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Laertes

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Volker Krämer

LLaaeerrtteess

Professor Zamorra Hardcover

Band 16

Zaubermond Verlag

Vor kurzem stieß Professor Zamorra im Tongagraben auf eine verborgene Station, die vor Jahrhunderten dort von einer unbekannten Spezies erbaut worden war – und in dieser Station auf eine eigenartige Mischung aus Technologie und Magie, die sich deutlich von allem unterschied, was er kannte. Oder … von beinahe allem.

Sie erinnerte ihn an Dalius Laertes, den geheimnisvollen Vampir und Beschützer von Khira Stolt.

Folgerichtig bittet Zamorra Dalius Laertes um dessen Hilfe bei der Untersuchung der Station. Doch als Laertes und Zamorra ihre Magie-Potentiale vereinigen, geschieh etwas, mit dem niemand gerechnet hat – Laertes' Erinnerung bricht auf, und Zamorra wirft einen Blick in eine Welt, in der Magie und Technik eine Symbiose eingegangen sind.

Und auf einmal ist alles anders. Vollkommen anders …

Kugelspiel 

Ort: Irgendwo Zeit: Zwischen zwei Herzschlägen

Warum gerade jetzt?

Aus welchem Grund ausgerechnet in dieser so winzigen Zeitspanne, die sicher nicht einmal ausreichen wird, um ein letztes Mal Luft in die Lungen zu saugen?

Es ist ganz einfach unsinnig. Dennoch – während ich die schwarze Kugel beobachte, die mir entgegenrast, stelle ich mir nur diese eine Frage.

Was war noch gleich das fünfte Element, das dem Spielball seine entscheidende Stabilität während des Fluges garantierte? Wie heißt es denn noch … es liegt mir auf der Zunge …

Als überaus ehrgeiziger »Ventur«-Profi habe ich mich natürlich auch mit solchen Dingen beschäftigt. Mehr noch: Ich habe sogar eine verbesserte Rezeptur beim Oberverband der Liga eingereicht. Allerdings hat mir bis heute niemand gesagt, ob mein Vorschlag Gehör gefunden hat. Sicher wurde er belächelt, weil er von mir stammt. Von einem Spieler. Was für eine Rolle spielt das jetzt noch?

Es gibt doch so viel, an das ich in diesem Moment denken könnte. Schließlich ist es der letzte Augenblick meines Lebens.

Die Spielkugel ist so ungeheuer präzise abgefeuert worden, sie kann mich überhaupt nicht verfehlen. Es macht auch keinen Sinn, wenn ich mich nun zur Seite werfe. Bis meine Muskeln reagieren … nein, keine Chance.

Sie wird mich treffen und töten. Exakt zwischen meinen Augen wird sie einschlagen. Falsch – natürlich wird sie meinen Schädelknochen nicht durchdringen, sondern von ihm abprallen. Die Spielkugel ist an Härte, gleichzeitig jedoch auch an Elastizität

unübertroffen. Beim Spiel hat es seit jeher schwere Unfälle gegeben. Ein Spieler, dessen Reflexe nicht überdurchschnittlich gut sind, bekommt dies schnell und drastisch zu spüren.

Meine Reflexe sind oft gerühmt worden. Unzählige Male. Jetzt stoßen auch sie an ihre Grenzen. Gleich ist sie da. Es gibt unzählige Legenden, die von den großen »Ventur«-Spielen

berichten. Von den Spielern, die aus den unmöglichsten Positionen heraus Vollpunkte erzielten. Die meisten dieser Geschichten sind sicher übertrieben und nicht mehr zu überprüfen, weil die Schützen längst nicht mehr leben. Sie alle waren die Helden meiner Kindheit.

Im Grunde – da bin ich mir ziemlich sicher – gibt es nur einen lebenden und aktiven Spieler, der einen solchen Schuss setzen kann.

Gummon, richtig! So lautet die Bezeichnung für das stabilisierende Element. Nun ist es mir also doch noch eingefallen. Vollkommen nutzlose Erkenntnis …

Ein Schütze lebt, der so einen Schuss abgeben kann. Nur einer. Doch kann er es schlecht sein, der hier mein Leben auslöschen

will. Dieser Spieler bin ich selbst! Ich, Laertes …

1. Joch 

Ort: Uganda, Afrika Zeit: Gegenwart

Wenn eine Nebelschwade aufriss, dann konnte man kurz das satte Grün des Dschungels erahnen. Doch diese Augenblicke waren selten, währten zudem oft nur wenige Atemzüge lang.

Der schwere Mann blieb wie angewurzelt stehen, als sich nur einige Schritte vor ihm etwas aus dem für seine Augen undurchdringlichen milchweißen Dunst schälte.

Etwas, das hierher gehörte. Er war an diesem Ort der Fremdkörper. Das Wesen vor ihm aber

herrschte seit ewigen Zeiten über diesen Landstrich, wie ein sanfter Monarch. Mächtig und zerbrechlich zu gleichen Teilen.

Dr. Artimus van Zant wagte nicht zu atmen. Er selbst galt unter seinesgleichen als – vorsichtig ausgedrückt –

kräftig gebaut, überragte mit seinen 195 Zentimetern die meisten Artgenossen. Muskeln – er hatte sie in den letzten Jahren vernachlässigt, hatte sich eher dem Aufbau von unnötigen Fettpolstern hingegeben. Was nicht bedeutete, dass er verweichlicht war. Zumindest wies van Zant das weit von sich. Und seit er Professor Zamorra und dessen Team kannte, wurde auch seine übrig gebliebene Beweglichkeit und Körperkraft immer wieder gefordert.

Doch wie klein, wie schwächlich und von der Natur betrogen kam sich Artimus vor, als er sich diesem Wesen gegenübersah, das fragend in seine Richtung schaute.

Der Blick dieser Augen vermittelte Artimus van Zant etwas, das er noch nie zuvor in seinem Leben so deutlich verspürt hatte: Ehrfurcht!

»Hol ruhig wieder Luft.« Der Physiker erschrak über die Stimme, die in seinem Rücken erklang. Er hatte seinen Begleiter vollkommen vergessen, seine Anwesenheit ganz und gar verdrängt. »Er kann uns nicht sehen. Und er hört uns auch nicht. Das garantiere ich dir. Wäre es nicht so, hätten wir längst erhebliche Probleme. Man nennt sie die sanften Riesen, doch sie können auch ganz anders, wenn man in ihr Revier eindringt.«

Van Zant wandte sich nicht um. Der Anblick des Muskelgebirges vor ihm fesselte ihn zu sehr, als dass er sich davon losreißen konnte.

Niemals hätte er geglaubt, sich einem Silberrücken einmal so weit nähern zu können. Sicher, es gab den Tourismus, die so genannten Gorilla-Treckings. Und sosehr Artimus diesen Pauschaltourismus auch ablehnte, der den Frieden dieser Tiere doch nur stören konnte, so wichtig waren diese Geschichten sicherlich für den Erhalt der Art. Die Menschen liebten diese großen Affen – und sie schenkten ihnen Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit bedeutete gleichseitig Wachsamkeit! Den Wilderern wurde ihr blutiges Handwerk dadurch schwerer gemacht. So gesehen mochte Tourismus hier sogar Sinn machen.

Doch van Zant war nicht der Pauschal-Typ. Und keiner der Touristen – bewaffnet mit ihren Digitalkameras,

die wie Wohlstandstrophäen um ihre Hälse baumelten – hatte wohl eine Situation erlebt, die dieser gleichkam.

Der Physiker wusste genau, dass sein Begleiter die Wahrheit sprach, doch das hinderte den Südstaatler nicht daran, nur im Flüsterton zu antworten.

»Aber er spürt uns. Schau ihn doch an.« Der Gorilla war verwirrt. Er sah nichts, roch nichts, doch da war

etwas. Mehrmals wollte er sich abwenden, zu seiner Gruppe zurückkehren. Doch immer wieder hielt er inne, machte einen, zwei Schritte nach vorne. Dann zog er sich wieder zurück, beobachtete weiter.

»Ihre Sinne sind stark ausgeprägt, so stark, dass unser Freund dort vorne sich selbst durch meinen Schutz nicht so richtig täuschen lässt. Eure Welt hat wundervolle Kreaturen hervorgebracht.«

Van Zant wandte sich nun doch um, sah dem Vampir direkt in die Augen. »Eure Welt? Ich dachte eigentlich immer, sie sei auch die deine – obwohl selbst Zamorra wohl kaum etwas über dich weiß.«

Dalius Laertes hob den Kopf, nun seinerseits verwirrt. Der Einwurf des Physikers machte ihm klar, was er gerade gesagt hatte. Eure Welt … Er runzelte die Stirn. Nur ein dahergesagter und bedeutungsloser Lapsus? Der Verdrängungsmechanismus griff schnell. Laertes überspielte solche Situationen nahezu perfekt.

Ein Schulterzucken, eine wegwerfende Handbewegung. Was sollte schon sein? Nichts weiter als ein Versprecher, wie er jedem unterlaufen konnte.

Wie er ihm immer häufiger unterlief … Wirklich ein Versprecher? Nicht hier, nicht jetzt. Laertes wich dem Blick des Physikers aus.

Der Silberrücken hatte es sich in der Zwischenzeit auf dem Dschungelboden bequem gemacht. Er wartete – irgendetwas würde schon noch passieren. Und er hatte Zeit, Zeit und die Geduld eines Zuschauers, der auf eine herausragende Darbietung hoffte.

Um Laertes' Lippen erschien ein beinahe vergnügtes Lächeln. Der Gorilla hatte sich strategisch außerordentlich gut platziert, wenn man es von seiner Warte aus betrachtete. Der hagere Vampir deutete auf das Tier.

»Genau dort müssen wir hin.« Van Zant sah Laertes fragend an. Es waren noch keine zwei

Stunden her, als der Vampir in seiner unnachahmlichen Art bei dem Physiker aufgetaucht war. Er erschien in dem Stil, den man in früheren Zeiten ausschließlich dem Satan höchstpersönlich zugeschrieben hatte. Einzig der Schwefelgestank fehlte, und van Zant war dafür äußerst dankbar gewesen.

Viel gesagt hatte Dalius Laertes eigentlich nicht. Nur, dass er den Südstaatler zu einer kleinen Exkursion nach Uganda abholen wollte. Viel sagen musste er auch nicht, denn die Tatsache, dass ihr Ziel etwas mit Khira Stolt zu tun hatte, reichte für Artimus.

Khira Stolt – die 133,5 Zentimeter messende Kleinwüchsige Finnin war das Bindeglied zwischen van Zant und dem Vampir gewesen. Nein, nicht gewesen, es verband sie nach wie vor, korrigierte sich der

Physiker in Gedanken, denn nach Khiras gewaltsamen Tod waren so viele Fragen offen geblieben. Und niemand hatte die Finnin besser gekannt als Laertes, der sie während ihrer ganzen Kindheit vor dem Zugriff der Vampirhorde beschützt hatte, die Khiras Leute gefangen hielten.

Beschützt – und als Mittel zum Zweck missbraucht. Diese Schuld hatte Dalius auf sich geladen, denn schon vor Khiras Geburt hatte er entdeckt, dass in der Kleinen eine Fähigkeit schlummerte, die ihn seinem Ziel näher bringen konnte. Dem Ziel, Sarkana zu vernichten, den Vampirdämon, unter dessen Führung die Vampirrasse Erde und Hölle mit Blut überschwemmen sollte.

Laertes hatte eine andere Vision von der Zukunft seines Volkes. Er sah in den Vampiren die Fähigkeit zu Kunst und Wissenschaft schlummern – sie waren keine rohen Schlächter, zu denen Sarkana sie degradieren wollte. Es musste eine Möglichkeit der Koexistenz zwischen Vampiren und Menschen geben. Ein Hirngespinst? Vielleicht. Und Laertes wusste sehr wohl, dass er seine Gedanken besser bei sich behielt. Dennoch gab er diesen Traum nicht auf. Und der erste Schritt dorthin war das Ende Sarkanas!

Das Kind Khira wuchs heran. Als Sarkana schließlich bemerkte, welche Gefahr in ihr für ihn lauerte, konnte er nur die Flucht ergreifen, denn Khiras Bluttränen hatte er nichts entgegenzusetzen gehabt. Die junge Frau stellte eine Gefahr für ihn dar, so mächtig, dass er nichts unversucht ließ, sie zu beseitigen.

Es blieb nicht aus, dass die so Gehetzte irgendwann Kontakt zu Professor Zamorra und seinem Team bekam. So hatte Artimus van Zant sie kennen gelernt. Der Zwei-Meter-Mann und die Kleinwüchsige hatten sofort große Sympathie füreinander empfunden. Wie groß diese Anziehungskraft schlussendlich gediehen wäre, konnten sie jedoch nicht mehr ausloten …

Sarkana, der sich zum König über alle Vampire aufgeschwungen hatte, lief in eine Falle, die Zamorra und van Zant ihm gestellt hatten. Laertes hatte sie tatkräftig unterstützt, sich offen gegen Sarkana gestellt.

Der Plan ging auf – der Dämon wurde vernichtet.

Doch zuvor hatte der noch dafür gesorgt, dass die Ernte der Sieger eine bittere wurde. Khira Stolt starb in van Zants Armen.

Dessen Blick wanderte unwillkürlich zu seiner linken Hand. Bevor Khira starb, hatte sie Artimus irgendetwas unter die Haut geschoben. Van Zant hatte keine genaue Erinnerung daran – war es ein Splitter gewesen? Seine Hand war angeschwollen, doch kein Arzt hatte etwas finden können. Khiras Erbe blieb geheimnisvoll, wenn er auch in der Zwischenzeit zumindest einen Teil davon in sich entdeckt hatte. Denn seit jenem Tag war er in der Lage, Vampirspuren zu folgen. Artimus war sich im Klaren darüber, dass dies nicht alles sein konnte – bei weitem nicht. Irgendwann würde er sicher verstehen, was Khira mit ihrer Handlung bezweckt hatte.

Heute war dieser Tag aber sicher noch nicht gekommen. Oder? Vielleicht hatte Laertes' Besuch ja etwas damit zu tun?

Van Zant sah zu dem Silberrücken. Wirklich ein Prachtexemplar war dieses Tier, das es sich dort bequem gemacht hatte. Artimus schätzte den Burschen kurz ab: 170 Zentimeter maß er sicher und wog locker seine 220 Kilogramm, eher mehr. Okay, Artimus war dem Vampir hierher gefolgt, doch nun war der am Zug. Wenn Freund Silberrücken also im Weg saß, dann sollte Dalius ihn gefälligst höflich zum Aufstehen bewegen.

»Also bitte – dein Auftritt. Zeig mal, was du so als Zirkusdirektor auf der Pfanne hast.«

Dalius Laertes hob beide Augenbrauen, dann trat er ein paar Schritte auf den Gorilla zu. Van Zant blieb in der Nähe des Vampirs, dessen Schutzmagie ihn mit einschloss. Er wollte nicht aus diesem Tarnzauber ausgeschlossen werden. Nicht, wenn da annähernd fünf Zentner Muskeln und Zähne auf ihn warteten.

Was nun folgte, ging schnell. Zu schnell für den Berggorilla, der die Aktion mit vor Verwunderung geöffnetem Maul über sich ergehen ließ. Scheinbar schwerelos erhob sich das Tier vom Boden, schwebte gut zwei Meter in die Höhe – dann zehn Schritte nach links, wo es wieder sanft abgesetzt wurde. Für den Verstand des Silberrückens war das zu hoch. Er, der uneingeschränkte Chef seiner Gruppe, Boss eines hübschen Harems und Vater eines Haufens

ungezogener Zwerggorillas, durfte keine Angst zeigen. Ein Blick zum Rand der kleinen Lichtung bewies Artimus, dass sich dort Publikum eingefunden hatte. Die gesamte Gorillafamilie beobachtete ihren Anführer mit großem Interesse. Und der gab sich keinerlei Blöße!

Als wäre nichts geschehen, kratzte sich der Silberrücken am Kinn. Dann trommelte er mit seinen Fäusten gegen die Brust. Imponiergehabe der ersten Güte. Aber was anderes hätte er auch tun können? Er blieb sitzen, beobachtete weiter, auch wenn es für ihn ja nichts zu sehen gab.

Van Zant lachte schallend auf. »Hochachtung. Vor euch beiden. Du wirst zugeben, dass er sich richtig cool verhalten hat.«

Dalius Laertes wies auf die Bodenöffnung, die sich hier zwischen zwei Felsen auftat. »Da hinunter müssen wir. Pass auf, der Boden ist rutschig.« Er sah kurz zu dem Gorilla. »Für seine Weibchen ist er jetzt sicher der größte aller Helden. Wer hat schon einen Clanchef, der fliegen kann?«

Ohne auf Artimus' Antwort zu warten, stieg der Vampir in die Tiefe.

Verblüfft registrierte van Zant die in den Boden gehauenen Stufen. Allmählich begann die Sache interessant zu werden.

Es ging nur gut ein Dutzend Stufen nach unten. Dann tat sich ein absolut ebener Gang auf. Van Zant sehnte sich nach einer ordentlichen Taschenlampe, doch Laertes behob das Problem der Dunkelheit schon im nächsten Moment auf seine eigene Art und Weise. Von ihm ging ein Schimmer aus, der ausreichend war, um die nähere Umgebung zu erhellen.

Der Südstaatler berührte die Wände mit den Fingerspitzen. Die Glättung der Oberfläche war erstaunlich. Das sah ganz und gar nicht danach aus, als hätte man hier mit primitiven Werkzeugen gearbeitet. Leichte horizontal verlaufende Vertiefungen deuteten auf einen geraden Schub hin, mit dem dieser Gang in den Berg getrieben worden war. Ein Bohrer, wie er im modernen Bergbau

Verwendung fand, hätte der Oberfläche eher ein gewindeähnliches Profil verliehen, ähnlich einem Schneckenhaus.

Welche alte Kultur mochte das hier angelegt haben? Van Zant kannte sich in der afrikanischen Urgeschichte nicht eben sonderlich gut aus.

Der Gang endete abrupt in einer runden Halle. Deren Durchmesser war eher gering – vier Meter, vielleicht viereinhalb. Einen weiterführenden Gang konnte Artimus nicht entdecken. Sackgasse – vielleicht eine Art Tempel, in dem irgendwelchen Göttern gehuldigt worden war.

Die ebenfalls glatten Wände waren mit Zeichnungen nur so übersät. Jeder Archäologe wäre hier vor Verzückung glatt in Ohnmacht gefallen. Artimus dachte an einige Kollegen bei Tendyke Industries. Eine eigene Abteilung innerhalb des Konzerns beschäftigte sich ausschließlich mit solchen Malereien, Zeichnungen oder in irgendwelche Felsen gehauene Hieroglyphen.

Oft hatten Politiker und Reporter gefragt, warum sich Robert Tendyke mit solchen Dingen abgab. Tendyke Industries war ein weltumspannender Konzern, dem es schlussendlich um Gewinn ging, nicht um Geschichtsforschung. Tendyke hatte stets ausweichend geantwortet. Er konnte ja schlecht zugeben, dass es ihm um Artefakte aus der Vergangenheit ging, die mit der ständigen Bedrohung der Erde durch die DYNASTIE DER EWIGEN in Zusammenhang gebracht werden konnten.

Je mehr man wusste, je besser konnte man sich schützen. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – sie bildeten eine Einheit. Der Kampf gegen das Böse – gegen die dunklen Mächte der Hölle und gegen die Aggressoren aus den Tiefen des Alls – konnte nur Erfolg haben, wenn man ganzheitlich arbeitete. Zamorra und sein Team hatten dies längst verinnerlicht.

Dalius Laertes verstärkte das magische Licht. Der gesamte Raum wurde nun taghell ausgeleuchtet. Der Vampir ließ van Zant einige Minuten Zeit. Geduldig wartete er, bis sich Artimus van Zant ausreichend umgesehen hatte.

Der sah Laertes fragend an. »Indiana Jones würde hier sicher einen

Veitstanz aufführen. Aber ich bin Physiker, wie du ja sicher noch weißt. Und wenn es hier etwas gibt, das du mir zeigen willst, dann werde ich das ohne deine Hilfe in diesem Gewirr sicher nicht finden. Also?« Artimus fand, dass Laertes seine Geheimniskrämerei nun endlich einmal ablegen sollte.

Der Vampir nickte. »Natürlich. Komm bitte her und sieh selbst.« Mit seiner rechten Hand wies er auf eine Stelle an der Wand. Seine rechte Hand … Zum ersten Mal konnte van Zant einen intensiven Blick darauf werfen. In der Gefangenschaft Sarkanas hatte sich Laertes selber die rechte Hand abgehackt. Unfassbar, aber es war die einzige Möglichkeit gewesen, dem Vampirdämon zu entkommen. Die magische Fessel Sarkanas hatte allen Befreiungsversuchen standgehalten. Es war Artimus van Zant gewesen, der Dalius dann später seine Gliedmaße zurückgegeben hatte.

Artimus sah sehr genau hin, doch er konnte nicht einmal ansatzweise Narben oder Ähnliches entdecken. Niemand konnte noch erkennen, dass diese Hand einmal vom restlichen Körper getrennt gewesen war.

Laertes bemerkte Artimus' prüfenden Blick, doch er ließ sich zu keiner Reaktion darauf hinreißen. »Sieh dir diesen Teilbereich an. Du wirst verstehen, warum ich ihn dir zeigen will.«

Artimus erstarrte – und er verstand Laertes' Beweggründe augenblicklich.

Die Zeichnungen waren primitiver Natur, hatten einen gewissen kindlichen Charakter. Doch ihre Bedeutungen waren allesamt klar und deutlich betont – man musste kein Fachmann sein, um zu erkennen, was der oder die Künstler mit ihnen sagen wollten.

Ein großer Mann trug ein Kind auf seinen Armen. Hinter ihnen war eine Art Käfig zu erkennen, der von einem Strahlenkranz umgeben war. In diesem Käfig erkannte man eine verschwommene Gestalt, eine Art Schatten, der dort gefangen war.

War das wirklich ein Kind, das der Mann trug? Oder – ein kleinwüchsiger Mensch? Und dieser Schatten – Sarkana, gefangen mittels der außerirdischen Technik der Meeghs? Van Zant warf einen kurzen Blick zu Laertes, doch der starrte auf die Zeichnungen.

Das nächste Bild ließ den Physiker schwindeln. Zwei Hände – eine klein und zierlich, die andere grobschlächtig. Die

kleine Hand lag auf der großen, und ihre Finger schoben etwas in den Handrücken der großen Hand hinein.

Die folgenden Bilder hatten eine vollkommen andere Bedeutung. Sie handelten von der Jagd, von einem Fest oder ähnlichen Dingen, die van Zant schon gar nicht mehr wirklich registrierte. Er sah nur die beiden Hände.

Seine Hand? Khiras Hand, die den Splitter in Artimus' Hand steckt?

Beinahe erschrak der Südstaatler, als Laertes ihn ansprach, zu sehr war er in seinen Gedanken versunken gewesen.

»Als ich diesen Raum fand, war er absolut unberührt. Ich weiß nicht genau, wie alt diese Zeichnungen sind. Vielleicht tausend Jahre. Vielleicht viel älter. Mit Sicherheit war vor mir in den vergangenen Jahrhunderten niemand hier unten. Ich habe diesen Ort nicht gesucht – er hat mich gesucht.« Artimus' fragenden Blick beantwortete Laertes mit einem Achselzucken. »Irgendetwas hat mich hierher gezogen. Vielleicht genau diese beiden Bilder. Vielleicht etwas anderes, das ich bisher nur noch nicht entdeckt habe. Ich weiß es nicht.«

Ein Geräusch drang von außen in den Raum. Van Zant war mit zwei Schritten beim Ausgang, doch der Vampir beruhigte ihn.

»Keine Sorge. Das sind der Silberrücken und seine Horde. Selbst die Gorillas haben eine natürliche Scheu vor diesem Ort. Sie kommen niemals hier hinunter.«

Van Zant ging zurück zu den Bildern, die ihn so sehr verwirrten. Wie konnte es denn sein, dass jemand vor Urzeiten so präzise die Vorkommnisse der fernen Zukunft malen konnte? In Laertes' Blick erkannte der Wissenschaftler, dass er von dem Vampir auf keine logische Erklärung hoffen durfte. Er verfluchte insgeheim die Tatsache, dass er keine Kamera bei sich hatte. Zamorra musste das hier sehen. Unbedingt! Und so schnell wie nur möglich. Vielleicht war da ja noch mehr zu entdecken, das Laertes nur übersehen hatte. Eventuell Hinweise auf Dinge, die in der Zukunft geschehen

mochten. Van Zant war klar, dass er die Symbolik solcher Hinweise kaum so ohne weiteres erkennen würde. Auch da würde sich Zamorra als der kompetentere Mann erweisen. Artimus war sicher, dass der Professor hier fündig werden würde.

An zwei Stellen war die Bildergalerie beschädigt. Einmal war ein Stück der Wand herausgebrochen, wahrscheinlich durch ein Beben oder eine Erdverschiebung. An der zweiten Stelle, dicht beim Eingang, hatte sich Feuchtigkeit von außen ihren Weg gebahnt. Moos und weißlicher Schimmel hatten sich einer gut einen Quadratmeter großen Fläche bemächtigt.

Van Zant zog den Kittel aus, den er noch immer trug. Laertes hatte ihn bei der Arbeit gestört, und dort schützte man sich mit dieser Kleidung vor Schmutz und Flüssigkeiten.

Nun wurde das gute Stück zum Putzlappen degradiert. Artimus war sicher, dass ihm sein Boss das verzeihen würde. Niemand war an solchen Entdeckungen mehr interessiert als Robert Tendyke.

Vorsichtig, doch mit ausreichendem Nachdruck, reinigte der Südstaatler die überwucherte Fläche. Ein einziges Bild wurde langsam erkennbar. Eigentlich war es nicht einmal ein Bild, sondern eher eine Art Symbol.

Van Zant trat zwei Schritte zurück, um es in seiner Gesamtheit betrachten zu können. Was er sah, war rasch beschrieben:

Zwei kräftige Säulen, auf denen eine Kugel ruhte, die links und rechts je eine kreisförmige Ausbuchtung aufwies. Van Zant machte wieder zwei Schritte nach vorn und rieb mit seinem nun völlig verschmutzten Kittel noch einige Male kräftig über die Stelle. Der Restschmutz verdeckte ihm zu viele Details. Nun konnte er auch erkennen, was die große Kugel darstellen sollte.

Einen Planeten – gar kein Zweifel. Artimus konnte zwei große und einen kleineren Kontinent erkennen. Und die runden Ausbuchtungen – eine Sonne und ein Mond? Vielleicht auch zwei Monde? Jedenfalls war dies keine Abbildung der Erde, so viel stand fest. Die Säulen machten einen äußerst robusten Eindruck. Wahrscheinlich sollte das aufzeigen, wie sicher diese Welt in sich selbst ruhte. Oder irrte er sich da?

Artimus gab es auf, dieses Bild deuten zu wollen. Das konnten andere erheblich besser als der Physiker.

Artimus wandte sich zu Laertes um und sah, wie der hagere Vampir um seine Fassung rang. Dalius Laertes starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Symbol an der Wand. Er öffnete und schloss den Mund, doch es kam nicht ein einziger Ton daraus hervor.

Mit unsicheren Schritten näherte sich Laertes der Zeichnung. Er konnte nicht fassen, was er hier vor sich sah. Er wollte es berühren, ertasten. Doch er schaffte es nicht, seine Hände auf das feuchte Mauerwerk zu legen.

Van Zant hörte die geflüsterten Worte des Vampirs nur, weil er sich direkt hinter ihn stellte. Der Südstaatler wurde das Gefühl nicht los, dass Dalius kurz vor einer Ohnmacht stand.

»Uskugen Deyat … Sip und Rof … Ihr ruht so sicher und gelassen …«

Artimus verstand die Bedeutung der Worte nicht. Laertes schaukelte hin und her wie ein Betrunkener, doch

irgendwie hielt er sich auf den Beinen. Unsicher wandte er sich van Zant zu.

»Das ist also der Grund, warum es mich hierher zog.« Er presste seine Handflächen gegen die Schläfen. Dann war er wieder ganz der gefasste und selbstsichere Mann, als den Artimus ihn kannte. »Ich kenne die Bedeutung dieser Zeichnung. Sie ist Sinnbild für alles, was ich vor dem Zeitpunkt war, da mich Sarkana zu seinesgleichen machte. Ich will die Erinnerung – ganz gleich, wie schmerzhaft sie sein mag. Bring mich zu Zamorra. Ich brauche ihn. Dringend! Alles staut sich in mir …«

Der Blick aus Laertes' Augen war an Eindringlichkeit nicht zu toppen. Er litt tatsächlich.

»Komm.« Artimus wandte sich zum Ausgang. »Hier unten kriege ich garantiert keine Handyverbindung.« Und die brauchte van Zant, denn er hatte keine Ahnung, wo auf dieser Weltkugel sich der Parapsychologe zurzeit herumtrieb.

Als sie die Treppen zur Oberfläche hinaufstiegen, drang das

Grunzen und Kreischen der Gorillas an ihre Ohren. Laertes legte um sich und den Physiker erneut den magischen Schirm.

Van Zant konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er sah, wie sich ein höchstens einjähriger Teeny-Gorilla über die instinktive Furcht seiner Sippe hinwegsetzte. Der kleine Bursche hatte sich mutig bis zur dritten Treppenstufe hinabgewagt. Natürlich konnte er die Männer weder sehen noch hören, doch auch er spürte, dass dort etwas auf ihn zukam.

Er gab Fersengeld, trollte sich – nicht ohne dabei seine kleinen Fäuste gegen den Brustkorb zu hämmern – zu seiner Sippe. Rasch verschwand er hinter dem breiten Rücken seiner Mutter.

Van Zant bemerkte den gequälten Blick nicht, den Laertes den Tieren zuwarf. Ihr Körperbau, ihre ganze Konstitution, das alles passte plötzlich zu den Erinnerungsfetzen, die wie Nadeln schmerzhaft in sein Bewusstsein stachen. Einen Zusammenhang konnte er jedoch nicht erkennen, nicht einmal erahnen.

Van Zant hatte Spaß an dem kleinen Gorilla, der wohl zum Entdecker geboren war.

»Jugend forscht. Das ist wohl überall gleich …« Artimus bekam darauf von Laertes keine Antwort. Er hatte auch nicht wirklich damit gerechnet …

Professor Zamorra ließ die Aufzeichnung erneut starten. Nicole Duval, seine Lebens- und Kampfgefährtin, die offiziell nach

wie vor den Status einer Sekretärin bekleidete, verdrehte die Augen. Sie kannte die Bilder des gut zwanzig Minuten dauernden Filmes nun wirklich schon auswendig – jedes einzelne der Bilder! Denn Zamorra schaltete andauernd in den Standbildmodus, starrte den Bildschirm oft eine kleine Ewigkeit an, bis er endlich weiterlaufen ließ, nur um gleich darauf erneut zu stoppen.

»Cheri, ich will dir nur fairerweise mitteilen, dass ich dich erwürge, wenn du dir das jetzt noch einmal anschaust. Ich sag's nur, damit du dich dann nicht wunderst.«

Zamorra wandte langsam das Gesicht in Nicoles Richtung.

Unverständnis lag in seinem Blick, gepaart mit der Hoffnung, sich verhört zu haben. Andererseits kannte er Nicole gut genug, um auf solche Sprüche vorbereitet zu sein. Schlimm an ihnen war nur die Tatsache, dass die Französin sie meist bitterernst meinte.

»Okay, mit zugedrückter Luftröhre atmet es sich so schwer. Muss nicht sein, also – was ist los?« Im Grunde ahnte er ja den Grund für Nicoles miese Stimmung.

Die schöne Französin wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Flachbildschirm. »Was spricht dagegen, sich davon eine Kopie machen zu lassen, die du dir dann rund um die Uhr im Château Montagne ansehen kannst? Oder du druckst dir die Einzelbilder aus – damit kannst du dir dann gern dein Arbeitszimmer tapezieren?«

Das alles sollte sarkastisch herüberkommen, doch in Nicoles Stimme klang echte Verzweifelung, gepaart mit entsetzlicher Langeweile.

Vor vier Tagen waren sie in Tonga angekommen. Per Mail und Telefon hatte Zamorra Kontakt zu den hiesigen Behörden aufgebaut. Und die hatten sich als überaus entgegenkommend gezeigt, als der international bekannte Professor der Parapsychologie seine Wünsche geäußert hatte.

Offenbar fragte sich hier niemand, warum sich ein Parapsychologe für unterseeische Beben interessierte. Doch schließlich verlangte der Mann ja keinerlei Honorar, war sogar bereit, für Unterkunft und Verpflegung selber aufzukommen. Also stellte man ihm die eigenen Ergebnisse gerne zur Verfügung. Vielleicht konnte er herausfinden, was das Beben verursacht hatte, das vor nicht allzu langer Zeit hier für Aufregung gesorgt hatte.

Siaosi Taufa'ahau Tupou, der König von Tonga, war westlich orientiert. Ausgestattet mit den Befugnissen seiner konstitutionellen Monarchie, herrschte er über den Inselstaat ganz in seinem Sinne. Und im Sinne seiner Familie, die entsprechende Ämter besetzte. Forschung war wichtig, doch sie war kostspielig. Sollte sich dieser Franzose doch darum kümmern. Niemand hatte Einwände.

Zudem hatte der König zurzeit andere Sorgen, denn die Opposition im Lande begehrte lautstark gegen ihn auf. Es hatte

Demonstrationen gegen seinen Regierungsstil gegeben. Alles durchaus noch friedlich, doch da waren diese Plakate

gewesen: Haut ab – oder wir werfen euch raus! Das war deutlich. Schlicht und einfach ausgedrückt, doch für

jeden verständlich. Die Unruhe auf den Straßen war zu spüren. Die bei den Behörden

nicht minder. Ein Grund, warum es auch Zamorra nur lieb sein konnte, hier so rasch wie möglich zu verschwinden. In eine eventuell bevorstehende Revolution wollte er sicher nicht verwickelt werden.

»Schon kapiert.« Zamorra stoppte den Film. Vielleicht war hier tatsächlich nicht der richtige Ort, die rechte Umgebung und Stimmung, um vielleicht ein bisher übersehenes Detail zu entdecken. »So werden wir es machen. Ich denke, Tonga kommt ganz prima ohne unsere Anwesenheit aus. Und ich habe keine Lust, mir deinen Unmut zuzuziehen. Wahrscheinlich suche ich hier sowieso nach Dingen, die gar nicht mehr vorhanden sind.«

Ja, damit hatte er seine eigenen Zweifel laut ausgesprochen. Was suchte er eigentlich auf diesen Filmaufnahmen, die eine Woche nach dem verheerenden Beben in der Tiefe des Tonga-Grabens gemacht worden waren?

Beben – zumindest war das die offizielle Version des Vorfalls. Zamorra wusste es besser, denn er war ja hautnah dabei gewesen – an Bord eines Raumschiffes der DYNASTIE DER EWIGEN, das seine Tauchfähigkeit damit bewiesen hatte. Die Tiefsee oder das Sternenmeer des Alls, das machte für den Raumjäger Al Cairos keinen Unterschied.

Artimus van Zant war der Auslöser der Aktion Tonga-Graben für Zamorra und Nicole gewesen. Was der Südstaatler nach dem Tod seiner Mutter entdeckt hatte, klang mehr als verrückt. Vierhundert Jahre hatte sie gelebt – eine Schläferin, wie sie sich selbst bezeichnet hatte. Agentin einer Rasse, die langlebige Menschen quer über diesen Planeten verteilt hatte. Menschen, die in den Jahrhunderten perfekt auf ihrem jeweiligen Fachgebiet geworden waren. Und all

das für ein Ziel, ein Ereignis, von dem niemand wusste, ob es je eintreten würde.

Im Tonga-Graben hatte Zamorra die getarnte Station gefunden, von der aus die Erde überwacht wurde. Sollte der Ernstfall eintreten, konnte man dort rasch reagieren.

Und diese Reaktion hatte keineswegs einen feindlichen Charakter haben sollen.

Im Gegenteil. Die Schläfer sollten nach einer globalen Katastrophe – ob Krieg,

biologische Verseuchung oder Invasion durch Fremdrassen – sofort die wichtigsten Positionen an den entscheidenden Stellen übernehmen, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern.

Wer auch immer dies geplant und umgesetzt hatte, hatte damit sicher nicht seinen eigenen Machtbereich vergrößern wollen. Dass dann schließlich alles ganz anders gekommen war, hatten die Initiatoren vor mehr als vierhundert Jahren natürlich so nicht ahnen können.

Das Ende der Station hatte sich wie ein letztes Puzzlestück in das Gesamtbild eingefügt: In einer gewaltigen Explosion hatte sich die Anlage selbst zerstört und dabei das Beben ausgelöst. Doch es war eine kontrollierte Vernichtung gewesen – größeren Schaden hatte sie nicht angerichtet.

Im Grunde hätte damit das Thema für Zamorra erledigt sein können. Wer die Erschaffer des Bauwerks gewesen waren, würde wahrscheinlich für immer im Dunkeln bleiben. Van Zant und die anderen Vitakinder würden lernen, damit umzugehen, dass ihre Eltern mehr als außergewöhnliche Geschöpfe gewesen waren. Dieses Erbe lag nun in ihnen. Sie würden es mit etwas Glück sinnvoll für sich und andere nutzen.

Doch da war etwas, das an dem Parapsychologen nagte. Als sie in die Station eingedrungen waren, in dieses technische

Wunderwerk, das auch nach all diesen Jahrhunderten voll funktionsfähig gewesen war, hatte diese sich auf ungewöhnliche Art und Weise gegen die Eindringlinge zur Wehr gesetzt.

Mit Magie!

Und die war weder von der dunklen Sorte, gegen die das Zamorra-Team nun schon so lange kämpfte, noch von der weißen, der sie sich selber bedienten. Sie war neutraler Art. Und es war nicht das erste Mal, dass Zamorra dieser ganz eigenen Magie begegnete. Er kannte diese Form bereits. Mehr noch, er hatte sich ihrer bereits bedient!

Als seine Gefährten und er sich dort ihrer Haut erwehrt hatten, war ihm sofort eine ganz bestimmte Person eingefallen – eine Persönlichkeit, die in ihrer Einzigartigkeit wohl kaum zu überbieten war.

Dalius Laertes – der überaus geheimnisvolle Vampir, der mit Informationen über seine eigene Person geizte. Er war ein Meister, wenn es darum ging, Fragen auszuweichen. Schon lange ahnte Zamorra, dass Laertes' Vergangenheit ein düsteres Geheimnis barg, in das sich der Vampir wie in einen Schutzschirm flüchtete. Oder gab es einen ganz anderen Grund, warum er nichts von sich preisgab?

Zamorra hatte gehofft, irgendeinen Hinweis in den Filmaufnahmen entdecken zu können, die man nach der Katastrophe im Graben gemacht hatte. Vielleicht waren ja doch Fragmente der Station übrig geblieben. Der Film hatte diese Hoffnungen jedoch zerschlagen. Die Selbstvernichtungsanlage hatte ganze Arbeit geleistet. Natürlich war es im Sinne der Erbauer gewesen, keinerlei verwertbare Spuren zu hinterlassen.

Nicole war emotionslos an diese Sache herangegangen. Und sie hatte ja Recht. Man konnte eine Ewigkeit damit vertrödeln, das nicht vorhandene Haar in der Suppe zu suchen – mit dem einzigen Ergebnis, dass am Ende die Suppe eiskalt war. Und diese Suppe hier war längst nicht einmal mehr lauwarm.

Zamorra sah auf die Digitaluhr, die über der Tür angebracht war – 22 Uhr 23 Ortszeit.

»Morgen in aller Frühe kümmern wir uns um den Rückflug«, entschied er. »Wir haben hier wirklich nichts mehr zu suchen.«

Zufrieden schloss sich Nicole Duval ihrem Chef an, als der sich in Richtung ihrer Unterkunft begab.

Dass diese Nacht für Zamorra und sie eben erst begonnen hatte, konnte sie ja nun wirklich nicht voraussehen …

Die Wissenschaftler im Inselstaat Tonga zählten sicher zu den Besserverdienern.

Doch das, was man ihnen an Unterkünften nach langen Nachtsitzungen und endlosen Experimentreihen zur Verfügung stellte, kam tatsächlich einer besseren Besenkammer gleich. Im Falle des Franzosen und seiner aufregenden Begleiterin hatte man sich da schon große Mühe gegeben. Immerhin bewohnten sie zwei Räume – Räumchen, wie Nicole sie betitelt hatte.

Doch den beiden war das an diesem Abend gleichgültig. Der Tag war ermüdend und erfolglos verlaufen. Zamorra musste

sich eingestehen, dass auch er am liebsten sofort zum Château Montagne zurückgekehrt wäre. Doch von Tonga aus gab es keine magischen Verbindungen, die eine sofortige Heimreise ermöglicht hätten. Regenbogenblumen – das wäre es jetzt gewesen. Doch keine der auf der Erde befindlichen Kolonien dieser fantastischen Transfermöglichkeit war in erreichbarer Nähe. Zudem wäre es sicher auch ein wenig unhöflich, wenn man sich so ohne Abschied von hier entfernt hätte.

Nicole warf sich auf das einigermaßen bequeme Doppelbett, das natürlich in keinster Weise mit der Spielwiese konkurrieren konnte, die im Château auf sie wartete. Auf Tonga gab es keine übertriebene Prüderie, doch um die armen Wissenschaftler nicht gänzlich aus der Fassung zu bringen, hatte sich die Französin hier nur in vollständiger Bekleidung gezeigt. Die legte sie nun jedoch ab.

Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete sie Zamorra, der trotz seiner Müdigkeit noch einmal die schriftlichen Aufzeichnungen durchging, die man ihm zur Verfügung gestellt hatte. Was er da las, das entsprach durchaus internationalem Standard. Tongas Wissenschaft musste sich wahrhaftig nicht verstecken. Wenn es in den sozialen Bereichen des Inselstaates doch auch nur so gewesen wäre. Die Unruhen auf Tongas Straßen hätte es dann sicher nicht

gegeben. Nicole grinste – vielleicht konnte sie den Professor ja dazu

überreden, ihr beim Entkleiden behilflich zu sein. Die Chancen standen da recht gut …

… und sanken in der nächsten Sekunde auf null! Das zischende Geräusch schlagartig verdrängter Luft erfüllte den

Raum. Und die aufeinander eingespielten Kampfgefährten reagierten

instinktiv, denn nur einen Herzschlag später hatten sie es mit zwei Eindringlingen zu tun. Der zweite materialisierte nahe dem Bett, auf dem Nicole eben noch gelegen hatte. Doch jetzt würde er dort kein Angriffsziel mehr vorfinden – die Französin war wie eine Stahlfeder hochgeschnellt, stand nun seitlich von ihrem Gegner.

Die Beleuchtung in den Räumen war gedämpft. Selbst bei voll aufgedrehten Dimmern konnte man nicht wirklich von Helligkeit sprechen. Nicole erkannte nicht viel mehr als eine große Gestalt, deren Stärke augenscheinlich nicht die Schnelligkeit war.

Schnelligkeit jedoch war ganz Nicole Duvals Ding! Und sie hatte in harten Einsätzen lernen müssen, dass man sie ohne zu zögern und mit voller Wucht einsetzen musste, wenn man überleben wollte.

Nicole Duvals linkes Bein flog nach oben – lang gestreckt und zielgenau. Der Bursche ging wie ein nasser Sack zu Boden, als der Tritt ihn voll am Brustkorb traf.

Der Kerl hatte in den folgenden Minuten Sendepause, da war Nicole sicher. Als sie sich blitzschnell zu Zamorra und dessen Gegner umdrehte, verstand sie jedoch die Welt nicht mehr. Kein Kampf, kein Gerangel oder zuckende Blitze von Merlins Stern.

Im Gegenteil. Die zwei Männer schüttelten einander freundschaftlich die Hände. Und mit verstohlenem Blick überprüfte Nicole Duval nun erst

einmal, wen genau sie da soeben weggetreten hatte …

Irgendwer rief seinen Namen. Eine weibliche Stimme, die ihm sehr

bekannt vorkam. Doch in seinem Zustand konnte er sie nicht zuordnen.

Allerdings wünschte er sich, dass man damit aufhörte, ihm immer und immer wieder mit der flachen Hand auf die Wangen zu schlagen. Verflixt, das tat doch weh!

Unwillig verzerrte Artimus van Zant das Gesicht und öffnete blinzelnd die Augen. Er blickte direkt in das schöne Gesicht von Nicole Duval, die auch die Verursacherin der Ohrfeigen war, die nach wie vor gegen van Zants Gesicht klatschten.

»… nun werd schon wieder wach. So fest habe ich doch gar nicht zugelangt … Hallo, Arti! Aufstehen!«

Artimus knurrte etwas Unverständliches, was zumindest dazu führte, dass die Schläge aufhörten. Nicoles Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Peinlichkeit und Lachanfall. Hinter ihr standen Dalius Laertes und Professor Zamorra. Letzterer grinste unverschämt breit.

Van Zant setzte sich auf. »Zamorra, deine schöne Geliebte hat den Tritt eines Mulis. Alle Achtung.« Er sah zu Nicole, die mit einem schiefen Lächeln um Nachsicht bat. Doch van Zant war der Letzte, der ihre Reaktion nicht verstanden hätte.

Er streckte ihr den rechten Arm entgegen und ließ sich von der Französin auf die Beine ziehen. Die folgende Begrüßung fiel um einiges herzlicher aus, als es der erste spontane Kontakt gewesen war.

»Natürlich hattest du Recht, so zu handeln.« Der Physiker war lange genug beim Zamorra-Team. Er wusste nur zu gut um die Gefahren, denen der Parapsychologe und seine Freunde tagtäglich ausgesetzt waren. »Wir hätten uns gefälligst vorher ankündigen sollen. Aber – bitte sehr – warum hat unser Freund hier nicht auch einen Nasenstüber bekommen?« Er wies auf Laertes, der nach wie vor einen ungemein angespannten Eindruck machte. Beinahe wie ein Unbeteiligter stand er neben dem Professor.

Zamorra zuckte mit den Schultern. »Merlins Stern schlug in keiner Weise an, als Dalius materialisierte. Zudem habe ich ihn offenbar schneller erkannt als Nicole dich. Pech gehabt, Alter.« Der Professor

hielt kurz inne. »Du bist nicht mit Dalius gemeinsam gesprungen, richtig?«

Van Zant setzte sich auf das breite Bett und massierte seine Brust. Das würde einen erstklassigen Bluterguss geben. »Unser Freund hier ist und bleibt ein Vampir – also kann ich ihm auf meine eigene Weise folgen. Und die ist angenehmer, als mit ihm einen Tandemsprung zu machen.«

Laertes beherrschte eine Art des zeitlosen Sprunges, so wie der Silbermond-Druide Gryf ap Llandrysgryf ihn ausführen konnte. Allerdings bereitete Laertes' Begleiter diese Fortbewegungsart Schmerzen. Van Zant hatte dankend darauf verzichtet und war lieber der Spur des Vampirs gefolgt. Khiras Erbe befähigte ihn dazu.

Laertes' Anspannung brach sich ihren Weg. »Zamorra, ich hätte dich niemals derart überfallen, wenn es nicht ungemein wichtig wäre. Ich …«

Der Professor legte eine Hand auf die schmächtig erscheinende Schulter des Vampirs. »Du belästigst mich nicht. Ich suche schon lange einen Weg, wieder einmal mit dir zusammenzutreffen. Es gibt da Dinge, über die ich unbedingt mit dir reden muss. Doch nun berichte du erst einmal.«

Gut dreißig Minuten später drückte Laertes Zamorra eine rasch angefertigte Zeichnung in die Hände. Es war nur eine grobe Skizze, doch sie reichte aus, um Zamorras Neugier zu wecken. Nicole bemerkte es mit skeptischen Blicken, doch sie schwieg. Ihre Vorbehalte gegen Laertes existierten nach wie vor. Einem Vampir vorbehaltlos Vertrauen zu schenken, erschien ihr gefährlich – und für ihre eigene Person nahezu undenkbar. Doch Zamorra schien das anders zu sehen. Gebannt lauschte er Laertes' Ausführungen.

»Uskugen Deyat … Sip und Rof … Ihr ruht so sicher und gelassen … Ich musste diese Worte einfach aussprechen, als ich die Wandzeichnung so unvermittelt vor mir sah.« Laertes wies auf die Skizze in Zamorras Hand. »Das alles ist mir so vertraut. Und doch ist es so weit weg. Raum und Zeit – sie trennen mich von diesem Symbol, von diesen Worten. Ich weiß ganz einfach, dass sie eng mit dem verknüpft sind, was irgendwo verschüttet in mir ruht.«

Für lange Augenblicke herrschte Schweigen in dem kleinen, schlecht belüfteten Raum. Selbst Nicole ersparte sich jegliche bissige Bemerkung, die ihr noch auf den Lippen lag. Sie kam nicht umhin zuzugeben, dass sie Laertes seine Verzweiflung glaubte. Vorbehaltlos – zumindest für diesen Moment.

Laertes selbst unterbrach das Schweigen. »Meine Erinnerung setzt zu dem Zeitpunkt ein, an dem ich durch Sarkana zum Vampir wurde. Woher ich kam, wer ich war – das habe ich von ihm niemals erfahren. Sarkana erkannte das Potential, das da wohl tief in mir ruhte. Wissenschaft, Kunst – das waren die Gebiete, auf denen er mich förderte. Ich habe keine Ahnung, warum er das tat.«

»Nun, fragen können wir den alten Fangzahn nicht mehr.« Zamorra setzte sich in einen der erträglich bequemen Sessel. »Und was genau hat dich nun zu mir geführt? Glaubst du, ich könnte dir helfen, diese Rätsel zu entwirren? Ich wüsste ehrlich gesagt nicht, wie.«

Laertes' dürrer Zeigefinger deutete auf Merlins Stern. Das Amulett hing an der Silberkette um Zamorras Hals und zeigte keinerlei Aktivitäten. Laertes wurde von der Silberscheibe in keiner Weise als Gefahr, als feindliche Bedrohung eingestuft. »Dein magischer Talisman hat sich schon mehrfach erfolgreich mit meiner Magie verknüpft.«

Zamorra erinnerte sich genau daran. Laertes' Magie, die Zamorra als neutral bezeichnete, und Merlins Stern hatten es gemeinsam geschafft, den Dämonensplitter unschädlich zu machen. Allein auf sich gestellt, wäre das Zamorra sicher nicht gelungen, denn diese Abspaltung von Sarkana hatte sich als sehr mächtig erwiesen.

»Was nicht bedeutet, dass Merlins Stern die verschütteten Teile deines Bewusstseins freilegen kann«, sagte Zamorra. »Das sind zweierlei Paar Schuhe.«

»Ich dachte auch nicht allein an Merlins Stern, sondern an eine Verschmelzung deines und meines Bewusstseins. Ich glaube fest daran, dass ich dann auf all meine Fragen eine Antwort erhalten werde. Zamorra, ich muss ganz einfach wissen, wer ich war, und warum ich bin, wie ich heute bin.«

Van Zant murmelte etwas, das nur Nicole verstehen konnte, die direkt neben ihm auf der Bettkante hockte »Der hat zu viel STAR TREK gesehen. Er glaubt wohl, Zamorra stammt vom Vulkan.« Alles, was er erntete, war ein Stoß in seine Rippen. Nicoles Ellbogen arbeiteten da sehr effektiv und schnell.

Und weiter wollte sie sich vom Südstaatler auch nicht ablenken lassen, denn sie ahnte, wie Zamorras Antwort auf Laertes' Bitte ausfallen würde. Sie sollte Recht behalten. Wieder einmal …

Die Gorillaherde war weit und breit nicht mehr zu sehen. Dennoch war Zamorra sicher, dass die intelligenten Tiere da waren, gut getarnt und absolut unsichtbar für die Augen der Eindringlinge. Aber nichts würde ihnen entgehen.

Nicole war mit van Zant der Silberspur des Vampirs Dalius Laertes gefolgt. Artimus bezeichnete diese Spur so, wenn er auch nach wie vor nicht in der Lage war, sie näher zu definieren. Zamorra hatte sich von Laertes mitnehmen lassen. Die reißenden Schmerzen, die er dabei verspürt hatte, ließen schon rasch wieder nach.

Staunend standen Zamorra und Nicole vor den Wandzeichnungen, die sich hier unter der Erde befanden. Zunächst konzentrierten sie sich auf jene Bilder, die möglicherweise den Südstaader und Khira zeigten. Zamorra hielt sich mit einem Kommentar zurück, doch Nicole erkannte trotzdem, wie sehr ihn dieser Anblick aufwühlte. Auf welches Geheimnis waren sie hier gestoßen? Sie mussten eine eventuelle Lösung vertagen, denn der wahre Grund ihrer Anwesenheit prangte unübersehbar neben dem Eingang.

Dalius Laertes stand wie gebannt vor der großen Zeichnung, die er Zamorra mit wenigen Strichen skizziert hatte. Der Parapsychologe registrierte deutlich, dass sich die Atmung des Vampirs beschleunigt hatte. Der Blick seiner Augen war unruhig geworden, immer öfter schloss er sie für einige Sekunden, als könne er das Bild einfach nicht andauernd so direkt vor sich sehen.

»Wenn du willst, dann versuchen wir's.«

Zamorra wusste, dass Laertes sehnlichst auf diese Worte gewartet hatte.

Dessen Stimme klang spröde. »Ich bin nicht sicher, wie wir vorgehen müssen. Vielleicht ist es am besten, wenn wir beide die Zeichnung berühren?« Es war seltsam, den sonst so überlegen wirkenden Vampir derart verunsichert zu erleben.

Der Vampir und der Parapsychologe standen Schulter an Schulter und streckten ihre Hände nach der Zeichnung aus. Doch Nicoles Stimme stoppte sie. »Laertes!«

Der hagere Vampir wandte sich nach ihr um, sah sie fragend an. In Nicoles rechter Hand befand sich ein Messer – nein, ein Schlachterbeil, dessen Klinge gute vierzig Zentimeter lang war. Zamorra fragte sich verdutzt, woher Nicole es hatte? Vor dem Sprung nach Uganda hatten sie sich noch umgezogen – möglich, dass seine Lebensgefährtin die Zeit zu einem kurzen Ausflug in die Küche der Anlage genutzt hatte. Wahrscheinlich würde sich morgen in der Früh ein unausgeschlafener Koch auf die sinnlose Suche nach seinem Beil machen.

»Keine Magie, keine Dhyarra-Kraft, nur eine verflixt scharf geschliffene Klinge«, erklärte Nicole. »Hör mir also gut zu: Ich werde direkt hinter euch stehen. Ganz gleich, wie lange euer eigenartiger Trip auch dauern mag. Und ich werde Zamorra und dich intensiv beobachten. Beim geringsten Anzeichen einer Gefahr für ihn werde ich zuschlagen.« Nicole hob die Klinge in die Höhe. Sie hantierte mit der schweren Waffe, als hätte die kein spürbares Gewicht. »Ich werde dir hiermit den Kopf abschlagen, Dalius Laertes. Bei allem, was du tust – denke immer daran, wer hinter dir steht.«

Die Drohung hätte deutlicher nicht sein können. Nicoles Misstrauen gegenüber dem Vampir war groß.

Van Zant lachte humorlos auf. »Du kennst sie nicht so gut wie ich, Laertes. Das waren keine leeren Worte.«

Dalius nickte ihr zu. Er hatte verstanden und akzeptierte ihre Beweggründe. Wahrscheinlich hätte er an ihrer Stelle nicht anders gehandelt.

Er sah Zamorra an. »Also?« Und die Hände der beiden berührten die feuchte Wand. Für van Zant und Nicole Duval sah es beinahe so aus, als wollten

die Hände die zwei Säulen stützen, die eine ganze Welt zu tragen hatten.

Was für eine Last …

2. Uskugen 

»You always let him down; ›you'd never be like him‹ He'd always break you, never let you win No matter what you said, he'd always disagree You swore that one day you would be … better than him … one day you'd win« »The Human Equation« – Ayreon

Seine Finger krallten sich um den Ball. Erste Linie! Da – da war es schon wieder. Es fing an. Er konnte überhaupt

nichts daran ändern, nichts dagegen unternehmen. Das Ziehen in den Beinmuskeln war immer der Anfang, dann

begann er heftig nach Luft zu ringen. Es war wie ein Fluch, den er nicht überwinden konnte.

Hinter sich hörte er die Stimme seines besten Freundes. »Lauf, Semjon, lauf doch!« Er kam ihm mit jedem Augenblick näher. Natürlich, denn er war ganz eindeutig der schnellere Läufer. Doch in diesem Spielabschnitt durfte er Semjon nicht helfen, konnte den Ball nicht übernehmen und ins Ziel bringen.

Nicht in Abschnitt drei – absolut unmöglich! Also musste Semjon das ganz alleine schaffen. Der Freund befand sich nun schon auf gleicher Höhe wie Semjon.

Ohne den Kopf zu drehen, den Blick starr in Zielrichtung, spurteten sie nebeneinander her. »Nicht aufgeben, das ziehst du durch! Diesmal klappt es! Da vorne, schau hin!«

Semjon sah sie nun auch. Zweite Linie! Vier musste er im Ballbesitz überqueren. Nie zuvor war es ihm gelungen, mehr als drei dieser

Markierungen hinter sich zu bringen. Jede Mannschaft hatte es bislang geschafft, ihn noch rechtzeitig abzufangen.

Immer ihn. Okay, auch die anderen wurden ab und an kaltgestellt. Niemand

gewann immer. Selbst sein bester Freund hatte den einen oder anderen Lauf versiebt. Andererseits konnte sich Semjon so auf Anhieb nicht mehr an das letzte Mal erinnern. Es war sicher schon sehr lange her.

Die Stiche in seiner Seite wurden unerträglich. Fast wäre er gestolpert, konnte sich noch eben so abfangen. Gejohle drang an seine Ohren. »Verflucht, da kommen sie schon!«

Semjons Freund und Mitspieler wandte sich im Laufen um, ohne dabei auch nur um einen Deut langsamer zu werden. Er musste sich schwer bremsen, damit er Semjon nicht ganz einfach locker abhängte. Doch in dieser Phase musste der Ballträger geschützt und begleitet werden.

»Sip soll ihnen auf die Köpfe scheißen!« Semjon mochte diese Flucherei nicht, doch in diesem Moment war

ihm alles gleichgültig. Sollte sein Freund ruhig alle Unflätigkeiten vom Stapel lassen, die ihm einfielen.

»Aber so leicht machen wir es ihnen nicht. Lauf, Semjon! Ich irritiere sie, vielleicht kann ich sie von dir fernhalten!«

Irritieren – Semjons Mannschaftskamerad war großartig darin. Er war großartig in allem, was das Spiel betraf. Und auch in allen anderen Spielen. Semjon schaffte nicht einmal so einen Irritationslauf. Die Gegner lachten höchstens über ihn, doch verwirren konnte er sie nicht, geschweige denn einem seiner Leute den Rücken freihalten. Sie liefen einfach so an ihm vorbei, als wäre er überhaupt nicht auf dem Feld.

Kalter Schweiß lief ihm in die Augen. Er blinzelte. Und dann war er heran!

Dritte Linie! Die Schreie hinter ihm wurden erschreckend laut. Links und

rechts neben ihm tauchten sie plötzlich auf – zwei seiner Gegner. »Streberschädel! Weiter bist du noch nicht? Krüppel! Du taugst

wirklich zu nichts, du Verlierer!« Böse lachend überholten sie ihn. Zwei von fünfen. Noch war

dieser Lauf also nicht verloren. Drei mussten vor dem Ballträger die letzte Linie überqueren, erst dann hatten sie ihm den Lauf abgenommen.

Semjon fühlte seine Beine nicht mehr. Er wollte sich fallen lassen, aufgeben. Sollten sie ihn doch überrennen. Nur der Gedanke an seinen Freund hielt ihn jetzt noch aufrecht. Er wollte nicht schon wieder in sein enttäuschtes Gesicht schauen müssen.

Und er würde diesen verdammten Ball über die vierte Linie tragen! Irgendwo da vorn war sie. Ja, Semjon konnte sie sehen. Zwei von

fünfen … noch immer nur zwei … Irgendetwas touchierte ihn plötzlich, brachte ihn zum Straucheln.

Doch er lief weiter. Vielleicht hatte er sich das ja nur eingebildet. Vierte Linie! Und Ende des dritten Laufs! Semjon stellte die Bewegung seiner Beine ganz einfach abrupt ein.

Er brach zusammen, blieb liegen. Das Gesicht seines Freundes war Sekunden später über ihm. »Habe ich es geschafft? Linie vier … ich meine … habe ich?«

Die langen Haare klebten dem anderen klatschnass von der Anstrengung wirr um den Kopf herum. »Geschafft? Nein, mein Alter! Hast du die beiden denn nicht gesehen, die dich vor der Linie passiert haben? Meine Zeit, die Jungs waren wirklich schnell. Tut mir Leid, Semjon. Komm, ich helfe dir hoch.«

Eine metallisch klingende Stimme verkündete den aktuellen Spielstand. »Lauf drei ergab vier Minuspunkte für Rot – damit Ausgleich durch Blau, Lauf vier beginnt nach dem Signalton!«

In Lauf vier brauchte die Mannschaft Semjon nicht. Andere waren nun an der Reihe. Semjon wartete das Endergebnis nicht ab. Sie würden verlieren, weil er vier Spieler der anderen Partei hatte ziehen lassen. Der Vorsprung war dahin. Er hatte ihn verschenkt, und er konnte heute das eisige Schweigen nicht ertragen, wenn sie alle gemeinsam unter der Dusche standen.

Das war nicht das erste Spiel, das er vergeigt hatte. Ganz sicher jedoch das letzte.

Sie würden ihn aus dem Team werfen. Nicht einmal sein Freund konnte das nun noch verhindern. Warum war Semjon nicht glücklich, diese Quälerei nun endlich los zu sein? Er hasste diese Spiele. Mondjagd war nur eine der unzähligen Varianten, die man für junge Uskugen initiiert hatte. Eine harmlose Variante. Semjon verachtete auch sie.

Und doch – noch mehr als das hasste er sein eigenes Versagen. Und den Vergleich, diesen ewigen Vergleich, den es wohl nur in seinem Unterbewusstsein gab. Er sagte sich das immer wieder, ohne es je wirklich glauben zu können.

Als die anderen später in die Kabine kamen, war Semjon längst verschwunden.

Am frühen Abend kamen sie dann zu ihm. Sozusagen eine offizielle Abordnung. Drei aus seiner Mannschaft und der Trainer. Oh, sie gaben sich allesamt große Mühe, Semjon das Ergebnis der Spielersitzung zartfühlend mitzuteilen.

»… und dabei hast du doch das beste aller Vorbilder, Semjon.« Der Trainer konnte den vorwurfsvollen Unterton in seiner Stimme nicht völlig unterdrücken. »Dal hat eine große Karriere vor sich. Dennoch hat er sich immer um dich bemüht. Er wird sicher sehr enttäuscht sein.«

Enttäuscht sein. Das waren die Worte, die sich in Semjons Erinnerung an diesen

Abend eingeprägt hatten. Den Rest hatte er längst vergessen. Nur diese beiden Worte nicht …

Enttäuscht sein. Enttäuscht sein. Ent… »Rat Tanno? Hallo? Ich wollte nur fragen … Doch ich kann auch

später noch einmal …« Semjon Tanno blinzelte heftig. Das Kunstlicht tat seinen Augen

weh. Irgendwie musste er wohl zu lange auf die hell beleuchtete Wand gestarrt haben. Irritiert bemerkte er, dass er mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand Zeichen in die Luft schrieb. Und diese Hand steckte nach wie vor in dem hauchdünnen Com-

Handschuh, der es seinem Träger ermöglichte, Zahlen, Formeln oder Texte ins Nichts zu zeichnen, die dann auf dem Hauptschirm erschienen. Eine feine Erfindung, die man jedoch nur nutzen sollte, wenn man voll und ganz bei der Sache war. Ansonsten konnte es zu wilden Peinlichkeiten kommen.

So wie jetzt. Tannos Blicke klärten sich rasch, konzentrierten sich auf die

wenigen freien Stellen, die der raumumspannende Schirm noch aufwies. Es war ein extrem langer Arbeitstag gewesen – einer, der unzählige Notizen und Berechnungen hervorgebracht hatte. Semjons Augen fanden den Platz, an dem sich sein unterbewusst erstelltes Geschreibsel befand.

Enttäuscht. Enttäuscht sein, immer enttäuscht. Seine Schrift war nahezu unleserlich. Selbst ihm fiel es oft schwer

zu entziffern, was er schrieb. Eine oft lästige Geschichte, denn ständig musste er Erklärungen abgeben, wenn seine Mitarbeiter an diesem Gekrakel scheiterten. Jetzt jedoch war er froh über diese Unzulänglichkeit.

»Rat Tanno? Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Ich …« Semjon wandte sich zum Eingang. Die Stimme, die ihn aus seinen

Tagträumen gerissen hatte, gehörte seiner engsten Mitarbeiterin. Es kam selten vor, dass Feeline Silja diesen Raum betrat. Normalerweise bekam er ihre Stimme nur über die rauminternen Lautsprecher zu hören, wenn er sich hier in seinem Arbeitszentrum befand. Diesen Namen hatte Feeline dem kargen Raum gegeben, in dem es außer einem Schreibtisch und zwei Sesseln nichts an Möblierung gab.

Der Raum hatte nur den einen Sinn und Zweck – Semjon Tannos Gedanken, Berechnungen, Auswertungen und manchmal auch Visionen aufzuzeichnen und zu archivieren. Dieses rundum laufende Display, das tatsächlich die gesamten Wandflächen beanspruchte, war sein Notizblock. Und wenn Semjon ehrlich war, dann waren dies die einzig glücklichen Zeiten in seinem momentanen Leben: Wenn er alleine und ungestört inmitten dieses kahlen Ambientes sein konnte.

Allein und ungestört – es gab kaum jemanden, den er hier um sich ertrug.

Im Grunde niemanden. Semjons Augen blickten auf die Frau, die nun sicher an die zehn

Umläufe seine persönliche Betreuerin und Verwalterin seiner Termine war. Sie wirkte hier ganz einfach wie ein Fremdkörper. Allerdings war sie ein ziemlich attraktiver Fremdkörper. Feeline Silja war irgendwo in der Mitte ihres dritten Lebensjahrzehnts, doch das hatte nur den Effekt, dass zu ihrer Schönheit auch noch eine Portion Souveränität gekommen war. Sie war hoch gewachsen, zu groß für Semjon, der alles andere als ein Riese war; Feeline überragte ihn um einen ganzen Kopf. Ihre kurz geschnittenen Haare schimmerten zurzeit in reinstem Silber, doch das konnte sich bei ihr schon morgen wieder ändern.

Ihr ganzes Auftreten konnte so manchem Besucher oder Bittsteller jegliche Selbstsicherheit rauben. Sie war eine Bastion, an der es für nichts und niemanden ein Vorbeikommen gab, wenn sie es nicht gnädig zuließ. Nur in Gegenwart Tannos wurde sie zu einem verunsicherten Wesen, das zu stottern begann, sich beim Sprechen verhaspelte. Jeder wusste, warum das so war – jeder außer Semjon. Der vermutete, dass er Feeline ganz einfach Angst einflößte.

Eine für ihn nur logische Geschichte, wenn er an sein eigenes Erscheinungsbild dachte.

»Fee, entschuldigen Sie, ich habe sie nicht kommen hören. Was haben Sie gleich noch gesagt?« Diese Verniedlichung ihres Vornamens war alles, was Tanno sich der Frau gegenüber herausnahm. In den vergangenen zehn Umläufen hatten sich die zwei sicherlich nicht einmal berührt. Nicht einmal aus purem Zufall.

Die Frau senkte leicht den Kopf, damit der Rat ihre aufkeimende Unsicherheit nicht sofort erkannte. Dabei wusste sie doch nur zu genau, dass er diese deutlichen Anzeichen bei ihr noch nie registriert hatte. Ausgerechnet bei ihr versagte seine schon sprichwörtliche Fähigkeit, in die Seele seines Gegenübers blicken zu können.

»Es ist spät geworden. Ich … wollte nur fragen, ob Sie mich heute

noch brauchen. Ich kann natürlich bleiben, wenn …« Semjon schnitt ihr das Wort ab. Ein kurzer Blick auf den Zeitgeber,

der sich direkt über der Tür befand, machte ihm klar, wie spät es tatsächlich bereits war. »Warum sind Sie nicht einfach gegangen, Fee? Sie kennen mich doch. Manchmal vergesse ich die Zeit einfach. Sicher haben Sie heute noch etwas vor, nicht wahr?« Er wusste selbst nicht, warum er das gefragt hatte, und gleich darauf bereute er es auch schon.

»Nun ja, das Spiel läuft schon. Ich habe Karten. Aber zum letzten Drittel schaffe ich es ja noch leicht.«

Semjon wandte sich wieder um, stierte auf die mit Zahlen und Formeln übersäte Wand. »Ach ja, richtig. Heute geht es ja um die Vorentscheidung, nicht wahr? Aber keine Sorge. Unser gemeinsamer Freund wird das schon schaffen.«

»Er ist in letzter Zeit oft unvorsichtig. Er riskiert zu viel.« Echte Sorge lag in Feelines Stimme. »Gut, dann mache ich mich auf den Weg. Es sei denn, Sie wollen doch noch mitkommen? Er hat sicher einen besonders guten Platz für Sie freihalten lassen.«

Das hatte er, ganz gewiss sogar. Semjon war sicher, dass der große Dal enttäuscht war, dass der Platz leer blieb.

Enttäuscht – da war das Wort ja wieder. »Na los, Fee. Beeilen Sie sich. Wir sehen uns morgen.« Semjon wartete, bis sich die Tür leise geschlossen hatte. Erst dann

drehte er sich um. Das Spiel. Er hatte es vergessen. Oder verdrängt? Letzteres war

wahrscheinlicher. Diese Welt, umkreist von ihren beiden bewohnten Monden Sip

und Rof, war sicher einzigartig im gesamten Universum. Semjon Tanno tat sich schwer mit solchen Extrembehauptungen. Schließlich war er Wissenschaftler durch und durch. Doch es war eine Tatsache, dass keine der unzähligen Welten, die von der Rasse der Uskugen besucht worden war, auch nur im Ansatz einem Vergleich standhalten konnte.

Und es waren unzählige Planeten, die in den Annalen des Raumzeitalters verzeichnet waren. Keiner von ihnen ruhte auf den

gleichen Polen, wie Uskugen es tat. Nicht so unumstößlich und unabänderlich, nicht in dieser fest miteinander verschmolzenen Einheit.

Technik und Magie. Imagination und Berechnung. Wissenschaftliches Kalkül und die Möglichkeit des Unmöglichen

umarmten auf dieser Welt einander. Zwei Kräfte, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Zwei Galaxien voneinander entfernte Anschauungen bildeten eine Einheit. Und sie taten es in Frieden. Einem Frieden, der durch sie auch auf andere Planeten gebracht wurde.

Und dann waren da die Spiele. Was anderes konnten sie sein als ein Ventil für die Wesen dieser Welt? Semjon war bereits als Kind jämmerlich an ihnen gescheitert. Seine körperliche Beschaffenheit war ganz sicher der Hauptgrund gewesen. Vielleicht aber auch das Ziel, das alle diese Spiele gemein hatten: den unbändigen Willen zum Sieg durch Kampf! Er war eben kein Kämpfertyp.

Wer Tanno zum ersten Mal sah, konnte einen anderen Eindruck haben. Sein gedrungener Körper, die außerordentlich breiten Schultern, auf denen ohne erkennbaren Halsansatz der Kopf saß. Semjons viel zu kurz geratenen, krummen Beine – sie zwangen ihn zu dem wiegenden Gang, der ihm unter seinen Klassenkameraden immer besonders viel Gelächter und Spott eingebracht hatte. Am meisten hasste er seinen Schädel, der schon vor zwanzig Umläufen kahle Stellen gezeigt hatte. Was sollte das sein? Ein Kopf? Oder doch eine Termi-Frucht, wie sie in den Wäldern des südlichen Kontinents zu finden waren?

»Perfekte Anatomie Uskugens« lautete der Titel einer Abhandlung aus längst vergangenen Zeiten. Semjon hatte keine Ahnung, wer damals der Autor gewesen war, doch im Text wurde sie beschrieben: die leicht ovale, anmutig erscheinende Kopfform, die auch heute noch das Schönheitsideal dieser Welt war.

Oval. Nichts an Semjons Schädel war oval, selbst bei freundlichster Betrachtungsweise nicht. Seine Nase war viel zu breit, lag flach an, als hätte man sie ihm mehrfach eingeschlagen. Wulstig wölbte sich die Stirn über seinen Augen, sein Mund war zu breit, sein Kinn …

Der Rat ließ sich kraftlos in den weichen Sessel nieder, der hinter dem kahlen Schreibtisch stand. Weich wie diese Polsterung waren auch seine Muskeln. In seinem Körper wohnten weder Kraft noch Ausdauer. Er war kurzatmig, neigte zu Krämpfen und zog sich bei den simpelsten Bewegungsabläufen Zerrungen zu. Lächerlich! Ja, der Ausdruck traf es perfekt: eine lächerliche Witzfigur!

Semjon Tanno ließ den Sessel langsam um seine eigene Achse kreisen. Seine Augen klammerten sich an die Zahlenkolonnen, die Formeln und immer wieder durchgeführten Gegenrechnungen, mit denen er den ganzen Tag verbracht hatte. Die Gesamtheit dessen, was dort ringförmig um ihn herum aufgezeichnet war, die Konsequenz, die sich schlussendlich unbarmherzig daraus ergab, ließ ihn sofort alles andere vergessen. Fee, das Spiel, den Freund, den Körper, in dem er seit beinahe fünfzig Umläufen gefangen war – einfach alles.

»Tanno an Archiv.« Seine Stimme klang heute extrem leise, doch die Rechner hatten hochsensible Ohren, die selbst auf ein gehauchtes Flüstern reagierten. »Berichte der letzten fünf Expeditionen auf den Schirm. Beide Potenzen als Diagramme anzeigen. Nebeneinander darstellen.«

Die geforderten Bilder erschienen augenblicklich. So augenblicklich, dass Semjon das Gefühl hatte, den Befehl noch gar nicht beendet zu haben. Wäre der Rechner fähig zu Ironie gewesen, hätte seine künstlich generierte Stimme nun vielleicht so etwas wie »Ach, das musste ja jetzt kommen« gesagt.

Tanno rang sich ein kraftloses Grinsen ab. Er wusste ja selbst kaum noch, wie oft er diese Ergebnisse heute schon aufgerufen hatte. Und noch viel weniger wusste er, was er dort noch zu finden hoffte. Er hatte sie ausgewertet – bis hinein in das winzigste Detail.

Die Strichdiagramme zeigten ihm die Kurven der beiden Potenzen, auf denen die Raumfahrt Uskugens basierte. Und nicht nur die Raumfahrt allein.

Technik und Magie. Im Zusammenspiel der beiden so grundlegend verschiedenen

Komponenten erstrahlte Uskugens Kultur hell und unvergleichlich.

Doch in der Vergangenheit hatte dies nicht immer so ausgesehen. Die Legenden erzählten von den zwei Rassen, die sich unversöhnlich gegenübergestanden hatten.

Vielleicht basierte diese Geschichte ja nur auf Geschichten, Märchen, die den Kindern vor Augen führen sollten, wie böse eine solche Haltung enden konnte. Semjon erinnerte sich, dass seine Eltern ihm immer und immer wieder von den magischen Kriegen erzählt hatten. Davon, dass Uskugen in diesen Kämpfen mehr als nur einmal beinahe zerstört worden war. Und von den Helden, die es auf beiden Seiten gegeben hatte.

Die Realität hatte wohl ein wenig anders ausgesehen – nüchterner, unspektakulärer. Aber diese zwei Rassen hatten existiert. Und die Kriege waren auch keine Hirngespinste.

Der magisch begabte Teil der Uskugen hatte versucht, sich über seine Brüder und Schwestern zu erheben. Es hatte bittere Auseinandersetzungen gegeben, die über Generationen hinweg getobt hatten. Einen wirklichen Sieger hatte es nie gegeben.

Oder vielleicht ja doch, denn die Natur hatte der Evolution beider Rassen eine ganz neue Richtung gegeben. Die Wege der beiden Arten, die zuvor in verschiedene Richtungen gezeigt hatten, hatten sich fast unbemerkt verändert und sich dann aufeinander zu bewegt. Waren sie auch noch so verschieden in ihrem Wesen, so zogen sie sich dennoch auf einmal emotional gegenseitig an.

Männer und Frauen beider Seiten verliebten sich ineinander. Kinder wurden geboren. Neue Gemeinschaften entstanden nach und nach. Natürlich hatten diese gegen Vorurteile zu kämpfen, doch auch das ebbte nach und nach ab.

Und irgendwann war da niemand mehr, der sich nur der einen oder anderen Seite zugehörig fühlte. Endlich konnte Uskugen erblühen, zu der Welt werden, die sie heute war.

In den allermeisten Uskugen lagen heute die Fähigkeiten von beiden der einst so streng getrennten Rassen. Natürlich gab es Ausnahmen, doch die integrierten sich in die Gemeinschaft. Es spielte ja auch keine Rolle, denn jeder hatte hier seinen Platz.

Magie und Technik – Technik und Magie.

Semjon Tanno wandte für einen kurzen Moment seinen forschenden Blick vom Schirm, betrachtete seine Hände, die mit ihren wulstigen und stark behaarten Fingern keine filigranen und komplizierten Schaltungen an den heutigen Mikro-Elementen durchführen konnten. Ebenso wenig wie sie einfachste Magiesymbole zu weben in der Lage waren, die selbst Kinder spielerisch beherrschten.

Körperlich fehlte ihm jede Anlage zu einem der hochsensiblen Techno-Meister, die Uskugen hervorbrachte. Auf geistig-emotionaler Ebene entbehrte Semjon Tanno jedem noch so kleinen Funken an Magie.

Da war nichts, rein gar nichts. Semjons Eltern hatten etwas von beiden Lagern geerbt, doch

nichts davon hatten sie an ihren einzigen Sohn weitergegeben. Was er heute war, was er in Uskugens Gesellschaft darstellte, hatte

nur eine einzige Basis: Semjon Tannos Gehirn. Man nannte ihn Uskugens Kopf, Denker der Zukunft. Kindermund

hatte sicher andere Namen für ihn, die Münder seiner ewig skeptischen Widersacher wohl auch. Er gehörte seit Jahren dem Rat Uskugens an, in dem seine Worte, seine Ideen und Visionen großes Gewicht hatten. Allerdings war Semjon auch realistisch genug, um zu wissen, dass sie ihm alle gern und voller Interesse zuhörten, seine Schlussfolgerungen dann jedoch oft mit einem Lächeln beiseite schoben.

Tanno war der Mahner, der den Anstoß Gebende, der Vordenker. Die Macher hingegen waren andere. Sein Blick glitt zurück zu den Diagrammen. Fünf Raumexplorer, das Beste, das mit Abstand perfekteste

Erzeugnis, das je eine Uskugische Schiffswerft verlassen hatte. Und doch hatten diese Schiffe nicht das Ziel ihrer Flüge erreicht. Drei von ihnen waren verschollen. Von einem hatte man nur Wrackteile gefunden, das fünfte war in einer Glutwolke vergangen, kurz bevor Hilfe eintreffen konnte.

Akribisch hatte man die Flugphasen ausgewertet, die hier auf

Uskugen eingegangen waren. Bei den verschollenen Raumexplorern hatten sie ganz unvermittelt ausgesetzt, ebenso bei dem zerstörten Schiff. Das letzte Schiff hatte seine Werte bis zur allerletzten Sekunde an die Basis gefunkt, dann war es zu einer künstlichen Sonne geworden, die von dem nahenden Rettungsschiff gesichtet worden war.

Alle diese Unglücke hatten am Tag fünf nach dem Start stattgefunden.

Der Rat gab dem Rechner den Befehl, die Liniendiagramme übereinander zu schieben. Er kannte das Ergebnis.

Die Linien waren nahezu deckungsgleich. Auf den Werften Uskugens, in den Entwicklungsabteilungen und

im Rat selbst herrschte eine schwelende Unruhe. Jeder suchte den technischen Fehler, der diese Katastrophen ausgelöst haben musste. Uskugens Bevölkerung wurde mit Halbwahrheiten eingedeckt, die alles und zugleich nichts besagten.

Den technischen Fehler … Eine andere Fehlerquelle kam niemandem wirklich als

Möglichkeit in den Sinn? Semjon Tanno zuckte zusammen, als ihn ein zischendes Geräusch

aus den Gedanken riss. Nur wenige Fingerbreit vor ihm prallte etwas mit großer Wucht

auf den Boden! Das Ding schnellte zurück in die Höhe, aus der es gekommen war. Tanno bleib wie angewurzelt in seinem Sessel sitzen. Ein Attentat?

Nein, wer sollte ausgerechnet ihm ans Leben wollen? Natürlich gab es kleine Gruppierungen auf Uskugen, die mit der Politik des Rates nicht einverstanden waren, doch die allermeisten von ihnen bestanden aus Schreihälsen, die zu einer wirklich effektiven Aktion überhaupt nicht fähig waren. Wenn man eine Bluttat denn als effektiv bezeichnen wollte. Die Gewaltbereiten konnte man an den Fingern einer Hand abzählen. Doch zu deren Primärzielen gehörte Semjon Tanno nicht.

Es war etwas anderes, was ihm hier widerfuhr. Wahrlich anders! Er wurde Zeuge einer Demonstration. Einem Ausbruch der

Lebensfreude, gepaart mit einem Schuss Siegeseuphorie. Das Element, das nun hoch über Semjons Kopf schwebte, war von

dunkler Färbung. Es rotierte um seine eigene Achse, so wie Uskugen sich immerwährend um sich selbst drehte. Der Ball – denn nichts anderes war es – bestand aus einem Harz, das in den Südwäldern an den dortigen Baumriesen zu finden war. Es wies eine enorme Festigkeit auf, schien jedoch zur gleichen Zeit über eine Art Eigenleben zu verfügen, das einzig und allein für eine bestimmte Sache wie geschaffen war.

Semjon erinnerte sich genau. Sein Trainer, der ihn dann später mit sanftem Nachdruck aus dem Team warf, hatte es so formuliert: »Das Zeug hat Mutter Deyat einzig und allein zu dem Zweck an die Bäume gepappt, damit wir spielen können. Ich schwöre es euch.«

Mutter Deyat – mythologische Schöpferin von Uskugen, Sip und Rof. Der Trainer hatte stets versucht, ihre Emotionen anzusprechen, wenn er seine Schützlinge motivieren wollte. Mutter Deyat hatte sicher Besseres im Sinn gehabt, als ihre Schöpfung auf ein Spiel hin auszurichten.

Semjon beobachtete den Spielball. Er war gespannt, was damit geschehen würde.

Und es würde etwas geschehen, so weit kannte er die Person, die hinter dieser Aktion steckte.

Die Kugelmasse teilte sich, bis ein Dutzend kleiner Bälle aus ihr entstanden, die umeinander kreisten. Schneller und immer schneller wurde die Rotation, und einer nach dem anderen wechselte seine Farbe. Grün, blau, rot, gelb wechselten ihre Schattierungen im schnellen Tanz der Bälle. Dann, wie an einer Perlenschnur aufgezogen, bildeten die zwölf Elemente einen Wurm, der sich in wirren Verrenkungen durch die Luft schlängelte, in die Höhe stieg, bis er an der Decke entlangkroch – und im nächsten Moment in ihr verschwand, als habe es ihn nie gegeben. Was jedoch nicht bedeutete, dass die Sache damit beendet war, denn zwischen Semjons Füßen kroch der Wurm aus dem Boden hervor, erhob sich

elegant über den Kopf des Rates und explodierte in einem feinen Silberregen.

Semjon wandte sich nicht um. Langsam, in unübersehbar gekünstelter Begeisterung, klatschte er mit seinen klobigen Händen Beifall. »Ein Bravo dem großen Magier. Aber hätte es nicht auch gereicht, mir ganz einfach das Ergebnis zu sagen? Lass mich raten – ihr seid im Finale, richtig?«

Schallendes Gelächter wurde hinter Tanno laut. Das Lachen des Siegers. Des Mannes, der immer und überall gewinnt …

Semjon ließ den Sessel langsam in Blickrichtung der Tür schwingen. Dalius Laertes war wie immer in Schwarz gekleidet. Tanno konnte sich wirklich nicht entsinnen, den Mann je in andersfarbiger Kleidung gesehen zu haben. Nicht einmal, als sie noch Kinder waren. Der einzige Farbklecks an Dalius war das kurze Silbercape, das er um die Schultern gelegt hatte. Es hatte keinen wirklichen Sinn – es schützte nicht, es wärmte nicht. Ein sinnloser Modegag, den Laertes da mitmachte. Die langen dunklen Haare des hageren Mannes fielen wie feines Geäst über den silbernen Stoff.

Semjon verzog missmutig die Mundwinkel. »Perfekte Anatomie Uskugens« – da stand sie, nur wenige Schritte von ihm entfernt. Aber das Äußere allein zu bewerten, wäre unfair gewesen, es hätte die Sache ganz einfach nicht getroffen. Denn Dalius Laertes hatte alles!

Sie hatten gemeinsam die Ausbildung begonnen, die jeder Uskuge durchlief. Und es hatte sich rasch herauskristallisiert, dass ihnen große Karrieren offen standen. Semjons Denkweise hatte seine Lehrer tief beeindruckt, die es schon bald aufgaben, die Thesen widerlegen zu wollen, die dieser junge Mann aufstellte. Wären seine Eltern arm gewesen, so hätte man ihn, ohne zu zögern, ganz oben auf die Liste derer gesetzt, die eine kostenfreie Förderung auf Uskugen erhielten.

Und so verhielt es sich auch bei Dalius Laertes. Sein Verstand arbeitete analytisch. Freie Thesen, Visionen – das war auf wissenschaftlichem Gebiet nicht sein Ansatz. Doch dies machte er mit einer äußerst hohen Potenz an Magie wett.

Und dann kam der dritte Faktor hinzu. Laertes war ein begnadeter

Spieler. Ganz gleich, um welches Spiel es sich handelte. Und die großen Spieler hatten auf Uskugen schon immer einen außerordentlichen Status eingenommen.

Er hatte die freie Wahl. Semjon Tannos Weg würde nach ganz oben führen, doch er war vorherbestimmt; Dalius streckten sich von allen Seiten her weit geöffnete Arme entgegen. Und er traf seine Wahl, eine, die wohl einmalig in Uskugens Geschichte war.

Laertes kam grinsend auf Semjon zu, ließ sich in den freien Sessel fallen.

»Wo warst du, alter Griesgram? Ich hatte für dich Karten zurücklegen lassen, für die andere sich glatt geprügelt hätten. Mann, ich hätte die Fratze meines Freundes gern am Spielbeginn in Reihe eins gesehen.

Hast du dich wieder einmal mitten zwischen deinen Zahlen vergraben, hä?«

»Nenn mir das Ergebnis.« Dalius Laertes lächelte. So kannte er seinen ältesten und besten

Freund. Auf Sprüche ging Semjon niemals ein. »2:1, 1:1, 2:0, 4:0. Sie hatten wirklich keine echte Chance gegen uns.«

Semjon Tanno betrachtete das Gesicht seines Ratsbruders. Darin war Freude über den doch klaren Sieg zu erkennen, doch keine Spur von Überheblichkeit. Semjon musste nicht fragen, wer in der Mannschaft entscheidend für diesen Erfolg gewesen war. Er wusste auch so, dass Dalius stets die Verantwortung übernahm, die wichtigen Läufe machte und dann auch erfolgreich abschloss.

Doch darüber verlor er nach dem Spiel kein Wort mehr. Wie edelmütig … Das passte zu Laertes, jedoch kaum zu dem Spiel

an sich. »Ventur« war die härteste, kompromissloseste und zweifelsohne

auch gefährlichste aller Spielvarianten, die auf Uskugen eine so große Tradition hatten. Die Jagdspiele der Kinder, die Freizeitspiele, die viele Uskugen mit Hingabe betrieben, sie alle waren nur die Vorstufen zu »Ventur«. Auf vielen bewohnten Welten hatten die Uskugen Variationen dieses Spieles vorgefunden, dessen Grundgedanken Härte und Schnelligkeit waren. Zufall? Oder ein

Hinweis darauf, dass sich satte Zivilisationen ihre Ventile in Dingen schufen, die nie so ganz zu kontrollieren waren?

In der Profiliga Uskugens hatte es noch in jedem Jahr Verletzungen bei den Spielern gegeben. Mehr noch, auch Todesfälle waren vorgekommen. Die Harzkugel erreichte ungeheure Geschwindigkeiten, wenn sie aus der Cesta geschleudert wurde und gegen eine der Begrenzungswände knallte. Niemand konnte den Abprallwinkel eines solchen Balles wirklich genau vorherberechnen. Gebrochene Handknochen waren nichts Ungewöhnliches. Und wer die Cesta, die gebogene Schaufel aus Kunstfaser, die wie eine natürliche Verlängerung des Wurfarms gehandhabt wurde, nicht wirklich perfekt beherrschte, für den war die Saison frühzeitig beendet.

Der Kopfschutz war unabdingbar, doch auch er garantierte nicht immer für einen vollkommenen Schutz. »Ventur« war der Alt-Uskugische Begriff für letzte Herausforderung. Und so sahen Zuschauer und Spieler die Sache auch. Keine Technik, keine Magie. Nur Kraft, Geschicklichkeit und Siegeswille.

Musste Dalius Laertes auch diesen Teil für sich in Anspruch nehmen? Er war hochgeschätzter Wissenschaftler; sein magisches Reservoir hatte bis heute nicht einmal exakt ausgelotet werden können. Dalius gehörte Uskugens Rat an, wie es auch Semjon tat. Und zu alledem war er einer der besten Spieler des Planeten. Vielleicht sogar der beste.

Das war mehr, als Tanno ertrug. Und dabei gab es sogar noch einen weiteren Faktor, den er mit

aller Macht zu bedenken unterdrückte. Dalius hatte die Kinder – und Mojica.

Neid! War es das? Und wenn ja, dann brannte er entsetzlich in Semjons Gedanken. Neid auf den Freund, der immer die Nummer eins war? Immer – ausnahmslos. Tanno schloss die Augen, denn es war diese Erkenntnis, die ihn auffraß. Woher nahm er das verdammte Recht, den Menschen mit seinem Neid zu verfolgen, der alles für ihn tun würde. Immer – ausnahmslos. Ohne auch nur einen Moment lang zu zögern.

Dalius Laertes' Blicke gingen zum Rundum-Display. »Die Katastrophen, nicht wahr? Mann, Semjon. Ich spiele meine dummen Spielchen, während du hier versuchst, den Fehler in der Technik auszumachen. Ich sollte mich schämen.«

Tanno hielt die Augen geschlossen. Da war keine Spur Ironie in Dalius' Worten. Er meinte, was er da sagte. Es war kaum zu ertragen. Er, der leibhaftige Erfolg, bewunderte seinen Freund für dessen Engagement. Tanno benötigte ein paar Sekunden, ehe er zu einer Antwort ansetzen konnte. »Technik? Also ist es auch für dich klar, dass die Ursache für die Unglücke nur dort zu suchen ist?«

Laertes sah den anderen verwundert an. »Wo sonst? Du hast eine Theorie, nicht wahr? Also heraus damit.«

Semjon schüttelte den Kopf. Er konnte die Stunden nicht mehr zählen, die er nun am Stück in diesem Raum verbracht hatte. Wie eine graue Wolke überfiel ihn die Müdigkeit. »Nein, heute nicht mehr. Komm, ich bringe dich zu den Fähren. Du willst sicher auch nach Hause.«

Laertes lächelte dem Freund zu. »Ich übernachte im Ratsgebäude. Heute steige ich in keine Fähre mehr. Mojica weiß Bescheid. Du kennst sie ja. Zu meinen Spielen ist sie noch nie gekommen. Ihre Nerven halten das nicht aus.« Er zuckte mit den Schultern, als müsse er seine Frau entschuldigen. »Bis ich auf Sip ankäme, wäre es ja mitten in der Nacht. Da störe ich höchstens die Kleinen.«

Semjon Tanno nickte. Wie hätte es auch anders sein können? Immer erst die anderen, danach erst er selber. Wirklich kaum zu ertragen. »Dann treffen wir uns morgen vor der Ratssitzung in der Rof-Werft. Vielleicht kann ich ja dich zumindest dazu bringen, einmal nachzudenken.«

Dalius Laertes lag eine ganze Reihe Fragen auf der Zunge, doch er schluckte sie allesamt wieder hinunter, denn er sah die Erschöpfung in Tannos Augen. Sie verabschiedeten sich wie alte Freunde.

Und zumindest einem der beiden war es mit der dazugehörenden Herzlichkeit absolut ernst.

Auf Sip wurde es niemals wirklich dunkel. Irrlichter, magische Feuer, die oft auch in der Nacht hell erleuchteten Ansiedlungen – all das machte das besondere Flair des Mondes der Magie aus. Mojica liebte diese Stimmung. Sie liebte sie besonders dann, wenn sie hier in den lauen Nächten Arm in Arm mit ihrem Mann spazieren gehen konnte. Doch diese Glücksmomente waren dünn gesät. Besonders während der »Ventur«-Saison. Doch die neigte sich nun ihrem Abschluss entgegen.

Ein Spiel noch, dann stand Uskugens »Ventur«-Meister fest. Und der Verrückte, mit dem sie vor sechs Umläufen den Deyat-Bund eingegangen war, der Vater ihrer beiden Kinder, hatte ihr hoch und heilig geschworen, dass er als Meister abdanken wollte. Es wurde allmählich Zeit. Mit seinen nun bald fünfzig Umläufen war Dalius noch längst nicht an der Grenze, die ein Profispieler keinesfalls überschreiten sollte. Die Uskugen waren ein langlebiges Volk. Die allermeisten der ihnen bekannten Kulturen im All lebten nicht einmal die Hälfte eines Uskugenlebens.

Doch Dalius Laertes' Dasein war so prall mit Aktivitäten gefüllt, dass der Kelch tatsächlich überlief. Seine Berufung in den Rat der Welt bedeutete einen Arbeitsaufwand, der voll und ganz ausreichte, um erfüllte und mit Strapazen reich gespickte Tage zu haben. Doch zumindest konnte er einen Teil dieser Arbeit von hier aus erledigen – von seinem ganz privaten Refugium auf Sip.

Die Zwillinge waren vor vier Umläufen geboren worden. Sie brauchten ihren Vater ganz dringend, beinahe so dringend, wie Mojica ihn brauchte. Gleich nach dem Spiel hatte er sich per Bild-Sprach-Modul bei ihr gemeldet. Mojica ertrug es nicht, ihn spielen zu sehen. Sie wollte nicht sehen, wie dieser von ihr so oft verfluchte Ball auf ihn zuraste. Irgendwann einmal würde er zu spät reagieren.

Sein breites Grinsen hatte ihr das Spielergebnis schon mitgeteilt, ehe er es aussprechen konnte. Ein Spiel noch …

Ihre Freundinnen beneideten sie um diesen Mann. Dumme Chipas, die wirklich nicht weiter denken konnten als Uskugens Nutzvieh. Mojica hatte Laertes zum ersten Mal getroffen, als der, gerade erst als Ratsmitglied bestätigt, Sip einen offiziellen Besuch abstattete. Er

wollte sich ein Bild von den Heimstätten machen, in denen die Kinder betreut wurden, die mit ihrem magischen Erbe überfordert waren. Magie war ein zweischneidiges Schwert. Viele der Kleinen kamen mit ihren noch teilweise schlummernden Talenten einfach nicht klar. Mojica leitete eine diese Einrichtungen. Dass Dalius der als Dal berühmte und verehrte »Ventur«-Held war, den besonders die jungen Mädchen auf Uskugen geradezu vergötterten, hatte sie nicht gewusst. Und wäre dem so gewesen, hätte sie das nicht sonderlich beeindruckt. Es war Dalius' Wesen, seine ganze Art, die sie sofort einnahm.

Mojicas Blicke wandten sich von den erleuchteten Ansiedlungen ab, in denen gefeiert wurde. Was man dort feierte? Spielte das eine Rolle? Die Uskugen, die hier auf Sip lebten und arbeiteten, standen in dem Ruf, es mit gebotenen Anlässen nicht so sehr genau zu nehmen. Man traf sich, fand sich bei dem einen oder anderen zusammen, der Rest ergab sich von ganz alleine.

Sie verteidigen ihren Ruf mit Bravour! Mojica schüttelte lächelnd den Kopf. Nein, heute würde sie früh schlafen gehen. Die Zwillinge schliefen die Nächte längst tief und fest durch. Dennoch wollte sie die beiden nicht zu lange allein lassen. Ein kurzer Spaziergang würde ausreichen, um auch Mojica die nötige Bettschwere zu verschaffen. Sie ging hinter das Haus, das sie nun seit sechs Umläufen mit ihrem Mann bewohnte. Sie hatten alles gut bedacht, als sie sich für dieses Anwesen entschieden hatten. Das Haus war für zwei Personen viel zu groß, doch beide wollten Kinder. Und das Brachgelände, das sich dem Haus anschloss, würde sicher auch nicht ewig so verwaist bleiben. Irgendwann würde Laertes sein Ratsamt niederlegen. Und Mojica kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er dann nicht bereit sein würde, die Hände in den Schoß zu legen. Das Gelände war groß genug, um ihm alle Möglichkeiten zu bieten, die er sich wünschen konnte.

Mojica träumte ja von einem riesigen Garten, der sich bis hin zum steil abfallenden Fels zog, der das Gelände begrenzte. Ihre Schritte lenkten sie genau dorthin. Der Ausblick war atemberaubend, denn hinter der Felskante ging es steil gut tausend Fuß in die Tiefe. Die

wilde Landschaft des Mondes Sip lockte abenteuerlustige Uskugen, die ihre Kräfte mit der Natur messen wollten. Das war eine ganz besondere Form der Freizeitromantik, die Uskugen selber nicht bieten konnte. Der Planet war im Vergleich zu Sip eher als brav zu bezeichnen. Brav und überzivilisiert. Den Ausgleich fanden die Uskugen genau hier.

Mojica genoss den sanften Wind, die angenehme Kühle des Abends, die es schaffte, die Tageshitze vergessen zu machen. Rof stand ockerfarben am Nachthimmel. Rof, der Mond der Technik, wies im Grunde nichts weiter als eine mit Geröll und kleineren Felsen übersäte Oberfläche auf. Seine Atmosphäre war dünn, aber durchaus nicht lebensfeindlich. Große Industrieanlagen hatten sich dort ebenso angesiedelt wie einige der renommiertesten Lehranstalten, in denen die künftigen Spitzentechniker Uskugens ausgebildet wurden.

Sonst gab es jedoch kaum etwas, das Rof wirklich interessant gemacht hätte. Am Himmel jedoch erschien er majestätisch, leuchtete freundlich auf seinen Bruder Sip herab.

Mojica löste sich von diesen Gedankengängen. Oft machte ihr die Tatsache Angst, dass alles so im perfekten Gleichgewicht zu sein schien. Dann fiel ihr automatisch Semjon Tanno ein, der ewig skeptische Vordenker der Uskugen. Als Dalius und sie sich näher gekommen waren, hatte sie natürlich auch Semjon kennen gelernt, und der Rat hatte zaghafte Versuche gestartet, sich Mojica zu nähern. Äußerst zaghaft und zurückhaltend – Mojica war sicher, dass außer ihr niemand etwas davon bemerkt hatte. Nicht einmal Dalius. Sie mochte Tanno sehr, denn er schien der einzige Uskuge zu sein, der sich für die Zukunft Gefahren, negative Entwicklungen in der Gesellschaft überhaupt vorstellen konnte. Niemand sonst kam auf solche Ideen. Niemand rührte an solchen Möglichkeiten.

Tanno wurde dafür oft verlacht, wenn auch hinter vorgehaltener Hand. Mojica hatte nie mitgelacht. Auch in ihr löste diese scheinbar vollkommene Harmonie Zweifel aus. Es war nur ein feines Surren. Zumindest in den ersten Sekunden. Instinktiv machte Mojica zwei Schritte nach hinten, weg von der Felskante. Dann wechselte das

Surren seinen Toncharakter, wurde zu einem knirschenden und mahlenden Geräusch, das sprunghaft an Lautstärke zunahm.

Etwas kratzte und schabte aneinander, kreischte und klagte, beinahe wie ein wimmerndes Kind, Sekunden, bevor es losschreit …

Dann verschwand der Grund unter Mojicas Füßen. Einfach so, von einem Augenblick zum anderen. Der Fels stürzte haltlos in die Tiefe.

Und Mojica levitierte, schwebte – der Schwerkraft Sips trotzend – über der Leere, die unter ihren Füßen gähnte. Dalius hatte über Mojicas magisches Reservoir oft gestaunt. Sie hatte es für Komplimente eines verliebten Mannes gehalten, wenn er von ihren ungewöhnlich großen Fähigkeiten gesprochen hatte.

Vielleicht waren es nicht nur Komplimente gewesen, die er ihr gemacht hatte.

Mojica hatte nie groß nachdenken oder sich vorbereiten müssen, wenn sie Magie einsetzte. Das alles geschah bei ihr automatisch, war ein natürlicher Prozess, auf den sie sich nicht erst groß konzentrieren musste. Und wahrscheinlich hatte ihr das gerade das Leben gerettet …

Es blieb ihr keine Zeit, darüber zu philosophieren. Die Kinder! In der Luft stehend, wandte sie sich herum und schwebte auf das Haus zu. Sie wagte es nicht, den Boden zu berühren. Vielleicht war das ja alles gewesen. Die Kante war vielleicht im Laufe der Zeit ganz einfach nur brüchig geworden. Vielleicht …

Mühelos stieg sie höher, setzte über das Flachdach hinweg. Das Haus schien unversehrt zu sein, doch die Terrasse vor der breiten Eingangstür wies einen zehn Fuß langen und zwei Fuß breiten Riss auf. Mojica vergaß jegliche Angst und ließ sich zu Boden sinken. Die Tür klemmte. Mit einem gewaltigen Ruck überwand die junge Uskugin dieses Problem. In der Eingangshalle waren ein paar Bilder von den Wänden gefallen, eine Bodenvase war umgekippt, und das in ihr befindliche Wasser verteilte sich nun auf dem Fußboden.

Mojica stürmte die geschwungene Treppe hinauf. Die Schlafzimmer der Kinder lagen im ersten Stock. Mojica hörte das rasende Trommeln ihres eigenen Herzschlags, als sie die Tür zu dem Raum ihres Sohnes lautlos öffnete. Erleichtert schloss sie für einen

Moment die Augen. Sajol schlief tief und fest. Wie immer hatte er die Decke im Schlaf von sich gestrampelt und lag gleichmäßig atmend auf dem Rücken. Er wurde nicht einmal wach, als seine Mutter ihn sanft hochhob und über ihre Schulter legte.

Jicadas Zimmer lag direkt nebenan. Das Mädchen war äußerst sensibel, reagierte oft schon auf die leisesten Stimmungsschwankungen bei anderen. In ihr leuchtete die Flamme der Magie in besonderem Maße, schien sich bereits mit ihren vier Jahren voll entfalten zu wollen. Zu früh – vor allem unglaublich intensiv.

Auch diese Tür ließ sich nur mit sanftem Nachdruck öffnen. Das Beben hatte dazu geführt, dass sich im Haus einiges verzogen hatte. Türen waren da wohl nur das kleinste Problem. Mojica fürchtete, dass tragende Teile instabil geworden waren.

Mojica erstarrte, als sie Jicada erblickte. Das Mädchen war wach, ihre Augen starrten auf die Zimmerdecke, als könne sie so den Himmel sehen. Diese Augen konnten selbst ihrer Mutter in manchen Momenten einen Angstschauer über den Rücken jagen.

Und – sie schwebte gut drei Fuß über ihrem Bett! Ihre Zudecke hing links und rechts von ihrem kleinen Körper herab, der sich darunter deutlich abzeichnete.

Die Stimme der Kleinen war nur ein Flüstern. »Müssen wir nun alle sterben, Dey?« Sie nannte ihre Mutter bei dem Kosenamen der Urmutter Deyat, dem hellen Gestirn, das über Uskugen und seine Monde schien.

Wortlos bettete Mojica ihre Tochter auf die freie Schulter. Als der Zimmerboden zu vibrieren begann, levitierte sie erneut. Für Antworten musste es später eine Zeit geben. Und für neue Fragen.

Jetzt ging es um ihr Überleben. Und sie würde sich und ihre Kinder in Sicherheit bringen. Nichts

konnte sie davon abhalten. Und wenn ganz Sip auseinander brechen sollte …

Dalius Laertes hatte nur wenig geschlafen.

In den Nächten nach wichtigen Spielen war ihm das schon oft passiert. Körper und Geist waren viel zu aufgeputscht, um Ruhe zu finden. Er war nicht der einzige Spieler, dem das so erging. Doch seine Kameraden hatten den großen Vorteil, sich am folgenden Tag ausruhen und entspannen zu können. Bei ihm sah das dann schon ein wenig anders aus. Da kam kein Trainer, der ihm generös einen oder zwei Ruhetage verordnete.

Im Gegenteil. Heute stand eine wichtige Ratssitzung an, deren Hauptthema sicher die Katastrophen sein würden, denen in der letzten Zeit geballt die Raumer zum Opfer fielen. Fieberhaft suchten die besten Techniker Uskugens und Rofs nach der Ursache, die sich ganz einfach nicht finden lassen wollte.

Es gab keine Fehler. Alle Überprüfungen kamen zum exakt gleichen Ergebnis. Keine Fehler.

Vielleicht würde die Sitzung heute ja neue Erkenntnisse bringen. Es wäre der passende Zeitpunkt gewesen, denn die nächsten Welten wollten angesteuert werden. Die Späher in ihren winzigen Pyet-Schiffen hatten bewohnte Planeten entdeckt, deren Intelligenzen der ganz speziellen Hilfe Uskugens bedurften. Eine Hilfe, die diesen Welten zumindest für eine gewisse Zeitspanne das Überleben sichern konnte.

Uneigennützige Hilfe. Hilfe gegen Angriffe von außen, in erster Linie jedoch gegen den selbstzerstörerischen Keim, den so viele Zivilisationen in sich trugen. Diesen Keim, der auch Uskugen in tiefer Vergangenheit an den Rand der Vernichtung gebracht hatte.

Kein anderer als Semjon Tanno war es, der immer wieder mahnend auftrat. Und er hatte natürlich Recht. Die Uskugen errichteten auf diesen ausgewählten Welten ihre Stationen. Dann begann die lange Phase des Beobachtens und der Vorbereitung, die in jedem Fall ganz individuell ablief. Und schließlich wurde der Kreis von Persönlichkeiten bestimmt, den diese Zivilisation im Falle einer Katastrophe brauchte, um fortbestehen zu können.

Das klang logisch und war ethisch vertretbar, denn es war ja zum Wohle der Zivilisation. Doch es ging einher mit genetischen Eingriffen, Lebenszeit verlängernden Maßnahmen bei den

erwählten Personen. Es war noch nicht lange her, da hatte Tanno vor dem Rat eine

Bemerkung gemacht, die Laertes unter die Haut gegangen war. »Wir bauen Stationen auf fremde Welten, die wir mit allen möglichem

Tricks tarnen. Wir spielen Gott, denn wir erschaffen Wesen, die über viele Generationen hinweg leben. Wir bilden sie aus, damit sie im Ernstfall die Geschicke ihrer Welt lenken können. Wie mag das einem normalsterblichen Lebewesen auf diesem Planet erscheinen, wenn er die Wahrheit entdeckt? Was glaubt ihr?«

Laertes versuchte diese Gedanken zu verdrängen. Doch die Zweifel, die Semjon bei ihm gesät hatte, ließen sich nicht wegwischen. Die Uskugen mischten sich ein – vielleicht gingen sie zu leichtfertig dabei vor.

Trotzdem war es merkwürdig, dass diese Thesen von dem Uskugen stammten, der maßgeblich all die Dinge lenkte, die er in Zweifel stellte.

Doch dieses ganze Programm war im Augenblick gestoppt worden. Ehe man nicht die Fehlerquelle an den Schiffen ausgemacht hatte, konnte es keine weiteren Aktionen dieser Art geben.

Mit einem Gleiter ließ sich Laertes zu der Rof-Werft bringen. Sie lag am nördlichen Rand von Uskugen Deyat, der Hauptstadt

Uskugens, die beinahe flächendeckend den größten Kontinent überspannte. Auf keiner zweiten bewohnten Welt hatte Dalius eine Stadt vorgefunden, die dieser auch nur ähnelte.

Uskugen Deyat war eine Mischung aus sachlicher Architektur und technischer Perfektion mit oft wahnwitzig anmutenden Prunkbauten. Die Werft wiederum strahlte nüchterne Funktionalität aus. Eine riesige Halle reihte sich an die nächste. Das Verwaltungsgebäude, das Laertes nach den üblichen Kontrollen betrat, machte da keine Ausnahme.

Semjon Tanno erwartete ihn bereits in der Zentrale, von der aus über unzählige Bildschirme nahezu jeder Winkel der Werft einzusehen war. Tanno war umringt von einem Pulk aus Technikern, die abwechselnd – manchmal jedoch auch gleichzeitig – auf ihn einredeten. Semjon sah müde aus. Er schien in der Nacht

auch nicht mehr Schlaf gefunden zu haben als Laertes. Mit Mühe löste sich Tanno aus dem Kreis der Frauen und Männer heraus. Die Begrüßung fiel kurz aus.

»Viel Zeit bleibt uns nicht bis zum Beginn der Ratssitzung«, sagte Tanno. »Aber du solltest dir die Ergebnisse dennoch kurz ansehen.«

An Dalius' Gesichtsausdruck konnte Tanno deutlich erkennen, welchen Widerwillen dieser empfand, die Aufzeichnungen, Diagramme und Bilddokumente erneut betrachten und analysieren zu sollen. Er konnte Laertes gut verstehen, denn das alles war in den vergangenen Tagen immer wieder besprochen worden. So lange, bis so manches Ratsmitglied regelrecht die Flucht ergriffen hatte, wenn es Tanno auch nur aus der Ferne sah.

»Gut, sparen wir uns das jetzt. Aber um eine Sache kommst du mir nicht herum.« Tanno setzte sich langsam in Richtung Ausgang in Bewegung. Der Gleiter, mit dem Laertes gekommen war, wartete dort noch, denn bis zum Ratsgebäude im Zentrum der Stadt war ein weiter Weg. Laertes liebte es zwar, sich zu Fuß durch diese unglaubliche Stadt zu bewegen, doch diese Entfernung war selbst ihm zu groß.

»Schieß los, Semjon. Du wolltest mir gestern schon etwas sagen, richtig?« Laertes unterdrückte den Reflex, dem Freund eine Hand auf dessen Schulter zu legen. Tanno mochte so etwas nicht. Jede Körperlichkeit war ihm unangenehm. Dalius wusste, wie sehr der Freund seinen Körper hasste, der sich so deutlich von der normalen Gestalt eines Uskugen unterschied. In seinem Denken hatte sich unumstößlich die Vorstellung festgesetzt, dass jeder, der ihn betrachtete, Ekel empfinden musste.

Wie oft hatte Laertes Semjon davon zu überzeugen versucht, dass dem nicht so war? Sinnlos – irgendwann hatte er diese Versuche aufgegeben.

Tanno sah zu dem hoch gewachsenen Laertes auf. »Es wurden nach wie vor keinerlei technische Fehler entdeckt. Die Materialauswertung kommt zu den gleichen Ergebnissen. Sag mir also, was für dich die Schlussfolgerung daraus ist.«

Laertes blieb stehen. Die Türen des Gleiters fuhren auf, doch er

zögerte noch, blickte Tanno direkt an. »Dass es einen Fehler geben muss, der trotz aller Prüfmethoden noch unentdeckt geblieben ist.« In Semjons Augen sah er das Feuer des Unmuts blitzen. Dalius schüttelte energisch den Kopf. »Ich weiß, was du von mir als Antwort hören wolltest, doch das wäre ja absurd. Nein, das ist unmöglich, Semjon.«

Die beiden stiegen in den Fond des Gleiters. Tanno setzte sich Laertes gegenüber. »Unmöglich also? Dann nenne mir eine weitere Möglichkeit. Es wird dir keine einfallen. Unsere Raumfahrt basiert nun einmal auf den zwei Komponenten, die unser gesamtes Weltbild darstellen. Eine dritte gibt es nicht.«

Sie schwiegen sich in den kommenden Minuten an, vermieden beide den Blickkontakt zum anderen. Laertes sah die Straßenzüge an sich vorbeihuschen, doch wo er sich sonst kaum satt sehen konnte, fehlte ihm jetzt jedes Interesse.

War es tatsächlich so unmöglich? Oder wagte es außer Tanno nur niemand, diesen Verdacht auszusprechen?

Uskugens Raumfahrt basierte auf stabilen Werten. Die Technik war ausgereift, Neuerungen wurden nur spärlich und mit äußerster Vorsicht integriert.

Uskugen Deyat … Sip und Rof … ihr ruht so sicher und gelassen. Ja, und in der Raumfahrt war es ebenfalls diese perfekte Balance, die alles trug. Natürlich experimentierten die Techniker auf den Werften nach wie vor an einer anderen Lösung, doch solange es die nicht gab, mussten auch sie die natürliche Grenze akzeptieren, die ihnen die Technik gab.

Und diese Grenze hieß der Schritt über die Lichtmauer. Die Uskugen kannten andere raumfahrende Intelligenzen. Einige

von denen hatten andere Lösungen für sich gefunden, nutzten Energiequellen, deren Ursprung im Geheimen lag. Da war zum Beispiel die DYNASTIE DER EWIGEN, deren riesige Schwarzkristalle in der Lage waren, scheinbar grenzenlose Energien abzugeben.

Die Uskugen verfügten über keine dieser Möglichkeiten, doch sie hatten etwas anderes – ihre Magie! Die Schiffe bis an die Grenze der

Lichtmauer zu beschleunigen, war nicht das Problem. Es war der letzte kleine Schritt, der darüber hinaus gemacht werden musste. Und es bedurfte einer zusätzlichen Kraft, die nach den Distanzsprüngen stabilisierend auf die Schiffe einwirkte.

Die Lösung hieß der Block. An Bord der Expeditionsschiffe befanden sich magisch

Hochbegabte, die im Verbund das schafften, was die Technik den Uskugen versagte. Bei den Spähern, die in ihren kleinen Einmann-Raumern die Ziele für das große Hilfsprogramm der Uskugen aussuchten, reichte die Magie des Piloten völlig aus, doch bei den Großraumern waren es bis zu fünfundzwanzig Individuen, die einen solchen Block bildeten.

Dalius Laertes rief sich die Daten der Katastrophen in Erinnerung. Nicht bei allen konnte man den genauen Zeitpunkt ermitteln, an dem das Desaster eingetreten war. Doch die sicheren Daten und die hochgerechneten der anderen Fälle ergaben grob gesehen schon ein Muster, das Tannos Theorie entgegenkam. Kurz vor dem Eintritt in die Lichtmauer – oder aber während der Verzögerungsphase, die dem Sprung folgte – waren sie eingetreten.

Erst jetzt realisierte Laertes, wie tief das Vertrauen der Uskugen in die Magie verankert war.

So unerschütterlich tief, dass nicht einmal der Schatten von Misstrauen aufkommen wollte.

Ohne Tanno anzublicken, beendete Dalius das Schweigen. »Du denkst an Verrat? Ich kann das einfach nicht glauben. Niemand hat eines der Unglücke überlebt. Also auch ein eventueller Verräter nicht. Könnte jemand so verrückt sein?«

Tanno schien von dieser Argumentation unbeeindruckt zu sein. »Zumindest haben wir ein ähnliches Verhalten bei anderen Zivilisationen bereits erlebt. Da ging es meist um religiösen Wahn. Das dürfte bei uns kaum der Fall sein. Zudem – habe ich etwas von Verrat gesagt?«

Laertes hob den Kopf. Hoch über den Straßen wurde der Kuppelbau des Ratsgebäudes sichtbar. Die Kuppel bildete den Mittelpunkt von Uskugen Deyat. Riesig, schlicht – beeindruckend.

»Was dann? Für Ratespiele bin ich heute noch nicht wach genug.« Laertes fürchtete sich vor der Antwort.

»Zwei Säulen, Dalius.« Semjon Tanno hob die Hände, hielt sie mit den Handflächen nach oben in Laertes' Richtung. »Oder zwei Schalen einer Waage. Was, wenn die eine sich verändert? Wenn sie beginnt zu bröckeln wie die maroden Steine im Alka-Gebirge? Was, wenn sie krank ist?« Semjons Linke sank langsam ein Stück tiefer. »Vielleicht noch nicht so krank, dass man es ihr so ohne Weiteres ansieht. Ein schleichender Prozess, den niemand wahrnimmt. Nur in ganz extremen Belastungsmomenten, da schafft sie es nicht mehr, die Waage zu halten. Und dann …« Semjon ballte die Linke zur Faust.

Der Gleiter stoppte sanft vor dem Haupteingang des Kuppelbaus. Bis zum angesetzten Beginn der Sitzung war noch etwas Zeit, doch hier herrschte ein mehr als reges Treiben. Immerhin waren es annähernd fünfhundert Frauen und Männer, die dem Rat Uskugens angehörten. Und die trafen nun nach und nach hier ein.

Ein Ratsdiener begrüßte die beiden Männer. Tanno und Laertes waren erfahren in dem inoffiziellen Geplänkel, das jeder Sitzung vorausging. Ehe man sich in den Sitzungssaal begab, wurde Konversation in den Gängen getrieben. Konversation und Politik. Es war kein Geheimnis, dass viele Entscheidungen bereits vor der Sitzung fielen.

Die beiden hielten sich möglichst abseits von der Masse der Räte. Tanno verabscheute diese Form der Meinungsbildung, die Versuche, den anders denkenden Rat mit schönen Worten oder kleinen Zusagen auf die eigene Seite zu ziehen. Laertes wollten Semjons Worte nicht aus dem Kopf gehen. Das war doch verrückt. Kranke Magie? Er konnte nur hoffen, dass Tanno diese Theorie nicht in der Sitzung vortragen wollte, aber er traute ihm das durchaus zu.

Fahrig legte er die weite Robe an, die alle Ratsmitglieder tragen mussten. Ein Symbol der Unschuld und Gleichheit, ein sichtbares Zeichen dafür, dass hier niemand versuchte, sich gegenüber den anderen zu erheben. Viel lieber wäre Dalius jetzt bei seiner Frau und den Kleinen gewesen. Da war nicht nur die Unruhe, die Tannos

Worte in ihm geweckt hatten; er war viel erschöpfter, als er es je zugegeben hätte. Nach dem Endspiel musste ganz einfach ein anderes Leben für ihn beginnen. Eine Zeit der Ruhe in ihrem Haus auf Sip. Mit den Kindern spielen, sie fördern. Mojica endlich das geben, was sie so sehr vermisste: eine gemeinsame Zeit! Als sich Laertes wieder auf das Jetzt und Hier besann, saß er bereits auf seinem angestammten Platz im großen Saal. Nur zwei Reihen vor sich konnte er Semjon Tannos breiten Rücken ausmachen. Tanno stand vor seinem Platz. Er machte keine Anstalten, sich zu setzen. Dalius stutzte. Wenn er sich nicht irrte, dann hatte Semjon keine Sprechzeit beim Ratsvorsitz beantragt. Was hatte er vor?

Die Frage beantwortete sich von selbst, als Semjon Tanno mit behäbigem Schritt auf das zentrale Rednerpult zuging. Ein Ratsdiener beeilte sich geflissentlich, den Wissenschaftler auf die Tagesordnung hinzuweisen, doch Tanno ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Mit sanftem Nachdruck schob er den armen Mann aus seinem Weg. Unter den Räten wurde Gemurmel laut – und leises Gelächter, denn man kannte Tannos exzentrische Auftritte nur zu gut. Langeweile kam bei ihm sicher nie auf.

Laertes war sicher einer der Wenigen, die wussten, dass Semjons Theorien sich am Ende stets als richtig erwiesen hatten. Er wollte sich nicht produzieren, das lag ihm ganz und gar nicht. Doch er sprach stets aus, was seine Überzeugung war.

Laertes sah, wie sich Tanno mit den Vorsitzenden besprach. Beide Seiten gestikulierten wild. Eine Hand voll Ratsdiener huschten von allen Seiten herbei, als Tanno seine großen Fäuste schließlich auf den wie einen Halbmond geformten Tisch krachen ließ, der ihn und die Vorsitzenden voneinander trennte. Aber sie mussten nicht einschreiten, denn schließlich ergaben sich die Präsidialen in ihr Schicksal. Tanno war nicht irgendwer. Wenn er ein Anliegen so kurzfristig vorbrachte, dann hatte das einen wichtigen Grund.

Einige der Ratsmitglieder sahen das wohl anders, denn vereinzelte Unmutsbekundungen wurden laut. Tanno ließ sich davon nicht beeindrucken.

Der Saal war so genial auf seinen Zweck hin konstruiert, dass der

jeweils aktuelle Redner vom zentralen Pult aus keinerlei akustische Verstärkung benötigte, um auch in der hintersten Reihe von jedem gehört zu werden. Tannos Stimme klang ruhig, als würde er eine Belanglosigkeit zu verkünden haben.

»Ich weiß, es ist ungewöhnlich, dass hier jemand einen primären Antrag stellt, ehe die Sitzung überhaupt eröffnet ist …«

»Hört, hört!« »Dann lass es doch einfach bleiben!« »Komm zur Sache, Tanno!« Die Kommentare aus dem Saal überging Semjon, als würde er sie

nicht registrieren. Ernst blickte er die Versammlung an. »Ich beantrage, diese Sitzung auf unbestimmte Zeit zu vertagen.« Die Zwischenrufe verstummten, denn das war nun wirklich

ungewöhnlich. »Sinn und Zweck der Versammlung sollte die Klärung der

rätselhaften Unglücksfälle auf den Raumschiffen sein«, fuhr Tanno fort. »Es haben sich jedoch nun ganz neue Ansätze ergeben, die zunächst intensiv verfolgt werden müssen. Es macht keinen Sinn, über gänzlich ungeklärte Sachverhalte zu diskutieren. Nutzen wir unsere Zeit sinnvoller, und versuchen wir alle, zur Klärung beizutragen. Ich bitte um Zustimmung für meinen Antrag.«

»Halt, Semjon Tanno – so nicht!« In der ersten Reihe hatte sich ein überaus angesehenes Ratsmitglied erhoben. »Nenne uns diese Sachverhalte. Ungeklärt oder nicht – wir haben ein Recht darauf.« Zustimmender Beifall erklang.

Tanno hielt inne, schien zu überlegen. Und Dalius fragte sich, warum sein alter Freund diese Situation herbeigeführt hatte. Logischer wäre es gewesen, der Sitzung fernzubleiben und den eigenen Theorien nachzugehen, um Lösungen zu finden.

Lösungen? Für was? Hatte Semjon ihn nun auch schon mit seiner wilden Vermutung infiziert?

Tanno wurde seiner Antwort enthoben. Mehrere Ratsdiener stürmten in den Saal, und einer von ihnen übergab dem Vorsitzenden eine Mitteilung.

Jede Farbe wich aus dem Gesicht des alten Mannes, der die eilig

gekritzelten Zeilen las. Offenbar fiel es ihm schwer, die Bedeutung der Worte zu realisieren.

Unruhe entstand im Saal. Wie ein Lauffeuer raste das Gerücht von Mund zu Mund.

Kaum jemand achtete noch auf die Worte des Vorsitzenden, der nun versuchte, sich Gehör zu verschaffen.

»Auf Sip ist es zu einer Naturkatastrophe gekommen. Man spricht von Beben und unkontrollierbaren Bränden … Ich schließe die Sitzung. Deyat stehe uns allen bei …«

Sip … die Kinder … Mojica … Laertes spürte seinen Körper nicht mehr. Er wollte aufspringen,

aus dem Saal laufen, um sich Informationen zu beschaffen. Er konnte es nicht.

Mojica! Irgendwer fasste ihn hart bei der Schulter. Es war Semjon Tanno.

Wortlos zog er den hageren Freund hoch, brachte ihn durch das Gewimmel der anderen Ratsmitglieder nach draußen.

Er sagte kein Wort. Doch in seinen Augen konnte Dalius es deutlich lesen:

Es beginnt! Die Waage neigt sich! Was Laertes nicht sah, nicht erkannte, war der Hass, der tief im

Inneren dieser Augen loderte. Hass, erwachsen aus Neid und Einsamkeit.

Sip und Rof. Zwei Monde, die einen Planeten umkreisen. Beide Trabanten waren exakt gleich groß. Masse, Umfang – es gab

keine Unterschiede, die von Belang gewesen wären. So viele bewohnte Welten die Uskugen in der tiefen Nacht des Alls auch entdeckt und besucht hatten, so einmalig war die eigene doch geblieben.

Zwei gleiche Monde. Das widersprach allem, was die Wissenschaft als Möglichkeit zu akzeptieren bereit war. Doch es blieb ihr schlicht nichts anderes übrig, denn wenn die Lebensspenderin Deyat abends ihre Bahn beendet hatte, dann standen diese Anomalitäten groß und

milde leuchtend am Nachthimmel. Magie und Wissenschaft – die alten Uskugen hatten jedem der

Monde eine dieser Säulen ihrer Zivilisation zugeschrieben. Und doch brach das Chaos nun nur über den einen der Trabanten

herein! Mojica brauchte ihre ganze Energie, um mit beiden Kindern auf

den Armen durch die Dachöffnung ins Freie zu entschweben. Sie hatte es geschafft, einen Teil des Daches durch ihre Magie verschwinden zu lassen. Einen kleinen Teil nur, doch das Loch reichte aus, um den drei Uskugen die Flucht zu ermöglichen.

Das Gewicht der Kinder drückte Mojica nach unten. Jetzt war noch nicht der Zeitpunkt gekommen, an dem sie dieser Schwäche nachgeben durfte. Ein Blick in die Tiefe zeigte ihr, in welcher Gefahr sie schwebten – und nur weil sie über der Gefahr schwebten, lebten sie überhaupt noch. Flammen schlugen aus den Fenstern des Hauses, der Riss auf der Terrasse vergrößerte sich mit jeder Sekunde, und der Fels hinter dem Haus brach mit rasender Geschwindigkeit immer weiter ab. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Bruchkante Mojicas Heim erreicht hatte.

Alles, einfach alles, was sie und Dalius sich hier aufgebaut hatten, würde für immer in der Tiefe versinken! Einfach so verschwinden.

Das Wimmern ihres Sohnes brachte Mojica zurück in die Realität. Der Kleine war aufgewacht, doch Schreck und Angst lähmten ihn regelrecht. Ganz anders sah das bei Jicada aus. Das Mädchen war hellwach und ganz bei der Sache.

»War ich das?« Mojica erschrak, konzentrierte sich aber sofort wieder, denn die

Levitation erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit. »Wie kommst du darauf? Sip ist krank. Und es ist nur Zufall, dass er gerade bei uns so große Schmerzen hat.« Sie wusste, wie dünn diese Geschichte war, die sie ihrer Kleinen auftischte, doch eine bessere fiel ihr jetzt nicht ein.

Jicada starrte auf das Haus, das nun schon zu einem großen Teil in Flammen stand.

»Das glaube ich nicht, Dey. Ich mache solche Sachen …

manchmal.« Mojica schwieg. Was hätte sie sagen sollen? Es war in der letzten

Zeit dreimal passiert, dass Jicada Spontanentzündungen ausgelöst hatte. Irgendwie brachte die Kleine das nun hiermit in Verbindung. Mojica stand eine Menge Arbeit bevor, wenn sie ihre Tochter in Einklang mit ihrer magischen Begabung bringen wollte. Doch zunächst ging es hier um ihr nacktes Überleben.

Die junge Uskugin konzentrierte all ihre verbliebene Kraft und brachte sich und die Kinder so weit wie nur möglich vom Haus fort. Sie drehte sich nicht um, als hinter ihr ein hässliches Krachen erklang. Mojica wollte nicht sehen, wie ihr Haus im Nichts verschwand.

Sajol schrie auf, verbarg sein Gesicht an der Brust seiner Mutter. Jicada gab keinen Ton von sich.

Mojica schaffte es, bis kurz vor die Ansiedlung zu schweben, die ihrem Heim am nächsten gelegen war. Dann sank sie kraftlos aus der Höhe zu Boden. Schreie drangen an ihre Ohren, der wilde Schein von tobenden Flammen, der Geruch von brennendem Holz und Fleisch – alles griff gleichzeitig nach ihren Sinnen.

Ein großer Teil der Häuser brannte lichterloh. In Panik hatten sich die meisten der Bewohner an den Rand der Siedlung geflüchtet. Mojica sah lebende Fackeln, die zusammenbrachen, ehe ihnen jemand zu Hilfe kommen konnte. Einige wurden auf Tragen zum Dorfrand getragen. Die meisten von ihnen würden die nächsten Minuten nicht überleben – Mojica sah entsetzliche Verbrennungen. Die Leute waren von den Flammen wohl vollkommen überrascht worden.

»Wir müssen in die Wälder! Kommt, alle mir nach!« Mojica verschaffte sich Gehör. »Halt, wartet! Ihr begeht einen

Fehler. Das Feuer wird auf den Wald übergreifen. Das ist euer Tod!« Sie schaute schnell zu ihren Kindern hin. Sajol hockte apathisch

auf dem Boden, Jicada schien sich am hellen Feuer nicht satt sehen zu können. In diesem Moment erschien Mojica ihre Tochter fremd, als habe sie das Mädchen nie zuvor gesehen.

»Und wo sollen wir hin? Wenn du so schlau bist, dann …«

Mojica unterbrach den Mann, der wild gestikulierend gesprochen hatte. »Ich bin nicht schlauer als ihr, aber ich bin nicht blind. Wir müssen uns irgendwo in Sicherheit bringen, bis Hilfe von Uskugen kommt. Oder bis dieser Wahnsinn aufhört. Also – wer hat eine Idee?«

Es dauerte eine Weile, dann drang eine zögerliche Stimme aus der Menge. »Das Aquaton. Vielleicht sind wir dort vor den Flammen sicher.«

»Also los. Wer kennt den Weg?« Mojica hob ihre Kinder hoch. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie die Kleinen so würde tragen können. Doch wenn sie sich richtig erinnerte, dann war das Aquaton nicht allzu weit von hier entfernt. Sie war erst einmal dort gewesen. Zusammen mit Dalius und den Kindern. Dalius … Sie zwang sich, jetzt nicht an ihren Mann zu denken. Er würde kommen, würde sie retten.

Mojica hoffte, dass sie diese Wunschvorstellung nicht gänzlich täuschte.

Das Aquaton bestand aus drei Kuppelbauten. Die beiden kleineren Kuppeln waren eine Mischung aus

Freizeitpark und holographisch-magischer Bibliothek, die den Bewohnern des Mondes einen Einblick in die Vergangenheit von Sip und Rof ermöglichte. Soweit die rückvollziehbar war, denn die Ursprünge der Monde lagen nach wie vor im Dunkeln.

Die dritte und größte Kuppel war als gewaltiges Aquarium angelegt, in dem sich die Unterwasserwelt Uskugens tummelte; mehr noch – längst ausgestorbene Arten konnte man hier bewundern, die durch Magie wiedererschaffen waren. Lebensechte und perfekte Illusionen, die Jung und Alt gleichermaßen begeisterten.

Doch das war nun unwichtig geworden. Es war die Nähe der großen Wassermengen, die den Dorfbewohnern das Gefühl von Sicherheit vermittelte. Und sie waren da nicht die Einzigen. Aus allen Richtungen drängten die Mondbewohner zum Aquaton. Schon

auf den ersten Blick erkannte Mojica, dass längst nicht alle darin Unterschlupf finden konnten.

Schon auf dem Weg hierher hatte sie von allen Seiten die wildesten Geschichten zu hören bekommen. Die reichten von einem lokalen Beben, das sich ausschließlich auf diese Gegend bezog, bis hin zur Apokalypse, die den ganzen Mond umspannte. Die Wahrheit war in solchen Fällen zumeist irgendwo in der Mitte zu finden.

Die Erde bebte, als Mojica mit ihren Kindern in den großen Kuppelbau drängte. Und in diesem Augenblick wurde ihr erst bewusst, dass sie sich mit den anderen Flüchtlingen von der einen Naturgewalt – dem Feuer – nur zur nächsten gerettet hatte: Unglaubliche Wassermassen umschlossen die Uskugen. Und es war nur eine dünne Wand aus schützender Energie, die sie davon trennte, ganz ähnlich den Schutzschirmen, die Uskugens Raumschiffe vor Angriffen abschottete.

Das Beben des Mondbodens war auch im Inneren des Aquatons zu spüren. In den Gesichtern um sie herum sah Mojica Erleichterung. Die Leute glaubten sich hier sicher. Eine trügerische Sicherheit.

Das Grummeln unter ihren Füßen schwoll bedrohlich an. Dennoch hörte Mojica von irgendwoher fröhliches Lachen. Sie fühlen sich sicher. Was für ein Selbstbetrug …

Jicada zupfte am Mojicas Kleid. »Dey, sie werden alle ertrinken, wenn der Blitz kommt.«

Mojica ging langsam in die Knie, bis sie auf Augenhöhe mit ihrer Tochter war. Sie konnte nicht glauben, mit welcher Überzeugung Jicada gesprochen hatte. »Aber wie kommst du denn darauf? Mein Schatz, warum sagst du solche Sachen?«

Sajol drängte sich an die Seite seiner Schwester, als würde er nur dort wirklich geschützt sein. Die beiden hatten kein Wort miteinander gewechselt, doch Mojica war sicher, dass die Zwillinge auf einem anderen Weg miteinander kommunizierten.

Jicada lächelte ihre Mutter lieb an. »Weil ich es weiß.« Ihre kleine Hand streichelte unbeholfen über die Wange der Mutter, so als wolle sie Mojica trösten. »Aber du musst keine Angst haben.«

Der grelle Blitz blendete die junge Frau nur einen Atemzug später. Und um sie herum war nur noch Chaos und der nasse Tod.

Semjon Tanno hatte den Gleiter vor dem Wissenschaftszentrum zum Stoppen gebracht.

Auf den Straßen Uskugen Deyats herrschte eine seltsame Mischung aus aufkeimender Panik und Unglauben. Kaum jemanden, den die Nachrichten über die Katastrophe auf Sip noch nicht auf die eine oder andere Art und Weise erreicht hätte. Die Sender, die nicht nur Uskugen, sondern auch auf den Monden empfangen werden konnten, berichteten über nichts anderes mehr.

Live-Bilder waren Mangelware. Ein schnelles Reagieren mit Kamerateams, die vor Ort die Lage sondieren und übermitteln konnten, war im Repertoire der auf Kultur, Kunst und Unterhaltung eingeschossenen Sender überhaupt nicht vorgesehen.

Uskugen Deyat … Sip und Rof … ihr ruht so sicher und gelassen … Das war bis zu diesem Tag nicht nur der schon beinahe rituelle

Eröffnungssatz, der jeder Ratssitzung Uskugens vorausging, der Spruch, der das sicher geglaubte Weltbild einer ganzen Zivilisation repräsentierte. Er stand auch für eine Naivität, die sich nun rächte. Notfallpläne, die sofort griffen, existierten nicht.

Im Inneren des Zentrums liefen alle Informationen zusammen. Und als Tanno die Zentrale betrat, wurde er sofort von allen Seiten bestürmt. Jedem schien klar zu sein, dass der Rat jetzt die Fäden in die Hand nehmen würde. Laertes blieb an Semjons Seite. Die Sorge um seine Familie stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Tanno wimmelte die Meute ab, die sich um ihn scharte. »Immer der Reihe nach. Ich will mir erst einen Überblick verschaffen. Coin, ein kurzer Bericht, aber wirklich kurz!«

Der angesprochene Wissenschaftler arbeitete seit Jahren eng mit Tanno zusammen. Er verzog keine Miene, als er die Aufforderung vernahm. Diesen Umgangston war er vom Rat gewohnt.

»Die Beben beschränken sich – zumindest bisher – ausschließlich auf den Nordkontinent Sips. Das Zentrum befindet sich leider

ausgerechnet in den intensiv besiedelten Gebieten. Genaue Schadensberichte sind noch nicht durchgekommen. Aber es ist wohl mit einer großen Anzahl von Todesfällen zu rechnen.«

Dalius Laertes stöhnte auf, doch der Mann ließ sich nicht aus seinem Konzept bringen.

»Die meisten Tonbild-Verbindungen sind gestört. Daher wissen wir nicht, wie sich die Lage exakt darstellt. Vier Rettungsraumer mit schwerem Gerät sind bereits in Richtung Sip gestartet. Aber in den betroffenen Gebieten werden sie nicht landen können. Die verfügbaren Fähren und die Pyet-Flotte werden mit medizinischem Personal und …«

Tanno winkte ab. »Schon gut. Geben Sie mir die ermittelten Daten auf das Display in meinem Raum.« Mit Laertes hetzte er in das Zimmer mit dem Rundumbildschirm. Minutenlang vertiefte Semjon sich in die Datenflut, die dort auf ihn wartete, während Dalius versuchte, eine Sprechverbindung mit Uskugen Deyats größtem Raumhafen zu bekommen. Es gelang ihm nicht – immer wieder landete er in einer Warteschleife, aus der man ihn dann letztlich hinauswarf.

Semjon Tanno wandte sich seinem alten Freund zu. »Du willst nach Sip.« Es war keine Frage, nur eine Feststellung.

»Das wird selbst dir als Rat und Ventur-Star kaum gelingen.« Semjons Blick wurde hart, als seine Faust krachend auf die Tischplatte schlug. »Siehst du es nun auch? Hast selbst du nun endlich verstanden, was ich seit einer Ewigkeit versuche, dieser Welt beizubringen? Wir maßen uns an, die Geschicke anderer Zivilisationen lenken zu wollen, mischen uns ein, beeinflussen den Lauf der Dinge. Die von uns protegierten Rassen – wer sagt uns denn, dass aus ihnen nicht irgendwann einmal die Geißeln des Weltalls werden, nur weil wir ihr Überleben ermöglicht haben? Und wir? Wir verlassen uns blind auf unsere Säulen, ohne auch nur daran zu denken, dass sie irgendwann einmal einstürzen könnten.«

Laertes hörte Semjons Worte, doch in seinem Denken war nur Platz für den einen Gedanken: Er musste sofort zu seiner Familie.

Semjon wies auf einen Messwert, der sich beinahe im

Sekundentakt erneuerte. »Schau hin, Dalius, schau genau hin! Die Waage – sie neigt sich.«

Laertes versuchte sich zu konzentrieren. Was dort angezeigt wurde, war allerdings Anlass genug, in große Panik zu verfallen. Es waren astronomische Messungen, die von Satelliten erstellt und nach Uskugen gesandt wurden, die weit außerhalb des Systems des Planeten und seiner beiden Monde platziert waren.

Ausreichend Messpunkte also, um zu einem präzisen Ergebnis kommen zu können.

Und das war eindeutig. Die Entfernung zwischen Uskugen und Rof war konstant. Die Entfernung zwischen Uskugen und Sip – es waren nur 0,07

Prozent. Doch die kamen einer beginnenden Apokalypse gleich, denn Sip, der Mond der Magie, war um diesen Wert in Richtung der Planetenoberfläche gesunken!

Laertes konnte den Blick nicht mehr von diesen Zahlen wenden. Wenn das nicht gestoppt wurde, gab es keine Rettung mehr für

diese Welt und ihre Trabanten. Dann würde die Zivilisation der Uskugen sich selbst ausradieren. Vollständig und endgültig …

Der Orsa war das größte unter Wasser lebende Tier, das in Uskugens Meeren je existiert hatte.

Der gutmütige Algenfresser konnte eine Länge von bis zu 50 Fuß erreichen und hatte mit seinem Gewicht und seiner Masse keine natürlichen Feinde. In lange vergangenen Zeiten waren die Orsas begehrte Jagdbeute der Uskugen gewesen, denn ihr zartes Fleisch galt als Delikatesse. Heute schützte man die Giganten, hegte und pflegte sie, damit sie in ihrer Einzigartigkeit und vollen Schönheit auch den nachfolgenden Generationen erhalten blieben.

Zwei von ihnen lebten in der Gefangenschaft des Aquatons, was vielen Naturschützern hier und auf Uskugen nicht gefiel. Es hatte heftige Proteste und sogar eine Eingabe beim Rat gegeben. Eine endgültige Entscheidung über die Zukunft der beiden Tiere war bis

heute jedoch nicht gefallen. Und sie hatte sich von einer Sekunde auf die nächste auch für

immer erübrigt. Als die Explosion die unterirdisch angelegte Energiezentrale des

Aquatons zerfetzte, wurde für den Bruchteil einer Sekunde der Schutzschirm so heftig überladen, dass seine fehlgeleiteten Energien in vollem Umfang in das Wasserreservoir schlugen. Kaum eines der herrlichen Tiere dort überlebte diesen Augenblick. Die wenigen, die von dem Elektroschlag nicht sofort getötet wurden, sollten ebenfalls nicht überleben.

Denn auf einmal gab es keinen trennenden Schirm mehr. Die Wassermassen schwappten in einer einzigen Woge in die Tiefe, dorthin, wo die unzähligen Flüchtlinge auf Rettung warteten, dicht an dicht gedrängt, ängstlich, und doch voller Hoffnung.

Wie still der Tod doch sein konnte. Mojica registrierte, was um sie herum geschah. Fest umklammerte

sie ihre Kinder und sah wie eine weit entfernte Zuschauerin dem Desaster zu, das sich rings um sie herum abspielte. Sie war gelähmt vor Entsetzen, und doch schien das alles Lichtjahre weit von ihr entfernt stattzufinden.

Als der Blitz aufzuckte, legte Mojica ihren Kopf weit in den Nacken. Wie ein gläserner Block – in all seiner tödlichen Endgültigkeit doch wunderschön anzuschauen – kam das Wasser mit rasender Geschwindigkeit auf sie zu und traf die Flüchtlinge mit Urgewalt.

Mojica sah, wie sie starben. Wie sie von dem Wasserdruck regelrecht zerquetscht wurden oder

ertranken. Sie sah, wie die Wasserwesen die Uskugen unter sich begruben –

ein Orsa schlug nur wenige Schritte neben ihr auf den Boden, und Mojica war, als blickten seine toten Augen sie anklagend an.

Es gab keine Schreie, keine Hilferufe. Jedes Geräusch fraßen die Wassermassen. So still also konnte man sterben …

Und warum lebte sie dann noch? Warum spürte sie die Kinder in ihren Armen? Warum konnte sie atmen, hören, fühlte die Wärme

der kleinen Körper? »Dey, ich habe Angst.« Sajols Stimme war ein Wispern, kaum

hörbar, doch inmitten dieser grässlichen Stille, die in dem nassen Grab herrschte, kam sie Mojica wie ein Donnerschlag vor. Und sie weckte die junge Frau aus ihrer Erstarrung. Sie fühlte ganz plötzlich ihre magische Kraft, die mit einem weiteren Magiepotential gekoppelt war.

Dem ihrer Tochter! Jicadas Augen waren auf den toten Orsa gerichtet. Mojica las in

ihnen Entsetzen und Trauer, denn ihre Tochter liebte die Riesen der Meere über alles. Dieses gutmütige Wesen – Jicada konnte den Blick nicht von dem Kadaver wenden. Dennoch ließ ihre Magie nicht für einen Augenblick nach.

Mojica sah die schützende Krafthülle, die um sie und ihre Kinder herum leuchtete. Alleine hätte sie ein solches rettendes Gebilde niemals errichten können, wahrscheinlich nicht einmal im Verbund mit Dalius, der ein starker Magier war. Und sie hatte die Hülle ja auch gar nicht mit ihrem Willen erschaffen – Jicada hatte die Magie ihrer Mutter ganz einfach angezapft, bediente sich dieser zusätzlichen Kraftreserve.

Mojica schwankte zwischen Erleichterung und Entsetzen. Ihr Kind barg Kräfte in sich, die es auf Uskugen so sicher zuvor noch nie gegeben hatte. Kräfte, die niemals bekannt werden durften. Das wurde der Uskugin in diesem Augenblick klar.

Der Rat würde das Kind sofort unter seine Fittiche nehmen. Was in Jicada schlummerte, konnte zum Wohl dieser Welt eingesetzt werden. Oder zu ihrem Übel …

»Jicada?« Die Kleine wandte ihr Gesicht wie in Zeitlupe der Mutter zu. »Kleine, wir müssen hier weg. Das ganze Aquaton wird zusammenbrechen. Schaffen wir das?«

Jicada nickte wie in Trance. Dann ging ihr Blick wieder zu dem Orsa. Der Tod des Tieres hatte sie tief getroffen. Die Massen des Wassers hatten in der Zwischenzeit ihren Weg gesucht und gefunden. Die Tore des Aquatons hielten ihnen nicht länger stand. Als sie aus ihren Verankerungen gerissen wurden, gab die

Kuppelkonstruktion nach. Ohrenbetäubend rieben die stählernen Bauteile sich aneinander,

als sie ihren Halt verloren und in die Tiefe rasten. Ein vorne zugespitzter Träger, der mehr als 20 Fuß lang war,

bohrte sich mit einem hässlichen Schmatzgeräusch wie ein gigantischer Speer in den toten Körper des Orsas, spießte ihn auf und nagelte ihn an den Boden.

Jicada schrie! Das Kind schlug beide Hände vors Gesicht und schrie, wie Mojica

es bei ihr noch nie zuvor gehört hatte. Jicada presste ihr Gesicht an die Brust der Mutter – und die fühlte, dass der magische Schutz wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel.

Dann waren sie ungeschützt. Den einstürzenden Massen hilflos ausgeliefert. Die junge Frau hob ihre Kinder hoch und begann zu laufen. Der

Boden war nass, glitschig. Überall lagen Leichen, die ihren Lauf bremsten. Ich schaffe es nicht – unmöglich!

Ein Schlag traf ihren ungeschützten Kopf. Sie taumelte, knickte ein, fiel hin.

Die Kinder. Ich muss ihnen helfen … Sie spürte noch, wie warmes Blut über ihr Gesicht lief. Ihr Blut –

nicht das der Zwillinge. So ein Glück … sie sind sicher unverletzt. Der Schmerz raste nur kurz durch ihr Bewusstsein. Dann war da

nichts mehr.

3. Der Weg 

Ort: Uganda, Afrika Zeit: Gegenwart

Vom Eingang der Kammer her drangen leise klatschende Geräusche zu Nicole und van Zant.

Seit sich Zamorra und Dalius Laertes geistig miteinander verbunden hatten, war sicher gut eine Stunde vergangen. Nichts hatte sich für die Wachtposten verändert. Beide Männer standen nach wie vor dich an dem Symbol, das dort an der Wand zu sehen war. Sie waren nicht ansprechbar, zeigten keine körperlichen Reaktionen, die Nicole hätten beunruhigen können.

Ihre Drohung gegen Laertes waren keine leeren Worte gewesen. Das Beil in ihrer Hand würde sie ohne zu zögern einsetzen, wenn sie nur die geringsten Anzeichen für eine Gefahr sehen sollte – für eine Gefahr, die sich gegen Zamorra richtete.

Artimus van Zant wandte sich in Richtung Ausgang. Auf Nicoles fragenden Blick hin schüttelte er nur den Kopf. Er fühlte sich hier sowieso überflüssig – also war er regelrecht froh, sich um diese seltsamen Geräusche kümmern zu können.

Die Lichtverhältnisse waren eher mager zu nennen, doch sie reichten aus, um Artimus einen halbwegs ordentlichen Einblick in den Gang zu gewähren, der bei den Treppenstufen endete, die an die Oberfläche führten.

Van Zant grinste, als er die Lärmquelle ausmachte. Schon bei seinem ersten Besuch in diesen Katakomben hatte sich dieser Bursche am weitesten von allen Gorillas an die seltsamen Fremden herangewagt. Es war nicht der Silberrücken, sondern einer seiner Nachkommen. Wenn van Zant sich richtig erinnerte, handelte es sich um das wohl jüngste Mitglied von Familie Silberrücken. Und auf

jeden Fall um ein besonders neugieriges und mutiges Exemplar. Während die anderen an der Oberfläche in sicherer Entfernung

auf das Auftauchen der Zweibeiner warteten, konnte dieser Kerl es hier ganz einfach nicht so lange aushalten.

Okay, einen Neuerer gab es schließlich immer mal wieder. Und im Grunde fand van Zant den Kerl richtig nett. Doch es half nichts. Er musste dem Tatendrang des Affen einen Riegel vorschieben. Es konnte nicht sehr lange dauern, bis seine Mutter ihn suchen kam. Und vielleicht brachte sie dann ein paar Tanten oder Onkel des Ausreißers mit.

Einen Affenaufstand konnten sie hier aber nun wirklich nicht gebrauchen.

Van Zant hielt sich in Deckung. Der Kleine war ganz mit sich und seiner großartigen Forschungsreise beschäftigt. Jeder Stein, der hier auf dem Boden lag, musste eingehend begutachtet werden, ehe man ihn achtlos gegen die Wand warf. Langsam nur näherte sich der Minigorilla der Stelle, die Artimus als Deckung nutzte.

Dann jedoch erlebte der Marco Polo der Sippe sein blaues Wunder, das ihn erheblich erschüttern sollte.

Van Zant war sich klar, was seine Doktor-Kollegen für eine Videoaufzeichnung der folgenden Szene gegeben hätten. Doch diesen Spaß konnte und wollte er denen nicht gönnen.

Keine fünf Schritte vor van Zants Deckung stoppte der Menschenaffe. Auch wenn er noch im Babyalter war, so funktionierte seine Witterung doch schon recht ordentlich. Da vorne war irgendetwas. Und das roch höchst spannend.

Eine Sekunde später änderte er seine Meinung grundlegend. Artimus van Zant, Doktor der Physik und weltweit anerkannter Spitzenmann auf diesem und anderen Gebieten, sprang wie ein Derwisch aus seinem Versteck. Wild fuchtelte er mit den Armen in der Luft herum, seine Augen rollten Furcht erregend. Und was er da laut und mit tiefer Stimme von sich gab, war auch nicht unbedingt standesgemäß.

Irgendetwas wie: »Baaaalalalallalalallbububububububuiiiiihuiiihuiii!«

Der kleine Gorilla erstarrte zur Salzsäule. Kraftlos baumelten seine langen Arme an ihm herab, seine Augen schienen aus den Höhlen fallen zu wollen, und sein Maul war weit aufgerissen vor Schrecken und Entsetzen.

Artimus van Zant lachte laut los. Das war ja wie in einem Comic! Von dem neugierigen Pelzknäuel war im nächsten Augenblick

nichts mehr zu sehen. Der Physiker kehrte grinsend in die Kammer zurück. Von Seiten

der Gorillas war vorerst wohl keine Störung mehr zu erwarten. »Dem Ingenör ist nichts zu schwör. Und gehen die Ideen aus, dann lässt er halt den Kasper raus.« Artimus war so sehr mit seinem Auftritt zufrieden, dass er sich diesen Blödelreim leise vorsagte.

Der Sinn dafür verging ihm in dem Moment, in dem er erkannte, was in dem runden Raum in der Zwischenzeit geschehen war.

Das Erste, was van Zant sah, war Nicole Duvals verblüfftes Gesicht, in dem sich Hilflosigkeit widerspiegelte. Ihrer rechten Hand war das Beil entglitten, mit dem sie Laertes in Schach halten wollte.

Von dem Vampir existierte nur noch dessen Schatten, der sich überdimensional groß hinter Zamorra wölbte. Der Professor hingegen war auf die Knie gegangen, hatte beide Hände fest gegen die Schläfen gepresst. Ganz so, als wolle er das, was in seinem Bewusstsein geschah, aus sich herauspressen.

Die ganze Szenerie schien wie eingefroren, so unwirklich, dass sie nicht in dieser Welt hätte existieren sollen, sondern anderswo. Irgendwo weit entfernt, in anderen Zeiten und Räumen.

Vorsichtig versuchte van Zant Zamorra zu berühren, doch seine Hand fuhr durch ihn hindurch. Zamorra war nicht wirklich hier. Und mit Laertes' Schatten war das nicht anders. Was Nicole und er hier sahen, war nur ein Bild, eine Projektion, ein flüchtiger Eindruck von den beiden Männern, die sich jetzt ganz woanders befanden.

Und zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte sich Nicole Duval hilf- und ratlos.

Ihr blieb nur eines zu tun. Warten.

Es gab kaum etwas, das sie mehr hasste. Doch nun hatte sie die Gelegenheit, sich in dieser Disziplin zu

üben.

»Lass los. Nicht so eng. Du erdrückst mich, reisst mich mit dir fort.«

»Ich kann nicht anders. Ich muss. Es sind … ja, siehst du es denn nicht? Sie sterben doch! Lass mich zu ihnen.«

»Du allein kannst dort nicht hin. Du bist dort – hast du das vergessen? Und ich will es nicht.

Lass Los!« »Nur noch ein Stück. Du darfst es mir nicht verwehren. ich habe

dich um Hilfe gebeten. Also gewähre sie mir nun auch. Noch können wir etwas tun. Etwas ändern, verhindern. Es muss funktionieren!«

»Du darfst mich dazu nicht zwingen. Das würde fatale Folgen haben.«

»Ich zwinge dich nicht. Ich bitte dich. Ich bitte dich noch einmal. Hilf mir jetzt!«

»Spar dir das Bitten. Es ist zu spät, um jetzt noch umzukehren. Du hast deinen Willen bekommen. Nun sage mir, wie es weitergehen kann. Ich warte.«

»Ich hoffe, dass ich den richtigen Weg gewählt habe. Ich hoffe es. Sieh, wir sind schon angekommen.«

4. Sip 

»Ein Körper kann krank sein und dennoch funktionieren. Genau bis zu dem Augenblick, in dem das Unvorhergesehene geschieht. Die Winzigkeit, der lächerlich kleine auslösende Faktor. Plötzlich ist er da! Und alles, was zuvor doch gut, so gesund und sicher erschienen ist, bricht mit einem einzigen Schlag zusammen. Wollen wir warten, bis unserer Rasse dies geschieht? Niemand will es hören, doch die Balance wird nicht ewig bestehen.« Semjon Tanno – Auszug aus seiner Rede vor dem Rat – (Zeichen 79-006.556 – Protokoll 90.213.001)

»Ich kann –« »Wo sind –« »meinen Körper –« »wir jetzt?« »nicht bewegen … ich, wir – bin, sind …« Zamorra konzentrierte sich mit aller Kraft. Dennoch gelang es ihm

nicht, er blieb bewegungsunfähig. Er bündelte seinen Willen, versuchte zumindest die Finger der rechten Hand zu steuern. Sein Wille?

»Ich …« »Wir! Gewöhne dich daran. Blocke es nicht ab. Das würde die ganze

Situation nur verschlimmern. Dein Bewusstsein versucht mit aller Macht, das meinige abzustoßen. Du musst das beenden. Schnell, sonst werden wir getrennt.«

Zamorra begriff, was nun Stand der Dinge war. Nach wie vor waren er und Laertes geistig miteinander

verbunden, doch in der Zwischenzeit hatte sich der Status radikal verändert. Sie waren nicht nur ein gekoppeltes Bewusstsein, sie teilten sich nun auch einen Körper – Zamorras Körper!

… werden wir getrennt … Für einen Moment fragte sich der Parapsychologe ernsthaft,

warum ausgerechnet er dagegen sein sollte. War es nicht exakt das, was er wollte? Die ganze Geschichte war vollkommen aus dem Ruder gelaufen. Laertes' verschüttete Erinnerungen hatten sich mit einer solchen Intensität freigeschwommen, dass auch der Vampir nicht mehr Herr der Situation war.

Nicht minder hilflos als der Professor hatte er sich in den Strudel ziehen lassen, der sie … ja, wohin gebracht hatte?

Langsam kehrte Zamorras Körpergefühl zurück. Er lag bäuchlings auf kahlem Boden, der völlig aufgeweicht war. Die Feuchtigkeit drang durch Zamorras Kleidung, nistete sich in seinen Armen und Beinen ein. Er musste aufstehen, denn das war bestimmt nicht der geeignete Platz, an dem er seine ganze Verwirrung sammeln und verarbeiten konnte.

Das Aufstehen gelang ihm erstaunlich leicht. Zamorra sah sich um. Der Brandgeruch war ihm längst in die Nase gestiegen, und in der Dunkelheit waren die zahllosen Feuer nicht zu übersehen. Mehr aber konnte er von der Umgebung nicht erkennen. Er stand auf einem gut ausgebauten Weg, dessen Belag eine angenehme Wärme ausstrahlte und bei jedem Schritt mitzufedern schien. So mochte es sich anfühlen, wenn man barfuß auf dem Rücken eines riesigen Fisches spazieren ging.

»Da liegst du nicht ganz falsch. Diese Straßendecke besteht aus einer künstlichen Masse, die organische Komponenten beinhaltet. Doch – du bist meiner Bitte noch nicht nachgekommen.«

Die Formel für diese Beschichtung sagte Zamorra nichts – doch er konnte sie vor seinem inneren Augen sehen. Die Verbindung, die zwischen Laertes' und seinem Bewusstsein existierte, ließ also Übergriffe auf Teile des Wissens des jeweils anderen zu.

Die ganze Situation missfiel dem Dämonenjäger zutiefst. Doch es war, wie es nun einmal war. Und es machte vermutlich

wenig Sinn, wenn sich das Doppelbewusstsein selbst zu bekämpfen versuchte. Zamorra berührte instinktiv Merlins Stern, der nach wie vor an der Kette vor seiner Brust hing. Das Amulett vibrierte sanft, doch es griff in keinster Weise ein.

Der Parapsychologe konzentrierte sich, schloss die Augen, damit die lodernden Feuer ihn nicht übermäßig ablenken konnten. Langsam versank er in sich selbst. Der mentale Block, der ihn vor geistigen Angriffen schützte, war von Zamorra deaktiviert worden, ehe er die Verschmelzung mit Laertes eingegangen war. Das war kein einfacher Vorgang gewesen, denn es bedurfte ganz spezieller Imaginationen, die der Professor in sich aufrufen musste. Zusätzlich gab es eine Reihe von Schaltworten, die miteinander verwoben werden mussten, erst dann konnte Zamorra diesen so wichtigen Schutz außer Kraft setzen.

Doch nachdem sich die ganze Sache verselbstständigt hatte, war ein Teil dieses Blocks von selbst wieder aktiv geworden und versuchte nun, Laertes auszuschließen. Im Grunde war Zamorra damit nicht unzufrieden, denn es zeigte ihm, dass er nie ganz ungeschützt war. Doch nun deaktivierte er diese Funktion erneut.

»Sag du mir, wo genau wir sind. Und wann wir sind.« Er hatte die Worte flüsternd ausgesprochen, auch wenn das sicher nicht notwendig war. Der Gast in seinem Kopf hätte ihn auch so verstanden. »Und dann sag mir auch gleich noch, wie wir zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren können.«

Eigentlich hatte er mit einer nur zögerlichen Antwort gerechnet. Doch er musste keine Sekunde warten, bis sich die Worte in seinem Bewusstsein bildeten.

»Wir sind auf Sip. Du hast es schon ganz richtig vermutet. Und wann? Wie soll ich dir das sagen können? Wie lange ist es her, seit dies alles geschah.«

Laertes versuchte Zamorras Körper zu kontrollieren – unbewusst und sicher, ohne den Professor damit brüskieren zu wollen. Er war einfach nur bestrebt, so viel wie möglich von seiner Umgebung zu sehen. Zamorra schloss demonstrativ die Augen.

»Verzeih – das wird nicht wieder vorkommen. Selbstverständlich hast du

die volle Kontrolle.« Zamorra ließ das unkommentiert. Der Vampir fuhr fort: »Ich muss meine Kinder retten, meine Frau.

Bitte, das musst du verstehen. Danach werden wir einen Weg zurückfinden. Ich weiß, wie wir es schaffen können. Aber bitte – nur du kannst Mojica und den Kleinen jetzt noch helfen.«

Zamorra hatte verstanden. Und er begriff, dass Dalius Laertes zwar dabei war, die Ketten zu sprengen, die um seine Vergangenheit lagen, aber dennoch nicht wusste, wie diese tatsächlich weiter verlaufen war. Für ihn war das wie ein Film aus längst vergangenen Zeiten, von dem er nicht einmal ahnte, ob es sich dabei um ein Drama oder eine Komödie handelte.

Happy End – oder tragischer Ausgang? Das Ende war nach allen Seiten hin offen. »Ich erkenne den Weg. Er führt zum Aquaton. Der Boden ist nass, also

ist das Gebäude bereits in sich zusammengefallen. Bitte, wir müssen uns beeilen.«

»Schon gut, ich habe begriffen.« Zamorra war wieder völlig Herr über seinen Körper.

Niemand kam ihm aus der Richtung entgegen, in der das Aquaton stand. Gestanden hatte, korrigierte er sich selbst. Also gab es keine Überlebenden? Zamorra bemühte sich, diesen Gedanken zu unterdrücken. Doch Laertes dachte da ganz ähnlich. Zamorra spürte die Verzweiflung bei dem Vampir.

Und er fühlte, wie der Funke an Resthoffnung langsam zu erlöschen begann.

Die Fluten hatten sich mit solch einer Kraft ihren Weg gesucht, dass einige der Leichen den abschüssigen Weg bis weit nach unten gespült worden waren.

Zamorra war solche Anblicke gewöhnt, doch das bedeutete noch lange nicht, dass sie ihn nicht dennoch berührten. Es waren unglaublich viele Kinder unter den Opfern. Und jedes tote Kind versetzte ihm einen heftigen Stich mitten hinein ins Herz. Ganz

gleich, um welche Welt es sich auch immer handelte, die Kinder waren stets und überall die Hauptleidtragenden.

Und wie oft mussten sie sterben, weil sie in ihrer Unschuld und Liebe ihr ganzes Vertrauen in die Erwachsenen setzten.

Bei jedem Schritt musste Zamorra darauf achten, nicht auf diesem rutschigen Untergrund auszugleiten. Eine anstrengende Angelegenheit. Dennoch – mit jedem neuen Schritt spürte er, wie sich in ihm etwas veränderte. Er konnte es nicht benennen, aber es hatte etwas von einem Akku, der sich mit neuer Energie auflud.

»Was ist das? Hast du eine Erklärung?« Laertes' Bewusstsein zögerte einen kurzen Moment mit der

Entgegnung. »Die Kraft Sips. Du spürst sie zum ersten Mal, daher erlebst du sie so intensiv.«

Zamorra schlug einen Bogen um einige Tierleichen, die ihm im lebenden Zustand alles andere als geheuer gewesen wären. Die Wasserwelt Uskugens hatte wirklich seltsame Blüten getrieben.

»Erklär mir das.« Er hoffte, Laertes so ein wenig ablenken zu können. Das Vampirbewusstsein war im höchsten Maße erregt. »Das ist doch nur ein Mond, ein Trabant, wie man ihn überall im Weltall vorfinden kann. Oder?«

Laertes musste sich zusammenreißen, um Zamorra antworten zu können. Zu groß war die Angst um seine Familie, die hier irgendwo vielleicht um ihr Leben rang.

»Nein. Es ist keine Legende, kein Mythos, wenn die Uskugen von Sip als Mond der Magie sprechen. Sip ist der Ursprung unserer magischen Begabung. Ohne ihn hätte sich mein Volk vielleicht ähnlich deiner Rasse entwickelt.«

Zamorra hatte schon zu viel erlebt, um Dalius' Worte als reine Spinnerei abzutun. Dennoch hatte er damit seine Probleme. »Und was ist dann Rof?«

»Nichts. Er ist nichts weiter als Sips Zwilling. Auf ihm haben die Wissenschaftler ihre Forschungsstätten errichtet. Aber es geht nichts von ihm aus, was mit Sip zu vergleichen wäre. Die zwei sind wie alte Freunde, die ohne einander nicht denkbar wären, obwohl sie im Grunde nichts gemein haben.«

Wie Semjon Tanno und Dalius Laertes. Zamorra blockte diesen Gedankengang so gut es ging, doch es

wäre nicht nötig gewesen, denn Laertes war viel zu sehr mit dem Beobachten der Umgebung beschäftigt.

Zamorra erinnerte sich der Worte Tannos, die er in Laertes' Erinnerungsfetzen von dem Wissenschaftler gehört hatte. Immer wieder hatte der von einer Waagschale gesprochen, die sich neigte. Von einer kranken Magie. Gemeint hatte er damit sicher diesen Mond.

Zamorra hatte keine logische Erklärung, wie ein riesiger Gesteinsbrocken als Magiespender funktionieren sollte. Die Uskugen hatten sich offenbar nie bemüht, dies zu erforschen. Ein so hoch entwickeltes Volk, und doch ließen sie das größte Geheimnis ihrer Rasse völlig im Dunkeln, versuchten nicht, es zu ergründen, ans Licht zu ziehen?

Das war seltsam. Diesmal hatte Laertes den Gedankengang des Dämonenjägers

mitgekriegt, und er meldete sich in Zamorras Bewusstsein. »Du irrst, Zamorra. Es hat immer Uskugen gegeben, die Sips Geheimnis

lüften wollten. Es ist keinem von ihnen gelungen. Aber so ganz Unrecht hast du andererseits auch nicht. Meinem Volk hat immer diese Art der Aggressivität gefehlt, die den Menschen eigen ist – diesen unbändigen Willen, alles zu wissen, alles zu besitzen. Warum den Ursprung unserer Monde erforschen, warum den unserer Magie? Sie ist da, das hat uns immer gereicht. Vielleicht ist das auch der Grund, warum wir niemals zu Aggressoren geworden sind, sondern nichts weiter als Hilfe zu anderen Lebensformen bringen wollten.«

Zamorra dachte an den Tonga-Graben, wo in der Station der Uskugen eben dieses Prinzip am Ende nicht mehr funktioniert hatte. Das Wesen, das koordinierend hätte eingreifen sollen, hatte nicht akzeptiert, dass die Station ihre zeitlich begrenzte Funktion bereits überdauert hatte. Der Erste Rat, wie es sich selbst genannt hatte, wollte mit aller Macht die Erde kontrollieren.

Also hatte sich auch dort die Waagschale bereits in eine bestimmte Richtung geneigt. In die falsche …

Zamorra vertiefte den Gedanken nicht weiter. Eines fühlte er jedoch überdeutlich: Sip tat ihm körperlich ungemein gut. Schon lange hatte er sich nicht mehr so fit gefühlt wie seit den vergangenen Minuten. Und es wurde immer besser und besser. Was Sip tatsächlich war, konnte er nicht sagen, aber eines war dieser Mond ganz sicher: ein Jungbrunnen!

Das Geräusch drang in all seiner Hässlichkeit zu ihm, riss ihn mit Gewalt aus allen Gedanken. Es war die schlimmste Art eines Hilfeschreis – der Schrei eines Kindes, das Todesängste ausstehen musste!

Keine zwanzig Meter von ihm entfernt machte der Weg einen scharfen Knick nach links. Und exakt an dieser Stelle spielte sich das Drama ab.

Zamorra hörte Laertes' entsetztes Aufstöhnen. Der Vampir hatte die Lage sogleich überblickt und auch erkannt, wer dort attackiert wurde.

Zumindest ein Tier hatte die Explosion und den Einsturz des Aquatons überlebt. Wahrscheinlich war es durch seine Panzerung besser geschützt gewesen als alle anderen, vielleicht war es auch gegen Energieschläge besonders widerstandsfähig. Es spielte letztlich keine Rolle, denn es zählte nur, dass es überlebt hatte und in seiner Verwirrung und Panik nun alles angriff, was sich bewegte.

Zamorra sah, wie sich die Scheren dieses überdimensionierten Krebses rhythmisch öffneten und schlossen. Es war tatsächlich eine Krebsart, wie Zamorra aus Dalius Laertes' Erinnerung erfuhr. Das Tier strahlte in einem wunderschönen Blau, bewegte sich auf dünnen Beinen, wobei ständig alle acht gleichzeitig in Aktion waren. Zamorra konnte nur grob schätzen, doch von Kopf bis Schwanz maß der »Krebs« gut drei Meter.

Die Scheren machten einen verflucht scharfen Eindruck, doch noch mehr sorgte er sich um die Taster, die dem Riesenburschen aus dem Maul wuchsen, denn die waren nicht nur spitz wie Nadeln, sondern glänzten an ihren Enden verdächtig. War das Gift? Das Tier schien eine einzige Kampfmaschine zu sein, und es war an Land enorm flink auf seinen dürren Beinen.

Zamorra sah, wen sich der riesige Krebs als Opfer erkoren hatte. Die Frau lag besinnungslos auf dem Boden. Aus einer hässlichen

Kopfwunde strömte Blut. Und vor ihr standen zwei kleine Kinder, die sie offenbar beschützen wollten.

Zamorra begriff, warum Dalius so entsetzt reagierte. Das dort war seine Familie!

Die Scheren des Krebses schnappten blitzschnell nach vorn, doch sie erreichten ihr Ziel nicht. Verblüfft sah Zamorra, wie sie scheinbar gegen einen unsichtbaren Schirm prallten. Ohne Schaden anzurichten, verpuffte der Angriff. Der Krebs war so überrascht, dass er einige Meter nach hinten zurückwich.

Zamorra spurtete los. Merlins Stern würde ihm hier keine Hilfe sein, denn das alles hatte nichts mit schwarzer Magie zu tun. Der Professor musste sich anders helfen, wenn er das Tier angreifen und vor allem besiegen wollte.

Im Laufen analysierte er das, was eben geschehen war. Die Abwehr war deutlich von dem kleinen Mädchen ausgegangen, während sich der Junge nur schützend über seine Mutter gebeugt hatte. Mit ihren vier Jahren – ihr Alter wusste er aus Dalius' Erinnerung – verfügte die Kleine über eine magische Kraft, die erstaunlich war; noch erstaunlicher war, mit welcher Selbstverständlichkeit, ja, Leichtigkeit sie diese einzusetzen wusste.

In Zamorra reifte ein Verdacht, den er jedoch vorläufig verdrängte.

Jetzt war nicht der richtige Moment, um sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Denn in diesem Augenblick griff das Tier wieder an. Und es hatte sich den exakt richtigen Moment ausgesucht, denn die kleine Jicada war abgelenkt durch ihren Bruder, der nun schreiend versuchte, seine Mutter zu wecken.

Jicada hob beide Hände gegen den Angreifer, doch es war zu spät. Eine der Scheren traf sie mit der flachen Seite, schleuderte das Kind mehrere Meter weit davon. Der Krebs hatte freie Bahn – nichts hinderte ihn nun daran, die beiden Zweibeiner zu zerfetzen, die ihm ausgeliefert waren. Das Schreien des Jungen verstummte, als er das mächtige Tier auf einmal dicht vor sich sah. Nur um Zentimeter

verfehlte ihn einer der Giftstacheln. Doch das konnte seinen Tod nur um Sekundenbruchteile hinauszögern.

Der Krebs richtete seinen Vorderleib in die Höhe. Es schien, als würde er seinen Triumph auskosten wollen. Und Zamorra begriff, dass er noch zu weit von dem Meeresmonster entfernt war, um rechtzeitig eingreifen zu können.

Doch das erledigte ein anderer für ihn – jedoch mit Zamorras Körper!

Der Parapsychologe konnte nicht verhindern, dass Laertes die volle Kontrolle über seinen Körper übernahm. Und wahrscheinlich hätte er es auch nicht verhindert, hätte es in seiner Macht gestanden.

Dennoch war dies eine Situation, die Zamorra geistig und körperlich als unerträglich empfand; er fiel für den Zeitraum seiner absoluten Hilflosigkeit in ein tiefes Loch, das keinen Grund zu haben schien.

Übelkeit, Schwindel, Fieber und eisige Kälte – alles kam zur gleichen Zeit über ihn. Doch am schlimmsten von allem war die Leere in seinem Ich, die er in dieser Form niemals für möglich gehalten hätte. Die Aktion dauerte nur wenige Sekunden, doch in denen durchlebte Zamorra seine ganz persönliche Hölle!

Sicher wäre er damit besser klargekommen, wenn nicht alles so unglaublich schnell hätte geschehen müssen, doch Laertes hatte auch kaum eine andere Wahl.

Zamorras Verwirrung trübte seine Aufnahmefähigkeit enorm, doch er erlebte Laertes' Eingreifen noch intensiv genug mit. Der Vampir riss Zamorras Arme nach vorn, ließ die Handflächen einander berühren und wie eine Waffe auf den Krebs zielen. Dann fühlte der Dämonenjäger, wie sich die Magie des Vampirs mit der seinen und der des Amuletts verband, so wie sie es schon mehrmals getan hatte. Der Dämonensplitter, Ableger von Sarkana, war dieser Verschmelzung zum Opfer gefallen. Und der Krebs hatte dagegen auch nicht den Hauch einer Chance.

Ein schwarzer Strahl schoss aus Zamorras Fingerspitzen und schlug in den Kopf des Krebses ein. Das Tier konnte seine Bewegung, die es bereits begonnen hatte, nun nicht mehr zu Ende

führen – mit einem Zuschnappen der Scherenhand hatte es den Jungen enthaupten wollen. Doch das war nun nicht mehr möglich, da der Krebs selbst keinen Kopf mehr hatte!

Blauer Schleim sprudelte aus der riesigen Öffnung, die am Übergang zwischen Kopf und Rumpf klaffte. Die ekelige Flüssigkeit wurde vom Herz des Krebses aus dessen Leib gepumpt.

Der Junge hatte aufgehört zu schreien. Weinend warf er sich über den reglosen Körper seiner Mutter. Doch ein anderer Schrei gellte auf. Ein Schrei, in dem unglaubliche Wut steckte.

Jicada! Das Mädchen hatte sich aufgerappelt und griff nun ihrerseits den Krebs an.

Sie schien nicht zu begreifen, dass das Tier bereits verendet war. Mit Schrecken sah Zamorra, wie sich der Kadaver des Krebses aufblähte und gleich darauf regelrecht zerplatzte.

Im Gesicht der Kleinen konnte der Parapsychologe nur eine einzige Emotion erkennen: unbändigen Hass! Und nun war Zamorra sicher, dass die wirkliche Gefahr nicht von irgendwelchen Riesenkrebsen ausging.

Mit einem tiefen Seufzer zog sich Laertes' Bewusstsein zurück. Zamorra hatte wieder die volle Kontrolle über seinen Körper.

»Mojica … ich muss zu ihr …« »Du hältst dich ab sofort im Hintergrund.« Zamorras Kommando war

bestimmend, ließ keinen Widerspruch zu, obwohl er die Worte diesmal ebenfalls nur dachte. »Es gibt dich hier bereits, muss ich dich daran erinnern? Deine Frau, deine Kinder – sie dürfen dich nicht erkennen. Sonst war alles umsonst. Ab sofort bin ich an der Reihe. Alles klar?«

Er erhielt keine Antwort, was er als Ja wertete. Mit sanfter Gewalt schob er den Jungen von der jungen Frau weg.

Die Kopfwunde war grässlich, lebensgefährlich, doch die Frau atmete noch. Die Kinder standen still daneben, hielten sich bei den Händen. Sie schienen begriffen zu haben, dass dieser Fremde ihnen helfen wollte.

Nur wie? Zamorra war kein Arzt. Und mit Heilmagie war hier wahrscheinlich nicht viel zu machen. Was die Frau brauchte, war

ärztliche Hilfe. Und zwar sofort. Plötzlich war der Himmel taghell! Zamorra erahnte hinter den gleißenden Scheinwerfern die

Schatten von Flugmaschinen, die großen Helikoptern nicht ganz unähnlich waren. Der größte Unterschied war der, dass diese Hubschrauber vollkommen lautlos flogen.

Minuten später nur war ein Dutzend der Maschinen rings um die Überreste des Aquatons gelandet. Zamorras Hoffnung bestätigte sich. Es war eine Hilfsstaffel, die vom Raumhafen Sips aus gestartet war. Schon bald wimmelte es von Ärzten und ihren Helfern.

Zamorra atmete auf, als sich die Tür eines der Luftfahrzeuge schließlich hinter ihm schloss. Die Maschine startete so lautlos, wie sie gelandet war. Auf einer Trage lag Mojica, an einen Computer angeschlossen, der ständig erneuerte Werte ihrer Vitalfunktionen anzeigte.

Zamorra ließ sich auf einem breiten Sitz nieder. Die Kinder schmiegten sich wie kleine Katzen vertrauensselig links und rechts in seine Arme, und nur wenige Minuten später waren sie eingeschlafen.

Schlafen … das klang gut. Doch Zamorra wollte unter allen Umständen wach bleiben. Laertes meldete sich nicht. Wahrscheinlich genoss er die Nähe seiner Kinder. Wenn die Ärzte richtig lagen, würde auch Mojica bald wieder auf den Beinen sein. Kein unmittelbarer Grund zur Panik also.

Es war wohl so, dass die beiden Kinder die Vertrautheit zu Zamorras zweitem Ich fühlten. Kinder haben Instinkte, über die ein Erwachsener nicht mehr verfügt. Einen anderen Grund konnte es nicht geben, dass sie Zamorra so vollkommen vertrauten.

Es gefiel ihm nicht, die beiden hinters Licht führen zu müssen, doch es war besser so. Für alle. Zamorra verlor schließlich den Kampf gegen die Müdigkeit.

Die Landung der Maschine bekam er nicht mit.

»Abstand ist nun seit dreiundzwanzig Messdurchläufen konstant.«

In der Zentrale konnte man deutlich ein kollektives Durchatmen vernehmen. Dieser kurze Satz ließ mächtige Gesteinsbrocken von den Seelen aller hier Versammelten rollen.

»Durchgängige Messdurchläufe – ohne auch nur einen auszulassen. Wir müssen sofort erfahren, wenn sich da etwas tut. Ist das klar?« Semjon Tanno erntete zustimmendes Gemurmel von den Frauen und Männern, die vor den Terminals ihren Dienst taten.

Jetzt glaubt ihr alle, die Krise wäre vorüber, nicht wahr? Tannos Gesicht wirkte wie aus Eis, kein Muskel rührte sich. Ja, er selbst war wie ein vereister Stein. Was sich in seiner Seele längst abgeschlossen hatte, schien nun auch sein Äußeres zu ergreifen.

Er sah sich um. Sie lachten, scherzten miteinander. Oder sie machten betroffene

Gesichter, weil sie an die Opfer dachten, die diese Katastrophe auf Sip gefordert hatte. Nach und nach funktionierte auch die Nachrichtenverbindung wieder. Dauernd kamen neue Meldungen vom Mond. Niemand wagte es, eine Schätzung der Opfer abzugeben. Hunderte? Tausende? Keiner wusste es genau.

Verächtlich wandte sich Tanno ab. Wie gerne hätte er es ihnen allen entgegengeschrien.

Was wisst ihr Narren denn schon? Nichts! Glaubt ihr vielleicht, das war schon alles? Ja? Seid ihr denn tatsächlich so

unglaublich dumm? Wie lange predige ich euch schon von der Gefahr, in der wir alle schweben? Und ihr? Wenn ich danach den Raum verließ, habt ihr euch halb totgelacht. Ja, über den Idioten, den hässlichen Tanno, dessen Anblick man ja kaum noch ertragen kann. Und erst sein idiotisches Gerede von der Balance, die in Gefahr ist …

Und was ist die Wahrheit? Ich habe Recht. Recht – Recht, Recht, Recht! Die Idioten seid ihr! Tanno hielt inne. Verstohlen sah er sich um. Nein, niemand

beachtete ihn, also war alles in Ordnung. Manchmal fürchtete er, seine Gedanken plötzlich laut aus sich herauszubrüllen, ohne es selbst zu bemerken. Doch dazu war es noch zu früh. Noch musste er sich zurückhalten. Vielleicht nicht mehr sehr lange.

Dalius Laertes kam auf ihn zu. Sein Gesicht wirkte entspannt. Alle Angst schien von ihm gewichen. »Semjon, gerade habe ich erfahren, dass Mojica und die Kinder leben. Sie waren mitten im Brennpunkt der Geschehnisse auf Sip. Unser Haus – es existiert wohl nicht mehr. Und Mojica ist verletzt, aber man hat mir versichert, dass sie wieder gesund wird. Du kannst dir meine Erleichterung nicht vorstellen, mein Freund.«

Tanno war froh, dass er zur Analyse neu eingegangener Werte gerufen wurde. So musste er zumindest nicht übermäßig viel Anteilnahme heucheln. Im Gehen wandte er sich noch einmal Laertes zu. »Bringt man sie nach Uskugen?«

Dalius nickte. »Ja, darum habe ich gebeten. Solange es auf Sip nicht vollkommen sicher ist, will ich sie hier bei mir haben.«

»Schön.« Und das meinte Semjon Tanno ausnahmsweise ernst. Es war noch

gar nicht so lange her, da hätte Semjon sich größte Sorgen um Mojica gemacht. Doch als sie sich damals für Dalius entschied, war das große Gefühl, das er für die schöne Frau hegte, langsam erkaltet. Natürlich hatte sie sich nie wirklich für ihn interessiert – nicht einen Herzschlag lang –, das war lediglich Wunschdenken von Tanno gewesen. Dennoch dachte er manchmal gern an diese Zeit zurück. Aber auch das ließ nach.

Jetzt gab es andere Gründe, warum er Laertes' Familie mit Freuden auf Uskugen sehen wollte.

»Ein Körper kann krank sein und dennoch funktionieren. Genau bis zu dem Augenblick, in dem das Unvorhergesehene geschieht. Die Winzigkeit, der lächerlich kleine auslösende Faktor. Plötzlich ist er da!«

So oder so ähnlich hatte er sich einmal in einer seiner Reden vor dem Rat ausgedrückt.

Plötzlich ist er da … Und nun war er da, dieser lächerlich kleine Faktor, der den Beginn der Katastrophe ausgelöst hatte. Einer Katastrophe, die nur Tanno würde stoppen können.

Wenn er es wollte. Sie würden ihn nicht lassen. Freiwillig ganz sicher nicht … Danach konnte einfach nichts mehr so sein wie zuvor.

Tanno legte seine Hand auf die Schulter eines der Assistenten, die hier zahlreich herumschwirrten. »Ich brauche eine Tonbild-Verbindung zu Feeline Silja – sofort! Ich nehme das Gespräch in meinem Raum an.«

Der Mann würde seinen Wunsch unverzüglich erfüllen, da war Tanno sicher. Es wurde Zeit, einige Dinge in Bewegung zu bringen. Niemand anderes als Fee konnte das für ihn erledigen.

Der lächerlich kleine Faktor … Diese Formulierung ging ihm nun nicht mehr aus dem Kopf.

Lächerlich klein. Ja, das war er in der Tat. Und doch war er es, auf den es hier ankam. Bald. Sehr bald schon.

Semjon Tanno konzentrierte sich, als Fees Gesicht auf dem Screen auftauchte. »Fee, ich habe folgende Anweisungen für Sie …«

5. Rof 

»Wer nichts weiß und nicht weiß, dass er nichts weiß, ist ein Narr. – Scheue ihn. Wer nichts weiß und weiß, dass er nichts weiß, ist ein Kind. – Lehre ihn. Wer weiß und nicht weiß, dass er weiß, schläft. – Wecke ihn. Wer weiß und weiß, dass er weiß, ist ein Weiser. – Folge ihm.« – Arabisches Sprichwort –

Es war die Zeit des Tages, da selbst auf einem unruhigen Mond wie Rof so etwas wie Ruhe einsetzte. Der Mond der Wissenschaft war eine kleine Welt, die sich ständig selbst antrieb, die sich keinen Müßiggang gönnte.

Der Zwillingsmond Rof war so völlig anders beschaffen als sein Pendant Sip. Ein einziger Kontinent überzog mit seiner Landmasse gut ein Drittel der Mondoberfläche. Lange Sommer, laue Nächte und üppige Vegetation – all dies gab es auch hier, doch nahezu jeder, der sich schon auf beiden Monden aufgehalten hatte, konnte kaum glauben, dass sich die klimatischen Bedingungen so sehr ähnelten. Sip und Rof standen in gleicher Entfernung zu Deyat, dem Stern Uskugens. Dennoch – das gefühlte Klima Rofs schien eine nicht in Worte zu fassende Kälte in sich zu bergen.

Es gab keinen Stillstand auf dem Mond. Forschung, Entwicklung, Produktion, der Frachtverkehr, die Werften mit ihren riesigen Wartungsdocks – all das ruhte niemals wirklich. Doch die Wissenschaftler und Techniker, die Masse der Produktiven und selbst Angehörige von Hilfsvölkern schufen sich ihre kurzen Auszeiten. Die Spiele waren auf Rof ein ganz bestimmendes Thema,

wenn man sich in der knappen Freizeit traf. Zwischen einem Laborkomplex und der Rezo-Werft reihten sich

Dutzende von Lokalitäten aneinander, die der Einfachheit halber durchnummeriert waren. Dass dies nicht der Mentalität der Uskugen entsprach, die Fantasie und schöpferische Einfälle liebten, hatte vor vielen Umläufen für reichlich Diskussionsstoff gesorgt, doch irgendwann hatte man sich auch daran gewöhnt. Es war einfacher, rationeller. Und schlussendlich beeinflusste es nicht die Kreativität derer, die sich hier trafen.

Die Frauen und Männer hatten den Fresstempeln rasch ihre Eigennamen verpasst.

Dicke 14 hatte ihren Namen eindeutig ob der Leibesfülle des Inhabers erhalten.

20er Blut wies auf eine heftige Auseinandersetzung hin, die es in diesem Lokal gegeben hatte.

Rostige 9 und 11er Schrott – nun, selbst auf Rof gab es Pächter, die an hochwertigem Baumaterial sparten, wenn etwas ausgebessert werden musste. Im Rat sah man das nicht gern und drängte auf Qualität, doch der Rat war weit weg …

In der Schönen 34 gab es nichts, was auf den ersten Blick auf die Bedeutung des Namenszusatzes hindeutete. Wie die anderen Lokale war auch dieses kahl und wenig gastlich eingerichtet. Wände und Boden waren mit einem Kunstharz überzogen, der die erfreuliche Eigenschaft der Selbstreinigung hatte.

Das änderte jedoch nichts daran, dass die Inhaberin ständig selbst Hand anlegen musste, um den Laden einigermaßen hygienisch zu erhalten. Besser gesagt: Sie delegierte diese Arbeit an ihre Angestellten.

Die dominierende Farbe war ein stumpfes Blau, das nicht unbedingt zum Bleiben einlud.

Es gab eine Theke, mehrere Tische und Sitzhocker – das war's. Niemand kam auf die Idee, mit ein wenig Dekoration oder gar einem oder zwei Bildern ein wenig Farbe hier hereinzubringen. Die einzige Abwechslung bot der Panoramascreen, der hinter der Theke hing. Ohne die Live-Übertragung der Spiele konnte man Gäste

schon längst nicht mehr halten. Am wenigsten die Inhaberin. Kaum zu glauben, dass der Name

Schöne 34 einmal auf sie gemünzt gewesen war. Das war lange her. Und von den heutigen Stammgästen erinnerte sich wohl niemand mehr an diese Zeit.

Nach und nach füllte sich die 34, denn auf der Werft hatte es den Schichtwechsel im Technikbereich gegeben. Zudem fanden sich einige der Wissenschaftler ein, die ihren Arbeitstag ausklingen ließen.

Die Berichterstattung von der Sip-Katastrophe war natürlich das beherrschende Gesprächsthema. Lonja nickte den Neuankömmlingen kurz zu. Es waren ausnahmslos Männer, die, wenn sich die Chefin der 34 nicht sehr irrte, kein Interesse an einer guten Mahlzeit hatten. Sie wollten trinken. Nicht übermäßig viel und sicher auch keine der ganz harten Sachen, aber bestimmt keinen Fruchtsaft.

Lonja machte eine Kopfbewegung, die eine der Bedienungen an den Tisch der neuen Gäste beorderte. Mit der 34 konnte Lonja nicht reich werden, diesen Traum hatte sie schon lange begraben. Doch immerhin warf der Laden genug ab, damit sie sich hier nicht selber noch abschuften musste.

Den Screen hatte sie auf Stand-by geschaltet. Ihre Gäste diskutierten so intensiv über die Vorkommnisse auf Sip, dass schon lange niemand mehr auf den Schirm achtete. Etwas Neues würde man von offizieller Seite heute sicher nicht mehr erfahren. Sollte der Rat herausfinden, was dort abgelaufen war, dann würde er diese Infos bestimmt nicht ungefiltert und überhastet an die Bevölkerung weitergeben.

Lonjas Kopf ruckte in Richtung des Eingangs, als sie von dort heftige Flüche hörte.

Ein einzelner Mann war eingetreten. Lonja kannte ihn vom Sehen. Kein Stammgast, aber immerhin jemand, der ihr bisher zumindest noch nicht unangenehm aufgefallen war. Nun allerdings schien er ein Problem zu haben, beziehungsweise über ein solches gestolpert zu sein.

Lonja sah, wie der kräftig gebaute Bursche mit der rechten Faust nach unten schlug. Dann trat er mit einem Fuß immer und immer wieder heftig auf irgendetwas ein. Oder auf irgendjemanden. Und das war etwas, das Lonja abgrundtief hasste.

Mit schnellen Schritten war sie beim Eingang. Ein Blick reichte ihr, um zu erkennen, was hier ablief. Auf dem Boden lag ein alter Uskuge, der sich vor den Tritten schützend zusammengerollt hatte.

»Schluss damit! So etwas gibt es bei mir nicht!« Entschlossen trat Lonja vor den jungen Mann. »Was mischst du dich denn hier ein? Wer bist du überhaupt,

Alte?« In der 34 war es still geworden. Die Gäste beobachteten neugierig

die Szene, erfreut, eine Abwechslung geboten zu bekommen. »Ich bin die Besitzerin. Und wer bist du? Ich vermute, nur ein

dummer Junge, der sich nicht benehmen kann, richtig?« Lonja schob mit einem Arm sanft einen großen Mann zurück, der sich den Störenfried vornehmen wollte. »Lass sein, Efko. Nett von dir, aber mit dem Kleinen werde ich noch allemal allein fertig.« Brummend setzte sich der Zurückgewiesene wieder hin.

Lonja wandte sich wieder dem Jungen zu. »Was hat der alte Mann dir getan?«

»Wenn das hier dein Laden ist, dann solltest du dafür sorgen, dass hier nicht irgendwelche Penner im Weg herumliegen. Denn sonst kümmere ich mich um diesen Abschaum.«

Lonja blickte nach unten. Der Getretene bewegte sich, atmete normal. Gut, er schien okay zu sein. Nicht okay war es, dass in der letzten Zeit die Aggressivität gerade unter den jüngeren Uskugen auf Rof immer mehr zunahm. Irgendetwas lief da falsch.

Und Lonja war nicht gewillt, so etwas hier zu akzeptieren. »Dreh dich mal kurz um, dann siehst du die Tür. Durch die gehst

du jetzt – still und leise. Und wenn du draußen bist, dann vergisst du einfach, dass es die 34 überhaupt gibt. Für dich ist sie nämlich ab sofort nicht mehr vorhanden. Und jetzt verschwinde.«

Lonja bückte sich, um dem alten Mann aufzuhelfen, der ihr dankbar zulächelte, aber die Sache war noch nicht beendet. Der

junge Wilde fasste hart Lonjas Schulter, wollte sie zu Boden schleudern.

»Ich gehe, wenn ich es für richtig …« Er kam nicht weiter, denn etwas traf seine empfindlichste Stelle. Er

sackte in die Knie, dann traf ihn ein zweiter Schlag zwischen Schulter und Hals. Ein kurzes Kribbeln durchlief seinen ganzen Körper, dann fühlte er nichts mehr. Er atmete röchelnd, doch das war auch schon das Einzige, zu dem er noch fähig war.

Irgendwer hob ihn hoch, eine Tür öffnete sich, und er sah den Straßenbelag auf sich zurasen. Von weit her vernahm er Stimmen. »Bah, jetzt hat der Kerl sich auch noch besabbert!« … »Lonja Ovis, du darfst nicht zu hart mit dem Kengo hinlangen!« … »Na, der verpackt das schon!«

Es dauerte lange, sehr lange, bis sich der junge Mann zumindest kriechend aus dem Staub machen konnte; ein langmähniger Keiss, der sich hier in der Gegend aus den Mülleimern der Lokale recht gut ernähren konnte, hatte ihm mitten ins Gesicht gepisst, doch das alles wollte er nur noch schnell vergessen.

So, wie er die 34 komplett aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte.

Lonja wollte den Alten in das Hinterzimmer der 34 bringen, doch der Mann winkte lächelnd ab.

»Lass mich ein wenig hier vorn bei dir an der Theke bleiben. Hast du einen Becher Mesa für mich?« Die Abende waren jetzt schon recht kühl. Der Alte war lange draußen durch die Straßen gelaufen. Man sah ihm an, dass ihm kalt war.

Lonja nickte. »Du kannst auch etwas Stärkeres haben, wenn du möchtest.« Mesa war ein starker Aufguss aus einer gerösteten Bohne, die nur auf Sip wuchs. Das Zeug wärmte die Glieder, hatte eine geringe aufputschende Wirkung, mehr jedoch nicht.

Der Alte schüttelte den Kopf und umfasste den Becher vorsichtig mit beiden Händen. Die Brühe war siedend heiß. »Nein, ich danke dir für das Angebot, aber auch wenn man es mir kaum abnimmt, ich halte nichts von einem künstlichen Rausch.« Seine gewählte

Ausdrucksweise stand im krassen Gegensatz zu seinem abgerissenen Aussehen. »Wenn der Rausch verschwindet, hat sich nämlich nichts geändert.«

Lonja nickte. So war er immer gewesen. All die vielen Jahre, die sie ihn bereits kannte – in denen sie sich gehasst und geliebt hatten. Lonja verdrängte mit Gewalt diese Gedanken. Der Mann lächelte ihr zu.

»Du bist noch immer eine wahre Meisterin mit dem Kengo.« Er schlürfte vorsichtig den Mesa. »Wir sind beide alt geworden, doch du bist noch immer die Lonja von damals. Nichts verlernt, niemals besiegt, nie am Boden.«

Lonja zuckte nur mit den Schultern. Wenn er in mich hineinschauen könnte, würde er anders reden, dachte

sie. Als Lonja noch eine junge Frau gewesen war, als sie diesen

Schuppen hier übernommen hatte, da war es nicht selten vorgekommen, dass sie sich gegen zu stürmische Verehrer hatte zur Wehr setzen müssen. Sie war kein Freiwild. Ihre Galane hatten das schnell bemerkt. Oft hatten sie es allerdings erst lernen müssen.

Der Kengo war eine unscheinbare Waffe, die aus dem härtesten Holz bestand, das man auf Rof finden konnte. Ein kurzer Griff, an dessen Enden je eine Art Halbkugel saß, ähnlich einem Pilz mit zwei Köpfen. Damit tötete man nicht so schnell, auch wenn das durchaus möglich war. Aber Lonja hatte es zur Meisterschaft mit dem Kengo gebracht, den sie stets unauffällig in einer Tasche ihrer Kombination bei sich trug.

Der Knabe von vorhin würde sicher lange grübeln, was ihn da so umgehauen hatte. Lonja war weit davon entfernt zu glauben, dem Schlägertyp seine Dummheit ausgetrieben zu haben. Aber vielleicht überlegte er es sich ab jetzt zweimal, ehe er sich an einem Wehrlosen vergriff.

Und wehrlos war ein Wort, dass auf den Alten durchaus zutraf, der den Becher bereits geleert hatte. Lonja schenkte ihm nach, erntete ein dankbares Lächeln dafür.

»Ornit, ich weiß ja, dass du darüber nicht reden willst, aber …«

Der Alte unterbrach sie. »Warum fängst du dann wieder damit an? Wir haben das doch so oft von allen Seiten her betrachtet. Es ist, wie es ist. Und genau so wird es auch bleiben. Bis zu dem Tag. Und der ist nicht mehr sehr fern.« Ornit wies mit zittriger Hand auf den grauen Screen hinter der Theke. »Ich habe das alles mitbekommen. Die Übertragungen liefen ja überall. Vielleicht schon morgen, Lonja – wir werden es sehen.«

Die Augen der Frau leuchteten feurig und wütend auf. Und für einen Augenblick sah der Alte wieder die junge Lonja vor sich. Seine Lonja.

»Willst du mich rasend machen, Ornit Caiwee?« Ihre Handflächen klatschten heftig auf den Tresen. »Ich will deine wilden Theorien nicht mehr hören, hast du verstanden? Ich will nur eines von dir hören: Dass du deine Ansprüche endlich akzeptierst. All das, was dir zusteht, was man dir händeringend hinterhergetragen hat. Du könntest dein Leben herrlich und in Freuden verbringen – hier auf Rof oder sonst wo. Mit mir, bei mir. Ohne mich! Das alles ist dir freigestellt. Doch du lebst ja lieber wie ein Bettler, wie ein Obdachloser, den die Gesellschaft verstoßen hat. Du solltest dich auf deinen Geisteszustand untersuchen lassen, Ornit!«

Das war eine der längsten Reden gewesen, die Caiwee je von Lonja gehört hatte. Ganz sicher jedoch eine der wütendsten. Und für einen Augenblick war da wieder dieser Drang in ihm zu flüchten. Das war es, was er in den vergangenen Jahren stets getan hatte: Er floh, wenn man ihm zu nahe kam. Irgendwann – es waren viele Umläufe seither vergangen – hatte er damit begonnen, weil ihn niemand mehr zu verstehen schien. Weil man ihn verkauft und verraten hatte.

Alles das, was er geliebt hatte, war ihm genommen worden. Seine Arbeit, die sein Lebensinhalt war. Dann ging Lonja. Nein, das stimmte so nicht – er war ja gegangen. Geflohen …

Der große Ornit Caiwee war so lange immer weitergeflohen, bis er sich selbst verloren hatte.

Die Schöne 34 hatte sich in der Zwischenzeit gut gefüllt. Hätte man alle Anwesenden gefragt, ob sie den alten Uskugen dort an der

Theke kannten, hätten fast alle mit dem Kopf geschüttelt. Und die wenigen, die genickt hätten, wären still geblieben, denn sie wussten nur zu gut, dass Ornit Caiwee hier tabu war. Lonja Ovis mochte es nicht, wenn man sich über ihn das Maul zerriss.

Caiwee riss sich zusammen. Heute wollte er nicht fliehen. »Lonja, es sind nicht meine Theorien. Es sind die Tatsachen, die

Uskugen und seine Monde eingeholt haben. Es wird nun bald Realität werden, was ich euch allen immer und immer wieder gesagt habe. Doch alle haben mich für einen Spinner gehalten.«

Für Augenblicke schwieg er, versank in sich selbst. Ein Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf. Und da war auch ein Name. Dann klärte sich sein Blick erneut. »Es wird nicht nur geschehen, es muss sogar geschehen. Sonst werden wir alle untergehen. Sie werden nun kommen. Er wird kommen. Sicher ist er bereits auf dem Weg hierher. Das kann er nur allein erledigen. Ja – und ich muss dabei sein. Vielleicht kann ich es ja noch steuern. Irgendwie beeinflussen. Der Fehler darf nicht gemacht werden.«

Mit einem Zug leerte er den Mesa-Becher, stellt ihn zitternd auf die Theke.

»Willst du mir nicht Glück wünschen, Lonja?« Er konnte der Frau nun nicht mehr in die Augen sehen.

Ornit war überrascht, als sich Lonjas Hände auf seine legten. »Glück? Ich weiß nicht, ob das ausreicht. Ich habe Angst. Die Angst, dass irgendwann einmal jemand durch diese Tür da kommt und mir erzählt, dass sie den alten Ornit erschlagen aufgefunden haben. Oder dass er von einem Bodengleiter überfahren wurde. Glück? Gut, wenn du dir das so wünschst, dann tue ich das.« Ganz kurz strich sie ihm über die verfilzten Haare. »Komm bald wieder her. Dann reden wir in Ruhe über uns. Willst du das machen?«

Ornit Caiwee nickte langsam. Das war wieder einmal so ein Augenblick, in dem ihm nicht die richtigen Worte einfallen wollten.

Und so verließ er die Schöne 34 schweigend. Als sich die Tür hinter ihm schloss, da war es für Sekunden so, als

hätte er sein Gehör verloren. Es war eine bedrückende Stille, die ihn auf einmal umfing. Stille und Dunkelheit. Und ein schneidender

Wind, der ihn frösteln ließ. Die wärmende Wirkung des Mesas verflog rasch. Also würde er sich beeilen müssen, denn der Ort, zu dem es ihn nun zog, war gut klimatisiert.

Tag und Nacht – Umlauf für Umlauf. Caiwee setzte sich in Bewegung. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er

Lonja besser gebeten hätte, ihm ihren Kengo zu leihen. Durchaus möglich, dass er ihn in dieser Nacht noch gut brauchen

konnte. Ornit zog die Schultern hoch, als könne ihn das vor dem Wind

schützen. Doch das war nur eine instinktive Geste, nicht mehr. Über den Weg musste er sich keine Gedanken machen.

Unmöglich, auch nur zu schätzen, wie oft er ihn schon gegangen war.

Als er das Areal der Werft hinter sich gelassen hatte, konnte er in der Dunkelheit bereits die Silhouetten der drei Türme erkennen, die wie Wächter die Eckpunkte bildeten – Eckpunkte, die als Symbole für die drei Begriffe standen, die hier Gültigkeit hatten:

Wissen, Forschung, Entwicklung. Ganz Rof baute sich im Grunde auf diesen Grundfesten der

Wissenschaft auf. Doch hier war ihr Zentrum. Die Türme hatten bereits im Tageslicht etwas Ehrfurcht Erregendes, denn sie schienen bis in den Himmel reichen zu wollen. In ihnen befanden sich Bibliotheken, Labortrakte und Verwaltungsabteilungen, deren Mitarbeiter nie das Licht Deyats – der weißen Sonne Uskugens – zu Gesicht bekamen. Keiner der Türme wies Fenster auf. Wie Monolithen standen sie da. Glatt, in perfekter Formgebung erbaut – kalt und ohne jede Emotion …

Das Gelände vom »Wissenszentrum-Rof« hatte den Grundriss eines makellosen gleichschenkligen Dreiecks. Das Grundstück war riesig in seinen Ausmaßen, übertraf darin selbst die meisten Werftanlagen, selbst den Raumhafen, der von hier aus nicht weit entfernt war.

Ornit kam dem Turm der Forschung rasch näher. Es war schon seltsam. So viele Umläufe hatte er hier gearbeitet, gelehrt, seine

eigenen Forschungen betrieben. Ja, er hatte hier praktisch gewohnt. Sicher hatte Caiwee eine großzügige Wohneinheit vom Rat zur Verfügung gestellt bekommen, als er zum Ersten Mentor des Zentrums aufgestiegen war, doch die hatte er im Grunde nie wirklich genutzt.

Wirklich seltsam – all diese Zeit lang hatte er sich nicht ein einziges Mal Gedanken über die Abmessungen des Zentrums gemacht. Wozu auch? Innerhalb des Campus galt das Prinzip der kurzen Wege. Alles war auf logischer Basis so angelegt worden, dass niemand unnötige Wege absolvieren musste.

Und wenn das doch einmal notwendig sein sollte, gab es die kleinen Gleiter, die jederzeit bereitstanden. Caiwee lächelte. Mit den winzigen Flitzern hatten sich die Studierenden oft regelrechte Rennen geliefert. So ernst es hier auch immer zugegangen war, so streng das Reglement war, es hatte die jungen Leute nie daran gehindert, das zu bleiben, was sie nun einmal waren: jung!

Und er, die oberste Respektsperson eines jeden Lernenden, hatte mehr als einmal heimlich diese Campus-Rallyes beobachtet und seinen Spaß daran gehabt. Natürlich durfte keiner seiner Schüler wissen, dass er in seiner Studentenzeit ein wahrer Meister in dieser Disziplin gewesen war.

Waren ihm solche Dinge wirklich so wichtig gewesen? Ansehen, Respekt? Wollte er denn, dass die jungen Uskugen zu

ihm aufsahen. Er konnte sich heute darauf keine Antwort mehr geben. Wahrscheinlich war es damals so gewesen.

Das ganze Areal war rundherum von einem Energiezaun umgeben. Die einzigen Eingänge waren dementsprechend die drei Türme, die breite Durchgänge besaßen. Wenn es tatsächlich einmal notwendig wurde, irgendetwas auf den Campus zu transportieren, das deren Maße überschritt, schaltete man die Energiebarriere eben kurzerhand ab. Für Ornit war sie immer unsinnig erschienen. Es gab keinen Anlass, sich hier abzuschirmen. Vor wem denn auch?

Entsprechend unkompliziert war das Passieren der drei Turmtore auch immer gewesen.

Natürlich musste man einen Komplettscan durchlaufen, der beim

Durchgang der Tore ablief – selbstverständlich in beide Richtungen, denn auch beim Verlassen der Einrichtung griff diese Sicherheitsmaßnahme.

Eigentlicher Sinn dafür war, dass Waffen unerwünscht waren. Wissenschaftler forschten, sie entwickelten Waffen – sie sollten keine mit sich führen. Oder mitnehmen – auf den beiden Monden und auf Uskugen gab es genügend Kunden, die sich für Weiterentwicklungen interessierten. Eine Zivilisation ohne Gewalt und Verbrechen war ziemlich undenkbar, auch wenn unter den Gelehrten darüber immer wieder heiße Diskussionen geführt wurden.

Ornit fror. Er war nicht sicher, ob der Anblick des Turmes nicht seinen Teil

dazu beitrug. Früher wäre er nie auf diesen Gedanken gekommen, aber jetzt fragte er sich, warum man junge Lernbegierige mit so einem Koloss, so einem Gigant schon einschüchterte, ehe sie den Ort betreten hatten, an dem sie Wissen erlangen wollten?

Wissen! Keine Furcht. Es kamen ihm nur wenige Uskugen entgegen, als er sich dem Tor

näherte. Vollkommen unbelebt war das Zentrum nie. Doch um diese Tageszeit spielte sich beinahe alles in den Sälen, den Labors und Büros ab.

Eine gewisse Unruhe wollte er nicht leugnen, doch in keiner Sekunde hatte er die Befürchtung, dass ihn irgendjemand am Betreten des Geländes hindern würde. Dazu gab es ja auch keinerlei Grund. Ornit trug keine Waffen, auf die der Scan hätte reagieren können. Der Weg auf den Campus stand jedem Uskugen frei – also auch ihm. Und dennoch war es Caiwee, als würde er feindliches Gebiet betreten.

Trotz der niedrigen Temperaturen fühlte er kalten Schweiß, der sich auf seiner Stirn gebildet hatte. Ängstlich sah der alte Mann sich um. Hier wimmelte es geradezu von Lehrpersonen, Technikern und Studenten. Was, wenn ihn nun jemand erkannte?

Er verdrängte diese Furcht, schob sie weit nach hinten in sein Unterbewusstsein.

Niemand würde ihn erkennen. Unmöglich, denn Ornit Caiwee sah sich selbst schon lange nicht mehr ähnlich. Das klang makaber, beinahe wie eine Erkenntnis voller Sarkasmus, doch von solchen Dingen war er weit entfernt. Er stellte lediglich fest, was nicht zu leugnen war.

Caiwee wurde klar, dass er nun doch einen hübschen Fußmarsch vor sich hatte. Sein Ziel lag nicht weit vom Turm der Entwicklung entfernt. Links von ihm entdeckte er einige Gleiter, die dort reichlich achtlos abgestellt waren. Er schüttelte den Kopf. Nein, er konnte es sich nicht erlauben, Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn ein Obdachloser – und als solchen musste man ihn einstufen, wenn man nur seine Kleidung etwas näher betrachtete – sich in eines der Fahrzeuge schwang, dann konnte das selbst hier nicht ohne Konsequenzen bleiben.

Die Zentrums-Wachen waren Meister darin, unauffällig zu agieren. Nichtsdestotrotz waren sie aufmerksam. Für Ornit gab es nur den Fußweg. Er wusste natürlich nicht, wie viel Zeit ihm blieb. Daran war nichts zu ändern, also marschierte er los.

Schon früher hatte er die indirekte Beleuchtung auf dem Campus bewundert. Hier wurde tatsächlich die Nacht zum Tage, doch ohne die oft störenden Reflexe, die grell in den Augen schmerzten. Neugierig betrachtete er jede Kleinigkeit. Viel hatte sich nicht verändert. Je näher er seinem Ziel kam, je weniger zeigte die Ablenkung ihre Wirkung – er konnte sich nicht mehr selbst betrügen: Der Augenblick, der seine Mission mit großer Wahrscheinlichkeit zum Scheitern bringen würde, kam unaufhaltsam auf ihn zu.

Es war der Augenblick, in dem er die Kontrolle am Eingang zu den Entwicklungslabors passieren musste. Das war einer der neuralgischen Punkte des Zentrums, denn die Zugangsberechtigungen waren hier streng reglementiert. Hier war Schluss mit der liberal-laxen Kontrolle. Wer hier nicht seine Berechtigung nachweisen konnte, der fand sich in den Händen der Sicherheitsbeamten wieder.

Jetzt hast du gleich einen ordentlichen Grund für dicke Schweißperlen

auf deiner Stirn, alter Mann. Caiwee befand, dass er sich selbst nicht besonders gut Mut zusprechen konnte. So etwas war noch nie eine seiner Stärken gewesen.

Verschlossene Türen gab es innerhalb des Zentrums nicht sehr viele.

Diese hier, vor der Ornit nun unsicher stehen geblieben war, gehörte zu den Ausnahmen. Er musste sich nicht die Mühe machen, dass Schild zu lesen, das dort angebracht war. Er war damals dabei gewesen, als man es hier angebracht hatte.

ENTWICKLUNG – KÜNSTLICHE LEBENSFORMEN.

»Was wird, das soll leben, um zu helfen – und nur dazu erschaffen wir es.«

Caiwee erinnerte sich gut an diesen Tag. Er hatte darauf bestanden, dass dieser Satz auf das Schild kam. Jeder, der hier arbeitete, sollte sich Tag für Tag an diesen Grundsatz erinnern, wenn er die Abteilung betrat. Ganz besonders die Studenten, die davon überzeugt waren, mit ihrem Genius das Universum neu zu erschaffen. Wenn sie schon diesen einen Satz nicht begriffen, würden sie auch bei jeder anderen Herausforderung scheitern.

Ihr Erster Mentor wollte sie mit diesem Satz stets daran erinnern. Damals hatte er gewusst, dass viele ihn nur belächeln würden. Es war ihm gleichgültig gewesen. Schlussendlich würde er vielleicht doch den einen oder anderen zum Nachdenken bringen.

Warum stehe ich nun hier? Ich weiß, dass es nicht klappen kann. Gleich habe ich die Sicherheitsleute am Hals.

Es war ja nur ein Satz gewesen, den er irgendwann einmal aufgeschnappt hatte. Zwei Studenten hatten miteinander geredet.

Er, Ornit, hatte sie belauscht, während er seinen lauwarmen Mesa geschlürft hatte, den ihm irgendein mitleidiger Mann spendiert hatte. Das Gespräch hatte ihn nicht weiter interessiert, doch dann war sein Name gefallen.

»… und Caiwee – stell dir das vor! – wird auch noch immer offiziell geführt. Nach so vielen Umläufen steht er noch ganz normal

in den Dateien.« »Jetzt sag nur, der bekommt nach wie vor seine Honorare.« Der

andere klang ungläubig. »Glaube ich kaum. Ich habe gehört, der alte Sack treibt sich

inzwischen als Penner in Uskugen Deyat herum. Wohin sollen die das Honorar überweisen? In irgendein Erdloch?«

Die zwei wollten sich vor Lachen ausschütten. Ornat verhielt sich still, wagte nicht einmal ordentlich durchzuatmen.

»Aber er hat noch immer den Status als Mentor inne. So eine Schlamperei. Die Verwaltung ist scheinbar nicht fähig dazu, die Daten auf einen aktuellen Stand zu setzen. Und das auf Rof! Wir gondeln im Weltall herum, aber im Kleinen wird versagt …«

Caiwee hatte sich damals aus dem Staub gemacht. Diese Informationen waren nicht von Wert für ihn. Damals hatte er nicht den Vorsatz gehabt, sich jemals wieder in das Zentrum zu begeben.

Und heute stand er vor der Tür, auf der dieser schlaue Satz prangte. Wirklich so schlau? Das musste sich wohl erst noch erweisen.

Und wenn der Bursche damals nur Unsinn geredet hatte, weil er sich vor seinem Freund aufplustern wollte? Oder – wenn es diesen Fehler tatsächlich gegeben hat, man ihn aber in der Zwischenzeit korrigiert hatte?

Er würde es gleich wissen. Das blassrote Licht hüllte seinen Kopf ein. Zumindest in dieser

Hinsicht war hier alles wie gehabt – die Scan-Prüfung hatte begonnen. Ruhig und geduldig ließ Caiwee sie über sich ergehen. Er musste sich allerdings mit aller Kraft zusammenreißen, als die sanfte Stimme ertönte.

»Erster Mentor Ornit Caiwee – sei herzlichst gegrüßt.« Am liebsten hätte der alte Uskuge einen Luftsprung gemacht, doch so etwas war im Prüfungsprogramm natürlich nicht vorgesehen. Er beherrschte sich.

»Die Aufzeichnungen ergeben, dass du über einen längeren Zeitraum die Abteilung nicht mehr betreten hast. Wir bitten um dein Verständnis, wenn wir dich nun bitten, den Sicherheitscode zu nennen, damit jede Unregelmäßigkeit ausgeschlossen werden kann. Sprich bitte deutlich und

laut. Bitte jetzt.« Ein breites Grinsen lief über Ornits gegerbtes Gesicht. Und wenn

er alles in seinem Leben vergessen sollte, dieses kleine Schmähgedicht würde ganz sicher für immer und alle Zeiten in sein Gedächtnis eingebrannt bleiben.

»Pai Asar – du bist so dumm.

Pai Asar – dein Hirn ist krumm. Pai Asar – willst du mich quälen, Pai Asar – werd's Ralika erzählen, denn die ist immer wieder nett, Zu Haus' bei dir – in deinem Bett.«

Das rote Leuchten wurde für einen kurzen Augenblick intensiver, dann erlosch es komplett. Lautlaus verschwand die dicke Schutztür vor Ornit Caiwee in der Wand – ganz wie von Zauberhand bewegt. Doch das alles hatte nicht im Entferntesten etwas mit Magie zu tun.

Caiwee war wie vor den Kopf gestoßen, denn ihm wurde erst jetzt bewusst, wie unwahrscheinlich es anmutete, was er hier erlebt hatte. Seit vielen Umläufen galt er als verschollen; immer wieder waren Gerüchte über sein Verbleiben laut geworden, doch niemand hatte etwas Konkretes sagen können. Dabei hätten sie sich alle nur einmal genau umschauen müssen – besser gesagt: nach unten schauen. Denn da fand man ihn dann sicher – ganz unten.

Eines war jedoch sicher: Der Erste Mentor des Zentrums war für die Wissenschaft und deren Studenten auf Rof verloren. Endgültig und ohne jeden Zweifel.

Und dennoch hatte es wohl niemand für notwendig erachtet, dieser Tatsache Tribut zu zollen. Noch immer existierte er in den Speichern und Datenflüssen der Computeranlage. Er und seine in Reimform geprägte Frechheit. So, als wäre überhaupt nichts geschehen.

Grinsend trat Ornit ein. Ein kurzer Moment nur, dann schloss sich die Tür lautlos hinter ihm.

Er war da, wo er hingehörte … hingehört hatte …

Caiwee hörte ein Geräusch, und es dauerte einen Moment bis ihm klar wurde, dass es sein eigenes befreiendes Lachen war.

Pai Asar – der alte Trottel. Ein letztes Mal hatte er ihn also benutzt. Asar war vor langen

Jahren bereits gestorben. In Caiwees Studienzeit war er sein Mentor gewesen. Ein harter Brocken, der nichts unversucht gelassen hatte, seine Schüler zu malträtieren. Nun, Ornit hatte sich auf seine ganz eigene Art und Weise am verhassten Lehrer gerächt. Er hatte dessen blutjunge Frau zu seiner Geliebten gemacht. Und so hatte Ornit immer schon rechtzeitig die neuesten Gemeinheiten erfahren, die der alte Leuteschinder so plante. Früher als alle anderen. Und auf sehr angenehme Weise, denn Ralika war wirklich ein süßes Mädchen gewesen.

Dieses Gedicht hatte als erste Strophe zu einem Sauflied gedient, das Caiwee und seine Freunde nur zu gerne bei ihren Zusammenkünften gegrölt hatten.

Der breite Gang lag freundlich erleuchtet vor ihm. Wieder fragte er sich, was er denn tun würde, wenn ihm jetzt jemand entgegenkäme? In den Lumpen, die er am Körper trug, war er nicht zu erkennen, doch sie hätten ihm einen sofortigen Rauswurf garantiert. Ornit orientierte sich. Irgendwo hier musste es doch sein. Er berührte mit den Fingerkuppen ein Tasterfeld an der Wand. Eine nahtlos in die Verkleidung integrierte Tür versank im Boden.

Wenige Minuten später schloss sie sich wieder, als ein Uskuge erneut den Taster berührte. Ein Mann, der aussah, als gehöre er absolut hierher. Ornit Caiwee hatte sich seiner alten Bekleidung entledigt. Er benötigte sie nicht mehr. Entweder würde man sein Eindringen bemerken und ihn festnehmen, oder man würde ihm den kleinen Diebstahl ganz einfach zugestehen, zumal er offiziell ja sogar nach wie vor hier alle Rechte innehatte; die dritte Möglichkeit war allerdings die wahrscheinlichste von allen. Und sie beinhaltete die Tatsache, dass man einen Toten nicht zur Rechenschaft ziehen konnte.

Der Einwegoverall und die flach anliegende Kopfbedeckung, die hier beide absolute Pflichtkleidung waren, hatten aus Caiwee im

Handumdrehen wieder einen Wissenschaftler gemacht. Kaum zu fassen, wie schnell man aus einem, der jeden Boden unter den Füßen verloren hatte, eine Persönlichkeit machen konnte.

Bis kurz vor dem Zugang zu den Becken begegnete er jedoch keiner Seele. Es ging hier erstaunlich ruhig zu. Das zumindest war ein Unterschied zu der Zeit, in der er täglich hier gewesen war. Routine? Das mochte durchaus der Grund sein. Was hier geschah, konnte im Grunde ja nicht mehr mit dem Attribut einer wirklichen Entwicklung belegt werden. Vielmehr war es doch nichts anderes als eine Art der Produktion.

Aus dem Eingang zu den Hallen kamen Ornit eine Hand voll junger Uskugen entgegen, die heftigst miteinander diskutierten. Worum es dabei ging, blieb ihm leider verschlossen, doch in ihm keimte die stille Hoffnung, dass kritische Gedanken dabei waren. Mahnende Gedanken!

Im Vorübergehen grüßten die Studenten den alten Wissenschaftler mit einem kurzen Kopfnicken. Caiwee erwiderte den Gruß, hob kurz die linke Hand. Dann stand er allein in dem breiten Gang zwischen den gewaltigen Becken, die mit Nährlösung bis an ihre Oberränder gefüllt waren.

Das Ende der ersten Halle war kaum zu erkennen. Dieser Bereich nahm in der Länge einen der Schenkel des

Dreiecks-Grundrisses komplett für sich ein. Halle reihte sich an Halle. Ornit erklomm eine der Leitern, von denen es hier unzählige gab. Sie führten bis zur Oberkante der Behälter. Das Summen der Reinigungsanlage erfüllte sein Gehör.

Ein vertrautes Geräusch, auch wenn er es schon immer als bedrohlich empfunden hatte. Manchmal hatte er sich vorgestellt, es wären die Stimmen der Wesen, die hier auf den Augenblick warteten, der für sie den Beginn eines Daseins bedeutete, das in allen seinen Einzelheiten von anderen vorgeplant war. Von denen, die sie hatten werden lassen.

Natürlich war das Unsinn. Gedanken, die ein Wissenschaftler von sich weisen sollte. Ornit hatte das nicht gekonnt, vielleicht auch überhaupt nicht gewollt. Er wollte nie das Zweifeln an den Dingen

einstellen, die er tat. Da gab es eine Grenze, die weder Magie noch Wissenschaft überschreiten durften. Eine Grenzlinie, die von den beiden Komponenten auf Uskugen immer weiter nach hinten verschoben wurde. Niemand wollte sie mehr beachten. Viele sahen sie überhaupt nicht mehr.

Caiwee blickte in die hellgrüne Flüssigkeit. Augen ohne Leben blickten zu ihm herauf. Die Becken waren gut gefüllt. In den folgenden Hallen würde es nicht anders sein.

Die Wesen waren die perfekten Diener, die ergebenen Verwirklicher dessen, was das Volk der Uskugen überall in der Galaxis initiierte. Die großen Hilfe-Expeditionen, die Schutz und Sicherheit für intelligentes Leben im All ausstreuten, konnten über einen langen Zeitraum nicht ohne die hier gezogenen Hilfswesen funktionieren.

Man hatte ihrer Rasse nicht einmal einen wirklichen Namen zugestanden. Sie selbst nannten sich die Wartenden, wobei Dienende sicher korrekter gewesen wäre. Denn alles das, was in mehr als vierhundert uskugischen Umläufen in einer Basisstation zu tun war, wurde von ihnen erledigt. Sie waren Diener – nicht mehr. Ihre Intelligenz konnte als mäßig bezeichnet werden. Sie waren einfach gestrickt, langlebig, entwickelten einen nur schwach ausgeprägten Eigenwillen. In den zahlenmäßig unterschiedlich großen Gruppen, die sie auf den Stationen bildeten, lebten sie aggressionsfrei miteinander. Unvorhersehbare Zwischenfälle hatte es durch sie bisher nie gegeben. Sie waren perfekt.

Perfekte Sklaven, gezüchtet und missbraucht durch uns. Durch mich … Er hatte entscheidende Änderungen an der Zucht dieser Wesen

vorgenommen. Verbesserungen am künstlichen Leben. Ein hässlicher Begriff, der ihm körperliche Schmerzen bereitete, wenn er ihn aussprach. Ornit ertrug den Blick dieser toten Augen nicht mehr. Ungelenk stieg er die vielen Stufen der Leiter hinunter, war froh, wieder sicheren Boden unter den Füßen zu haben.

Diese Zuchtstation erzeugte exakt die gleichen Gefühle in ihm, wie sie es früher bereits getan hatte. All diese ungezählten Wartenden hinter den unzerbrechlichen Wänden der Becken schienen ihn

anzuklagen. Und er nahm diese Anklage ohne Widerstand entgegen. Schuldig.

Mit hastigen Schritten durchquerte Caiwee eine Halle nach der anderen. Das Summen – es schien mit jedem Schritt lauter und intensiver zu werden.

Die letzte der Hallen war vollkommen anders aufgebaut als die vielen anderen vor ihr. Caiwee machte sich bewusst, dass er nun mit äußerster Vorsicht vorgehen musste. Er verlangsamte seine Schritte. Wahrscheinlich war hier niemand anwesend. Wenn aber doch, dann durfte von dem alten Mentor keine Hektik, keine gehetzten Gesten ausgehen. Ihm war klar, das jede seiner Bewegungen aufgezeichnet wurde. Eine reine Sicherheitsvorkehrung, doch sie existierte sicher nach wie vor.

Die langen Reihen der Einzelbassins taten sich vor ihm auf. Caiwee betätigte einen Taster neben dem Eingang, der die Beleuchtung auf ein Minimum herunterfuhr. Diffuses Licht drang aus jedem der Behälter durch die an der Vorderfront befindliche Verglasung. Und erneut blickte Ornit Caiwee in tote Augen.

Doch hier waren es die Augen von Uskugen. Jede Station, die irgendwo im All auf den Moment wartete, in dem

sie zur Aktivität erwachen würde, brauchte einen Koordinator. Die Wartenden waren dazu vollkommen ungeeignet. Und so hatte es nur diesen einen gangbaren Weg gegeben. Den Weg, aus dem genetischen Material der Uskugen diese Wesen zu erschaffen, die über die Geschicke von Welten entscheiden mussten, wenn es die Umstände erforderten.

Caiwee legte eine Handfläche gegen das Glas des Behälters vor ihm. Angenehme Wärme drang ihm entgegen. Diese Kunstwesen sollten einmal eine Funktion innehaben, die dem Ersten Rat einer Welt gleichkam. Geschick, emotionale Intelligenz, pralles Wissen über ihre jeweilige Welt – all das gab man ihnen mit auf den Weg, den sie zu gehen hatten. Die Wartenden sorgten in den Stationen dafür, dass der Erste Rat mit allen Informationen versorgt wurde, damit er im Fall seines Einsatzes sofort reagieren konnte. Er war dann die Hoffnung auf eine Zukunft für die entsprechende

Zivilisation. Er war – ein Gott. Caiwee zog in einem Reflex seine Hand zurück. Ein Gott? Oder ein

Stück Fleisch, das hilflos in einer Lösung schwamm? Der Unterschied schien nur winzig zu sein. Götter – Milde, Güte, Verzeihen und Gnade. Oder Hass, Krieg und

maßlose Gewalt? Uskugen hatte eine Entwicklung hinter sich, die es in der Galaxis

wohl nicht so häufig gegeben hatte. Zumindest nicht bei den Zivilisationen, die den Uskugen bekannt waren. Einer der größten Risikofaktoren war oft der Kampf zwischen den unterschiedlichen Glaubensrichtungen, die sich unerbittlich gegenüberstanden.

Mein Gott gegen deinen Gott – wir werden ja sehen, wer siegt. Fanatismus konnte kaum einen fruchtbareren Nährboden finden.

Die Dummheit jedoch auch nicht … Natürlich hatte auch die Geschichte der Uskugen ihre religiösen

Einflüsse. Doch sie verehrten ausschließlich Deyat, die lebensspendende Sonne des Systems. Und auch die nur im symbolischen Sinne. Deyat war gleich Mutter. Niemand kam auf den Gedanken, daraus eine Ideologie zu formen, die in Feindseligkeit oder gar Krieg enden konnte. Deyat schenkte Leben, Wärme und Licht. Und wenn sie sich einmal hinter Wolken verbarg, nun, dann hatte sie eben an diesem Tag schlechte Laune. Kein Grund, sich deshalb mit seinem Nachbarn zu schlagen, der sich über den Regen freute, weil er ihm seinen Garten wässerte.

Und doch spielten sie Gott. Das ist die Grenzlinie, die niemand mehr sehen will … Schlimm genug, doch als die Karten neu gemischt wurden, da

schwand die Hoffnung auf eine irgendwann einsetzende Denkumkehr bei Ornit endgültig. Er hatte nicht mehr den Einfluss gehabt, entscheidend in das Spiel einzugreifen. Andere hatten längst besser taktiert als der alte Mentor.

Er konnte nur noch gehen, wenn er dieses Spiel überleben wollte …

»Auf den ersten Eindruck hat sich sicher nicht viel verändert.

Richtig, Ornit Caiwee?« Der alte Mann schloss seine Augen. Diese Stimme hatte er sofort

erkannt. Ganz gleich, wie viele Jahre auch vergangen sein mochten, in denen er sie nicht gehört hatte. Den Instinkt fortzulaufen unterdrückte er relativ leicht. Ornit dachte nach wie vor mit seinem Kopf, nicht mit den Muskeln seiner Beine.

Er hätte auch nicht den Hauch einer Chance gehabt zu entkommen. Wohin wohl auch? Die Halle hatte natürlich ihre Notausgänge, doch die waren für ihn viel zu weit entfernt. Zudem war Ornit überzeugt, dass sie jetzt allesamt versperrt waren.

Er wandte sich nicht um, als er zu einer Antwort fähig war. »Natürlich. Wie hatte ich auch glauben können, schneller als du

hier zu sein.« Als er keine Erwiderung bekam, sprach er weiter. »Ich hatte ehrlich gesagt später mit dir gerechnet. Aber du hast sicher deine Helfer, die notwendige Dinge für dich erledigen. Du konntest also direkt nach Rof kommen. Aber um dir direkt zu antworten: Nein, auf den ersten Anschein hat sich nichts verändert, das als gravierend zu betrachten wäre.«

Langsam wandte Caiwee sich um. »Nicht einmal du scheinst äußerlich sonderlich verändert. Man

sieht dir die vergangenen Jahre kaum an, Semjon Tanno.«

Auf seinen zu kurz geratenen Säulenbeinen kam der Wissenschaftler und Mitglied des Rates auf Caiwee zu. Der Alte konnte nicht einmal Triumph oder Häme im Blick des anderen erkennen. Im Gegenteil, da war eher Besorgnis. Doch die galt ganz sicher nicht der Tatsache, dass Caiwee so leicht bis hierher vorgedrungen war. Das schien Tanno eher gleichgültig zu sein. »Komm mit.« Nur kurz trafen sich die Blicke der Männer. »Ich muss dir sicher nicht sagen, dass Flucht kein Thema für dich ist, oder?« Die ausbleibende Reaktion Caiwees war ihm Antwort genug.

Der Raum, in den Semjon in führte, war ihm allerdings unbekannt. Er war sicher, dass Tanno ihn erst nach Ornits Verschwinden hier hatte einbauen lassen. Zwischen den Tanks und der äußeren

Hallenwand gab es große Leerräume. Ornit hatte das selbstverständlich gewusst, sich über deren Nutzung keine großen Gedanken gemacht.

Tanno hingegen hatte hier seine ganz eigene Zentrale errichten lassen. Selten hatte der alte Mentor einen derartig mit Technik überladenen Raum gesehen. Die Tür schloss sich automatisch hinter ihnen und war nun von außen wieder völlig unsichtbar. Tanno schaltete den Hauptrechner an. Die Verbindung zu seinen Datenbanken auf Uskugen stand in der nächsten Sekunde.

»Schau hin, Caiwee!« Zahlenkolonnen wechselten sich mit Diagrammen ab. Das alles wurde nur kurz von Bildern unterbrochen, die zeigten, wie die Rettungsmaßnahmen auf Sip vonstatten gingen. In rasender Geschwindigkeit lief in kürzester Zeit der aktuelle Datenstand vor Ornits Augen ab.

Und der alte Uskuge registrierte erstaunt, wie gut seine Auffassungsgabe nach wie vor funktionierte, wie rasend schnell sein Gehirn in der Lage war, diesen Wust zu erkennen und ihn zu analysieren.

Als der Datenblock wieder an seinem Startpunkt angelangt war und nun aktualisiert aufs Neue startete, gab es für Ornit Caiwee keine offenen Fragen mehr. Er sah, was Semjon Tanno sah – er wusste, was der Rat wusste.

»Vor vielen Umläufen hast du mich verdammt, Caiwee. Du hast meine Theorien nicht verworfen, nein, denn du bist ja nicht dumm.« Tanno sprach extrem leise, als wollten die Worte nicht freiwillig aus ihm heraus. »Aber du hast mich verflucht, als ich Dinge in die Praxis umsetzen wollte, die für dich die Zerstörung deines Weltbildes bedeuteten. Ja, ich habe das damals sogar begriffen. Es grauste dich bei dem Gedanken an ein Wesen, das alles in sich vereint. Alles in reinster Perfektion. Keine Fehler mehr, keine Unwägbarkeiten, nichts mehr der Natur überlassen. Doch noch unerträglicher war dir die Idee vom Scheitern der Rasse der Uskugen.«

Caiwee schwieg. Damals …

Damals …

Semjon Tanno und Dalius Laertes waren seine Schüler gewesen. Das ungleichartigste Freundespaar, dem Caiwee je begegnet war.

Der Erste Mentor des Rof-Zentrums für Wissenschaft hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, was in den beiden Studenten steckte. So unterschiedlich sie auch vom Äußeren her waren, so grundverschieden ihre Vorlieben und Ausrichtungen auch sein mochten, so sehr stachen ihre Begabungen wie eine Doppelsonne aus der Masse der anderen hervor.

Dalius war niemand, um den man sich Sorgen machen musste. Caiwee bewunderte den Burschen, dessen magische Begabung

enorm ausgeprägt war. Zudem war er ein Jahrhunderttalent, wenn es um die vielfältigen Kampfspiele ging, die Uskugen schon immer begeistert hatten. Allein diese Begabung hätte ausgereicht, um dem jungen Laertes ein sorgenfreies Leben zu garantieren. Doch über ihn hatte Mutter Deyat alles ausgeschüttet, was sie an positiven Gaben zur Verfügung hatte.

Semjon Tanno hingegen hatte sein brillantes Gehirn. Mehr nicht. Aber wie klang denn das? Mehr nicht … Sein glasklarer Verstand war Caiwee oft unheimlich. Und durch

die lange Freundschaft, die ihn mit dem umschwärmten und unverschämt charmanten Laertes verband, war Tanno im Grunde stets dort dabei, wo die Stundenten ihre Freiheiten genossen. Semjon war kein Ausgestoßener, wirklich nicht.

Wenn er sich oft vor dem Trubel zurückzog, dann war das stets seine eigene Entscheidung. Er gehörte dazu. Für Ornit war das eine wichtige Entwicklung, denn es waren oft die Eigenbrötler und die nur schwer zu ertragenden Dauerstreber, die irgendwann einmal die Quittung von den anderen erhielten.

Semjon Tanno war weit davon entfernt. Und sein brennender Ehrgeiz brachte ihn in kürzester Zeit direkt

an die Seite seines Mentors. Für Caiwee war absehbar, wer einmal

sein Nachfolger werden musste. Es ging einfach überhaupt nicht anders, denn Tanno brachte wirklich alles mit, was dazu nötig war. Zumindest an fachlichen Fähigkeiten. Was die Seite betraf, die wichtig für die Führung junger Uskugen war, hatte Ornit jedoch seine Zweifel.

Niemand auf Rof wunderte sich, als Dalius Laertes nach beendetem Studium einen Weg wählte, der ihn vom Zentrum fortführte. »Ventur« spielte man mit voller Leidenschaft, oder man ließ es gleich bleiben. Laertes war schon damals einer der Besten auf Uskugen und seinen Monden gewesen.

Zugleich lockte ihn die magisch-wissenschaftliche Fakultät von Uskugen Deyat. Die wunderbare Hauptstadt der Welt rief ihn und seine Talente. Es gab nichts, was ihn da noch wirklich auf Rof gehalten hätte. Nicht einmal sein Freund Semjon Tanno.

Der war in der Zwischenzeit zum Stellvertreter Caiwees ernannt worden. Eine nie da gewesene Karriere. Der Erste Mentor hätte damals bereits merken müssen, in welche Richtung sich Tannos Hauptinteresse bewegte. Natürlich war er nach wie vor innovativ im Bereich Forschung tätig, doch die Entwicklung zog ihn immer mehr in ihren Bann.

Die Entwicklung von Dingen, die in Caiwee das nackte Entsetzen auslösten.

Damals …

»Du hattest dich entschieden, Monster zu erschaffen, Semjon. Wie hätte ich das billigen können.« Und in Gedanken fügte Ornit hinzu: Und ich hoffe, du hast es bis heute nicht geschafft. Ich hoffe, dass ich nicht zu spät gekommen bin.

In Tannos Augen konnte er erkennen, dass sein Gegenüber diese Gedankengänge erraten hatte. Der Rat lächelte ihn unergründlich an. Seine rechte Hand wies in Richtung der Datenkolonnen, die sich im Sekundentakt erneuerten, aktualisierten.

»Du bist sehr wohl in der Lage, das dort zu begreifen. Wer, wenn nicht du? Also sage mir, was mit Sip geschieht.«

Caiwee kniff die Lippen fest aufeinander. Warum sollte er es aussprechen? Dort konnte man es doch sehen, einfach ablesen, wenn man sich auch nur einigermaßen darauf verstand, mit den Daten umzugehen. Es war so, wie Ornit es befürchtet hatte. Tanno hatte vor dem Rat oft von der Balance gesprochen.

Ornit hatte die Übertragungen der Sitzungen immer verfolgt, wenn es ihm auch nur irgendwie möglich gewesen war. Oft hatte Lonja ihm in der 34 vor dem Screen einen Platz reserviert. Die Bemerkungen der anderen Gäste waren dann meist nicht sehr freundlich ausgefallen. Sie fühlten sich von dem stinkenden Stadtstreicher belästigt, der ja eh nicht kapierte, was dort geredet wurde.

0,09 Prozent – der Wert stabilisierte sich zunehmend. Für den Moment schien die Gefahr gebannt. Doch der nächste Schub würde der Anfang vom Ende sein. Der Wert würde dann steigen und steigen. Das Ende konnte dann niemand mehr aufhalten.

Niemand mehr? Die Blicke der so unterschiedlichen Männer trafen sich. »Hat es

schon Meldungen von den Kontinenten gegeben?« Tanno hob und senkte die kantigen Schultern. »Die

Übertragungen von Sip blockieren zurzeit alle weiteren Meldungen. Es hat kleinere Überschwemmungen auf dem Nordkontinent gegeben. Nichts Aufsehenerregendes. Das wahre Desaster lässt sich Zeit.« Er blickte auf den Screen. »Der nächste Schub wird Uskugen in ein Chaos stürzen. Nur sehen die Verantwortlichen das noch nicht so deutlich wie du und ich, Ornit. Und der Schub wird kommen. Die Balance ist aus den Fugen geraten, das ist nun nicht mehr zu ändern. Der winzige Funke – ich habe ihn prophezeit.«

»Dann unternimm etwas, Tanno. Zeige dem Rat Möglichkeiten und Wege. Uskugen braucht nun deinen brillanten Verstand. Zeige ihnen, was jetzt noch machbar ist.«

Tanno sah seinen einstigen Mentor verwundert an. Dann brach unbändiges Gelächter aus ihm hervor. Nur mit Mühe zwang er sich selbst wieder zur Ruhe.

»Was soll ich dem Rat sagen, was er nicht seit ewigen Umläufen

immer wieder von mir gehört hätte? Sie werden eigene Versuche starten, werden ihre Magie zu bündeln versuchen. Du wirst es sehen. Oder soll ich ihnen mitteilen, dass ich schon lange an der Lösung aller Probleme arbeite?« Belustigt registrierte er, wie Caiwee sich in dem Sessel versteifte, in den der alte Mentor sich gesetzt hatte.

»Keine gute Idee? Sie würden mich selbst jetzt noch mit ihrer Moral verdammen, auch wenn ich ihre letzte Hoffnung bin. Und es fehlt mir nur noch der letzte Funken, der Sips Chaos entzündet hat. Nicht mehr lange, dann werde ich über ihn verfügen. Der magische Funke, Ornit. Der erste echte Funke von Magie, den es auf Uskugen je gegeben hat!«

Ornit wollte aufspringen, fliehen oder sich auf Tanno werfen, um den ihm körperlich überlegenen Uskugen zu überwältigen. Er wusste es selbst nicht genau …

Doch er bewegte sich nicht um einen Millimeter aus dem Sessel! Gebannt! Tanno wandte Magie gegen ihn an. Tanno? Alle Bemühungen brachten keinen Erfolg. Erschöpft starrte Ornit

seinen ehemaligen Schüler an. Und Semjon Tanno blickte gleichmütig auf den alten Mann herab. »Nein, du bleibst bei mir. Du sollst sehen, wie sich schließlich doch meine Theorien als wahr und richtig erweisen. Übrigens hoffe ich, dass dir die kleine Spielerei mit dem Sessel gefällt. Irgendwie magisch, nicht wahr? Aber du weißt ja, dass ich keinerlei Potential dazu habe. Die Aufhebung zweier einzelner Teile mittels Verschmelzung. Nur ein technischer Trick – aber wirkungsvoll, nicht wahr?«

Als wäre er seinen Gefangenen nun leid geworden, wandte sich Tanno wieder dem Screen zu. Noch war nicht alles so, wie er es haben wollte. Noch fehlte ihm ein Teil. Der entscheidende Teil.

Lange musste Tanno auf ihn jedoch nicht mehr warten. Es war ein reichlich unbequemes Erwachen, das Zamorra über

sich ergehen lassen musste. Unbequem, weil er die vergangenen Stunden auf der nicht

besonders breiten Rückbank des Gleiters zugebracht hatte, der ihn und die Kinder zum Krankenhaus gebracht hatte. Von der Passage zwischen dem Mond und Uskugen hatte er nicht viel mitbekommen. Auf dem Raumhafen waren sie sofort medizinisch versorgt worden, soweit das notwendig war.

Zamorra wunderte sich über den Erschöpfungszustand, der ihn regelrecht überfallen hatte.

Die Stimme Laertes' ertönte sanft in seinem Bewusstsein. »Wir haben Raum und Zeit überbrückt. Das wird der Grund sein.« Nahtlos ging er zur Hauptproblematik über. »Diese Welt ist in einer unglaublichen Lage, Zamorra. Was auf dem Mond geschehen ist, kann das ganze System vernichten. Wir müssen etwas tun.«

Zamorra versuchte den Rest an Müdigkeit zu verscheuchen, der ihm noch immer in den Gliedern saß. »Was könnten wir tun? Außerdem verstehe ich noch immer nicht, was diese beiden Monde bewirken.«

Irgendjemand klopfte von außen an die Scheibe des Gleiters. Zamorra erkannte ein freundliches Gesicht, das von Müdigkeit gekennzeichnet war. Als der Parapsychologe den Gleiter verließ, stand er einem Mann in weißem Kittel gegenüber, der dem Franzosen kaum bis zur Schulter reichte. »Verzeihen Sie, aber wir haben wirklich nicht gewusst, wo sie abgeblieben waren. In dem ganzen Trubel hier … Sie verstehen das sicher?«

Zamorra beeilte sich, den kleinen Mann zu beruhigen. »Natürlich, aber sagen Sie mir doch lieber, wie es der Frau und den Kindern geht, die wir hierher begleitet haben.«

Einen Moment lang zögerte der Mann, doch dann gelangte er wohl zu der Einsicht, dass der Fremde ein Recht zu dieser Frage hatte. Immerhin hatte er der Frau das Leben gerettet, wie man allgemein erzählte. Vielleicht war er kein direkter Verwandter, doch die Information war schließlich nicht geheim.

»Der Frau geht es den Umständen entsprechend gut.« Zamorra wunderte sich, wie sehr sich die Sprüche der Ärzte doch glichen, ganz gleich auf welcher Welt man sie auch antraf. »Es besteht keine Lebensgefahr mehr. Und die Kleinen … ja, die wurden von einer

Verwandten abgeholt. Denen geht es bei ihrer Familie sicher auch gut. Aber warum ich Sie unbedingt finden wollte: Der Rat Dalius Laertes bittet Sie dringend in das Ratsgebäude. Er will Sie unbedingt kennen lernen. Schließlich haben Sie seine Familie vor dem sicheren Tod bewahrt. Ein Ratsgleiter steht Ihnen jederzeit zur Verfügung. Sie müssen sich nur an der Aufnahme melden.«

Mit freundlichem Kopfnicken verabschiedete sich der Mann und hastete auf kurzen Beinen über den Platz, auf dem der Gleiter stand. Zamorra konnte sich ausmalen, was in den letzten Stunden hier los gewesen sein musste. Viele Verletzte hatte man mit den Raumfähren direkt nach Uskugen gebracht. Die Kliniken auf Sip waren auf eine solche Katastrophe nicht vorbereitet gewesen.

»Diese freundliche Einladung sollten wir nicht ausschlagen.« Zamorra hatte sich an die stille Zwiesprache mit Laertes inzwischen gewöhnt. Solange der Vampir nicht erneut versuchte, die Kontrolle über Zamorras Körper zu übernehmen, konnte der Dämonenjäger mit der ganzen Situation leben.

»Zamorra …« Der Franzose konnte die Unsicherheit und Angst in Laertes' »Stimme« nahezu spüren. »Nach wie vor liegt ein dicker Schleier über meinen Erinnerungen. Ich weiß nicht, was weiter geschehen wird – oder geschehen ist. Aber bei einer Sache bin ich mir ziemlich sicher: Mojica und ich hatten keine Verwandten. Wer also hat meine Kinder abgeholt? Da stimmt etwas nicht.«

Zamorra schwieg, denn zu dem, was Laertes ihm da eröffnet hatte, fiel ihm keine gescheite Entgegnung ein.

Der Gleiter brachte sie traumwandlerisch sicher durch dieses Labyrinth, das die Uskugen ihre Hauptstadt nannten. Zamorra war überwältigt. Er wurde von den Eindrücken dieser Stadt regelrecht erschlagen. Wahrscheinlich litt er unter Reizüberflutung, denn als der Gleiter endlich vor einem gewaltigen Kuppelbau stoppte, den man schon seit Minuten über die Dächer von Uskugen Deyat hatte ragen sehen, fiel es Zamorra schwer, sich auf die einfachsten Dinge zu konzentrieren. Den kurzen Fußweg zum Eingang der Kuppel

nahm er kaum wahr. Laertes' Bewusstsein hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Die

Sorge um seine Kinder hatte ihn verstummen lassen. Es half nichts – sie waren auf Hilfe angewiesen, wenn sie irgendetwas erfahren wollten. Zamorra war hier ein Niemand – wie sollte er an Informationen gelangen? Doch die Einladung in das Ratsgebäude eröffnete sicher ganz neue Möglichkeiten.

Es gab da nur eine Sache, vor der Zamorra zurückschreckte. Dennoch wusste er, wie unumgänglich sie war. Sie mussten Laertes treffen. Den Laertes, der in diese Zeit und an diesen Ort gehörte, der hier und nun existierte.

Zamorra fürchtete sich vor einem Paradoxon. Zeitreisen waren dem Parapsychologen nicht fremd. Deren ganz

eigene Problematik natürlich auch nicht. Was, wenn ein Zeitreisender sich selber in der Vergangenheit begegnete? Die Antwort war nicht in einem Satz zu geben. Zu viele Komponenten spielten dabei entscheidende Rollen. Das Ergebnis war im Vorfeld nicht abwägbar.

Laertes meldete sich, als der Professor die Eingangshalle der Kuppel betrat.

»Deine Sorgen sind wahrscheinlich unberechtigt. Ich existiere in dieser Zeit ja nur als Teil deines Bewusstseins, nicht als die eigenständige Person Dalius Laertes. Und selbst dieses Bewusstsein ist nicht vergleichbar mit dem des real existierenden Laertes.«

Zamorra wusste, dass Dalius auf sein Vampirsein anspielte. Vielleicht hatte er Recht. Die Frage würde nicht mehr sehr lange auf ihre Beantwortung warten lassen, denn Zamorra sah den jungen Uskugen, der winkend auf ihn zueilte.

Er war ganz in Schwarz gekleidet, trug die dunklen Haare bis weit über seine Schultern offen. Ein Gesicht blieb immer ein Gesicht, selbst wenn die Zeit ihre tiefen Spuren in ihm hinterlassen hatten. Zamorra hätte den jungen Dalius Laertes unter Tausenden sofort erkannt.

Der Rat, Magier und »Ventur«-Champion umarmte den Professor mit so großer Herzlichkeit, dass der diese Berührung verblüfft über sich ergehen ließ. Alles, was der Vampir Laertes an introvertiertem

Wesen wie einen Schutzschild vor sich her trug, gab es bei dem Uskugen Laertes in keinster Form. Der Mann war offen, extrovertiert; diese Geste kam bei ihm aus vollem Herzen.

»Wer du auch immer bist – ab heute bist du mein Bruder. Man hat mir gesagt, du heißt Zamorra? Und weiter?«

Der Parapsychologe grinste den Rat an. »Nichts weiter. Zamorra reicht mir voll und ganz.«

Sein Gegenüber nickte nur akzeptierend. »Gut. Ohne dein Eingreifen hätte meine Familie auf Sip wohl kaum überlebt. Womit kann ich dir dienen? Ganz gleich, was auch immer, sag es mir nur.«

Zamorra horchte tief in sich hinein. Laertes' Bewusstsein hatte sich bei dieser Begegnung regelrecht verkrochen, tief in Zamorras Unterbewusstsein. Zamorra konnte das gut nachvollziehen. Wie sollte man damit zurechtkommen, von sich selbst umarmt zu werden? Für den Vampir war diese offenbar eine Erfahrung, auf die er gern verzichtet hätte.

Zamorra überlegte nur kurz, ehe er Dalius Laertes eine Antwort gab.

»Ehrenkarten für das Endspiel!« Die beiden Männer lachten – das Eis war endgültig gebrochen.

Und genau das hatte der Dämonenjäger mit seiner Antwort auch erreichen wollen. Vom Vampir-Laertes konnte er den eigentlichen Sinn ihres Hierseins nicht erfahren. Der wusste auch nur, dass er dem Geheimnis seiner eigenen Vergangenheit auf der Spur war. Worin das aber bestand, war ihm nicht klar.

Also konnte Zamorra sich nur an den Laertes halten, der in dieser Zeit lebte und handelte. Er brauchte die Nähe zu dem jungen Uskugen, um schlussendlich beiden helfen zu können. Und nicht zuletzt sich selbst, denn er wollte nicht für alle Ewigkeit in dieser Zeit, an diesem Ort existieren müssen.

»Du kannst direkt am Spielfeldrand sitzen, wenn du möchtest. Aber ernsthaft: Sag, was du möchtest.« Laertes war die innere Anspannung anzusehen, denn immerhin schwebte sein Heimatplanet in großer Gefahr.

»Du sitzt direkt an der Quelle«, antwortete Zamorra. »Sag mir, wie

es um Sip und Uskugen steht. Ich will helfen, doch das kann ich nur, wenn ich alles weiß.«

Laertes' Blick wurde skeptisch. Sosehr er diesem Mann auch zu Dank verpflichtet war, so wenig konnte er sich vorstellen, dass ausgerechnet er hier helfen konnte.

»Warum sollte ich es dir nicht sagen? Die Öffentlichkeit wird es so oder so bald erfahren. Es wird sich wohl auch kaum verheimlichen lassen.« Die Miene des Ratsmitgliedes verfinsterte sich. Er nahm Zamorra beim Arm, führte ihn zu einer Nische, in der sie ungestört miteinander reden konnten.

»Die Daten sind eindeutig. Sip ist Uskugen um mittlerweile 0,09 Prozent näher gekommen. Das Beben – nennen wir es vorerst so – hat den Mond aus seiner Bahn gerissen. Minimal, so hat es zumindest den Anschein. Doch das reicht bereits aus, um direkte Auswirkungen auf Uskugen zu haben. Und …«, er atmete tief durch, »… unsere Wissenschaftler sind sicher, dass es dabei nicht bleiben wird, Zamorra«

Der Verdacht, der sich bereits auf Sip im Parapsychologen gebildet hatte, nahm immer konkretere Formen an. Legenden, Mythen, Märchen, mit denen man Kindern die Welt zu erklären versuchte –, sie konnten manchmal zur harten Realität werden. Und die Erwachsenen waren dann diejenigen, die damit nicht umzugehen verstanden. Den Uskugen mochte es da nicht anders ergehen.

»Das Beben war magischen Ursprungs, nicht wahr?«, fragte Zamorra.

Laertes starrte den Mann neben sich verblüfft an. Wie hatte er das wissen können?

Zamorra setzte nach. »Die Magie Uskugens, die eine der beiden Säulen, auf denen alles ruht … sie stammt von Sip. Sip ist eure Magie, habe ich Recht? Dieser Himmelskörper fungiert als ein riesiger Speicher, der dosiert abgibt, was ihr das magische Potential nennt.«

Laertes war aufgesprungen. »Wer bist du? Du redest, als … als würdest du das alles von außen her betrachten. Wie ein Fremder, der nicht zu uns gehört. Ich werde …«

Zamorra drückte, den jungen Mann sanft zurück in seinen Sitz. »Hör mir zu. Wenn ich nicht von Uskugen stamme, wenn ich vielleicht nicht einmal in diese Zeit gehöre, habe ich dennoch deine Familie gerettet. Reicht dir das nicht, um meine Absichten einschätzen zu können?«

Der Uskuge beruhigte sich langsam. »Doch. Natürlich, verzeih. Aber was in den letzten Stunden über mich und uns alle hereinbricht, das ist einfach zu viel. Was weißt du noch? Sprich – bitte.«

Zamorra fühlte, wie sich das Vampir-Laertes-Bewusstsein in ihm wieder regte, doch er unterdrückte es mit aller Kraft.

Nun war er am Zug. Eine Einmischung konnte er jetzt nicht gebrauchen.

»Ich weiß nicht viel, aber sag mir: Spürst du eine Veränderung in dir?«

Der hagere Uskuge begriff, worauf Zamorra hinauswollte. »Du meinst die Magie in mir, nicht wahr? Ja, und anderen ergeht es auch so. Das ist in der Sitzung vorhin deutlich geworden. Magie kann man nicht messen, nicht in Zahlen fassen. Wenn das ginge, dann würde man sicher einen heftigen Ausschlag in beide Richtungen erkennen können. Ich kann nur sagen, dass ich nicht mehr sicher bin, meine Magie voll und ganz zu beherrschen. Es ist ein schreckliches Gefühl.«

Er unterbrach sich, holte tief Luft, ehe er fortfuhr: »Aber wie kann ein Mond der Ursprung für die Magie eines

Volkes sein? Das ist doch unfassbar.« Zamorra antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen?

Spontan fielen ihm die riesigen schwarzen Dhyarra-Kristalle ein, die von der DYNASTIE DER EWIGEN und den Meeghs als Energiespeicher genutzt wurden. Warum also nicht auch ein ganzer Mond?

Es war dem Dämonenjäger allerdings unverständlich, warum die so hochbegabten Wissenschaftler auf dieser Welt nie entsprechend geforscht hatten. Sollten Märchen nur Märchen sein – und bleiben?

Vielleicht war das eine Erklärung.

Zamorra sagte: »Ich war in einer der Stationen, die ihr auf anderen Welten errichtet.« Mit leichtem Druck auf Laertes' Hand unterband der Professor die Frage, die dem Uskugen auf der Zunge lag. »Später erkläre ich es dir, wenn uns dann noch die Zeit dazu bleibt. Die Magie in euren Stationen ist stark, aber irgendwie flüchtig. Ich habe es selbst erlebt. Wenn die Stationen in großen Entfernungen liegen und bereits lange existieren, schwächt sich die Magie dort langsam ab?«

Laertes nickte. »Das ist ein Problem, das wir bisher noch nicht lösen konnten.« Er hob den Kopf. »Du meinst, die Entfernung zu Sip könnte damit zusammenhängen?«

Zamorra machte eine Geste, die alles und nichts bedeuten konnte. Doch im Grunde war er sich mittlerweile ziemlich sicher: Die

Balance zwischen Technik und Magie war natürlich auch auf die Basen übertragbar. Und die Wahrscheinlichkeit war groß, dass der Erste Rat in der Station auf der Erde seine Fehlentscheidungen getroffen hatte, weil die Magie dort im Schwinden begriffen war, weil die Balance nicht mehr stimmte.

»Er wird diese Entscheidungen erst in ferner Zukunft treffen, vergiss das nicht, Zamorra«, meldete sich das Vampir-Bewusstsein schwach. »Ist das nicht ein Beweis dafür, dass wir hier nichts verändern werden?«

Zamorra ignorierte den Einwand. Er hatte schon vor langer Zeit erkennen müssen, wie viele Wirklichkeiten parallel zueinander existieren konnten. Die anderen möglichen Realitäten interessierten ihn jetzt nicht – diese hier war entscheidend. Und in dieser drohte ein ganzes Volk vernichtet zu werden, weil ein Magiespeicher von unvorstellbarer Größe auf den Planet zu stürzen drohte. Hätte, wäre, könnte … Zamorra hatte es sich abgewöhnt, sich in diesen Fragestellungen zu verlieren, denn die hatten ihn nie auch nur einen Schritt nach vorne gebracht.

Es galt zu handeln. Hier! Und das so schnell wie nur möglich. »Hat der Rat Gegenmaßnahmen beschlossen?« Der junge Ratsheer nickte. »Alle verfügbaren Raumer werden in

Richtung Sip starten. Es soll versucht werden, mittels des magischen Blocks den Mond zu stabilisieren.« In seiner Stimme klangen Zweifel mit, die Zamorra nicht überhören konnte.

Viel wusste der Professor nicht von dieser Form, mit der die Uskugen ihre Schiffe durch Magie zu Überlichtraumern machten. Es gab jedoch eine einfache Methode, diese Wissenslücke zu füllen.

»Ich denke, du wirst ebenfalls an Bord eines der Raumer sein, nicht wahr?«

Laertes nickte bestätigend. Zamorra grinste ihn an. »Da hast du den Gefallen, den ich bei dir

erbitte: Nimm mich mit!« Dagegen hatte der junge Ratsherr überhaupt keine Einwände.

»Du hast ihm verschwiegen, dass seine Kinder verschleppt wurden.« Das Laertes-Bewusstsein hatte lange Zeit geschwiegen. Die unmittelbare Nähe zu seinem Ur-Ich schien ihn zu schwächen, zumindest stellte sie ein Hemmnis dar.

Zamorra ging nicht unmittelbar auf den Vorwurf ein, der kaum zu überhören war. Zu sehr war er von den Dingen gefesselt, die sich auf Uskugens größtem Raumhafen abspielten. Der Parapsychologe musste unumwunden zugeben, dass er beeindruckt war. Diese Schiffe faszinierten ihn, der durchaus seine Erfahrungen mit der Raumfahrt gemacht hatte. Er selber gehörte zu der Hand voll Menschen, die einen Spider, Raumschiffe der nicht mehr existierenden Rasse der Meeghs, nahezu perfekt steuern konnten. Nahezu … denn der eine Spider, der Zamorra und seinem Team noch verblieben war, gab ihnen nach wie vor so manches Rätsel auf.

Zudem war er vertraut mit den waffenstrotzenden Raumern der DYNASTIE DER EWIGEN.

Diese Schiffe hier hatten jedoch einen ganz speziellen Reiz. Ja, irgendwo konnte man sogar von Charme sprechen. Sie hatten allesamt – ganz gleich, ob es sich um kleinere Schiffe handelte, die sicher als Aufklärungsraumer verwendet wurden, oder um die mächtigen Riesen, die über genügend Frachtraum verfügten, um

das Material einer kompletten Basis für eine Fremdwelt in ihren Bäuchen zu verstauen – die Form eines Pentagondodekaeders.

Diese geometrische Form fügte sich aus zwölf gleichmäßigen Fünfecken zusammen, die so eine zumindest annähernde Kugelform ergaben. Wenn man die Schiffe aus einem bestimmten Blickwinkel heraus betrachtete, hatten sie etwas außerordentlich Schräges an sich. Das ergab sich durch die angeordneten Fünfecke.

Alle Raumer erstrahlten in einem so intensiven Blau, wie Zamorra es zuvor wahrscheinlich noch nie gesehen hatte.

Was für eine Flotte! Der Professor hatte keine Möglichkeit, sie zu zählen, doch alleine von Uskugen aus konnten gut 250 dieser Raumobjekte gestartet werden. Auf Rof parkte sicher auch eine nicht eben geringe Zahl von ihnen; einzig Sip war mit diesen Schiffen nur eher mager bestückt.

Pentagondodekaeder – Zamorra konnte sich täuschen, aber irgendwo in seinem Hinterkopf huschte eine Information herum, die ihm nun in den Sinn kam. Hatte es da in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht irgendwo einen als reichlich schrullig bekannten Redakteur und Verleger gegeben, der seinem Hauptautor eben diese Raumschiffform aufgezwungen hatte? Das spielte jedoch nun überhaupt keine Rolle.

Ihm fiel die Bemerkung seines derzeitigen Geistesbruders wieder ein. Die Kinder – vielleicht waren sie längst in Sicherheit. Nein, das wäre reichlich unlogisch geschlussfolgert. Wie würde der junge Laertes es verkraften, wenn er von ihrem Verschwinden erfuhr?

Zamorra sah sich um. Man hatte ihn gebeten, sich in eines der kleineren Schiffe zu begeben. Die Zentrale war äußerst spartanisch und konventionell ausgelegt. Alles völlig sachbezogen; die Technik dominierte hier natürlich. Die Mitte der Schiffszentrale war dem Kapitän vorbehalten. Im Fall dieses Schiffes eine sehr in sich gekehrte Uskugin, die Zamorra nur mit einem Kopfnicken begrüßte. An den Wänden saßen die für den Flug wichtigen Mannschaftsteile: Navigation, Funk, Technikingenieure – wenn man sie hier vielleicht auch anders bezeichnete, so blieben ihre Funktionen sicher die, die sie wahrscheinlich auf allen Raumschiffen der Galaxis waren.

Über die großen Screens konnte Zamorra die Startvorgänge beobachten, die im Minutentakt abliefen. Die Schiffe starteten nach erfolgter Freigabe, lautlos, ansatzlos. Das Bild der sich wie Federn in die Lüfte erhebenden Giganten raubte Zamorra schier den Atem. Er hätte sich nur zu gern die Antriebssektion eines der Schiffe angeschaut.

Dalius Laertes trat in die Zentrale. Das Gesicht des Ratsherren war kreidebleich.

Auf unsicheren Beinen ging er zu der Schiffsführerin. »Wir können nun starten.«

Zamorra trat neben den jungen Mann, der ihn seltsam verwirrt ansah. »Mojica wird wieder gesund. Ich habe mit den Medizinern gesprochen. Aber … Zamorra, meine Kinder sind verschwunden. Sie wurden abgeholt, von … Niemand weiß, von wem. Das muss doch ein Irrtum sein, nicht wahr? Der Rat lässt schon nach ihnen suchen. Und Semjon Tanno ist ebenso nicht auffindbar. Was geschieht denn hier?«

Zamorra legte beruhigend eine Hand auf den Unterarm des überforderten Uskugen. »Man wird deine Kinder sicher bald finden. Und Tanno ist doch für diese Aktion nicht unbedingt wichtig, oder? Also beruhige dich. Es wird sich alles finden.«

In Zamorras Bewusstsein regte sich sein Gast, der die Verzweifelung seines eigenen Ichs überdeutlich spüren musste. Zamorra hatte alle Mühe, um den Vampir nicht an die geteilte Bewusstseinsoberfläche kommen zu lassen.

Als Zamorra wieder zu den Bildschirmen sah, erkannte er überrascht, dass sie sich bereits im All befanden. Vom Start hatte er nichts gespürt.

Er blickte Laertes an, in dessen Gesicht nur langsam die Farbe zurückkehrte.

»Wir müssen uns jetzt auf das konzentrieren, was absoluten Vorrang hat«, sagte Zamorra. »Vielleicht kann ich ja helfen.«

Der Angesprochene nickte mechanisch. Zamorra war nicht sicher, ob er ihn überhaupt verstanden hatte.

Als er erneut auf die Screens blickte, bot sich ihm ein

unglaublicher Anblick. Der Raum zwischen Uskugen und Sip war erfüllt von stahlblauen

Titanen, die nur ein Ziel verfolgten: Sip musste wieder in seine ursprüngliche Position gebracht

werden. Nur dann gab es noch eine Chance für Uskugen.

6. Der Block 

Der kleine Pyet flog eine ungewöhnliche Route. Sein Start vom unbedeutenden Raumhafen in Uskugen Deyats

Süden war nicht autorisiert; er war nicht gemeldet, niemand hatte überprüft, wer oder was sich an Bord befand, niemand kannte seinen Zielhafen, und in keiner Datei würde man später eine Starterlaubnis finden.

Es würde sie auch niemand suchen. Der Grund war einfacher Natur: Es gab dieses Schiff offiziell überhaupt nicht. Es war in höchstem Grade illegal.

Sein Besitzer legte speziell auf das Nichtvorhandensein seiner Registrierung großen Wert. Während der vergangenen sieben oder acht Umläufe war es maximal zu zwanzig Flügen benutzt worden. Kein neues Modell mehr, aber ein besonders robustes und in allen Funktionen perfekt gewartet. Es gab Techniker, die keine Fragen stellten, sondern nur ihre Arbeit taten. Und das ganz besonders gut und diskret.

Die Pilotin des Pyet steuerte in einem unsinnig großen Bogen von Uskugen weg, um erst dann ihr Ziel anzuvisieren. Sie war eine ausgezeichnete Pilotin, hatte ihr eigenes – höchst offizielles – Pyet, konnte auf eine große Erfahrung hinweisen. Dieser Flug hier war lächerlich einfach für sie. Eine Kleinigkeit, wie man sie halt nebenbei erledigte.

Dennoch schwitze sie in der Kabine so heftig, dass sie sich ständig mit einem Tuch die Stirn abwischen musste. Die Automatik hatte die Flugkontrolle übernommen; sie arbeitete – wie auch der Bordfunk – auf Frequenzen, die nirgendwo auf Uskugen oder den Monden Verwendung fanden. Das alles war vom Feinsten manipuliert und modifiziert.

Die Pilotin ließ in keiner Sekunde den Blick von den Ortungsanzeigen.

Nur zu genau wusste sie, dass ganz Uskugen sich auf Sip konzentrierte; die Rettungsaktion der Flotte würde in wenigen Stunden beginnen. Niemand, wirklich niemand würde nach einem unregistrierten Pyet suchen. Nicht, nachdem so ziemlich jedem auf dieser Welt bewusst geworden war, dass eine schreckliche Katastrophe bevorstand, gegen die sich die Ereignisse auf dem Mond der Magie wie eine Nichtigkeit ausnehmen würden.

Und dennoch – beinahe sehnte sie sich das erste Anschlagen der Warneinheit herbei, das anzeigen würde, dass man sie entdeckt und mit der Verfolgung begonnen hatte.

Es geschah natürlich nichts. Nervös riss sie ihre Aufmerksamkeit endlich von der Ortung los.

Sie musste nach der Fracht sehen, die sie in der engen Kabine untergebracht hatte, wo sich bei längeren Flügen all das befand, was der Pilot für sich benötigte.

Feeline hatte es nicht über sich gebracht, die Kinder in den kalten Frachtcontainer einzusperren, wie man ihr eigentlich aufgetragen hatte.

Leise öffnete sie die Tür zur Kabine. Beide schliefen noch. Feeline biss sich auf die Lippen. Sie hatte mit

einem Narkosemittel nachhelfen müssen, als Jicada und Sajol schließlich erkannt hatten, was hier gespielt wurde. Die Kleinen waren erst vier Umläufe alt, aber sie ließen sich nicht mit guten Worten und Beteuerungen abspeisen.

Feeline Silja kehrte auf den Pilotensitz zurück. Rof nahm bereits die halbe Frontsichtscheibe ein. Nur ganz kurz erlaubte sie sich einen Augenblick der Ruhe. Als sie die Augen schloss, sah sie sich selbst, wie sie das Hospital betreten hatte.

Wie hatte sie sich nur darauf einlassen können? Was sie getan hatte, war nichts anderes als eiskalter Kindesraub. Ein Delikt, das auf Uskugen weit oben auf der Liste der schlimmsten Vergehen stand. Dafür gab es keine Milde, nicht einmal so etwas wie den Versuch des Verstehens. Die Exekutive sah die Höchststrafe für eine solche Tat vor.

Tat sie das denn wirklich alles nur für einen Mann, der sie seit

einer kleinen Ewigkeit nicht einmal ansatzweise beachtet hatte? Er schätzte sie hoch, das war Feeline klar. Sie war der gute Geist, der stets an alles dachte, immer für ihn parat stand. Mehr sicherlich nicht.

Und es würde auch nie anders werden. Anders? Wie – anders? Das wäre seine Reaktion gewesen, hätte er nun ihre Gedanken

lesen können. Ein kurzer Anruf von ihm hatte gereicht, um Feeline Silja zu einer Schwerstverbrecherin werden zu lassen. Dass sie hier in einem Raumschiff saß, das es eigentlich überhaupt nicht geben durfte, dass sie bei Start und Landung ein Gesetz nach dem anderen gebrochen hatte, das fiel dabei kaum noch ins Gewicht.

Mit ihrem schönsten Lächeln bewaffnet, war sie im Hospital an Personal und Ärzten vorbei in das Zimmer der beiden Laertes-Kinder gelangt. Die beiden kannten Tante Fee natürlich und freuten sich über den lieben Besuch. Beide waren leicht verletzt gewesen, mehr als Schürfwunden und Schnitte hatten sie nicht abbekommen. Sie waren zwar erschöpft, doch schon wieder bei bester Laune. Ihrer Dey ging es bereits besser – bald würden sie alle zusammen nach Hause können.

Dass es das Haus ihrer Eltern auf Sip nicht mehr gab, hatten die Kinder verdrängt.

Mit leuchtenden Augen hatten sie die Süßigkeiten verputzt, die Fee ihnen mitgebracht hatte. Die Drogen hatten schon bald ihre Wirkung gezeigt. Die Kinder waren bei Besinnung, doch das Mittel, das Feeline ihnen verabreicht hatte, schaltete ihren Eigenwillen völlig aus. Bei Jicada, die magisch hochbegabt war, hatte Fee mit Schwierigkeiten gerechnet. Die Kleine war misstrauischer als ihr Bruder, ganz einfach viel skeptischer als der Junge, dessen fröhliches Gemüt an seinen Vater erinnerte. Doch Jicada war genauso auf die liebe Tante Fee hereingefallen wie ihr Zwilling.

Der Rest war einfach gewesen. Viel zu einfach. Eine gefälschte Vollmacht mit der Unterschrift von Ratsherr

Dalius Laertes, eine leicht einfältige Pflegerin, die alleine schon durch die Nennung von prominenten Namen zu beeindrucken war

– das war's dann schon. Minuten später hatte Feeline mit den Zwillingen das Hospital

verlassen. Mit ihrem Gleiter war sie auf Umwegen zu dem kleinen Raumhafen gefahren und hatte den Pyet bestiegen.

Silja drückte den Codegeber, der in die Armlehne ihres Pilotensessels integriert war. Nicht allzu weit vom »Wissenszentrum-Rof« öffnete sich auf einem unscheinbaren Gelände, das von einer hohen Mauer umgeben war, ein Bodenschacht, der groß genug war, um einen Pyet in sich aufzunehmen.

Die Landung wurde durch einen Leitstrahl gesteuert. Feelines Job als Pilotin war damit getan. In den Tiefen des Schachtes endete dieser Flug. Und damit endete auch Feeline Siljas bisheriges Leben, denn sie war sich darüber im Klaren, dass sie sich in den vergangenen Stunden für alle Zeiten außerhalb der uskugischen Gesellschaft gestellt hatte.

Von außen wurde der Pyet geöffnet. Feeline sah in ein braun gebranntes Gesicht, aus dem ihr zwei seltsam desinteressierte Augen entgegenblickten. Drei weitere Männer erschienen im Schott, bewegten sich wortlos auf den Staucontainer zu.

»Nein, nicht dort. Die Kinder sind in der Kabine.« Feelines Hals war so ausgedörrt, dass ihr die eigene Stimme absolut fremd vorkam.

Ohne eine Entgegnung öffneten die Männer die Kabinentür und luden sich die betäubten Kinder auf die Arme. Fee wusste, dass jetzt sicher der letzte Moment war, um noch eine Umkehr zu versuchen. Sie hob die Arme, doch der Ansatz eines Protestes erstarb. Sie verstummte, als sie die Augen der Männer sah. Mit gesenktem Kopf machte sie den Weg frei.

Diese Burschen waren ihr schon immer unheimlich gewesen. Semjon Tanno hatte ihr einmal drei seiner Mitarbeiter vorgestellt, an deren Namen Fee sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte. Wie sollte man sich jemanden merken, der sich wie eine Puppe verhielt, höflich, korrekt, schweigsam – und ohne jegliche Ausstrahlung. Es waren die perfekten Helfer für einen Semjon Tanno, hatte sie sich damals gedacht. Undenkbar, dass einer von

ihnen Tanno widersprach. Oder einen dummen Witz erzählte. Oder ganz einfach reden wollte. Über irgendeine schöne Belanglosigkeit, über das Wetter, Blumen, ein neues Musikwerk.

Solche Mitarbeiter musste man sich backen. Und Fees Verdacht hatte sich bereits damals verdichtet.

Die stets ein wenig zu leise Stimme Tannos drang aus den versteckten Lautsprechern, die hier irgendwo in den Wänden eingelassen waren. Selbst verstärkt, wirkte Semjons Organ irgendwie weichlich, undefiniert.

»Liebe Fee, das haben Sie großartig gemacht. Kommen Sie doch bitte zu mir. Sie kennen ja meine kleinen Privatgemächer.« Tanno lachte ein wenig zu albern. Offenbar hatte er ausgezeichnete Laune. »Ich will Ihnen noch persönlich sagen, was für ein Schatz Sie für mich sind.« Ein leises Knacken beendete die Verbindung.

Ja, ich bin wirklich großartig, nicht wahr, Semjon? Eine perfekt funktionierende Assistentin. Oder würdest du den Ausdruck ›Vorzimmereinheit‹ bevorzugen?

Der Geschmack auf Feelines Zunge war bitter, ekelhaft bitter. Aber ich bin auch auf anderen Gebieten großartig. Nur hat dich das nie

interessiert, Semjon Tanno. Ich bin nämlich ein lebendes, denkendes und fühlendes Wesen – ganz im Gegensatz zu deinen Puppen, die du hier ständig um dich hast. Und ich kann lieben. Wahrscheinlich kennst du dieses Wort überhaupt nicht mehr …

Feeline Silja dachte dies alles, sprach es aber nicht aus. Gut, wenn der Rat sie sehen wollte, war das immerhin schon etwas. Sie hatte gedacht, er würde sie sofort zurück nach Uskugen schicken. Irgendwelche neuen Aufgaben hatte er sich sicher schon für sie ausgedacht.

Der Boden unter Fees Schuhen klickte metallisch. Das war auch das einzige Geräusch, das es hier unten zu geben

schien. Feeline registrierte das kaum. In ihrem Kopf wirbelten andere

Dinge umher, ganz andere Dinge.

Ornit Caiwee hatte es aufgegeben, sich von diesem verfluchten Sessel lösen zu wollen.

Aufhebung zweier einzelner Teile mittels Verschmelzung … Caiwee schnaubte verächtlich. Was für Ammenmärchen wollte Tanno ihm da auftischen? Hielt er seinen alten Lehrer für vollkommen senil?

Es waren sicher einige Stunden vergangen, seit Tanno ihn hier ohne jeden Kommentar zurückgelassen hatte. Er war ganz einfach von seinem Sitz aufgestanden, hatte die Screens abgeschaltet und war verschwunden. Es war ein zufriedenes Lächeln, das um Semjons Lippen zu erkennen gewesen war. Ein viel zu zufriedenes Lächeln, als dass Ornit seither auch nur eine ruhige Minute gehabt hatte.

So ein Lächeln zeigte man der Welt, wenn man kurz vor dem Abschluss einer ganz großen Sache stand. Und Ornit Caiwee ahnte, dass es um den Funken ging, der Sips Chaos entfacht hatte. So hatten Tannos Worte gelautet. Der alte Mentor wusste nicht wirklich, was er damit anfangen sollte.

Da war nur eine Ahnung, ein bitterer Verdacht, der in Caiwee aufgekeimt war, als er sah, dass Semjon sich die Daten von Laertes' Familie auf den Screen geholt hatte – immer wieder überflog er den Teil, der mit Dalius' und Mojicas Kindern zu tun hatte.

Solange er hier in diesem Möbelstück wie gefesselt hockte, konnte er überhaupt nichts tun. Ornit hatte wirklich alles versucht, damit sich dieser Zustand änderte. Selbst ein Umkippen des Sessels hätte er in Kauf genommen, doch er stand wie eingemauert und ließ sich nicht bewegen.

Verschmelzung … Unfug! Das war nichts weiter als ein Fesselfeld. Allerdings eines der feinsten Sorte, denn es schien sich ausschließlich auf ihn und diesen Thron zu beschränken. Eine nette Weiterentwicklung, die Tannos Genie andeutete, doch Ornit war nicht danach zu Mute, dem Rat auch noch Anerkennung zu schenken.

Es hatte allerdings auch keinen Sinn, sinnlos seine Kräfte zu vergeuden. Ornit Caiwee versuchte sich zu entspannen.

Vor der getarnten Tür mochte sich in diesem Moment wer weiß

was abspielen – er bekam davon hier drin nicht mit. Selbstverständlich hatte Tanno auch an eine perfekte Schallisolation gedacht. Die Tür hatte sich in den vergangenen Stunden nur ein einziges Mal geöffnet. Ein ausdrucksloses Gesicht hatte sich kurz gezeigt, war jedoch sofort wieder verschwunden. Sein Wächter, wie er vermutete.

Nein, Semjon Tanno überließ nichts dem Zufall. Die unsichtbare Tür reichte ihm als Sicherheit nicht aus.

Vorsichtshalber hatte er also zumindest einen Uskugen davor postiert. Warum schaltete Tanno ihn nicht einfach aus? Er hätte den alten Mann problemlos beseitigen können; der Bursche, dessen Visage Ornit kurz gesehen hatte, machte kaum einen besonders sensiblen Eindruck. Der Mentor traute solchen Typen durchaus auch einen Mord zu.

Dieses Fehlen jeder Emotion in den Gesichtszügen der Wache war überaus auffällig.

Ornit schloss die Augen. Wie ein Student hatte der Mann nicht ausgesehen. Was, wenn Tanno sich in aller Stille seine ganz private Schutzarmee gefertigt hatte?

Tanno? Der Uskuge, der flammende Reden vor dem Rat hielt, weil er es nicht billigte, dass sich sein Volk in die Belange fremder Zivilisationen einmischte? Vor Moral und Mahnung triefende Reden waren es gewesen. Und Ornit erinnerte sich erneut, wie zwiegespalten ihm Tannos Moral schon damals vorgekommen war.

Damals …

»Und nun?« Semjon Tanno hatte lächelnd vor seinem Mentor gestanden. Caiwee konnte man seine Wut, Enttäuschung und die Abscheu deutlich ansehen. »Nun hast du also endlich begriffen, um was es mir wirklich geht, Ornit. Was willst du nun tun? Beweisen kannst du es mir nicht. Ich bin vorsichtig genug vorgegangen – es gibt keine Spuren. Du kannst es gerne überprüfen lassen, aber

schließlich kennst du mich gut genug. Du weißt, dass ich keine Sprüche mache.«

»Warum hast du mir das hier gezeigt?« Caiwee deutete auf die schematische Darstellung, die auf dem Bildschirm zu sehen war. »Das – das ist so unglaublich … und du bist ein Verbrecher, wenn du nicht sofort …«

Tanno winkte scheinbar gelangweilt ab. »Komm mir nicht damit. Ornit. Als Wissenschaftler muss es auch dich begeistern, was du dort siehst. Gib es zu.«

Der Mentor schwieg. Tanno zuckte mit seinen Schultern. »Dann nicht. Aber ich weiß

dennoch, dass es so ist.« Ornit Caiwee schaffte es kaum, den Sturm der Gefühle, der in

seinem Inneren tobte, unter Kontrolle zu halten. Semjon Tanno hatte den Nachweis erbracht. Was Caiwee dort vor sich sah, war nichts anderes als der Beweis, dass die Magie der Uskugen nicht ausschließlich aus ihnen selbst heraus stammte. Es gab einen zweiten Faktor, der schlussendlich darüber bestimmte, wie hoch das magische Können jedes einzelnen Wesens war. Und dieser Faktor schien nach einem willkürlichen Prinzip zu funktionieren. Es gab keinerlei Regelmäßigkeit. Alles beruhte auf Zufall.

Eine bahnbrechende Erkenntnis, doch das war es nicht, das Caiwee so aufwühlte. Es war das beiläufige Eingeständnis der Versuche, deren Ergebnisse Tanno ihm geradezu bereitwillig vorgelegt hatte, als Caiwee ihm auf die Schliche gekommen war.

Die künstlichen Wesen, die als »Erster Rat« für einen begrenzten Zeitraum die Geschicke fremder Welten lenken konnten – sie hatte er für seine Versuche missbraucht. Tannos Ziel war nämlich die Erschaffung eines Wesens, das außer umfassendem Wissen eine ebenso große magische Kraft in sich barg.

Ein Wesen, das nicht nur lenken, sondern unangefochten herrschen konnte.

»Was treibt dich an, Semjon Tanno? Ehrgeiz? Hass auf alle, die mehr Macht als du haben? Das kann es doch nicht sein, oder? Was du versuchst, ist die Perversion unserer Ideale!«

Tanno blieb ruhig. Unnatürlich ruhig und gelassen. »Unsere Ideale?«, fragte er. »Sich in die Belange von fremden Zivilisationen einmischen, Schicksal spielen – dafür Sorge tragen, dass diese bedrohten Welten ihre zweite Chance bekommen. Und dann? Dann vernichten sich unsere Basen selbsttätig, natürlich ohne irreparable Umweltschäden dabei anzurichten, denn ein Schaden darf durch uns ja niemals entstehen, niemals!

Unsere Kunstwesen werden dabei ebenfalls ausgelöscht. Von der einstigen Anwesenheit einer Schutzmacht bleibt nicht die geringste Spur.«

Tanno hatte sich erhoben, kam langsam einige Schritte auf Caiwee zu, der ihm mit unbewegtem Gesicht zuhörte.

»Und wir? Ich meine: unser Volk? Was für einen Nutzen ziehen wir daraus? Du musst mir nicht antworten – du kannst es ja sowieso nicht. Ich will es dir sagen: keinen! Wenn ich es schaffe, diese Basen mit einer dauerhaft magischen Kraft auszustatten, wenn ihre Hüter Magie-Riesen werden, deren Potential nicht allmählich schwindet wie die lächerliche Abwehrmagie, mit der die Stationen jetzt ausgerüstet sind, dann könnte unser kleiner Planet in kürzester Zeit eine Macht im All werden. Und alles ohne Waffengewalt und Invasionsgehabe.«

»Ich danke Deyat, dass es dir nicht gelungen ist.« Caiwees Stimme war ein Flüstern. Nun wusste er, was Tannos wirkliches Ziel war. Und ihm wurde übel bei der Vorstellung, dass es irgendwann vielleicht einmal gelingen könnte. Er, Ornit Caiwee, musste das verhindern.

In Tannos Gesicht zuckte es, als er dicht vor seinen Mentor und Vorgesetzten trat. »Nun weißt du es, Ornit. Und das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut. Ich habe schon längst befürchtet, dass du einmal hinter all diese Dinge kommen würdest. Ich konnte mich also darauf vorbereiten.«

Ornit spürte den Einstich in seinem rechten Arm. Mit einem Sprung brachte er sich aus Semjons Reichweite. Zu spät,

viel zu spät … Caiwee verfluchte seinen Leichtsinn. Beinahe im gleichen

Augenblick begann sich alles um ihn herum zu drehen. Dann spürte er seinen Körper nicht mehr, kam hart zu Fall. Doch er blieb bei Bewusstsein.

Tanno beugte sich über ihn. »Ich werde dich natürlich nicht töten, alter Mann. Das könnte unangenehme Fragen zur Folge haben. Nein, es gibt ganz andere Möglichkeiten, dich aus dem Verkehr zu ziehen.« Ein beinahe freundliches Lächeln lag um Semjons Mund. »Und irgendwann – vielleicht schon sehr bald – werde ich finden, was mir jetzt noch fehlt. Das wirklich magische Genmaterial. Rein, echt, ohne zusätzlichen Einfluss von außen entstanden. Irgendwo wird es sein. Wer weiß? Aber du wirst dich dann nicht mehr darum kümmern müssen, mein Freund. Dein Leben wird dann schon ein anderes sein.«

Das war nun einige Umläufe her. Damals – der Tag, an dem sich Caiwees Leben abrupt geändert hatte.

Bei vollem Bewusstsein, ohne auch nur den kleinen Finger rühren zu können, hatte er miterlebt, was Tanno mit aus dem Verkehr ziehen gemeint hatte. Starke Hände hatten Ornit gepackt, ihn in einen Bodengleiter gelegt. Als es Nacht wurde, warfen die Hände ihn in eine schäbige Gasse, die irgendwo hinter dem Vergnügungsviertel von Rof lag. Hilflos hatte Caiwee die kleinen, äußerst scharfen Zähne zu spüren bekommen, die irgendwelche Nachtnager in ihn bohrten. Andere Vierbeiner hatten sich durch den Müllberg gewühlt, in dem der alte Mentor lag – Urin und Kot hatten sie ihm dann als Andenken an diese nächtliche Begegnung hinterlassen.

Als die Sonne aufging, da fanden ihn Hilfskräfte, die den Müll beseitigen wollten, der in dieser Nacht auf den Straßen angefallen war. Wachpersonal wurde gerufen, dann ein Krankengleiter, der Caiwee in ein Hospital brachte. Als die lähmende Wirkung ihn endlich verließ, schaute er nur in unverständige und zweifelnde Gesichter, als er seine Geschichte erzählte.

Zwei Tage danach hielt man über Ornit Caiwee Gericht. Vier ehrenwerte Uskugen, die als Komitee das Zentrum leiteten, machten

ihm klar, wie es um ihn stand. Bei den intensiven Untersuchungen im Hospital war keine fremde

Substanz in Ornits Körper festgestellt worden. Semjon Tanno befand sich nachweislich seit sechs Tagen nicht auf

Rof, sondern auf Uskugen selber. Dann legte man Caiwee Unterlagen vor, die so eindeutig waren,

wie sie es nur sein konnten: Er hatte Untersuchungsergebnisse verfälscht. Er hatte Mittel des Zentrums veruntreut. Es gab Dutzende von Zeugenaussagen, dass sich der Erste Mentor

seit mehreren Umläufen mit illegalen Beruhigungsmitteln eindeckte. Im Hospital hatte man bei ihm eine schwere vegetative Schlafstörung diagnostiziert.

Ornit Caiwee war nicht in der Lage gewesen, auch nur eine dieser Anschuldigungen zu entkräften. Selbst die Schlafstörung existierte – jedoch erst, seit Tanno ihm sein Gift injiziert hatte. Auch das konnte er nicht beweisen.

Alles sprach gegen ihn! Man würde ihn natürlich nicht bloßstellen, vorausgesetzt, er

würde sich aus seinem Amt zurückziehen. Das waren die letzten Worte, die auf dieser Sitzung gesagt wurden. Der Fall war damit erledigt. Für das Komitee, für das Zentrum, für Semjon Tanno.

Und für Ornit Caiwee. Natürlich hatte er eigene Nachforschungen betrieben. Aber nicht

lange, denn von Tag zu Tag ließen seine Kräfte merklich immer weiter nach. Der völlige Schlafentzug drohte ihn zu überwältigen. Das Ergebnis war, dass er letztendlich tatsächlich süchtig wurde, denn ohne starke Beruhigungsmittel konnte er kein Auge mehr zumachen. Das Gift – angeblich existierte es nicht, doch es tobte noch mehr als einen halben Umlauf Uskugens um Deyat in ihm.

Ornit Caiwee zog sich nie offiziell von seinem hohen Amt zurück. Das hätte er damals überhaupt nicht mehr bekleiden können, denn es war verbunden mit zeremoniellen Feierlichkeiten und einem Wust an formellen Übergabeaktionen, die er in seinem Zustand niemals überstanden hätte.

Er verschwand einfach, und seine Studenten und Kollegen vergaßen ihn nach und nach.

Niemand ist wirklich unersetzlich. Semjon Tanno übernahm seinen Posten. Das Zentrum war zufrieden.

Als das Gift in seinen Adern endlich seine Wirkung verlor, war Ornit längst zu einem Süchtigen geworden, einem Tabletten-Junkie, den man mit Füßen trat, wenn er einem im Weg lag. Und nur noch in der Schönen 34 ließ man ihn seine ständig frierenden Knochen ein wenig aufwärmen.

Die Erinnerung an all das stieß Ornit nun besonders bitter auf, denn erneut hatte er sich von Tanno überrumpeln lassen. Und wieder hatte ihn der Rat in seiner Gewalt – hilflos zur Bewegungslosigkeit verurteilt.

Gegen Schall hatte Tanno die Tür ausgezeichnet geschützt, nicht so gegen Erschütterungen. Caiwee stoppte seine recht hilflosen Bemühungen, den Sessel doch noch irgendwie umstürzen zu können, als draußen irgendetwas heftig gegen die Wand schlug. Einmal, zweimal – dann herrschte wieder Ruhe.

Der alte Mentor glaubte schon, an Halluzinationen zu leiden, als sich die Tür plötzlich lautlos öffnete. Zunächst erblickte Ornit nur den Oberkörper seiner Wache. Offenbar hatte der Mann vor der Tür auf dem Boden gesessen, denn nun sackte er rücklings in den Raum hinein. Ganz eindeutig ging es ihm nicht sonderlich gut, denn an seiner linken Schläfe wölbte sich eine Beule, die sich langsam blau zu färben begann. Irgendjemand hatte ihm schwer zugesetzt.

Als Ornit diesen Irgendjemanden erkannte, stockte ihm der Atem. Grinsend stand Lonja Ovis in der Türöffnung und schwenkte in

ihrer rechten Hand den hölzernen Kengo. In dem reichlich eng anliegenden Overall, den sie selbstbewusst trug, wirkte sie wie eine blutjunge Kämpferin. Der Wächter würde wohl vorerst nicht mehr stören können.

»Dich kann man aber auch wirklich nicht alleine lassen, alter Mann.«

Als sie auf Caiwee zusteuerte, stoppte er sie. »Vorsicht – Fesselfeld. Das Ding berührst du besser nicht. Irgendwo auf dem

Schaltpult da muss ein Schalter sein, mit dem man es abstellen kann.«

Lonja reagierte professionell, als würde sie solche Sachen jeden Tag erledigen. Mit einem kurzen Blick überflog sie die farbig gekennzeichneten Schalter. Sie zuckte nur mit den Schultern und kippte eines der Elemente nach unten.

Das Fesselfeld existierte augenblicklich nicht mehr. Ornit sprang auf. »Wie hast du denn das jetzt so schnell

herausgefunden?« Er bewegte die steif gewordenen Glieder, die ihm wieder einmal deutlich zu verstehen gaben, dass er nun einmal nicht mehr der Jüngste war.

Lonja bemühte sich um einen leicht überheblichen Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Alte Weisheit unter Frauen. Wenn du dich nicht für etwas entscheiden kannst, dann wähle das Teil, das deine Lieblingsfarbe hat. Dieser Schalter ist doch wirklich entzückend lila. Findest du nicht auch?«

Ornit verdrehte die Augen. Wie schon so oft erkannte er auch jetzt, dass ihm weibliche Logik für immer verschlossen bleiben würde.

»Komm, wir müssen uns beeilen. Ich weiß nicht genau, was Tanno vorhat, aber es wird bald passieren.«

Lonja half ihm dabei, den bewusstlosen Wachmann in den Raum zu ziehen. Von außen verschloss Caiwee die Tür in der Hoffnung, dass Lonja mit ihrem Kengo gut getroffen hatte. Eine Störung durch den Burschen konnten sie ganz sicher nicht brauchen.

»Wie hast du mich gefunden? Warum hast du mich überhaupt gesucht?« Ornit war verwirrt, dass seine große Liebe für ihn überhaupt noch einen einzigen Finger krumm machte. Sie hatte unter Ornits Absturz ganz besonders leiden müssen.

Lonja legte eine Hand auf Ornits Wange. »Du hast mich nie verstanden, Ornit Caiwee, richtig? Dann versuch es auch jetzt nicht. Gefunden habe ich dich, weil du nur hier sein konntest. Im Gegensatz zu dir höre ich nämlich gut zu. Und seit vielen Umläufen faselst du schließlich nur von einer Sache, wenn du denn einmal klar bei Sinnen bist. Der betont lässig an der Wand lehnende Knabe hat mir dann ganz deutlich gezeigt, wo sie dich eingesperrt haben. Was

hat Tanno vor?« »Ich habe eine schlimme Ahnung. Aber das kann ich dir alles

erzählen, während wir in diesem verdammten Labyrinth nach Semjon suchen. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.«

Das seltsame Paar hastete durch den breiten Gang. Ein unbedarfter Beobachter hätte sie für ein Pensionärspärchen gehalten, das sich hier schlicht verlaufen hatte.

Doch das waren sie nun wahrhaftig nicht. Und Ornit Caiwee hielt die Hand Lonja Ovis' so fest er nur konnte. Noch einmal würde er sie ganz sicher nicht verlieren.

Semjon Tanno konnte seine Blicke nicht von dem Analyseergebnis wenden, das direkt vor ihm auf dem Bildschirm zu sehen war. Sein Blick war von den Zahlen wie gefesselt, die er in seinem brillanten Verstand hin- und herschob, sie drehte und wendete, verzweifelt nach alternativen Methoden suchend, um sie neu, um sie anders auszuwerten. Es musste ganz einfach eine weitere Möglichkeit zur Interpretation geben. So durfte das doch nicht enden. So doch nicht!

Doch es gelang ihm nicht. Die Zahlen waren einfach zu eindeutig. Und sie waren eine Katastrophe! Seine Helfer standen regungslos wie Schaufensterpuppen an den

Wänden aufgereiht. Sie hatten ihre Aufgaben erledigt und warteten nur auf das, was Tanno ihnen als Nächstes befehlen würde.

Der Rat bemerkte nicht, dass Feeline Silja den Raum betrat. Er registrierte überhaupt nichts mehr, denn er war ganz auf dieses Ergebnis konzentriert, das es so niemals hätte geben dürfen!

»Ich verstehe nicht … warum?« Er ließ sich auf dem Stuhl nieder, der dicht bei der Anzeige stand. »Aber es ist doch alles richtig. Das Material, der Wirt – das ist kein Fehler.«

Plötzlich schoss Tannos Faust vor, krachte gegen den Screen, dessen sensibles Oberflächenmaterial einer gewalttätigen Kraft nichts entgegenzusetzen hatte. Das Bild erlosch, Fetzen hauchdünner Gaze wehten über den schmalen Arbeitstisch.

Semjon starrte auf seine Faust, die das hochentwickelte Gerät zerstört hatte, ohne ihm dadurch auch nur den Hauch einer Besserung seiner Gemütslage einzubringen. Der Drang war nach wie vor da – er wollte etwas zerstören, jemandem Schmerzen zufügen. Sein Blick traf den seiner Assistentin. Und Semjon Tanno wurde schlagartig ruhig, entspannte sich.

»Verzeihen Sie mir, Fee. Mir war nicht bewusst, dass Sie im Raum sind. Entschuldigen Sie meinen Ausbruch.«

Feeline Silja hörte seine Worte kaum. Sie war keine ausgebildete Wissenschaftlerin. Doch was sie dort auf dem Screen gesehen hatte, war für sie durchaus nachvollziehbar gewesen. Es waren erst wenige Stunden vergangen, seit sie den Pyet verlassen hatte. Die Aufforderung Tannos, sie solle in die Entwicklung kommen, hallte noch in ihren Ohren. Sie war ihr nachgekommen. Doch der Rat war nicht dort gewesen, hatte nicht auf seine Assistentin gewartet.

Er führte bereits eine wichtige Versuchsreihe durch, wie ihr eine dieser Marionetten gemeldet hatte, die Tanno um sich scharte. Feeline wusste, wer Tannos Schatten waren, die ständig wie Geister um ihn herumschlichen, wenn er sich auf Rof befand. Sie wusste, was sie waren. Und Fee fürchtete sich vor diesen Wesen, die dem Rat hörig wie Haustiere waren. Keines dieser Wesen war perfekt im Sinne des Mannes, der sie erschaffen hatte. Keines von ihnen genügte seinen Ansprüchen, und das war es auch, was Tanno sie ständig spüren ließ.

Was war Semjon Tanno? Der Mann, den sie liebte, experimentierte an diesen Kunstwesen, als wäre er ein Gott. War es nicht genau das, was er so vollmundig vor dem Rat angeprangert hatte? War es das, was ihn antrieb? Schöpfer des Perfekten …

Fee hatte ihren ganzen Mut zusammengenommen und dennoch verlangt, zu Tanno gebracht zu werden. Der Klon hatte sie nicht berührt, doch der Zwang in Feelines Kopf war plötzlich riesengroß gewesen, der Zwang, sich hier irgendwo auf den Boden zu setzen und auf den Moment zu warten, da Tanno sich Zeit für sie nehmen würde.

Er verändert sie ständig, pflanzt ihnen magische Fähigkeiten ein. Will er

den neuen Uskugen erschaffen? Sie wusste nicht mehr, ob sie Semjon wirklich noch lieben oder ihn nur noch fürchten sollte. Stunden später hatte sie den Rat dann hier vorgefunden. Erregt, jähzornig. Attribute, die so nie zu ihm gepasst hatten. Das war nun anders geworden.

Fee riss sich von Tannos Blick los. »Wo sind die Kinder? Ich will sie sehen. Jetzt, Semjon Tanno. Ich

will sie sofort sehen!« Tanno wies auf die Tür. »Natürlich. Warum nicht? Ich wollte auch

soeben zu den Kleinen.« Freundschaftlich legte er eine Hand auf Feelines Schulter. Eine Berührung, die sie zehn Umläufe lang ersehnt hatte. Nun, da

sie stattfand, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Lieben oder fürchten? Sie ahnte, dass ihr diese Frage schon bald beantwortet werden

sollte. An Tannos Seite verließ sie das Zimmer. Sie musste sich nicht umsehen, um zu wissen, dass die Schatten

ihnen auf Schritt und Tritt folgten.

Der Raum war abgedunkelt. Feeline Silja sah die schlichten Betten, in denen die Zwillinge

lagen. Die Kinder waren noch immer nicht bei Bewusstsein. Oder man hatte sie anästhesiert, das konnte sie nicht erkennen.

Jicada und Sajol wirkten, als würden sie friedlich schlafen. Alles sah ganz natürlich aus. Als würden zwei Kinder in süßen Träumen versinken, glücklich und zufrieden, denn schließlich durften sie bei ihrem Onkel übernachten. Ein Abenteuer, wenn man erst vier Jahre alt war.

Oder lebensbedrohend, wenn der Onkel Semjon Tanno hieß? Die Kleinen waren bis zu ihren Hälsen zugedeckt. Feelines Beine

zitterten, doch sie nahm all ihre Kraft zusammen, als sie zwischen die Betten trat. Langsam zog sie die Decke von Jicadas Körper weg. Der rechte Arm der Kleinen war bandagiert. Fachgerecht zwar, doch

nicht professionell genug, denn ein kreisrunder Blutfleck nässte durch das Verbandmaterial.

Fee sah die Kabel und dünnen Schläuche, durch die das Mädchen an die Lebenserhaltung angeschlossen war. Silja hatte keine Ahnung, was die Kurven und Balken zu bedeuten hatten, die auf einem Display direkt über Jicadas Kopf zu sehen waren.

Tanno gab ihr die Erklärung dazu. »Keine Sorge, es geht ihr wunderbar. Es war schließlich nicht einmal ein wirklicher Eingriff. Viel Material benötige ich nicht, wenn ich vorläufige Ergebnisse haben will. Dass beide angeschlossen sind, ist nur zur Kontrolle.« Tannos Stimme war bemüht ruhig. Es war dennoch nicht zu überhören, dass in ihm ein Vulkan brodelte. »Doch wie es scheint, war alles sinnlos. Die ganze Aktion. Sie sind wohl ganz umsonst zur Kindesentführerin geworden, liebe Fee.«

Die Frau sah die Kälte, die in Semjons Augen aufblitzte, das harte und böse Lächeln um seinen Mund. Sie konnte nicht fassen, dass sie diesen Mann mehr als zehn Umläufe lang sehnsüchtig geliebt hatte. Das hier war nicht mehr der Semjon Tanno, den sie so verehrt hatte. Das war nur noch ein billiges und schlechtes Abbild von ihm.

Tanno setzte sich an das Fußende von Jicadas Bett. »Ich hatte so sehr gehofft, in der Kleinen hier endlich den fehlenden Zündfunken gefunden zu haben, dem ich so lange nachgehechelt bin. Doch es scheint, ich habe mich geirrt. Und dieser Irrtum dürfte äußerst fatale Folgen für uns alle haben.«

Mechanisch, als habe sie seine Worte nicht gehört, wandte sich Feeline Silja zu dem kleinen Mädchen.

Behutsam nahm sie Jicada auf ihre Arme, löste die Schlauchverbindungen. Semjon Tanno sah ihr schweigend zu.

Dann drehte sich Fee zu dem Jungen, der tief zu schlafen schien. Auch Sajol trug einen blutigen Verband am Oberarm. Ihm hatte man ebenfalls Gewebe entnommen.

Als sie auch ihn aus dem Bett heben wollte, spürte sie die harte Hand, die sie plötzlich am Oberarm festhielt. Fee schrie auf. Der Schatten, das Kunstwesen Tannos, hatte zu heftig zugegriffen.

Doch Fee hielt die Kinder stoisch fest. Sie würde nun mit den

Zwillingen gehen. Der Pyet stand sicher noch an der Stelle, an der sie ihn abgestellt hatte. Sie würde Dalius Laertes und seiner Frau ihre Babys zurückbringen. Dann sollten sie mit ihr machen, was sie für richtig hielten. Es war Fee gleichgültig.

Doch das hier – das würde sie nun beenden! Tanno sprach flüsterleise. »Ich verstehe Sie. Doch ich kann Ihnen

nicht gestatten zu gehen. Das müssen Sie verstehen. Ich benötige Zeit, muss mir etwas Neues ausdenken … ich … Bitte legen Sie die Kleinen wieder in ihre Betten zurück, Fee. Ich will nicht, dass man Ihnen wehtut.«

Fee Silja hörte seine Worte, doch sie waren für sie nicht mehr von Belang. Energisch schob sie das Kunstwesen von sich, das sie, verblüfft über diese Reaktion, tatsächlich losließ.

Der Erfolg war nur von kurzer Dauer. Ein Wink Tannos genügte, und schon stand der nächste Schatten neben Fee, umklammerte mit beiden Händen ihre Schultern.

Dann erwachten die Kinder. Und das gedämmte Deckenlicht flutete grell auf!

Zamorra war fasziniert von der Präzision, mit der die Flotte der Uskugen ihre Positionen eingenommen hatte. So eine Aktion gab es in den Lehrbüchern ganz sicher nicht, doch alles funktionierte reibungslos.

Der Parapsychologe hatte inzwischen erfahren, dass Dalius Laertes die einzelnen Schritte dieses Flottenaufzugs geplant und in den Hauptrechner auf Uskugen eingegeben hatte. Viel Zeit war ihm dazu sicher nicht geblieben. Eine beachtenswerte Leistung des jungen Mannes.

Auf den Bildschirmen war nur ein Bild zu sehen. Der Rechner hatte ein halbschalenförmiges Raster erstellt, an

dessen Schnittstellen je eine Einheit ihre Position bezogen hatte. Alle irgendwie verfügbaren Schiffe waren im Einsatz – auch die Einheiten, die auf Rof und Sip geparkt gewesen waren. Alles in allem sicher gut vierhundert Raumer.

An Bord jedes einzelnen konzentrierten sich die magisch hochbegabten Uskugen, die in den meisten Fällen schon seit vielen Umläufen und in ungezählten Einsätzen als zweites Element neben der hoch entwickelten Technik fungierten.

Sie waren der Block. Das Vampir-Bewusstsein in Zamorra meldete sich zaghaft. Noch

immer schien Laertes durch die Nähe zu seinem Ur-Ich geschwächt zu sein.

»Eine solch massive magische Vereinigung kann gefährlich werden. Das alles hier beruht auf Vermutungen, Hoffnung und Verzweiflung. Sie wollen Sip zurück an seinen ursprünglichen Platz bringen, aber wie wollen sie das dosieren? Niemand kann das so präzise. So viele Individuen als ein einziger Block. Es werden Fehler auftreten. Es wird …«

Zamorra drängte sein Gastbewusstsein zur Ruhe und dachte: »Hast du eine bessere Idee? Konzentriere dich lieber. Ich denke, wir werden als Regulativ eingreifen müssen, wenn wir solche Fehler bemerken. Sei bereit dazu.«

In Gedanken überschlug der Parapsychologe grob, wie groß der Magiepool war, der sich hier nun auf seinen Einsatz vorbereitete. Mehr als 1.600 Uskugen, die sicher erfahren waren, wenn es darum ging, ein Raumschiff über die Lichtmauer zu hieven, dessen Größe und Masse sicherlich nicht unerheblich war. Doch einen Mond in die Bahn bringen, die er zu verlassen drohte, war ein Vorhaben von einem ganz anderen Kaliber. Zudem war Sip wie ein Magiespeicher, also hatte sein Fehlverhalten eine Ursache, die man beheben musste.

Sip musste geheilt werden. Zamorra teilte die Skepsis des Vampir-Bewusstseins in ihm

durchaus. Aber zweifeln half hier nicht weiter. Man musste diesen Versuch machen – dann erst konnte man jubeln oder hadern.

Der Parapsychologe entsann sich eines Spruches, den er irgendwann einmal gelesen hatte.

Lerne jammern, ohne wirklich zu leiden … Ein dummer Lehrsatz, nach dem die Uskugen zum Glück nicht

lebten. Denn exakt in diesem Moment startete der Versuch.

Der Schmerz in Zamorras Kopf wurde für Augenblicke schier unerträglich.

Es war genau die Zeitspanne, die über vierhundert aufeinander eingestellte Konglomerate benötigten, um zueinander zu finden. Der magische Druck, den sie dabei erzeugten, war unglaublich hoch. Merlins Stern leuchtete hell vor Zamorras Brust auf. Das Amulett konnte nicht anders – es band seine eigenen Kräfte in die der uskugischen Magie ein. Die Silberscheibe verhielt sich jedoch passiv, ohne von Zamorra dabei beeinflusst werden zu müssen.

Und eine Welle aus purer Magie legte sich sanft wie eine heilende Hand um den Mond.

Zamorra war bemüht, die Kontrollen stets im Auge zu behalten. Die Zeiger bewegten sich nicht, es gab keinerlei Veränderungen. Sip hing nach wie vor um den Wert von mittlerweile 0,12 Prozent durch.

Zamorra warf einen Blick auf den jungen Laertes. Die Konzentration ließ seine Halsschlagader weit vortreten, auf der Stirn des Uskugen perlte der Schweiß. Er hatte sich in das an Bord befindliche Quartett eingeklinkt, erhöhte den Druck des Viererblocks um seine eigenen Fähigkeiten. Und die waren hoch, wie Zamorra deutlich fühlte.

Die Kommandantin hob nur Sekunden später den Kopf, den sie die ganze Zeit tief über ihre Anzeigen gesenkt hatte. Ihre Stimme klang rau und ungläubig. »0,11 Prozent. Sip bewegt sich.«

Die im Block vereinten Uskugen bekamen von der Durchsage nichts mit, denn ihre Konzentration machte sie taub und blind für alles, was in unmittelbarer Nähe um sie herum vorging. Der Rest der Zentralenbesatzung brach in verhaltenen Jubel aus. Immerhin – 0,01 Prozent! Doch Zamorra schien sich als Einziger der Anwesenden bewusst zu sein, was dies tatsächlich bedeutete.

Der Vampir in seinem Bewusstsein »sprach« es aus. Leise, kaum vernehmbar, aber mit klaren Worten.

»Das schaffen sie nicht. Der Block ist bereits an seiner Leistungsgrenze angelangt. Er wird schwächer, das fühle ich.«

Laertes hatte Recht. Als sich der erste minimale Teilerfolg zeigte,

bröckelte die breite Magiefront bereits an einigen Stellen ab. Merlins Stern leuchtete nach wie vor, doch selbst Zamorra und der

Vampir-Laertes konnten hier ein Scheitern nicht verhindern. Diese Erkenntnis setzte sich nur langsam bei den Uskugen durch, sie wollten einfach nicht daran glauben.

Die Stimme der Kommandantin brachte jedoch alle an Bord auf den Boden der Realität zurück. »0,12 … 0,13 … weiter langsam sinkend.« Atemlose Stille hing in der Zentrale. Dann kamen die Worte, die alle Hoffnung zunichte machten: »Block bricht auseinander. Zieht sich zurück.«

Die vier Blockmagier an Bord des Raumers erwachten aus ihrer Trance.

Keuchend sackten sie auf ihren Sitzen zusammen, wurden sofort ärztlich versorgt. Auch Dalius Laertes kehrte aus seinem entrückten Zustand zurück. Zamorra stützte den jungen Rat, der sich nicht mehr allein auf den Beinen halten konnte.

»Vergeblich. Wir sind zu schwach für diese Masse. Sip ist verletzt … und da ist niemand, der ihn heilen kann. Zamorra, was soll nun mit Uskugen geschehen?«

Diese Frage konnte der Professor dem verzweifelten Mann nicht beantworten, aber in dem, was Dalius soeben gesagt hatte, steckte irgendetwas, das Zamorra packte, nicht mehr losließ.

Sip ist verletzt … und da ist niemand, der ihn heilen kann … Niemand. Niemand war mehr auf dem Mond, der rückgängig

machen konnte, was mit der Katastrophe eingeleitet worden war. Auf dem Mond. Zamorra kniete sich vor Laertes, der in die Hocke gegangen war.

»Hör mir zu«, flüsterte der Parapsychologe. »Konzentriere dich bitte, denn das könnte jetzt sehr wichtig sein.«

Der junge Rat und Sportheld eines ganzen Volkes sah den seltsamen Mann fragend an, den er nach wie vor nicht einzuordnen wusste.

Nur über eine Sache war er sich klar: Dieser Zamorra hatte keinerlei feindliche Absichten gegenüber dem Volk der Uskugen. Mehr wusste er von ihm jedoch nicht.

»Frag. Ich … bin schon wieder klar im Kopf. Keine Sorge.« Zamorra nickte. »Gut, dann denk bitte genau nach. Wo exakt lag

der Ausgangspunkt des Bebens auf Sip. Je genauer du es mir sagen kannst, je besser. Es wurden doch sicher bereits Analysen darüber erhoben.«

Dalius Laertes schloss kurz die Augen. Seltsam, aus welchem Grund auch immer hatte er eine solche Frage erwartet. Hatte Zamorra den Kern des Problems auf eine einzige Frage reduziert, hatte dieser Fremde erkannt, was den Uskugen bisher verborgen geblieben war?

Laertes nickte. »Die Analysen sind erstellt worden, natürlich. Uhrzeit, Örtlichkeit, Intensität. Darüber gibt es einen großen Datensatz. Aber den benötigst du nicht, habe ich Recht?« Als der Professor nickte, fuhr Laertes fort: »Bei der Schöpferin Deyat, Zamorra, ich will es nicht glauben. Ich will nicht glauben, was du da vermutest. Aber solltest du richtig liegen … ja, das Beben nahm seinen Ursprung an der Felsenklippe, direkt hinter meinem Anwesen auf Sip. Nur wenige Schritte entfernt von meinem Haus.«

Laertes senkte den Kopf, als würde ihm gerade jetzt erst bewusst, dass es dies alles nun nicht mehr gab.

»Mojica und ich sind oft an schönen Abenden dort spazieren gegangen. An der Klippe hatte ich einen magischen Schutzzaun errichtet. Wir hatten immer Angst, dass die Kinder dort spielen würden. Viel zu gefährlich … zu riskant. Vor Kurzem habe ich den Schutz noch einmal verstärkt, weil wir Jicadas magische Hochbegabung entdeckt hatten, wir … Jicada … aber vielleicht irrst du dich ja, Zamorra. Vielleicht …«

Zamorra fasste Laertes bei den Schultern. »Denk nach, Dalius. Du sagtest vorhin, dass Semjon Tanno nicht aufzufinden ist. Könnte er etwas mit dem Verschwinden der Zwillinge zu tun haben? Wo könnte er jetzt sein?«

Mit einem Auge beobachtete der Parapsychologe die Monitore. Die Flotte hatte ihre Formation noch nicht aufgelöst. Alle schienen auf Anweisungen vom Rat auf Uskugen zu warten. Zamorra musste sich beeilen. Die Zeit drängte in mehrfacher Hinsicht.

Laertes schüttelte den Kopf. »Was sollte Semjon denn damit zu tun haben? Er würde meinen Kindern doch niemals etwas antun. Niemand weiß, wo er steckt. Ich habe noch versucht, Fee zu erreichen, die kennt seine Termine, aber sie war auch nicht …« Erneut stockte der Ratsherr. »Eine Frau hat meine Kinder aus dem Hospital geholt. Und Fee kennt die zwei gut, sie würden mit ihr gehen.«

Der junge Mann erhob sich aus seiner Hocke. Etwas schien sich in diesem Moment in ihm verändert zu haben.

Zamorra konnte regelrecht sehen, wie es in Laertes arbeitete, wie er die Puzzlestücke zusammensetzte, die ein Ganzes ergaben, das aber wiederum Teile von Dalius' Weltbild in sich zusammenfallen ließ wie ein Kartenhaus.

»Semjon Tanno wird vermutlich auf Rof sein, im Wissenschaftszentrum«, stieß er dann hervor. »Dorthin hat er sich verkrochen, dort ist sicher dann auch Feeline. Mit meinen Kindern!«

Laertes ruckte herum, wollte der Kommandantin einen Befehl erteilen, doch Zamorra war schneller. Der Griff um Laertes' Schulter war eisenhart.

»Stopp. Du wirst Rof nicht anfliegen lassen. Wenn du mir jetzt vertraust, dann verspreche ich dir, dass ich deine Kinder finden und zu dir bringen werde. Du musst hier bleiben. Halte den Rat auf Uskugen hin. Erzähl ihnen irgendetwas, ganz gleich, ob wahr oder gelogen. Die Raumer müssen in Position bleiben.«

In Dalius' Augen erkannte der Parapsychologe, dass er bereits halb gewonnen hatte. Der Uskuge vertraute ihm.

»Ich hole deine Kinder. Und nur ich allein.« Laertes nickte wortlos. Er hatte keine Ahnung, was der Fremde

vorhatte, aber er traute diesem Zamorra inzwischen beinahe alles zu.

Zamorra stürmte in Richtung der Hangars. Dort waren mehrere Pyets geparkt. Mit jedem Meter, den er sich von der Zentrale entfernte, stieg die Präsenz des Laertes-Bewusstseins in ihm.

»Mit einem Pyet wird der Flug zu lange dauern. Wenn Tanno plant, was du denkst, dann wird er schneller sein als wir.«

Zamorra antwortete auf der Ebene ihrer stillen Kommunikation, ohne dabei seinen Lauf zu bremsen. »Wer redet davon, dass wir die ganze Strecke fliegen? Ich kann mich irren, aber ich vermute, dass deine Vampir-Teleportation uns nach der halben Distanz nach Rof bringen kann. Liege ich damit falsch?«

Ein leises Lachen erklang in seinen Gedanken. »Du verblüffst mich immer wieder, Professor. In etwa wird das passen. Aber es wird ein schmerzhafter, weil extrem langer Sprung werden. Hoffentlich kommen wir rechtzeitig.«

Schmerzhaft. Damit hatte Zamorra schon gerechnet. Doch diese Schmerzen

vergingen rasch wieder. Es ging um ein ganzes Volk, dessen Zukunft am dünnen Faden

hing. Und um zwei Kinder, die sich in den Händen eines Mannes befanden, der nun endlich sein wahres Gesicht zeigte.

»Ich hoffe, du weiß, wie man diese Dinge fliegt.« Zamorra enterte eines der kleinen Pyets.

Laertes »Stimme« klang nicht eben überzeugend, als er antwortete: »Sicher habe ich das irgendwann einmal gut gekonnt. Aber jetzt ….?«

Zamorra schloss für Sekunden die Augen. Das würde ein spannender Flug werden …

… und das gedämmte Deckenlicht flutete grell auf. So grell wie das Funkeln in den Augen der beiden Kinder, die

Feeline fest auf ihren Armen hielt. Die Hände des Kunstwesens vor ihr krallten sich schmerzhaft in

ihre Schulter. Tanno musste sich nun nicht mehr verstellen – sein wahres Ich, seine Absichten, lagen offen. Kein Grund für seine Hilfswesen mehr, sich zurückhaltend zu geben.

Semjon Tanno wollte die Kinder, und diese Frau würde diesen Raum niemals mit ihnen verlassen.

Hitze lief durch Fees Schultern. Brennende Hitze, die sie zwingen wollte, Jicada und Sajol loszulassen.

Magie! Semjon hatte diese Kreaturen, dessen Lebensinhalt das Bewahren

anderer Zivilisationen sein sollte, genetisch verändert. Was er mit Jicada getan hatte, war also nur die Spitze eines Eisbergs!

Fee presste die Lippen fest aufeinander. Der Schmerz wurde unerträglich, doch Fee widerstand ihm noch. Doch es konnte nur noch wenige Momente dauern, bis sie diesen Kampf verlor. Und die Kinder erlebten all das bei wachem Bewusstsein mit.

Wieso ist es plötzlich hier so hell? Trotz der Schmerzen drang die Verwunderung zu Feeline durch.

Sie schloss die Augen, weil sie geblendet war – und weil sie nicht sehen wollte, wie man ihr die Zwillinge schließlich doch entriss. Doch genau das geschah nicht.

Ganz unvermittelt endeten Schmerz und Hitze, verschwand der Druck der brutalen Hände.

Der Grund war ganz einfach der, dass es diese Hände nicht mehr gab.

Das Kunstwesen war offenbar nicht in der Lage, Schmerzen zu verspüren oder sie zu artikulieren, denn es starrte nur stumm auf die Stümpfe an seinen Ellbogen. Seine kompletten Unterarme waren in einer nur kurz auflodernden Flamme vergangen. Fort – es war, als hätten sie nie existiert.

Irritiert schwankte das Wesen nach hinten, prallte gegen Tanno, der seinerseits den nachrückenden Schatten den Weg versperrte.

Semjon Tanno hatte seine Fassung vollkommen verloren. Dieser schwarze Blitzstrahl war aus den Augen der Kinder

gekommen. Aus den Augen eines der Kinder. Schlagartig verstand Tanno. Die Ergebnisse des Tests erklärten

sich nun von selbst. Alles stand ihm glasklar vor Augen. Wie hatte er nur so bodenlos dumm sein können? Er war hereingefallen wie alle anderen auch.

Im nächsten Moment waren Feeline Silja und die Zwillinge verschwunden.

Semjon Tanno schrie auf. »Sucht sie! Findet sie! Worauf wartet ihr hirnlosen Idioten denn noch?«

Die Jagd begann. Doch die Jäger machten keinen besonders

routinierten Eindruck.

Feeline blinzelte verblüfft. Sie fand sich liegend in dem schmalen Gang wieder, der sich

zwischen den Brutbehältern der Wartenden erstreckte. Langsam rappelte sie sich hoch. Wo waren Tanno und seine Kreaturen geblieben? Wann hatte sie denn den Krankenraum überhaupt verlassen.

»Wir sind für dich geflogen, Tante Fee.« Das dünne Stimmchen gehörte Jicada, die neben ihrem Bruder im Schneidersitz nur wenige Schritte von Feeline entfernt auf dem Boden hockte. Die Kinder sahen fröhlich aus, als wäre ihnen ein prima Streich gelungen. »Das können wir gut, nicht wahr?«

Geflogen? Das war doch Unsinn! Oder etwa doch nicht? Fee wurde klar, dass die Kinder wohl instinktiv ihnen allen das Leben gerettet hatten. Wie auch immer – jedenfalls befanden sie sich relativ außerhalb der Reichweite Tannos.

Die Uskugin zögerte nicht. Sie mussten das Zentrum verlassen. Egal wohin.

Wichtig war nur, dass Tanno sie nicht einholte. »Kommt, meine Süßen. Jetzt bringe ich euch zu euren Eltern. Ich

verspreche es.« Die Zwillinge ließen sich bereitwillig bei den Händen nehmen und

trotteten neben Fee her. Es war noch relativ weit bis zum Ausgang. Warum traf sie hier denn niemanden an? Sonst herrschte um diese Zeit doch hier bereits ein ziemliches Gewimmel an Studenten, Mentoren und Besuchern.

Sie konnte ja nicht ahnen, was sich in diesen Augenblicken über Sip abspielte. Jeder, der es eben einrichten konnte, starrte jetzt auf einen der Nachrichtenscreens. An Lehren, Lernen und Arbeiten dachte an diesem Tag kaum jemand auf Uskugen und seinen Monden.

»Tante Fee?« Jicadas Stimmchen klang jammervoll. »Mir tut der Arm so weh. Wer hat mir denn Aua gemacht?«

Fee Silja atmete tief durch. Am liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken, doch was sollte sie tun? Einer Vierjährigen erklären, dass sie – die liebe Tante Fee – das Mädchen und ihren Bruder entführt hatte? Sollte sie die beiden um Verzeihung bitten? Sie schwor sich, dies irgendwann zu tun. Wenn die Kinder alt genug waren, um das alles zu begreifen.

»Wir verstehen dich auch jetzt gut. Du konntest nichts dazu.« Diese Worte waren wie ein Schlag in Fees Gesicht. Verwirrt sah sie

Sajol an, der das gesagt hatte. Litt sie jetzt schon an Halluzinationen?

Die hastigen Schritte hinter ihr waren sicherlich harte Realität. »Kommt, wir spielen ein Spiel.« Feeline wagte nicht, sich umzudrehen. Sie wollte nicht in die ausdruckslosen Gesichter ihrer Jäger blicken. Oder in das des größten aller Monstren – Semjon Tanno. »Wir spielen, dass wir so schnell wie der Wind beim Ausgang sein müssen. Und los geht's!«

Feeline Silja rannte los, zerrte die lachenden Zwillinge mit sich, so gut es ging.

Und doch würden sie es nicht schaffen. Weil ihnen jetzt nur noch ein wahres Wunder helfen konnte.

So eines, wie es sie in den Märchen gab, die man Kindern vorlas. So eines, wie es in diesem Augenblick direkt vor ihnen auftauchte

Professor Zamorra steuerte das kleine Schiff in direkter Linie auf den Mond Rof zu.

Laertes Bewusstsein hatte alle Informationen mühsam zusammengesucht, denen es habhaft werden konnte. Die gefesselte Erinnerung des Vampirs war längst noch nicht so weit befreit, als dass er sich solcher speziellen Dinge gänzlich entsinnen konnte. Zamorras Erfahrungen als Raumpilot mit den Spidern, mehr noch mit den Hornissen, der 2-Mann-Beiboote der DYNASTIE DER EWIGEN, retteten diesen Flug eher als die Hilfe Laertes'.

Intuitiv verließ er sich auf die Ähnlichkeiten, die in Bauweise und

technischer Anordnung bei Schiffen humanoider Rassen anzutreffen waren. Zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf mit – zumindest für gewöhnlich – zwei Frontaugen – alles das zwang zu logischer Platzaufteilung, was die Bedienelemente eines solchen Raumers betraf.

Ein perfekter Flug war das ganz sicher nicht, doch es gab kaum etwas, das den Professor jetzt weniger interessiert hätte. Angespannt überwachte Zamorra den Raumfunk, durch den er in Kontakt zu dem Schiff stand, auf dem der junge Laertes sich befand.

Dalius hatte es tatsächlich geschafft, den Rat auf Uskugen dazu zu bringen, dass die Flotte nach wie vor über Sip stand. Allerdings war diese Maßnahme nur vorläufig. Und man hatte Laertes deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht ewig aufrechterhalten bleiben konnte, nur für den Zeitraum, in dem der Rat über eine Entscheidung nachsann. Eine Entscheidung über das Leben oder den Tod von Millionen Uskugen. Dann würden die Raumer auf ihre Basen zurückkehren müssen, um als Rettung für zumindest einen kleinen Teil der Bevölkerung zu dienen.

Evakuieren – ein böses Wort, wenn es dafür stand, dass man eine Auswahl treffen musste hinsichtlich derer, die überleben durften, und derer, die sterben mussten. Wer sie treffen sollte, der konnte letztendlich nur Fehler begehen. Panik war vorprogrammiert, wenn die Bevölkerung davon erfuhr.

Zamorra versuchte erst gar nicht über solche Dinge nachzudenken. Er wartete ungeduldig auf den Moment, in dem ihm sein geistiger Bruder endlich mitteilen würde, dass ein zeitloser Sprung nun möglich war. Diese Fähigkeit hatten die Uskugen mit ihrer Magie nicht. Zumindest nicht zu dem Zeitpunkt, an dem sich Zamorra und Laertes hier befanden. Dass Dalius Laertes über diese für Mitreisende reichlich schmerzhafte Methode der Überbrückung großer Entfernungen verfügte, musste also mit der Tatsache zusammenhängen, dass er auf der Erde durch Sarkana höchstpersönlich zum Vampir gemacht worden war.

Wie Laertes jedoch zur Erde gekommen war, blieb weiterhin rätselhaft. Zumindest bis jetzt.

»Wenn du bereit bist, dann wage ich den Sprung jetzt. Ich erinnere mich nur verschwommen an Rof, aber dieses Zentrum sehe ich seltsamerweise deutlich vor mir. Wir müssten also punktgenau ankommen.«

»Müssten? Ich hör wohl schlecht, was? Mühe geben, Laertes. Zeit für einen Fußmarsch quer über die halbe Mondoberfläche bleibt uns nun wirklich nicht mehr.«

Die Antwort entbehrte jeder Emotion. »Wir werden sehen.« Zamorra warf einen Blick durch die Frontsichtscheibe des Pyets.

Rof machte aus dem All gesehen einen unwirklicheren Eindruck als Sip. Erklären konnte der Parapsychologe dies nicht, aber er hatte das Gefühl, einfach nur einem riesigen Gesteinsbrocken entgegenzufliegen. Bei Sip hingegen war das Gefühl einer Heimkehr in ihm aufgekommen, auch wenn ihn der Mond der Magie nicht eben freundlich begrüßt hatte.

Im nächsten Atemzug verschwand der Ausblick auf Rof, und Zamorra blickte in eine schier bodenlose Tiefe. Instinktiv suchte er mit Händen und Füßen Halt. Irgendeinen Halt! Wild rudernd rutschte er auf der Schräge nach unten, einer Schräge, die aus kleinen Dachschindeln bestand, die einander schuppenartig überlappten.

Das Laertes-Bewusstsein war verstummt, erschöpft und ausgelaugt von dem Sprung, dessen Entfernung offenbar hart an der Grenze dessen lag, was überhaupt möglich war. Wahrscheinlich zu hart, denn diese Art der Ankunft war so sicherlich nicht geplant gewesen. Jede Einzelne der Schindeln bekam Zamorra böse zu spüren, als er versuchte, den Absturz durch sein Körpergewicht zu verhindern.

Er schaffte es kaum, zumal ihm die Schmerzen des langen Sprunges einen Großteil der Körperbeherrschung raubten.

Langsam nur verringerte sich die wilde Rutschpartie und endete wenige Handbreit vor der Kante. Erst jetzt erkannte Zamorra, wo er sich befand. Auf dem Schrägdach eines verflixt hohen Turmes. Unter seinen Füßen, mit denen er sich verzweifelt gegen die Schindeln stemmte, wartete das Nichts – besser gesagt: ein freier Fall von geschätzten vierzig Metern, eher jedoch mehr.

»Laertes! Verdammt, mach etwas! Ich habe keinen Fallschirm zwischen den Schulterblättern eingebaut. Schnell, ich kann mich nicht mehr lange halten!«

Im nächsten Moment brachen gleich mehrere der dünnen Schindeln unter seinen Füßen weg. Ohne jeglichen Halt schoss der Professor über die Dachkante hinaus.

Der Schmerz kam jäh, aber er war erträglich. Zamorra knickte in den Beinen ein, gönnte sich eine Auszeit von mehreren Sekunden. Gang gleich, wohin Laertes sie nun gebracht hatte – und wenn es in Asmodis' Kupferkessel gewesen wäre –, Zamorra brauchte ein paar Atemzüge, um sich zu erholen.

»Dort – die Kinder!« Laertes drängte mit Macht im Doppelbewusstsein nach vorn. Als Zamorra sah, was der Vampir entdeckt hatte, konnte er ihn

verstehen, denn nicht weit von ihnen entfernt lief eine attraktive Frau über den nahezu leeren Platz. An ihren Händen hielt sie zwei vielleicht vierjährige Kinder, die alle Mühe hatten, bei der Geschwindigkeit mitzuhalten, die sie vorlegte.

Und hinter ihnen kamen sechs oder sieben Figuren, deren Anblick bei Zamorra eine spontane Erinnerung auslöste. Die Verfolger wirkten wie Abziehbilder eines einzigen Originals, wie lebende Puppen, gemacht aus ein und derselben Gussform.

Es waren ihre Gesichter, die bei Zamorra das Déjà-vu auslösten. Er sah den Erste Rat vor sich, das Wesen, das ihm in der Station im Tonga-Graben gegenübergestanden hatte. Natürlich hatte er gewusst, dass es sich um ein Kunstwesen gehandelt hatte, doch dies hier war eine ganz andere Situation. Plötzlich eine ganze Gruppe dieser Kreaturen zu sehen, hatte etwas Unheimliches an sich.

Zamorra sprang vor, stellte sich dieser makaberen Jagdgesellschaft in den Weg. Doch der Parapsychologe musste sich eingestehen, dass nun nicht mehr er die dominierende Kraft in seinem Körper war – diese Rolle hatte jetzt Laertes übernommen. Zamorra konnte ihn nicht daran hindern. Und er wollte es auch nicht, denn der Vampir hatte trotz seiner verschleierten Erinnerungen hier ganz einfach ein Heimspiel. Er würde instinktiv die richtigen Entscheidungen treffen,

die richtigen Wege wählen. So hoffte Zamorra zumindest. Für die Frau, bei der es sich um die Assistentin Tannos handeln

musste, war Zamorra ein Unbekannter. Für die Kunstwesen gleichfalls. Doch die Kinder erkannten ihn sofort. Und nun ließen sie sich auch nicht mehr von Feeline halten. Sie rissen sich von ihr los, stürmten auf ihren neuen Freund zu, der sie hinter sich schob und mit seinem Körper deckte. Die Frau starrte Zamorra-Laertes verständnislos an, doch sie schien zu spüren, dass er kein Feind war, der da so plötzlich auftauchte.

»Schnell, bringen Sie die Kinder hier weg. Schnell! Ich …« Ihre Stimme überschlug sich. Dann stoppte sie ihren Lauf so abrupt, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen.

Zamorra sah ihre weit aufgerissenen Augen, den verblüfften Ausdruck, der in ihnen lag. Blut lief ihr aus dem Mundwinkel.

Erst dann sah der Dämonenjäger das Einschussloch, das Fees Körper durchdrang. Leblos kippte sie nach vorne, schlug hart auf dem Boden auf.

Einer der Verfolger, dessen Gesicht starr wie das einer Marionette war, hielt eine winzige Waffe in der Hand.

Zamorra fühlte die Wut Laertes' wie eine Welle über sich hinwegschwappen. Was nun kam, lag außerhalb seines Einflusses. Der Vampir handelte schnell und hart.

Aus den Händen schossen nachtschwarze Strahlen, die in nur wenigen Augenblicken vier dieser künstlichen Kreaturen in dampfende Klumpen verwandelten – ein entsetzlicher Anblick, den leider auch die Zwillinge mit ansehen mussten. Zwei der Jäger waren übrig geblieben, und Zamorra registrierte verblüfft, dass die sich nun mit einem schwachen magischen Schutzfeld umgaben.

Magie? Dieser Tanno hatte also bereits Erfolge in seinen Bemühungen gehabt.

Doch dieser Schutz bot ihnen keine Sicherheit. Laertes verdampfte sie beinahe augenblicklich. Das alles ging blitzschnell. Zu schnell und viel zu leicht nach Zamorras Verständnis.

Er hatte den siebten Verfolger nicht gesehen, weil der sich nicht

wie die anderen direkt an die Fersen der Frau und der Kinder geheftet hatte. Sein eigener Wille, sein Verstand reichten nicht aus, um sich eine List auszudenken. Es war also Zufall, dass er bei der wilden Jagd einen falschen Weg eingeschlagen hatte. Er kam später als die anderen beim Turm an. Was er sah, berührte ihn in keinster Weise. Die anderen, die wie er waren, wurden zerstört, vernichtet. Das war ihm gleichgültig. Ihn interessierten nur die Kinder, denn die wollte Tanno haben.

Um seinen Auftrag ausführen zu können, musste er die unbekannte Person vernichten, die sich nun der Kinder angenommen hatte. Er zog die kleine Schusswaffe, mit der alle seiner Art ausgerüstet waren. Schließlich gehörten sie zur Schutzmannschaft des Semjon Tanno, des Ersten Mentors des Zentrums.

Er zielte exakt, ließ sich Zeit, denn ein einziger Schuss sollte vollkommen ausreichen, wenn er gut gesetzt wurde. Dann, als er den hoch gewachsenen Mann präzise anvisierte, drückte er ab.

Doch bevor er den Stecher durchziehen konnte, traf ihn etwas. Er sah an sich hinab, entdeckte das handtellergroße Loch in seiner

Brust, das sich rasend schnell ausweitete, dann fiel die Waffe klappernd neben den brennenden Resten des Wesens auf den Boden …

… und Zamorra starrte auf den kleinen Jungen, der lächelnd seine Hand wieder senkte.

»Sajol?« Laertes zog sich langsam wieder hinter Zamorras Bewusstsein zurück. Zumindest für den Augenblick waren sie in Sicherheit. Doch dafür hatte am Ende nicht Laertes gesorgt.

Zamorra ging in die Hocke, sah in die lächelnden Gesichter der Zwillinge. Ihre Verbände waren blutig, beide waren erschöpft – doch sie lächelten ihn an. Und Zamorra fühlte die Wärme, die in diesen Kindern steckte. Da war nichts Böses in ihnen, nichts Falsches. Sie waren wirklich froh, dass er bei ihnen war. Er – und ein klein wenig auch ihr Vater.

Jicada streichelte mit ihrer winzigen Hand über die Wange des Parapsychologen. »Gehen wir nun zu unserer Dey?«

Zamorra hörte das tiefe Durchatmen des Vampir-Bewusstseins in sich.

»Das werden wir, meine Süße. Aber zuvor müssen wir noch ein großes Spiel spielen.« Er blickte die kleine Jicada an. »Es war die ganze Zeit über dein Bruder, nicht wahr? Du hast ihn nur geschützt, hast dich immer vor ihn gestellt.«

Jicada kicherte verschämt, als hätte man sie beim Keksstehlen erwischt. »Sajol wollte in Ruhe gelassen werden. Verstehst du? Da hab ich gesagt: Gut, dann spielen wir Verstecken mit allen. War ich gut?«

In den Augen der Kleinen erkannte Zamorra, dass sie nur körperlich eine Vierjährige war. Geistig waren sie und ihr Bruder diesem Alter längst vorausgeeilt. Um viele, viele Umläufe Uskugens um seine Sonne Deyat.

Sajol lenkte Zamorras Aufmerksamkeit auf sich. »Wir müssen uns beeilen. Sonst verlieren wir das Spiel noch.«

Der Parapsychologe war überzeugt, dass der Junge genau wusste, was man von ihm erwartete. Und er war auch bereit dazu.

»Wir können den Sprung zurück zum Pyet jetzt wagen. Ich bin sicher, die Kinder werden mir unbewusst dabei sogar helfen.«

Zamorra hoffte nur, dass Laertes dieses Mal präziser landen würde.

Bevor der zeitlose Sprung erfolgte, drückte Jicada Zamorras Hand besonders intensiv. »Schön, dass unser Vater so nahe bei dir ist.«

Zamorra war nicht fähig, der Kleinen darauf etwas zu erwidern. Was hätte er ihr auch sagen sollen?

Semjon Tanno liefen Tränen der Wut über die Wangen. Er konnte sich nicht erinnern, je geweint zu haben. Das war ihm

fremd. Eine Erfahrung, auf die er auch jetzt hätte verzichten können. Über die Kameras, die überall im Zentrum angebracht waren,

hatte er alles mitverfolgen können. Und sicher war er nicht der Einzige, der diese Bilder gesehen hatte.

Der Sicherheitsdienst würde schon bald vor Ort sein. Doch er

würde nichts als die Überreste der vernichteten Kunstwesen vorfinden.

Tanno musste mit ansehen, wie dieser Fremde einfach verschwand, sich gemeinsam mit den Kindern in Luft auflöste. Er begriff nicht, was dort geschehen war. Seine Wesen hatten nicht den Hauch einer Chance gehabt. Dass Feeline Silja hatte sterben müssen, war noch das wenigste, was ihn interessierte. Sie war ersetzbar – die Kinder nicht.

Die Zwillinge, die alle so unglaublich geschickt zum Narren gehalten hatten.

Selbst ihre Eltern. Selbst ihn, Semjon Tanno. Wahrscheinlich hatten sie sich einen Spaß daraus gemacht, so zu

tun, als wäre nur das Mädchen Jicada magisch hochbegabt, der Junge hingegen davon völlig unberührt. Und alle hatten es geglaubt. Mehr noch, irgendwie hatten die beiden es sogar fertig gebracht, die Tests zu manipulieren. Der Junge musste wahrlich über ein riesiges Potential verfügen, wenn er in der Lage war, sich selbst so abzukapseln.

Was für eine Begabung. Und gleichzeitig auch eine furchtbare Gefahr. Denn er war es, der die Balance schlussendlich zum Kippen gebracht hatte.

Tanno riss sich zusammen. Noch hatten sie alle nicht die Zeit, sich um ihn zu kümmern.

Dalius Laertes, dieser seltsame Fremde und der Rat hatten genug damit zu tun, die Sip-Gefahr zu bannen. Tanno blieb also noch eine temporäre Spanne übrig, in der er unbehelligt bleiben konnte. Sie musste ausreichen. Sie würde ausreichen.

Durch die vollkommen leeren Gänge der Entwicklung hastete er zu dem Labor, in dem er die fehlgeschlagenen Tests mit dem Gewebe der Kleinen durchgeführt hatte. Dort lagerte etwas, das er mehr aus Routine ebenfalls entnommen hatte.

Material aus dem Oberarm des Jungen! Es war also noch alles möglich. Er konnte es noch entstehen lassen

– das perfekte Wesen. Wenn es erst einmal existierte, dann würden

alle erkennen, welche Möglichkeiten Semjon Tanno ihnen damit erschlossen hatte.

Macht! Einfluss auf unzählige Welten. Es konnte nicht sein, dass Uskugen daran nicht interessiert war. Tanno wollte eine solche Möglichkeit einfach nicht akzeptieren.

Aber hatte er früher nicht auch so gedacht? Möglich, doch für einen wie ihn gab es keine hochtrabende Philosophie mehr, die Uneigennützigkeit als oberste Maxime predigte. Die war ihm längst zuwider. Was hatte diese geistige Einstellung ihm denn eingebracht? Große Ehren im Rat, Anerkennung unter den Kollegen, Respekt der Schüler.

Das alles bedeutete ihm heute nichts mehr. Rein gar nichts. Was willst du dann? Glaubst du denn, große Macht ersetzt dir die

Gefühle, die man dir nicht gegeben hat? Gefühle. Zuneigung? Oder gar echte Liebe? Vielleicht. Vielleicht konnte ihm sein großes Werk dies alles ersetzen. Zumindest für eine gewisse Zeit.

Doch es würde nie an das heranreichen können, was Dalius Laertes hatte.

Semjon Tanno ließ die Labortür hinter sich zugleiten. Von nichts und niemandem wollte er sich nun noch stören lassen. Die Gewebeprobe des Jungen war direkt nach Jicadas bearbeitet worden, doch darum hatte Semjon sich ja nicht mehr gekümmert. Nie hätte er gedacht, dass sie von Wert sein könnte. Mit sicheren Handgriffen leitete er die Genanalyse ein, koppelte mehrere Materialien miteinander, fügte sie zu einem neuen Ganzen zusammen.

Dalius Laertes. Er war es, der Tannos Denken beherrschte. Irgendwann einmal

wollte er, Semjon, besser sein als sein alter Freund. Nur einmal. Er wollte die beherrschende Gestalt im Vordergrund sein. Die Schlagzeilen sollten ihn rühmen. Ihn!

Und erst später, irgendwann, irgendwo in den sonstigen Meldungen, konnte dann auch Laertes' Bild auftauchen, weil er wieder einmal eines dieser unsinnigen Spiele gewonnen hatte. Sinnloses Zeug.

Die Anzeige vor Tanno leuchtete auf. Das Ergebnis der Mischtests lag vor.

Analyse 1 ++++ Analyse 2 ++++ Analyse 3 ++++ Semjon Tanno atmete tief durch. Was er sah, übertraf alle seine

Erwartungen. Es gab keine Zweifel mehr. Dies waren natürlich Oberflächenanalysen, die niemals eine vollständige Sicherheit geben konnten, doch für Tanno waren sie alles, was er benötigte.

Was nun kam, war reine Routine für ihn. Mit schnellen Fingern gab er die Werte in die Tastatur, die er auf

Grund dieser Analyse für die einzig richtigen hielt. Sie würden stimmen, das war sicher.

Den Rest erledigten die Rechner – er musste nur noch bestätigen. Kurz darauf erwachte ein ganz spezieller Teil der Anlage zu

summendem Leben. Und ein Tank wurde von den anderen separiert. Es war der Tank, dem Semjon Tanno seit geraumer Zeit seine gesamte Aufmerksamkeit geschenkt, an dem er so oft wie nur möglich gearbeitet hatte.

Schließlich sollte es ja alles perfekt sein, wenn er dem Volk der Uskugen sein Werk präsentierte.

Wenn er ihnen seine Kreatur vorstellte! Der Prozess startete, als Tanno die Eingabetaste nach unten

drückte.

Ornit Caiwee blieb ganz plötzlich stehen. Was blieb Lonja also übrig, als es ihm gleichzutun. Schließlich hielt

er ihre Hand fest umklammert wie ein verliebter Backfisch, der sich zum ersten Mal richtig in ein Mädchen verknallt hatte. Lonja hätte allerdings lügen müssen, wenn sie behauptet hätte, dass ihr dies unangenehm war. Sie hätte sich wohl kaum in dieses Abenteuer gestürzt, wenn ihr an dem alten Kerl nichts gelegen wäre.

Mit erhobenem Kopf stand Caiwee mitten in dem Gang, der für Lonja aussah wie all die anderen, durch die sie gemeinsam

gegangen waren. Hätte es sich nicht zu verrückt angehört, dann hätte sie nun behauptet, dass Ornit schnupperte. Ja, wie ein Tier, das eine Fährte aufnahm.

Andererseits rechnete sie bei diesem Mann inzwischen schon mit allem.

Ornit hatte sich in den Gängen dieser Abteilung erst ganz neu orientieren müssen. Es lag nicht daran, dass er viele Jahre nicht mehr hier gewesen war, sondern daran, dass er nun wusste, dass Semjon Tanno die früher ungenutzten Leerräume zu seinem eigenen Nutzen hatte umgestalten lassen. Das musste er bei der Suche nach dem Rat berücksichtigen.

»Kannst du es auch riechen?« Die Frage Ornits klang in Lonjas Ohren recht verwirrend. Hier roch es doch überall gleich. Hygiene wurde hier logischerweise groß geschrieben. Das Einzige, was die Inhaberin der Schönen 34 roch, waren recht aggressive Reinigungsmittel, die hier zum Einsatz kamen.

»Du Spinner!« Tadelnd sah sie ihn an, der noch immer ruckweise Luft durch seine Nase sog, um sie anschließend schnaubend auszustoßen. »Jetzt fehlt nur noch, dass du dich auf alle viere hockst und Sip anheulst. Was machst du denn hier nur? Bist du etwa doch unter die Mesa-Raucher gegangen?«

Es gab auf Uskugen eine nicht unerhebliche Zahl an jungen Leuten, die sich nicht damit begnügten, Mesa als Tee zu konsumieren. Man konnte die Blätter auch wunderbar als Rauchtabak verwenden, allerdings nicht ganz ohne Folgen: Das Zeug putschte mächtig auf, hinterließ jedoch einen dröhnenden Schädel, der sich nicht so rasch auskurieren ließ. Es sei denn, man stopfte sich das nächste Pfeifchen. Das war sicher nicht sonderlich gesundheitsfördernd. Doch das hielt niemanden von dieser Genussart ab, der sich ihr verschrieben hatte.

Ornit schüttelte den Kopf. »Ich war so viele Umläufe lang hier, dass ich gelernt habe, gewisse Abläufe regelrecht zu riechen. Das darfst du mir ruhig glauben. Und übrigens trinke ich Mesa lieber, als ihn zu verdampfen. Komm mit, aber leise. Wir sind gleich an unserem Ziel.«

Ornit Caiwee entdeckte die Türöffnung, die es früher hier ganz sicher nicht gegeben hatte.

Der Raum, der dahinter lag, war ähnlich dem eingerichtet, in dem Tanno ihn festgesetzt hatte. Am Tisch stand ein einziger Sessel, in dem der Rat zusammengesunken hockte. Seinen schweren Kopf hatte er in beide Hände gestützt, als wäre er ihm nun endgültig zu bleiern geworden.

Ornit Caiwee verspürte den Drang, sich auf den Mann zu stürzen, ihn niederzuschlagen. Doch Lonjas fester Griff um seine Schulter hielt ihn zurück. Sie hatte mehr gesehen als der alte Mentor. Vielleicht war es aber auch nur ihr weiblicher Instinkt, der ihr sagte, dass Tanno für sie keine Gefahr mehr darstellte.

Der Rat musste die beiden Ankömmlinge aus den Augenwinkeln heraus bemerkt haben.

»Kommt zu mir. Dann bin ich doch zumindest jetzt nicht ganz einsam.«

»Wo sind die Kinder, Tanno? Los, führe uns zu ihnen!« Lonja sah Ornit verblüfft von der Seite an. Von welchen Kindern

redete er? Der ehemalige Mentor sprach weiter. »Was willst du von den

Zwillingen? Ich will nicht glauben, was mir meine Ahnungen sagen. Rede, Tanno!«

Ein leises Lachen drang aus der Kehle des Rates. »Du warst immer schlau, Caiwee. Darum musste ich dich ja auch aus dem Weg räumen. Deine Ahnungen sind sicher nicht falsch. Aber sei beruhigt, die Kinder sind längst nicht mehr in meiner Gewalt. Nichts ist mehr in meiner Gewalt.« Er atmete tief durch. »Fünf – es waren fünf, die ich vorbereitet hatte. Fünf Kreaturen, fünf Wesen in einem Tank.«

Für Sekunden schien er nicht mehr bei Sinnen zu sein. Dann wandte er den Kopf den beiden alten Uskugen zu. »Ich habe die Technik der Implantation von fremden Genen revolutioniert. Ich! Aber das ist nun auch nicht mehr von Belang. Der Funke, Ornit – in den Genen des Jungen von Mojica steckt er. Der Kleine ist der erste Uskuge, in dem echte Magie schlummert. Er benötigt keinen Speicher, aus dem er seine Kräfte erst abziehen muss.«

Ornit und Lonja sahen ihn nur an. Sie verstanden nicht, was Tanno ihnen sagen wollte.

»Fünf Kunstwesen habe ich bereitgehalten für diesen Tag. Nur einer hat es überstanden. Nur ein Einziger. Und als er aus dem Tank kroch, da hat er lachend seine Hand in das Becken gesteckt und die anderen in Gallert verwandelt. Einfach so. Ich habe gesiegt, Ornit. Ich habe das perfekte Wesen entstehen lassen. Wissen, Macht und Magie. Alles ist in ihm. Er ist perfekt!«

Ein heftiger Hustenanfall schüttelte den massigen Körper Semjon Tannos. Er rutschte nach hinten in den Sessel zurück. Seine rechte Hand presste er mit schmerzverzerrtem Gesicht gegen seinen Bauch. Blut sickerte durch Tannos Overall, bedeckte in Sekunden seine Hand. Ornit und Lonja standen wie versteinert vor dem sterbenden Mann.

»Ja, und dann hat er mit seiner anderen Hand dieses hübsche Loch in meinen Bauch gemacht. Er hat mir nicht einmal zugehört. Nicht einmal mir – und doch habe ich gewonnen, nicht wahr? Sagt mir, dass ich wenigstens dieses eine Mal besser war als er. Damit hätte ich ihn für alle Zeiten in den Schatten gestellt. Für immer … Dalius … dann wärst du nur noch die Nummer zwei gewesen.«

Tanno wollte sich aufrichten, doch dazu reichte seine Kraft nicht mehr. Sein Kopf sackte nach hinten. Dann war es vorbei.

Ornit Caiwee schüttelte den Schock von sich ab. Hastig lief er aus dem Raum. Der Geruch von vorhin – er gehörte zu der Prozedur, wenn einer der Tanks aus den Reihen geholt oder wieder dorthin transportiert wurde. Es war die oft heiß laufende Schmierung, die in diesen Fällen einen ganz besonderen Duftstoff absonderte.

Ornit überflog die Kontrollen. Tank V-3-C war erst vor kurzem in seine Verankerung zurückgeführt worden. Caiwee tastete einen bestimmten Code ein. Nur kurz darauf stand er mit Lonja vor dem Behälter.

Es war nicht viel, was sie dort entdecken konnten. Bei einer der normalen Kontrollen hätte man das wohl als Unfall verzeichnet. Von den Wesen, die irgendwann einmal sicher als Erster Rat für kurze Zeit die Geschicke einer fremden Welt koordinieren sollten, war

nicht viel übrig geblieben. Nur eine undefinierbare Masse. Ob es einmal vier oder fünf gewesen waren, konnte man so

einfach sicher nicht feststellen. Ornit versuchte, in den Dateien des Rechners etwas zu finden, ehe

hier die Wachmannschaften hereinstürmten. Danach würde er an das Gerät wohl kaum noch herankommen.

Der Tod des leitenden Mentors würde eine enorme Sicherheitsstufe nach sich ziehen.

Er fand nicht viel. Auffallend war für ihn jedoch die ungeheure Menge an Detailaufnahmen eines ganz bestimmten Uskugen.

Ornit Caiwee kannte ihn gut. Es handelte sich um Dalius Laertes.

An Bord des Raumschiffes herrschte absolute Stille. Die vier Uskugen, die den Block bildeten, saßen in der Zentrale

dicht beieinander. Ihre Gesichter zeigten die hohe Anspannung, höchste Konzentration.

Die Kommandantin und ihre Zentralenbesatzung starrten gebannt auf die Bildschirme. Zamorra-Laertes hatte sich in eine Ecke des Raumes zurückgezogen. Das Doppelbewusstsein verhielt sich passiv, wollte bei diesem zweiten Versuch nach Möglichkeit nicht eingreifen.

In einem breiten Sessel hatte Dalius Laertes Platz genommen. Auf seinem Schoss saßen Jicada und Sajol. Laertes hatte zärtlich seine Arme um die Kinder gelegt. Die drei hatten ihre Augen geschlossen. Und ein unbefangener Beobachter hätte bei diesem Anblick sicher vermutet, dass dort Vater und Kinder selig zusammen eingeschlafen waren.

Doch dem war nicht so. Als der erneute Versuch startete, schien ein ganzes Volk den Atem

anzuhalten. Der Rat von Uskugen hatte natürlich keine Einzelheiten durchsickern lassen. Die Bevölkerung wusste lediglich, dass der Block modifiziert war. Optimismus, geboren aus Angst und Hoffnung – die Uskugen glaubten an einen Erfolg. Sie wollten an

ihn glauben. »0,16 Prozent – Tendenz steigend.« Die Stimme der Kommandantin war an Monotonie allerhöchstem

von einer Computerstimme zu übertreffen. »0,15 Prozent … 0,15 … 0,15 … Tendenz wieder leicht steigend.« Nur Zamorra sah, wie der junge Laertes ganz kurz mit seinen

Händen einen sanften Druck auf die Schultern seiner Kinder ausübte. Es war der Moment. Gemeinsam griffen die drei in das Geschehen ein. Endlose Sekunden verstrichen, in denen nicht einmal die Kommandantin ihre Ansagen durchgab. Selbst sie konnte jetzt nur schweigend warten.

Dann hörte Zamorra, wie die Frau scharf die Luft einsog. »0,15 Prozent … 0,14 … 0,11 Prozent … Und Tendenz definitiv

fallend.« Noch niemand an Bord wagte zu sprechen, nicht einmal sich zu bewegen.

»0,09 … 0,05 … Ich werde wahnsinnig!« Zamorra glaubte es kaum, aber die Kommandantin war durchaus zu Gefühlsregungen fähig. »0,01 Prozent! Stabil … 0,00 Prozent … Stabil … stabil … stabil! Wir haben es geschafft!«

Vor Zamorras geistigem Auge standen sich nun die beiden Waagschalen wieder auf einer Ebene gegenüber. Und an Bord von vierhundert Raumern brach ein unbeschreiblicher Jubelsturm los. Auf Uskugen und den beiden Monden war das sicher nicht anders.

Als Zamorra zu Laertes und den Kindern ging, sah er die Tränen, die in Jicadas Augen schimmerten. Er nahm die Kleine hoch, die ihm wirklich ans Herz gewachsen war. »Schwer, nicht wahr, Süße?«

Das Mädchen nickte und legte ihren kleinen Kopf an die Schulter des Parapsychologen. Zamorra hörte ihr flüsterndes Stimmchen an seinem Ohr. »Sajol wäre beinahe von uns gegangen.«

Erst da wurde Zamorra bewusst, welche Leistung diese Kinder erbracht hatten.

»Ich entsinne mich.« Das Laertes-Bewusstsein meldete sich wieder. »Der Junge hätte beinahe sein Leben verloren. Er war einfach zu sehr mit Sip verbunden. Das sind entsetzliche Erinnerungen.«

Zamorra fragte sich, ob sie hierher versetzt worden waren, weil

Laertes unbewusst diese Situation erneut durchleben wollte. Der Parapsychologe hatte eher damit gerechnet, dass sie hier erfahren würden, wie Dalius Laertes zur Erde gekommen war. Doch dem schien nicht so zu sein.

Als der kurze Rückflug nach Uskugen begann, hoffte Zamorra, dass sich sein Bewusstseins-Untermieter nun langsam Gedanken um eine Rückkehr zur Erde machte.

Das allerdings war eine vergebliche Hoffnung. Doch das wusste Zamorra in diesem Augenblick noch nicht.

7. Endspiel 

»Der 11. und definitiv letzte Lauf beginnt in Kürze. Bitte bleiben Sie alle an Ihren Plätzen.«

Zamorra war ganz sicher: Die Regeln dieses Spieles würde er auch nach hundert Jahren nicht wirklich begriffen und verinnerlicht haben. Der Parapsychologe hatte nichts gegen Sport. Jeder sollte sich seine Zerrungen, Prellungen und hübschen Abschürfungen holen, wie er es wollte.

Er prügelte sich mit Dämonen herum – andere spielten Fußball, Tennis oder eben Pelota. »VENTUR«, das Spiel der Uskugen, hatte mehr als nur entfernte Ähnlichkeit mit dem Pelota, wie es etwa die Basken mit Inbrunst und ganzem Herzensblut spielten.

Oft jedoch auch mit ganz realem Blut. Das war kein Spiel für Sesselpupser. Was einem da um die Ohren

flog, war unanständig schnell und noch viel unanständiger hart. Zamorra hatte so ein Spiel einmal in irgendeinem Fernsehsender gesehen, der auch Sportarten zeigte, die nicht unbedingt als Breitensport anzusehen waren. Ihm war das damals aus dem weichen Sessel heraus bereits mehr wie ein Kleinkrieg als eine Sportart vorgekommen.

Die Uskugen bevorzugten jedoch die ganz brutale Art. Der Boden- und Wandbelag bestand aus irgendeinem Material, das nun wirklich jede Berechnung des abprallenden Balles zunichte machte. Es ging hier um Kraft und vor allem Schnelligkeit. Schier unmöglich, mehrere Züge im Voraus zu planen. Ball und Belag ließen dies einfach nicht zu.

Auf Zamorras Schoss schmiegte sich Jicada. Sajol hatte nicht mitkommen wollen, es ganz einfach auch noch nicht gekonnt. Der Junge war doch reichlich angegriffen. Er war bei Mojica im Hospital geblieben; seiner Dey ging es schon wieder erstaunlich gut.

Links neben Zamorra saßen Ornit Caiwee und Lonja Ovis. Ihr

Bericht vor dem Rat hatte die ganze Tragweite der Geschehnisse dargelegt.

Semjon Tanno – es war unfassbar, welche Veränderung in dem Rat vorgegangen sein musste. Wann hatte das begonnen? Niemand wusste eine Antwort. Am wenigsten Dalius Laertes, der daran schwer zu tragen hatte. Es war eindeutig, dass Semjon seinen Hass auf ihn projiziert hatte. Hass und offenbar auch Neid. Warum? Nicht eine Sekunde lang hatte Laertes in seinem Leben daran gedacht, seinen Freund zu übertrumpfen, ihn in die zweite Reihe zu drängen.

Es musste eine schwere Krankheit der Seele dahintergesteckt haben, die Tanno so hatte denken und schließlich auch handeln lassen. Dalius hatte nur tiefe Trauer in sich, Trauer um den Freund, den er in Semjon zu haben glaubte. Ein falscher Glaube.

Zamorra sah auf den Spielstand. 2:1 – 1:3 – 3:1 – und so weiter … Jedenfalls war die Lage der Dinge in diesem voller Ungeduld und

Spannung erwarteten Endspiel die folgende: Beide Mannschaften hatten je fünf dieser Läufe genannten

Spielabschnitte für sich entscheiden können. Die Wurf und Schlagfolgen waren in so rasender Abfolge erfolgt, dass der Parapsychologe sie oft überhaupt erst dann registriert hatte, wenn das Publikum bereits johlte und schrie. Das war ähnlich dem Eishockey, bei dem man manchmal auch erst das geschossene Tor erkennt, weil der Puck im Netz zappelt; wer ihn wie dorthin gebracht hatte … nun ja.

Es kam hier also zum Showdown. Denn bei 5:5 in den Läufen trat die Regel außer Kraft, dass nur der gewinnen konnte, der zwei Läufe mehr vorzuweisen hatte.

Wenn Zamorra das auch nur in etwa richtig verstanden hatte, würde es nun so etwas wie einen Tiebreak geben, den er vom Tennis her kannte. Zumindest etwas, das er begriff.

Dalius Laertes spielte. Ganz gleich, was in den vergangenen Tagen geschehen war, es

konnte ihn nicht davon abhalten. Und wahrscheinlich hätten sich

seine glühenden Verehrer – vor allem die Verehrerinnen – in einen Lynchmob verwandelt, wenn er nicht aufgelaufen wäre.

Und er spielte das Spiel seines Lebens! Zumindest erklärten die um Zamorra sitzenden Uskugen ihm das

lautstark. Das Laertes-Bewusstsein in Zamorra blieb schweigsam. Ausgerechnet jetzt, wo der Franzose durchaus die eine oder andere Erklärung begrüßt hätte.

Gleich zu Beginn des Spieles wurden zwei Männer aus Laertes' Team schwer von dem Ball getroffen, den Zamorra eher für ein Geschoss hielt. Beide fielen aus. Die gegnerische Mannschaft nutzte die Gunst der Stunde und attackierte die so nun vorhandenen Schwachstellen in Dalius' Team gezielt. Laertes war es, der von da an immer wieder im letzten Augenblick eine Niederlage verhindern konnte.

Doch nun ging es um alles. »Die Regeln sind bekannt – 3 vor bis 11, dann Ende bei 2 vor. Der 11.

Lauf beginnt!« Die Stimme des Stadionsprechers hatte das so selbstverständlich

aufgesagt, als hätte er das Datum oder die Uhrzeit genannt. Zamorra hatte kein Wort davon verstanden. Was er jedoch begriff, war die Tatsache, dass Laertes' Team schnell mit zwei Treffern zurücklag.

»Es ist bald so weit.« Für einen Moment wollte Zamorra dem Vampir-Laertes sagen,

dass er ihn jetzt nicht stören sollte, doch dann stutzte er. »Was ist bald so weit? Sprich bitte nicht in Rätseln.«

»Wir sind noch hier, weil ich sicher war … sicher bin, dass noch etwas Entscheidendes geschehen wird. Etwas, das vielleicht der wirkliche Grund dafür ist, dass wir hier sind. Aber ich kann uns nicht mehr lange hier halten.«

Zamorra hörte Jubelschreie um sich herum. Dal, wie Laertes von seinen Fans gerufen wurde, hatte einen unglaublichen Punkt erzielt. Zamorra hatte während des Spieles begriffen, dass es die fast magisch anmutende Präzision von Laertes' Schlägen war, die ihn so herausragen ließ.

Wirkliche Magie war hier selbstverständlich absolutes Tabu, was von den Spielbeobachtern penibel kontrolliert wurde. Es gab für jede der Mannschaften je zwei so genannte Spürer, die nichts anderes zu tun hatten, als die Einhaltung dieser Regel zu gewährleisten.

Es war wirklich sagenhaft, mit welcher Genauigkeit Laertes die Spielkugel aus der Cesta schleudern konnte. In dieser leicht gebogenen Schaufel, die an der Wurfhand der Spieler befestigt war, nahm die Kugel ihre Geschwindigkeit auf – wenn sie die Cesta verlassen hatte, war sie mit dem bloßen Auge kaum noch zu verfolgen.

Zamorra versuchte sich auf das stumme Zwiegespräch mit seinem Laertes zu konzentrieren.

»Nicht mehr halten? Erkläre mir das.« Laertes zögerte einen Augenblick. »Van Zant – ich kann ihn orten.

Durch Khiras Gabe ist er in der Lage, der Spur von Vampiren zu folgen. Aber das funktioniert unter gewissen Umständen auch in der entgegengesetzten Richtung. Die Spur zu ihm ist die Verbindung zu unserer Realzeit. Doch nun beginnt diese Spur zu verblassen. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Ich …«

Der jetzt aufbrausende Jubel riss Zamorra wieder aus der Konzentration. Die Menge tobte, nichts hielt die Leute mehr auf ihren Sitzen. Die kleine Jicada warf ihre Ärmchen um Zamorras Hals.

»Gewonnen! Vater hat den Punkt gemacht! Hurra!« Der Professor hatte den alles entscheidenden Moment natürlich

verpasst. Natürlich war es Laertes, der mit Präzision das Endspiel zu Gunsten seines Teams beendet hatte.

»Dal! – Dal! – Dal! – Dal! …« Die Zuschauer feierten den Mann mit Sprechchören, der unter

einem Berg von Leibern geradezu begraben wurde. Seine Leute ließen ihn hochleben.

Und nur langsam, sehr langsam leerte sich das Stadion an diesem Abend.

Er hatte die Meisterschaft entschieden.

Sein letztes Spiel als Profi war auch die Krönung seiner Karriere geworden.

Keine üble Leistung. Viel schwieriger war es jedoch, sich für wenige Momente von den

Feiern wegzustehlen, die nun folgten. Nach dieser Art von Feierlichkeiten, Ehrungen und endlos langen wie hohlen Reden war Laertes heute nicht zu Mute. Aber er konnte sich da jetzt nicht abseits halten. Sie waren doch in der Hauptsache alle wegen ihm gekommen. Er wusste das.

Wegen ihm … So viel in seinem Leben war wegen ihm geschehen – für ihn. Und Semjon Tanno? Dalius konnte es einfach nicht begreifen, wie

sich ein solcher Wust an Hass und Neid bei seinem Freund hatte aufbauen können. Aber es war geschehen. Vielleicht lag die Schuld bei ihm, bei Dalius.

Vielleicht hatte alles damit angefangen, dass Mojica sich für ihn entschieden hatte. Nur Tanno hätte ihm eine Antwort geben können.

Laertes betrat das nun leere Stadion. Die Beleuchtung war auf ein Minimum reduziert worden. Immer noch genug, um alles klar und deutlich sehen zu können. Um etwas suchen zu können. Denn aus diesem Grund war er hier.

Die Cesta, mit der er heute gespielt und gewonnen hatte – irgendwo hier musste sie doch liegen. Es sei denn, ein Fan hatte sie sich als Souvenir mitgenommen.

Wenn dem so war, dann konnte er nichts daran ändern. Anderenfalls wollte er sie gerne Mojica schenken. Die letzte Cesta, das sollte das Symbol sein, dass sich ihr gemeinsames Leben ab sofort ändern, beruhigen würde.

Dalius Laertes suchte lange und intensiv. Und dann sah er sie, ganz am Ende des Spielfeldes, das von den hohen Mauern umgeben war. Er bückte sich nach der Cesta. Sein Name war eingraviert. Zufrieden wandte er sich zum Ausgang. Ein paar Stunden wollte er

nun doch noch mit Fans und Freunden beisammen sein. »Hast du gefunden, was du suchst, Dalius Laertes?« Der Angesprochene kniff die Augen zusammen. Er konnte nicht

sehen, wer ihn da gerufen hatte. Doch diese Stimme erzeugte augenblicklich ein schlechtes Gefühl in ihm. Diese Stimme, die ihn so nicht hätte rufen dürfen. Nicht können. Denn es war seine!

»Wer ist denn da? Soll das ein Scherz sein? Wer macht mich da nach? Kommt, Leute, für so etwas bin ich wirklich nicht zu haben!«

Die Antwort war ein leises Lachen. Sein Lachen. Am anderen Spielfeldende trat eine Gestalt aus dem Schatten

hervor, in dem sie sich verborgen hatte. Die Entfernung war groß, und bei dem schwachen Licht ließen sich die Augen rasch täuschen. Dalius suchte nach Erklärungen, die ihm die Chance zu einer anderen Wahrheit ließen.

Er fand sie nicht. Ganz einfach, weil es sie nicht gab. Die Stimme klang erneut zu ihm herüber. »Sieh her. Ich habe auch

eine Cesta. Das ist doch wunderbar. Dann können wir tatsächlich gleich hier klären, was es noch zu klären gibt, Bruder.«

Laertes wusste es in diesem Moment genau, wer ihm aufgelauert hatte. Ornits Erklärungen von den Vorgängen, die zu Semjons Tod geführt hatten, kamen ihm in den Sinn. Natürlich war das gesamte Zentrum auf den Kopf gestellt worden. Doch ebenso natürlich hatte man nichts finden können, was den Wahrheitsgehalt von Tannos Beichte vor seinem Tod bestätigt hätte. Zu leichtfertig waren alle zur Tagesordnung übergegangen.

»Ich wusste genau, du würdest heute noch einmal hierher kommen. Natürlich wusste ich es.« Der Mann lachte. »Denn ich bin ja du. Ich denke wie du. Ich weiß, was du weißt, kann, was du kannst. Und wenn ich irgendwo einmal versage, dann nur, weil auch du dabei versagt hättest. Ist das nicht unglaublich? Mein Schöpfer war ein Genie!«

»Und du hast ihn zum Dank getötet!« Laertes überlegte krampfhaft, wie er vor jemandem fliehen sollte, der wie er dachte. Ging so etwas überhaupt? »Du hast Semjon Tanno eiskalt ermordet. In dir hat er die Perfektion gesehen, die Krönung seines Schaffens.

Und genau die tötet ihn dann! Erklär es mir.« Zeit schinden war alles, was Laertes noch einfiel.

»Ich brauchte ihn nicht. Er wollte mich doch nur vorführen. Sein Stern sollte endlich heller als der deine strahlen. Du solltest mir dankbar sein.« Er lachte ein böses Lachen. »Und dich brauche ich auch nicht. Siehst du das hier?«

Er warf einen Gegenstand in die Mitte des Spielfeldes, der exakt zwischen den beiden zu liegen kam. Ein Blick reichte aus, um Dalius zu zeigen, um was es sich handelte. Eine so genannte Feuerlache, die zur Grundausstattung der Stationen auf fremden Welten gehörte. Der nicht einmal faustgroße Gegenstand entwickelte kurzfristig eine ungeheure Flamme, die alles zu feinster Asche verbrannte, was mit ihr in Berührung kam. Anschließend erkaltete die Lache erstaunlich schnell wieder, hinterließ kaum Spuren. Das Gerät war perfekt zur Müllverbrennung geeignet.

Hier sollte es einen anderen Sinn erfüllen. Sie sollte die Überreste des Verlierers schnell und gründlich

beseitigen. Ganz gleich, wer von ihnen siegte – er würde keine Fragen

beantworten müssen. Beide legten eine Spielkugel in ihre Cesta, von denen hier mehr als

genug achtlos herumlagen.

Zamorra-Laertes taumelte in das Stadion zurück. »Verdammt, Laertes, bring uns endlich zurück! Sonst ist es zu spät

dazu.« »Ich muss sehen, was hier heute noch geschieht. Zamorra, es ist

existentiell für alles, was ich in Zukunft tun werde.« »Dann sorge dafür, dass wir beide auch noch so etwas wie eine

Zukunft haben.« Zamorra fühlte den Schwindel, der ihn packte. Er konnte auf das

Spielfeld sehen. Und er sah, dass dort zwei Personen standen. Es war verrückt, doch sie standen einander wie Duellanten

gegenüber. Wie in einem der alten Schwarz-Weiß-Western.

»Was treiben die da? Offenbar ist noch jemand so irre wie ich, sich um diese Zeit in ein leeres Stadion zu begeben.«

»Schau doch hin! Siehst du es nicht? Siehst du denn nicht, wer das ist?« Laertes' Bewusstsein war hochgradig erregt.

Und Zamorra erkannte jetzt auch den Grund dafür. Zwei Männer, zwei »Ventur«-Spieler, denn beide trugen die Cesta

an ihrer rechten Hand. Zweimal ein und dieselbe Person. Zweimal der junge Dalius Laertes!

Semjon Tanno hatte die Wahrheit gesagt. Dort unten stand die perfekte Kreatur, die er geschaffen hatte. Sie lebte. Und Tanno hatte sie exakt nach dem Vorbild Laertes' erschaffen. Nur konnte Zamorra wirklich nicht sagen, welcher der beiden dort unten der echte Dalius Laertes war.

Zamorra stolperte, fiel auf seine Knie, rappelte sich wieder hoch. Alles verschwamm vor seinen Augen.

»Es reißt uns zurück, Laertes. Kannst du es nicht noch aufhalten?« Der Parapsychologe verstand plötzlich die ganze Situation. Und er begriff, dass dieser Moment der eigentliche Grund für ihre Raum-Zeit-Reise war.

In der Mitte des Spielfelds flammte plötzlich eine gut drei mal drei Meter messende Feuerfläche auf, die dort wie hingezaubert entstanden war.

Dann hoben die beiden Spieler ihre Wurfarme. Weit holten sie damit aus und rissen die Cestas ruckartig nach

vorn. Es ertönte kein Schrei, als einer der beiden tödlich getroffen zu

Boden stürzte. Hart und präzise war er an der Stirn getroffen worden! Der Sieger ließ die Cesta sinken, schritt langsam um die

Feuersbrunst herum, die nun immer höher loderte. Er musste sein Werk nur noch vollenden. Zamorra sah die blutige Furche auf seinem Kopf, die von der Kugel des Verlierers stammte. Beide hatten getroffen!

Beide, die ja eins waren. Wie hätte einer von ihnen auch vorbeizielen können?

Das Bild verzerrte sich vor Zamorras Augen, wurde surreal. Formen und Farben flossen ineinander über. Dann war es gänzlich verschwunden.

Da war nur noch die Stimme von Laertes in Zamorras Kopf. Sein Schrei …

»Nicht jetzt! Noch nicht …«

Als Zamorra die Augen öffnete, tobte die letzte Schmerzwelle noch durch seinen Körper.

Im nächsten Moment sah er in die Augen von Nicole. Sie waren wieder in ihrer Zeit.

Nur zwei Meter von ihm entfernt lag Laertes, der sich von Artimus van Zant aufhelfen ließ. Das Gesicht des hageren Vampirs war von Schmerz gezeichnet. Doch es war kein körperlicher Schmerz, der ihn quälte. Es war der Schmerz der verpassten Chance!

»Kommt, wir sollten hier erst einmal verschwinden. Wir brauchen alle frische Luft.« Niemand widersprach Nicole Duval.

Die frische Luft erwies sich als reichlich warm und feucht. Zamorra und Laertes sahen sich an.

»Und nun?«, fragte Zamorra. »Du hast viel erfahren. Nur eines nicht. War es das alles wert?« Der Dämonenjäger konnte sich zumindest ansatzweise vorstellen, welcher Sturm der Gefühle in Laertes toben musste. Er kannte nun seine Wurzeln. Er hatte viel über sich und die Menschen erfahren, die ihm einst nahe gestanden hatten.

Wie er zur Erde gekommen war, blieb im Dunkeln. Vorläufig zumindest. Und er wusste nun um ein entsetzliches Geheimnis, dessen

Klärung ihm im letzten Moment verweigert worden war. Ein paar lächerliche Minuten länger hätten ausgereicht. Doch nun

stand die Frage vielleicht für immer vor ihm. Die Frage, die er Zamorra nun ganz einfach stellen musste.

»Wer bin ich, Zamorra? Welcher Dalius Laertes steht hier vor euch?«

Nicole und van Zant verstanden nicht, doch sie hielten sich im Hintergrund.

»Wie perfekt war die Perfektion, die Semjon Tanno geschaffen hat? Bin ich wirklich ich? Wie soll ich das je in Erfahrung bringen, wie damit weiterexistieren?«

Zamorra konnte ihm keine Antwort darauf geben. Aber er versuchte zumindest, einen Hoffnungsfunken zu wecken.

»Wer du bist? Das entscheidest letztlich du allein. Vielleicht gelingt es uns, deine Fragen irgendwann zu beantworten. Unter Umständen beantworten sie sich irgendwann einmal von selbst. Du musst abwarten. Ich denke, wir sollten nach Hause. Einwände?«

Die hatte keiner.

Zamorra erklärte sich bereit, einen erneuten Sprung mit Laertes auf sich zu nehmen. Nicole und van Zant würden folgen.

Doch van Zant sprang nicht sofort der Vampirspur nach. Da war plötzlich ein wohl bekanntes Geräusch, das hinter ihm erklang. Ein kurzer Trommelwirbel, der von winzigen Fäusten erzeugt wurde.

Der Südstaatler drehte sich um. Der kleine Gorilla stand keine fünf Schritte von ihm entfernt und sah Artimus frech an.

»Sag mal, du kannst dich wohl kaum noch von mir trennen, was?« Die Antwort kam postwendend. »Baaaaaaabububuhhhh!« Van Zant lachte schallend los. Der Bursche machte ihn nach. Das

klang ganz ähnlich wie das Geplapper, mit dem der Physiker den Kleinen unten im Gang verschreckt hatte.

»Du bist ja eine Marke. Am liebsten würde ich dich mit mir nehmen. So einen wie dich hat sich schon mein Großvater immer sehnlichst gewünscht. Aber das kommt natürlich nicht in die Tüte, mein Freund. Du gehörst hierher. Zu Mama und Papa Silberrücken. Also dann – grüß mir deine Sippe! Und dir wünsche ich ein langes Leben und tonnenweise Bananen.«

Van Zant wandte sich um, wollte zu Nicole, die schon auf ihn wartete.

Irgendetwas an dem Grunzen des Kleinen ließ Artimus noch

einmal den Kopf drehen. Die Miniausgabe von King Kong war verschwunden, doch wo er eben noch gestanden hatte, lag ein dünne Steinplatte. Der Winzling musste sie dort hingelegt haben. Anders konnte es nicht sein.

Van Zant bückte sich. Mit dem Ärmel rieb er den Schmutz von der Scheibe.

Erstaunt blickte er auf die beiden Zeichnungen, die er nun deutlich erkennen konnte. Wahrscheinlich hatte der kleine neugierige Menschenaffe die Platte irgendwann einmal aus der unterirdischen Halle stibitzt. Und nun – nun gab er sie seinem neuen Freund zum Geschenk, der so herrlich unsinnig brabbeln konnte.

Artimus sah genauer hin. Beim linken Bild stockte ihm der Atem. Da kniete ein Mann auf dem Boden. Um seinen Hals baumelte eine

Scheibe, die an einer Kette befestigt war. Und hinter dem Mann erhob sich angedeutet ein riesiger Schatten!

Der Physiker spürte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Wie alt mochten diese Bilder wohl sein? Wie konnten sie Ereignisse darstellen, die erst heute real geworden waren?

Das zweite der Bilder warf den Südstaatler dann wirklich beinahe um.

Ein großer Bursche mit übertrieben gewölbtem Bauch, auf dessen Kopf sich kein einziges Haar befand. Nur seinen Hinterkopf schmückte ein langer Zopf. Und er schien mit seinen Armen durch die Luft zu wedeln …

Direkt vor ihm jedoch stand ein kleines Wesen. Ein Kind? Wohl kaum. Artimus van Zant wusste genau, um wen es sich handelte, denn das Wesen war von Kopf bis Fuß behaart. Wie es Gorillas eben waren.

»Arti, komm doch!«, rief Nicole. »Ich habe keine Lust mehr auf Dschungelromantik.«

»Ja, ich komme. Bin schon da.« Kopfschüttelnd schob er sich die Steinplatte unter die Achsel.

Vielleicht war es wirklich besser, wenn man nicht alles verstand …

8. Nachspielzeit 

»Der Start wird in wenigen Minuten freigegeben, Ratsherr Laertes. Einen guten Flug und viel Erfolg.«

Laertes nickte dankend und verschluss die Einstiegsluke des Pyet. »Alles klar, Sajol?« Der Junge sah lächelnd zu seinem Vater auf. Er war stolz, dass er

mit ihm auf Entdeckungsreise gehen durfte. Wohin es ging, hatte Dalius ihm nicht gesagt. Er wusste es ja selber nicht. Die Narbe auf seinem Kopf schmerzte noch immer. Es war nun

beinahe ein halber Umlauf vergangen seit dem Tag des Endspieles – und dem seltsamen Vorfall im Stadion, der nie aufgeklärt werden konnte.

Als Dalius Laertes nicht zu der Feier zurückgekehrt war, hatte man ihn natürlich gesucht. Der Held des Tages wurde schmerzlich vermisst.

Sie fanden ihn bewusstlos am Rande des Spielfelds. Er hatte eine blutende Wunde am Kopf. Im Hospital vermutete man, dass ihn irgendjemand mit einer der Spielkugeln angegriffen hatte. Jemand aus dem Lager der unterlegenen Endspielmannschaft? Die Nachforschungen hatten keine Klärung gebracht. Ebenso wenig über das verkohlte Feld, das sich mitten auf der Spielfläche befand.

Manche seiner Mitarbeiter und Freunde sagten, Dalius wäre seither nicht mehr der Alte. Er konnte das nicht verstehen. Er war, wer er war. Oder?

Das Verhältnis zu Mojica allerdings hatte sich radikal verändert. Sie wusste oft nicht, was sie von den Dingen halten sollte, die ihr Mann sagte oder tat. Daher hatte sie auch nichts dagegen einzuwenden gehabt, als er mit Sajol diesen Flug geplant hatte. Sie hielt das für eine gute Idee.

Laertes hatte diesen Flug ganz offiziell als Suche gemeldet. Eine

Suche war nichts anderes als das Auskundschaften von unbekannten Welten, die unter Umständen die Hilfe Uskugens brauchten. Die Sucher in ihren Pyets waren es, die diese Welten entdeckten.

Und eine solche Suche konnte unter Umständen viele Umläufe dauern.

Der eigentliche Grund des Fluges war jedoch Dalius' Sohn. Der Rat hatte Dalius gebeten, eine Lösung für das Problem Sajol zu finden, wie sie es ausdrückten. Das Kind war mit seinem magischen Potential schon einmal zum Auslöser einer Beinahekatastrophe geworden. Das konnte erneut geschehen.

Sajol würde Uskugen nie wiedersehen. Uskugen nicht, Mojica und Jicada nicht.

Vielleicht fanden sie ja eine neue Welt, einen neuen Anfang. Laertes verband nichts mehr mit jener Welt, die seine Heimat

gewesen war. Alles war möglich. Der Schmerz in Laertes Kopf ließ nur langsam wieder nach. Er

hatte sich inzwischen beinahe schon an diese Attacken gewöhnt. Wenn sie nur sein Erinnerungsvermögen nicht so beeinträchtigen würden.

Ihm war oft, als müsse er sich unter allen Umständen an eine Tatsache erinnern, die auf den Tag des Endspiels zurückging.

Sosehr er es auch versuchte, es wollte ihm nicht gelingen. Die Startfreigabe kam. Der Pyet hob lautlos vom Boden ab. Irgendwann würde er sich schon erinnern. Irgendwann einmal …

ENDE

Vorschau 

Todesflüsse von Christian Montillon

Professor Zamorra sieht im Traum Flüsse, deren Wasser blutrot gefärbt ist. Pflanzen und Tiere an den Ufern verenden. Nur ein einziger Baum überlebt – und seine Früchte bringen den Tod! Schließlich trinkt Zamorra selbst von dem Wasser des Verderbens …

»Todesflüsse« ist nur eine der zehn Kurzgeschichten, die Christian Montillon in dieser ersten Professor-Zamorra-Anthologie in Buchform versammelt hat. Den Abschluss des Bandes bietet eine satirische Story, die Zamorras Welt aus einem nie zuvor gesehenen Blickwinkel darstellt!