mich wahr?

Tja, das ist der komische Part. Manchmal fühle ich mich hübsch, ja, und manchmal denke ich mir einfach nichts, wenn ich in den Spiegel schaue, um mich zu schminken, aber dann wiederum gibt es Tage, an denen ich mich frage,

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wie man nur so scheußlich aussehen kann. Ich weiß, jeder würde an der Stel-le sagen: „Aber warum sagst Du das? Du siehst schön aus, wie Du bist!“ oder denken, ich würde genau das hören wollen. Ich wünschte, es wäre so. Denn an solchen Tagen verletze ich mich selbst. Als „Strafe“, dass ich so aussehe, wie ich aussehe.

Ich habe Angst, angestarrt zu werden, wenn ich irgendwo hingehe, ein-fach weil ich mich unattraktiv oder dick fühle. Dann liegen meine Haare nicht so wie sie sollten, und der BH schaut schon wieder durch das Oberteil durch. Wenn ich so denke, und mir das dann wirklich jemand vorhalten würde, könnte ich es nicht ertragen. Davor habe ich Angst. Im Grunde genommen ist es mir egal, ob jemand der Meinung ist, dass meine Hose zu kurz sei, denn was ist es mein Problem, wenn mir Leute auf den Hintern schauen müssen. Aber manch-mal macht mich sowas einfach fertig. Ich sehe nicht aus wie das Schönheitsideal es verlangt, und das reicht, um mich zu verunsichern und zu denken, ich sei nicht gut genug.

Manchmal verletze ich mich selbst, weil ich die Leute beneide, die essen können, was sie wollen, und so aussehen, wie es die Gesellschaft erwartet. Groß, schlank, attraktiv. Das bin ich nicht. Manchmal verfluche ich meine Gene dafür. Letzten Endes sind es ein paar, die von Natur aus mit “guten“ Genen, oder nen-nen wir es Anlagen, die zu einem modelgleichen Aussehen verhelfen, gesegnet sind, die es sich herausnehmen, über andere zu urteilen oder meinen, es dürfte nur diesen einen Typ Frau oder Mann geben. Das setzt mich unter Druck, weil ich es nicht in die Wiege gelegt bekommen habe. Letztlich ist das auch eine Art Druck oder Stress, die Erwartungen zu erfüllen.

Natürlich gibt es dann wirklich die Tage, an denen es mir schlecht geht, Tage an denen ich leicht depressiv bin, aber ich möchte behaupten, dass das in letzter Zeit nicht allzu viele sind. In solchen Momenten verletze ich mich, um etwas zu fühlen. Muss ganz schön komisch sein, sich das vorzustellen. Aber wenn man depressiv ist, fühlt man sich einfach nur leer. Oder man fühlt alles auf einmal. Es ist beunruhigend, sich für nichts mehr begeistern oder weinen zu können. Dann ist SVV der Beweis, dass man noch lebt; es vergegenwärtigt das Menschsein. Andererseits, wenn man alles auf einmal fühlt, sodass man vor lauter Emotionen selbst überfordert ist und platzen könnte, ist SVV wieder eine Möglichkeit, die Gedanken zu ordnen und herunterzufahren.

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Der Witz ist, sprächen mich beispielsweise meine Eltern darauf an, würden mit mir diskutieren und versuchen wollen, mir zu helfen, hätte das wohl eher den gegenteiligen Effekt. Daraus würde nur eine panische Reaktion resultieren und letzten Endes wieder Stress, also auch wieder SVV. Tja, ganz schön kompliziert. Zugegebenermaßen versuche ich schon, es nicht mehr so oft zu tun und mir zu sagen, dass es Menschen gibt, die mich wirklich lieben wie ich bin, und dass ich einfach lernen sollte, mich selbst zu mögen. Aber wie so oft bei psychischen Störungen muss man es selber wollen. Und ich weiß nicht, ob ich diese Stress-bewältigungsstrategie schon aufgeben kann.

Man kann keinen Ertrinkenden retten, wenn er nicht um Hilfe ruft. ⁄⁄

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Rein , raus

Herz gebrochenPsyche zerstört

Finger reinGefühle raus

Gespräche gelogenKörper missbraucht

Klinge reinGedanken raus

Selbstachtung zunichteEmotionen betäubt

Nadel reinRealität raus

Versprechen gebrochenVertrauen zerstört

Hass reinLiebe raus ⁄⁄

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Steckbrief

Sophia Queitsch

Wohnhaft in Rheinland-Pfalz/Deutschland

Alter beim Schreiben des Textes 9

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Klassenstufe 3

Hobbys Singen, malen, basteln, tanzen

Berufswunsch Tierärztin

Wie es zu diesem Text kam Aus ihrer Krankheit heraus

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Vorwortvon Ursula Rossmann

Ein Vorwort welches nicht leichtfällt, weil Sophia nicht mehr unter uns ist. Die Geschichte eines kleinen Mädchens, dessen Welt und die der Familie aus den Fugen gerät. Von jetzt auf gleich ist nichts mehr wie es ist. Sophia erhält die Diag-nose Leukämie. Anfangs trotz der Diagnose noch optimistisch, erlebt sie in jun-gen Jahren ein Chaos der Gefühle. Dunkelheit, Schmerzen, Hoffnung – alles das, und noch mehr. Kämpfen, kämpfen, wir schaffen das, dies ist ihr Motto. Leider hat sie diesen Kampf verloren. Sie war bis zum Schluss positiv. Ein fröhliches, aufgewecktes Mädchen, eine kleine Löwin, die kämpfen konnte und wollte.

LöwenstarkDem Löwen gleichstark und mutigschnell und schlaumanchmal lautes Brüllendann ruhen und dösen,schmusen und liebenso sollte es sein, dein Leben.Du musstest kämpfen und das schon früh,leider verloren

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Ein FlügelschlagEin Flügelschlag ein Üben!Erheb dich kleine Seele,frei, ohne Schmerz und Leid!Erheb Dich und schwebeeinem Schmetterling gleich in ein anderes Leben.

Frei und ohne Schmerzdem unendlichen Blau entgegender Sonne zugewand, einem schönen Leben!

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Tiergeschichten

1. Kapitel

Auuuuuuuuuuuuuuuu, das tut weh“, sagte die kleine Katze Charly der Mama-katze Mimi. Die Mamakatze leckte den Kopf der kleinen Katze und fragte:

„Wo tut's weh?“ Charly antwortete: „Überall, außer am Bauch.“ „Oh“, sagte die Mamakatze. „Was ist denn passiert?“ Charly erklärte: „Ich bin auf dem Dach spazieren gegangen und herunter-

gefallen.“ Mamakatze antwortete: „Dann müssen wir den Krankenwagen rufen.“ Ge-

sagt, getan. Aber die Babykatze hatte Angst vor dem Krankenwagen. Mamakatze beruhigte die Babykatze und sagte: „Ich komme doch mit.“

Es hat nicht lange gedauert, bis der Krankenwagen kam und beide Katzen drin waren. Der Krankenwagen fuhr mit einem lauten 'RUMPS' davon, so, dass sich alle erschrocken haben, auch der Sanitäter. Eine Stunde später kamen sie mit Blaulicht in der Tierklinik an. Kurz vor der Klinik wurde das Blaulicht ausge-macht und dann wurde Charly mit der Trage hereingefahren. Dr. Weber, der Pfau, begrüßte Charly auf der Station. Der Luchs Christian stand ihm immer unterstüt-zend zur Seite.

Der Pfau fragte Charly und Mama: „Was ist passiert?“ Mama erzählte dem Pfau die ganze Geschichte.

Charly sagte: „Au, das linke Bein tut weh.“ Der Hund Lea maß die Temperatur und den Blutdruck. In der Zwischenzeit

haben sich Mama Mimi, der Pfau und der Luchs unterhalten und gesagt, dass das Bein geröntgt werden muss. Also begleitete der Hund Lea Mama, Mimi und Charly zum Röntgen. Weil Charly Schmerzen in der Pfote hatte und nicht laufen konnte, fuhr ihn Lea mit dem Rollstuhl zur Röntgenabteilung. Oben angekom-men, nahm Kuh Elsa die drei in Empfang und führte sie in den Röntgenraum. Mama Mimi half Charly aus dem Rollstuhl und legte ihn vorsichtig auf den Tisch. Charly hatte Angst und weinte, aber Kuh Elsa und Mama Mimi erklärten ihm, dass es nur ein Bild ist. Also gingen die drei schnell nach draußen und dann

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machte es auch schon 'Klick'. Dann kamen alle wieder rein und lobten Charly, dass er so tapfer gewesen war. Danach durften alle wieder zurück auf die Station, wo Charly und Mama Mimi ein eigenes Zimmer bekamen. Inzwischen hatten der Pfau Dr. Weber und Luchs Christian das Röntgenbild bekommen und siehe da, die Pfote war gebrochen! Da die Pfote gebrochen war, musste leider ein Gips dran. Das machte der Luchs Christian dann auch sofort. Charly tat das zwar ein kleines bisschen weh, aber Luchs Christian lenkte ihn gut ab. Obwohl der Gips unangenehm war, freute sich Charly, dass er nicht in die Schule musste. In diesem Moment kam die Ziege Frau Hansen ins Zimmer und stellte sich vor: „Hallo, ich bin Frau Hansen, und ich bin eine Lehrerin.“

Da sagte Charly: „Och menno!“ Da schlug die Ziege Frau Hansen vor, dass sie vielleicht ins Spielzimmer ge-

hen könnten. Das fand Charly spitze und sagte ja. Erst half die Ziege Frau Hansen Charly in den Rollstuhl, dann schob sie ihn ins Spielzimmer und spielte mit ihm 'Stille Post'. Im Spielzimmer spielten auch andere Tierkinder unter der Aufsicht von Pandabär Linus. Die Ziege Frau Hansen stellte Charly und Pandabär Linus einander vor. Nach einer Weile war es Charly zu laut und er wollte ins Zimmer zurück, wo ihn schon die Spitzmaus Felicitas erwartete.

Charly schaute die Spitzmaus komisch an und fragt: „Wer bist du denn?“Diese antwortete: „Ich bin die Spitzmaus Felicitas und möchte dir die Zeit

im Krankenhaus verschönern.“ Die Spitzmaus Felicitas sang: „Lollipop, lollipop, Oh lolli, lolli, lolli, lollipop, lollipop, Oh lolli, lolli, lolli, lollipop, lollipop.“ Die Spitzmaus sang gerne und wollte Charly eine Freude machen. Charly klatschte in die Pfoten und stimmte mit ein. Beide hatten einen Riesenspaß. Sie sangen noch eine ganze Weile, bis es klopfte und die Igelin Ulrike hereinkam. Die Igelin schnüffelte und stellte sich vor. Sie war die Krankengymnastin und Charly sagte: „Och nööö, muss das sein?“

Die Igelin erklärte: „Doch, es muss sein, denn mit Massage und Bewegung kommst du wieder schneller auf die Beine.“

Charly sagte: „Dummer Sport, mag ich nicht!“ Die Igelin antwortete: „Du musst ja nicht gleich einen Radschlag machen

oder auf dem Trampolin hüpfen. Wie wäre es denn, wenn ich dir erst einmal langsam helfe das Bein wieder in Bewegung zu setzen?“ Charly sagte: „Och nööö, hab keinen Bock.“ Die Spitzmaus hatte die Idee, in der Zeit eine Geschichte zu

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erzählen. Sie dachte sich eine Katzengeschichte aus und die Igelin fing an zu mas-sieren. Bei der Massage entspannte sich Charly und schlief ein. Die Igelin deckte Charly zu.

2. KapitelFrau Dick die Ratte klopfte an und stellte sich vor. Sie sagte: „Hallo Charly, hast du Lust mit mir zu basteln?“

Charly sagte: „Ja!“ Die Ratte Frau Dick zeigte Charly, wie das mit der Kunst funktioniert. Char-

ly fand die Kunst- und Bastelshow super! Charly wollte gleich alles selbst machen. Vor lauter Aufregung warf Charly das Wasser um und Frau Dick die Ratte wurde von Kopf bis Fuß nass. Die Ratte sagte: „Nicht schlimm, das kann man alles wa-schen.“ Die Ratte füllte das Wasser wieder auf und Charly malte weiter. Heim-lich malte er eine Ratte, die so aussah wie aus 'Ratatouille'. Als Charly fertigt war, schenkte er das Bild seiner Mama Mimi.

„Das Bild ist ja super schön“, sagte Mimi. Sie wollte es gleich in ihr Haus hängen. Das Haus war sehr schön, es gab viel Platz zum Spielen. Es gab sogar eine Eingangshalle, vielleicht wurde dort auch das Bild aufgehängt. Dann konnte es sofort jeder sehen, wenn man hereinkam.

3. KapitelCharly hatte tierisch Kohldampf. Er fragte nach Milch und Katzenfutter. Das Es-sen tat gut. Direkt nach dem Essen betrat Luchs Christian das Zimmer und aß sein eigenes Essen. Dann räumte er das dreckige Geschirr in die Spülmaschine ein und kam zurück ins Zimmer. Er untersuchte Charlys Pfote. Weil Charly von der Untersuchung ziemlich geschafft war, las Mama Mimi ihrem Charly etwas vor. Charly wählte die Geschichte vom 'Räuber Hotzenplotz'. Dabei bekam er einen Riesenhunger und wünschte sich Katzenfutter aus der Dose. Danach wünschte sich Charly, dass seine Mama Mimi ihm den Bauch kraulte. Dabei wurde er ganz müde und schlief ein.

4. KapitelNachmittags wachte Charly auf und die Füchsin Viktoria Rosener stand an sei-nem Bett. Die Füchsin Viktoria sagte: „Hey, lass uns Fangen spielen!“ Charly war

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begeistert. Die Klinik hatte einen Garten. Damit es noch mehr Spaß machte, rie-fen die beiden die Ente Viktoria Lin an, sie hatte auch Lust mit Fangen zu spielen. Nachdem sie eine Weile gespielt hatten, machten sie eine Pause. Es gab Wasser, Kakao und Kekse. Dann spielten sie 'Stille Post'. Das klappte gut, denn dafür mussten sie sich nicht bewegen. Danach gab es in der Klinik Brote mit Wurst und Käse. Anschließend setzten sie sich vor den Fernseher und schauten einen Film.

5.KapitelDer Luchs Christian betrat den Raum und sagte zu Charly: „Heute ist ein guter Tag, denn heute nehme ich dir deinen Gips ab.“

Charly rief: „Jaaa, das klingt gut!“ Der Luchs sagte, dass sie dafür in den Be-handlungsraum fahren müssten. Er half Charly auf die Trage und suchte sich die Schere und die Tücher zusammen, um den Gips abzunehmen. Charly war ganz tapfer, es tat ihm gar nicht weh. Anschließend wickelte ihm Luchs Christian einen Verband um und schob ihn mit dem Rollstuhl zurück in sein Zimmer.

Er sagte: „Jetzt ist zwar der Gips ab, aber mit fünf Wochen Training musst du schon noch rechnen.“

„Ok“, sagte Charly. Der Luchs erklärte weiter, dass jeden Tag die Igelin Ulri-ke kam, um mit ihm zu trainieren. Er sagte auch noch: „Und Charly, denk dran, du musst dann auch immer mitmachen.“

Charly fragte: „Warum?“ Der Luchs antwortete: „Nur, wenn du mitmachst, kannst du danach auch

wieder rennen, laufen und stehen.“ Charly war eine Sportskanone, er hatte sich jeden Tag auf die Igelin gefreut.

Die beiden hatten viel Spaß und deshalb ist es auch kein Wunder, wenn ich euch erzähle, dass die fünf Wochen wie im Flug vergingen. Am Ende seines Kran-kenhausaufenthaltes stand Mama schon mit Luftballons und Konfetti parat, um Charly abzuholen. Alle Mitarbeiter quetschten sich mit Mama, den Luftballons und dem Konfetti in Charlys Zimmer, um Charly zu verabschieden. Der Luchs Christian wischte sich eine kleine Träne aus dem Auge.

Charly tröstete den Luchs und sagte: „Ich komme bald wieder zur Kontrolle.“Da freuten sich der Luchs und das ganze Team. Alle verabschiedeten sich

und die Geschichte ist zu Ende. ⁄⁄

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Unsere Vorsitzende von kidz4kids, Anuschka Gulde

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Liebe Leserinnen, liebe Leser,

schon wieder ist ein Jahr vergangen, und unser Projekt kidz4kids läuft und läuft. Erneut konnten wir einen wunderbaren Preis gewinnen, der zudem auch noch hoch dotiert war. Das ist für uns natürlich ebenfalls sehr wichtig, machen wir doch alles im Ehrenamt in unserer Freizeit – aber den Buch-druck, den müssen auch wir bezahlen 😀 😀

Wir haben uns schon fast daran gewöhnt, dass die Jugendlichen wirklich richtig gut schreiben können und eine unglaubliche Fantasie haben. Aber auch nur fast. Denn wir sind jedes Mal wieder aufs Neue fasziniert, wenn wir die eingereichten Texte lesen. Wie gut und wunderbar, dass diese nicht in irgendeiner Schublade brachliegen!

Dem Team um Andrea Petry, Marianne Petry und Monika Schiller gebührt in diesem Jahr allerdings ganz besonderer Dank. Da ich selbst, aufgrund meiner schweren Erkrankung, nur “im Hintergrund” helfend tätig sein konnte, haben die drei Damen diesmal alles alleine gestemmt. Und das haben sie großartig gemacht!! Es ist zu viert schon viel Arbeit solch ein Buch zu “erschaffen”, aber zu dritt ist das nochmal eine ganz andere Auf-gabe. Liebes Team, auch an dieser Stelle – ihr habt Tolles geleistet und könnt zu recht sehr stolz auf euch sein, ich bin es auf jeden Fall!

Danke natürlich auch an unsere inspirierenden Autoren, ohne die es ja gar kein Buch geben würde – ihr seid einmalig! Und nun wünschen wir viel Kurzweil beim Lesen unseres 5.0! Herzlichst, Eure Anuschka Gulde und das Team von kidz4kids,

Anuschka Gulde Andrea Petry Gertrud M. Petry Monika Schiller

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Wohnhaft in Österreich

Geburtsjahr 2003

Alter beim Schreiben des Textes 13 Jahre

Hobbys Sport treiben, lesen, schreiben

Berufswunsch Psychologin

KajaFournier»Der verlogene Spiegel«Altersempfehlung: Ab 12 Jahren

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Er blickt in den Spiegel hineinund sieht vor sich einen Mann.Er scheint erfreut und sehr glücklich zu sein.

Denn gefangen in seinem Bann,macht er immer einen fröhlichen Anschein.

Doch in seinem Herzen ist er geblendet,zerfressen von den Lügen und dem Leid.Er will, dass die Lüge endlich endet,den Spiegel, zerschlagen nach der langen Zeit.Er denkt zurück an seine kläglichen Tage,der Spiegel welcher hat ihm alles genommen.Wie lange befindet er sich schon in dieser schrecklichen Lage?Wenn er ihn zerstört, wird er seinen Frieden bekommen!

Aber er lässt die Hand sinken,er kann nicht zerstören die Lüge,welche hat ihn all die Jahre begleitet.

Er legt sich hin, müdeund hört auf zu kämpfen.Denn er weiß, dass sein Lebeneine einzige Lüge ist. ❰❰

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Rayna Wicker

»Mit viel Fantasie«Altersempfehlung: Ab 10 Jahren

Geburtsjahr 2000

Alter beim Schreiben des Textes 16 Jahre

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45Ich kann mich noch ganz genau an diesen Morgen er-innern. Es ist heute nicht vieles anders als damals. Die Gebäude sind gleich, die Straßen sind gleich, sogar das

Wetter ist gleich, nur ich habe mich seither verändert. Es war ein Dienstag und ich war schon seit dem Mo-

ment an dem ich erwacht war bereit, mich ins Abenteuer zu stürzen. Nachdem ich, wie jeder guter Ritter das tut, gesund gefrühstückt hatte, verließ ich mein Schloss mit meiner Ta-sche auf dem Rücken. Nur wenige Schritte vom Schloss ent-fernt, kam schon mein erstes Hindernis. Es war ein riesiger See: viel zu weit, um umgangen zu werden und viel zu tief, um durchschwommen zu werden – außerdem lebten dar-in bestimmt Seeungeheuer. Also musste ich wohl fliegen. Ich nahm Anlauf, streckte meine Flügel aus und schaffte es

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gerade knapp noch an das andere Ufer. Nun musste ich schneller gehen, denn auf dieser Strecke befand sich der Drachen, der bestimmt aufwachen würde, wenn er mich bemerkte. Das war aber bis jetzt zum Glück noch nie geschehen. Ich hatte mein Ziel schon fast erreicht, aber etwas stand noch vor mir: ein riesiger bunter Fluss, den ich nur überqueren konnte, wenn ich dar-auf wartete, dass die kleine Sonne grün wurde, denn dann würde der Strom leichter und ich konnte den gelben Wegweisern folgen. Meine Mutter hatte mir beigebracht, wie ich um dieses Hindernis herumkommen konnte. Sie sagte damals, ich müsse unbedingt immer auf die grüne Sonne warten, sonst sei es zu gefährlich. Also wartete ich auch an diesem Dienstag geduldig und überquerte den Fluss danach möglichst schnell. Dann war ich endlich am Ziel angekommen. Es war ein weiteres Schloss, eines mit bunter Schrift auf der Wand, meine Mutter hatte mir geholfen, sie zu entziffern. Da stand: ,,Kin-dergarten“.

Heute ist die Schrift schon verblasst und ich sollte mich vermutlich einmal darum kümmern, aber als Hauswart habe ich eben noch viel anderes, das ich zuerst erledigen muss. Als vor einigen Minuten der Wecker läutete, schleppte ich mich in die Küche und aß schnell ein Brot, danach verließ ich das Haus, in dem ich seit meiner Kindheit wohne. Auf dem Gehweg ist eine riesige Pfütze, die sich immer bildet, sobald es ein wenig regnet. Ich gehe ihr aus dem Weg und komme an einem Riss im Boden vorbei, den es ebenfalls schon seit Jahren gibt. Mit viel Fantasie könnte man darin vielleicht einen Drachen sehen, aber ich bin mir jetzt wirklich nicht mehr sicher, wie ich das hinbekommen habe. Nun bleibe ich kurz stehen und warte darauf, dass die Ampel grün wird. Die Autos halten an und ich überquere die Straße. Und dann bin ich wieder beim Kindergarten. Es ist seltsam, wenn ich mir vorstelle, wie anders ich die Welt sah, als ich noch ein Kind war. Damals war alles ein Abenteuer und ich hatte so viel Fantasie! Heute ist die Welt langweilig und alles wirkt einseitig. Seltsam, ich kann mich gar nicht mehr an den Übergang erinnern, es ist heute einfach alles anders. ❰❰

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HannahOppolzer

»Sternensammler«und »Verpasst«Altersempfehlung: Ab 12 Jahren

Wohnhaft inNiederösterreich/Österreich

Geburtsjahr 1999

Alter beim Schreiben des Textes 17 Jahre

Hobbys Schreiben, lesen, Klavier spielen, wandern

Berufswunsch Schriftstellerin

Die Idee hinter die-sem Text Verpasst: Der Trend vieler Jugend-licher, nichts zu ver-passen und immer mit dem Strom zu gehen. Sternensammler: Die Angst vieler Menschen, durch z. B. Migranten ihren Reichtum zu ver-lieren und das jenen entgegengebrachte Misstrauen

Hannah Oppolzer

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75Ich sammle Sterne, pflücke sie vom Himmel, lege sie in mein Kästchen und schließe es ab.

Ich sammle funkelnde Sterne, pflücke sie vom nacht-blauen Himmel, lege sie in mein altes Kästchen und schließe es ab.

Ich sammle ruhelos funkelnde Sterne, pflücke sie sorgsam vom nachtblauen Himmel, lege sie bedächtig in mein altes Kästchen und schließe es geschwind ab.

Ich sammle heute, ich sammle morgen, ich sammle jetzt und immer weiter; ich pflücke sie flink, ich pflücke sie ehr-fürchtig, ich pflücke sie voller Stolz und manchmal weinend; lege sie in mein Kästchen und schließe es ab, eifrig, jede Nacht.

Das Kästchen ist mein, das alte Kästchen mit dem rosti-gen Schlüssel; ganz allein mein.

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Ich sammle Sterne, wie andere Murmeln, wie Briefmarken, wie Steine, wie Mu-scheln. Das Kästchen ist mein, ganz allein mein.

Ich sammle unerbittlich Sterne, pflücke sie hastig vom Himmel, lege sie so-fort in mein Kästchen, einmal verschließen, zweimal, dreimal, ich setze mich auf das Kästchen, verschränke die Arme, sehe mich um …

… und ich bewache sie, meine Sterne, die ich gesammelt habe.Und ich sitze und sitze, ich bewache und wache ... meine Sterne. Mein Käst-

chen, meine Sterne. Alles, alles, alles mein.Heute Nacht gehe ich wieder nach draußen, während die Welt schläft. Vol-

ler Mond auf tiefblauer Himmelsfläche. Um ihn herum sanftes silbernes Licht, als sickere es aus ihm. Wie ein Punkt aus Millionen von Silberfasern, der auf der dunklen Himmelswölbung festklebt. Ich strecke meine Hand aus und will den Mond erreichen, will seine silbrige Flüssigkeit auf meine Handfläche trop-fen spüren, will Teil seines andächtigen Glanzes werden. Ich klammere mich an diese Sehnsucht, als ließe der Mond hauchzarte Fäden in Form einer Strickleiter zur Erde hinab, anhand welcher ich mich in den Himmel ziehen könnte. Ich bin mir der Unmöglichkeit dessen nicht bewusst und dennoch ... Nein, vielleicht gerade deshalb greife ich nach den herabfallenden Seilen und schwinge mich hoch, weit hoch, immer höher, höher, höher, immer weiter, weiter, weiter …

Völlig übermannt falle ich in einen seichten Schlaf. Als ich wieder aufwache, ist es um mich herum finster. Ein banges Gefühl der Angst bemächtigt sich mei-ner, denn ich kann nichts sehen, nichts spüren, ich weiß nicht einmal, wo oben und wo unten ist, hier ist alles irgendwie … verdreht und auf den Kopf gestellt.

Und das Licht fehlt, ja genau, das Licht fehlt, das funkelnde Glitzern der Sterne des Nachthimmels, das mich meinen Lebtag stets begleitet hatte, wenn ich mich nachts aufmachte, die Sterne zu suchen. Das Licht fehlt, ja genau, das Licht fehlt. Der Himmel ist leer. Das fällt mir jetzt erst auf. Und als sich mei-ne Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, kann ich einzelne Wolkenfetzen durch die Luft schwirren sehen, aber das ist auch schon das Einzige, was sich hier so herumtreibt. Der Himmel ist leer. All die Sterne – wie weggeblasen!

„Wer war das?“, schreie ich. „Wer hat mir all meine Sterne geraubt, die ich noch pflücken wollte? Wer?“

Aber da ist niemand. Absolut niemand. Nur ich. Nur ich bin da. Und es gruselt mich. Ganz zittrig werde ich und Gänsehaut befällt meinen Körper, lässt

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sich wie winzige Krater auf meiner Haut nieder und jagt mir Kälteschauer über den Rücken. Noch nie habe ich mich allein gefühlt in der Nacht. Und es ist ein selt-sames Gefühl. Es ist, als würde es mir vor Augen führen, wie einsam ich doch ei-gentlich bin. Wie klein, wie schmächtig, wie schwach, wie unwesentlich für diese Welt. Ich klettere die Strickleiter wieder hinab zur Erde. Ich sehe nicht nach oben, nicht in den Himmel, denn ich will nicht sehen, was ich sehen muss, ich laufe eilig in mein Heim und hole mein Kästchen aus dem Schrank. Es ist größer geworden.

Das freut mich. Ich stelle es auf meinen Teppich und setze mich darauf. Verschränke die

Arme, sehe mich um und bewache mein Kästchen. Bewache meine Sterne. In Zeiten wie diesen ist das von oberster Wichtigkeit. Ich muss mein Hab und Gut emsig bewachen und vor anderen beschützen, die es mir wegnehmen wollen, obwohl es ihnen nicht zusteht. Ich muss es verteidigen und ich muss mich ver-teidigen, denn dieses Leben ist ein Kampf und wer es leben will, muss kämpfen.

„Ihr werdet mir nicht noch einmal meine Sterne stehlen!“, rufe ich. „Wagt es ja nicht!“

Aber niemand kommt. Niemand kommt, um mir meine Sterne zu stehlen, niemand kommt, um es wenigstens zu versuchen. Ich bleibe trotzdem sitzen. Aber irgendwann, da werde ich einsam und müde, ich sitze auf meinem Käst-chen und blicke böse in die Welt. Ich bewache meine Schätze und verliere mich in meinem verknoteten, argwöhnischen Misstrauen, verliere mich in meinen skeptischen und selbstsüchtigen Gedanken, verliere mich in meinem besitz-süchtigen Handeln.

Eines Nachts wage ich es, in den Himmel zu blicken, doch er ist immer noch leer. Unter mir pulsieren meine Sterne, das Kästchen strahlt einen flim-mernden Glanz aus und dann … dann … ganz … plötzlich …

… plötzlich denke ich, was, wenn ich die Diebin bin, wenn ich selbst die Sterne gestohlen habe …

Ich sammelte Sterne, pflückte sie vom Himmel, legte sie in mein Kästchen und schloss es ab, ich sammelte funkelnde Sterne, pflückte sie vom nachtblauen Himmel,legte sie in mein altes Kästchen und schloss es ab, ich sammelte ruhe-los Sterne, RISS sie vom Himmel, VERSPERRTE sie in meinem Kästchen …

Bis ich das Kästchen öffne und seinen Inhalt in die Nacht schütte, all die Ster - ne, wie sie erglühen und erstrahlen, sie fliegen davon, in die weite Nacht … ❰❰

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Katharina Merkl»Besonders sein ist nicht besonders«Altersempfehlung: Ab 12 Jahren

Wohnhaft inBayern/Deutschland

Geburtsjahr 2000

Alter beim Schreiben des Textes 17 Jahre

Hobbys Tennis spielen, Freunde treffen, Orchester, lesen, tätig beim Bayerischen Roten Kreuz

Berufswunsch Ärztin/Krankenschwester

Katharina Merkl

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93Du bist ein Nichts, was ist das schon?Du bist eine unauffällige Personin einer ganz normalen Situation,

mit irgendeiner grotesken Illusion.

Du bist nicht nett genug, um als freundlich zu gelten,nicht hübsch genug, um als schön zu gelten,hast nicht Ausstrahlung genug, um als charismatisch zu gelten,Du bist durchschnittlich, das ist nicht selten.Du bist nicht schlau genug, um ein Genie zu sein,bist nicht wie Goethe oder Einstein,vielleicht ist dein Gehirn auch einfach nur zu klein,aber nein, das kann nicht sein.

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Du willst einzigartig und individuell, aber nicht anders sein,er ist Autist und ihr fehlt ein Bein,die Frau dort hat ein verätztes Gesicht,nein, anders sein willst du nicht.Nur besonders eben,dich von der grauen Masse abheben,nach Individualität und Einzigartigkeit streben.Du willst auf irgendeine Art und Weise außergewöhnlich sein,nicht nur durchschnittlich hübsch, groß oder klein.Aber wenn jeder etwas Besonderes wäre, wäre es dann überhaupt noch so besonders, besonders zu sein?

Du musst nicht besonders sein, um etwas Besonderes zu sein.Jeder ist für sich selbst besonders, schau doch mal tief in dich hinein.Jeder Moment, bei dem du dabei bist,mit deinen Freunden lachst oder Pizza isst,ist für die anderen vielleicht nicht mehr oder weniger besonders,für dich selbst aber schon, denn du bist hier und nicht woanders.Verstehst du jetzt, was ich dir sagen will?Einsam ist der, der überall besonders ist,du aber weißt, dass es reicht, wenn du für dich selbst besonders bist. ❰❰

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